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Die Friedensmacher: Ethos und Ethik im Islam
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eBook846 Seiten10 Stunden

Die Friedensmacher: Ethos und Ethik im Islam

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Über dieses E-Book

"Werdet endlich erwachsen" lautet der Kern des Islam, so der Philosoph Muhammad Sameer Murtaza.
Überraschend, informativ und neugierig diskutiert er in seiner umfassenden Analyse Begriffe wie Individualität und Gemeinschaft, Freiheit und die Notwendigkeit von Strukturen, Weiblichkeit und Männlichkeit, Körperlichkeit und Sexualität, Patriarchat und Partnerschaftlichkeit, Gewaltlosigkeit und ihre Grenzen, Klimawandel und den Umgang mit IS-Rückkehrern.

Ein glorreiches Durcheinander, voller faszinierender Themen, Abschweifungen, offener Fragen und Lösungsvorschlägen aus den Quellen des Islam.
Ein großes und praxisorientiertes Buch. Ein Plädoyer für die Macht des ethischen Handelns und seiner Möglichkeiten. Es zeigt, was die Menschheit braucht, wenn sie eine Zukunft haben will.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum2. Feb. 2023
ISBN9783347848092
Die Friedensmacher: Ethos und Ethik im Islam
Autor

Muhammad Sameer Murtaza

Muhammad Sameer Murtaza ist Islam- und Politikwissenschaftler, islamischer Philosoph und Buchautor. Als freier Mitarbeiter wirkt er bei der Stiftung Weltethos, wo er zu Gegenwartsströmungen im Islam, islamischer Philosophie, Gewaltlosigkeit im Islam und Islam und Weltethos forscht. Weiter wirkt er als wissenschaftlicher Gutachter bei der renommierten in Pakistan herausgegebenen islamwissenschaftlichen Fachzeitschrift Hamdard Islamicus mit. Er ist gefragter Vortragsredner und publiziert in verschiedenen Magazinen und Tageszeitungen.

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    Buchvorschau

    Die Friedensmacher - Muhammad Sameer Murtaza

    Begriffe

    Ethik: Der Begriff Ethik kann Folgendes meinen:

    1. Ethik ist eine säkulare Wissenschaft von der Moral. Sie analysiert und systematisiert unterschiedliche Moralsysteme nach ihren Begründungen und Prinzipien. Ethik ist somit die Reflexionsebene über die Moral. Da sie wertfrei klassifiziert, ist der Gebrauch der Adjektive ethisch und unethisch sinnfrei.

    2. Ethik ist ein Moralsystem einer Gemeinschaft von vernunftbegabten Menschen. Da der Mensch als soziales Wesen mit anderen Menschen zusammenlebt, haben seine Handlungen Einfluss auf die Tier- und Naturwelt sowie seine Mitmenschen. Ethik soll den Einzelnen anleiten, anderen durch seine Handlungen nicht zu schaden. Handlungen werden demnach als ethisch bzw. moralisch oder unethisch bzw. unmoralisch eingeteilt.

    In dieser Abhandlung wird letztere Definition des Begriffs Ethik verwendet.

    Moralsystem: Ein Moralsystem ist ein Normsystem, das richtiges Handeln von vernunftbegabten Menschen begründet und beschreibt und somit, im Unterschied zum subjektiven Urteil, auch für alle gültig sein soll.

    Moral: Eine moralische bzw. ethische Handlung ist eine Handlung, die von einer Gruppe von vernunftbegabten Menschen als richtig oder gerecht angesehen wird. Eine gegenteilige Handlung wird als unmoralisch bzw. unethisch bewertet.

    Wert: Werte oder Wertvorstellungen sind Abstrakta bzw. Ideale, die eine Wir-Gruppe für wünschenswert ansieht (z. B. Freiheit, Gerechtigkeit, Nächstenliebe usw.).

    Norm: Normen sind verhaltensorientierte Handlungen von vernunftbegabten Menschen in einer Wir-Gruppe, die sich aus der Umsetzung der Werte in konkretes Handeln ergeben.

    Sitte: Sitten sind Verhaltensweisen oder Bräuche, die aufgrund von spezifischen Umweltbedingungen, sozioökonomischen Umständen oder Krisensituationen eine Wir-Gruppe um des Überlebens willen annimmt. Sie können in Konflikt mit dem Moralsystem stehen, aber aufgrund der Notwendigkeit oder Gewohnheit weiterhin praktiziert werden.

    Ethos: Ethos bezeichnet die grundlegende moralische Gesinnung einer Person oder Gruppe, die das eigene Selbstverständnis darstellt. Hiervon abgeleitet kann von einer jüdischen, christlichen oder islamischen Ethik gesprochen werden, die die Frage aufwirft, wie ein Gläubiger der jeweiligen Religion leben soll, um ein rechtschaffenes Leben zu führen. Im Kontext einer solchen Ethik kann zwischen einem ethisch und einem unethisch geführten Leben unterschieden werden.

    Das islamische Ethos: Wann immer du etwas vorhast, frage dich, ob du dein Handeln Gott gegenüber als Hingabe und den Menschen gegenüber als Friedenmachen verständlich machen kannst, sodass sie sich genauso verhalten könnten wie du.

    Vorwort

    Gelobt sei Gott, mit dem alles beginnt und endet. Gesegnet seien der abschließende abrahamische Prophet Muhammad sowie seine Angehörigen, seine Gefährten und die Rechtschaffenden, die für den Frieden in der Welt wirken.

    Nichts ist so einfach, wie den Islam zu verstehen. Jeder Muslim weiß, was mit Islam gemeint ist und gerade heute umso bewusster, je mehr wir als Muslime diesem Wissen zuwiderhandeln. Islam bedeutet, sich vertrauensvoll und aktiv Gott zu ergeben/hinzugeben, um Frieden zu erfahren und Frieden zu machen. Der Muslim ist jener, der sich vertrauensvoll und aktiv Gott ergibt/hingibt, um Frieden zu erfahren und Frieden zu machen. Oder kürzer gefasst: Islam ist das Friedenmachen und Muslim einer, der (für Gott) Frieden macht

    Umso mehr erstaunt es, dass es Muslime selbst sind, die hartnäckig den Islam zu einer Gewaltbotschaft pervertieren. Die zunehmende Gleichsetzung von Gewalt und Islam, für die wir Muslime selbst verantwortlich sind, ist das Gegenwartsproblem der muslimischen Gemeinschaft (umma) in unserer Zeit. Bezeichnend empfand ich dies während einer Forschungsreise nach Pakistan im Dezember 2018, als ich in Karachi in der Beech Wali Moschee mein Gebet verrichtete, während zeitgleich ein Lehrkreis stattfand. Einer der Studenten trat an mich heran und fragte vorsichtig, warum ich mich in der Moschee aufhalte. Da ich etwas irritiert war, erklärte er mir, dass aufgrund zahlreicher Bombenanschläge in Moscheen man gegenüber fremden Muslimen argwöhnisch geworden sei. So weit ist es also gekommen: Muslime fürchten Muslime.

    Die Misere der Gegenwart wirft die Frage auf, was es eigentlich bedeutet, Muslim zu sein und was für eine Art von Gemeinschaft wir Muslime sein wollen. Wenn ein Muslim ein Friedensmacher ist, wie kann dem im 21. Jahrhundert wieder Geltung verschafft werden?

    Des Weiteren: Wie beurteilen wir dann muslimische Gewalttäter, die die islamische Botschaft in ihr Gegenteil verkehren? Mit all diesen Fragen befinden wir uns bereits inmitten der Thematik dieses Buches.

    Islam ist Frieden, so skandieren Muslime immer wieder, doch was bedeutet dies in der Praxis? Und nur weil Islam Frieden ist, bedeutet dies nicht, dass diese Botschaft nicht pervertiert werden kann, um im Namen des Friedens auch Böses zu tun. Anhand welcher Maßstäbe können Muslime daher ihrer Botschaft treu bleiben und Gut und Böse voneinander unterscheiden, wenn muslimische Friedensstifter und muslimische Gewalttäter die gleichen Texte lesen, doch deren Verständnis zu unterschiedlichen Handlungen führt? Auf diese zentralen Fragen sollen Antworten gefunden werden.

    Doch der Leser sei gewarnt: Dieses Buch zeichnet sich durch das langsame Denken aus. Es lässt sich nicht von Überschriften einzwängen, sondern von ihnen bloß an interessante Orte treiben. Es scheut sich auch nicht vor Wiederholungen, wenn sie thematisch sinnvoll und notwendig sind. Es will aber auch denkbar weit hinaus und gibt sich nicht damit zufrieden, eine weitere anklagende Modeschrift mit steilen Thesen und Forderungen an die Muslime zu sein.

    Dieses Buch beginnt nicht bei null, sondern ist in die Tradition des muslimischen Denkens eingebettet, insbesondere desjenigen auf dem Subkontinent, wo Muslime seit jeher durch die Koexistenz mit zahlreichen unterschiedlichen Religionen und innerislamischen Konfessionen vor der Herausforderung standen, die gemeinschaftliche Identität und den universellen Horizont des Islam beständig zusammenzudenken. Mit dieser reichen Tradition, ihren Gelehrten, Philosophen, Mystikern, Dichtern, Politikern und Aktivisten möchte ich ins Gespräch kommen. Sie sollen mich auf den Denkwegen dieses Buches begleiten, mich anregen, fordern und korrigieren, damit ich dank ihrer Hilfe zu den Antworten auf meine Fragen gelange.

    Es schadet nicht, an dieser Stelle eines klar hervorzuheben: Ich nehme freimütig von allen Gesprächspartnern in diesem Buch das, was wesentlich für den Fortgang meiner eigenen Gedanken zu einem jeweiligen Thema ist. Es geht nicht darum, sich auch den Denksystemen all dieser klugen Köpfe vollends zu verpflichten.

    Dieses Buch ist letztendlich ein Dokument und eine Zusammenführung eines bislang 14 Jahre andauernden islamisch-philosophischen Denkens, das nun ein vorläufiges Ende findet. Es gibt einen Einblick, nach welchen Maßstäben und Richtlinien ich islamische Philosophie betreibe und lehre sowie weiterhin gedenke zu betreiben und zu lehren, nämlich mit dem Hammer.

    1 Vgl. Denffer, Ahmad von; Al-Mahgary, Muhammad Ali (1995: 6).

    I. Ohne Gott und Religion keine Ethik?

    Human beings in a mob.

    What’s a mob to a king?

    What’s a king to a God?

    What’s a God to a non-believer?

    Who don’t believe in anything?

    Kanye West & Jay-Z, No Church in the Wild

    Immer noch alles fraglich…

    In den vergangenen 300 Jahren hat die muslimische Gemeinschaft ihren intellektuellen, politischen und ökonomischen Niedergang erlebt, den Einbruch der Moderne durch den Kolonialismus, Unterdrückung und Ausbeutung erfahren, Erneuerungsbewegungen verschiedener Couleur, Dekolonisation, post-koloniale säkulare und religiöse Diktaturen kommen und gehen sehen, Revolutionen, Kriege, Diaspora, gescheiterte Staaten, ausländische Interventionen und den Verfall der klassischen Institutionen des Islam erdulden müssen. In all dieser Zeit waren Muslime Unterdrückte und Befreier, aber auch Rächer und Täter. Im Namen des Islam wurden Muslime und Nichtmuslime verteidigt, aber auch ermordet. Der Name Gottes und des Propheten Muhammad wurden mit Blut besudelt. Wirklich aufgearbeitet wurden diese Exzesse von muslimischer Seite bisher nicht. Immer noch predigen muslimische Gelehrte naiverweise, dass Religion notwendig sei, um ein ethisches Leben zu führen, während der Atheismus als die größte Gefahr für die Menschheit denunziert wird. Doch die Taten, Gräuel und Verbrechen sowohl ideologischer und militanter muslimischer Selbstermächtigungsgruppen als auch autoritärer und totalitärer muslimischer Staaten verdeutlichen: Gläubige Menschen sind nicht die friedlicheren Menschen. Gläubige Menschen handeln nicht per se ethisch. Gläubige Menschen haben nicht das Recht, eine solche Ausnahmestellung für sich zu beanspruchen.

    Dass dies dennoch geschieht, macht deutlich, dass die Herausforderung der Fraglichkeit der Welt nicht verstanden wurde.

    Antworten auf die Fraglichkeit der Welt

    Als sich aber seine [Lots] Frau hinter ihm umblickte, wurde sie zu einer Salzsäule (Genesis 19,26). Der sehnsuchtsvolle Blick zurück auf den Zustand der Unwissenheit über Gott, der Ethiklosigkeit und der Gesetzlosigkeit, zusammengefasst in dem arabischen Ausdruck ğāhilīya, führt zur Vernichtung, so lehrt es diese biblische Erzählung. Doch es gibt auch den kritischen Blick zurück, der zu Einblick und somit Erkenntnis führt. Nur der Blick zurück, nachdem man bereits seine Entscheidung getroffen hat, macht einem bewusst, vor welcher Herausforderung man eigentlich stand.

    Die Frage, ob da etwas ist, das dem Menschen Urgrund ist, steht nicht am Anfang der Selbstfindung. Es geht gar nicht so sehr um Gott, vielmehr um einen selbst und die eigene Verortung in dieser stummen Welt. Die Entscheidung, an Gott zu glauben oder auch nicht zu glauben, ist daher verbunden mit einer anderen, naheliegenderen Entscheidung, nämlich die des eigenen Verhältnisses zur Welt.

    Wir Menschen werden in eine Welt ohne Erklärungen geworfen. Existenziell verwirrt, orientierungslos und konfus müssen wir erkennen, dass diese Welt und unsere Existenz in ihr fraglich sind. Allein an einem selbst liegt es, sich Orientierung zu geben. Unabdingbar muss der Mensch – jeder Mensch – eine Wertung über sein eigenes Sein und die Welt, in die er hineingeworfen wurde, vornehmen. Dieses Werturteil ist die fundamentale Grunderfahrung, der alle Menschen ausgesetzt sind und der wir uns nicht entziehen können, wenn wir denn mündige Menschen sein wollen. Jeder Mensch steht vor der Entscheidung, der Welt ein Grundvertrauen oder ein Grundmisstrauen entgegenzubringen. Er kann Ja zu der Welt sagen. Er kann sie als sinnvoll, wertvoll und wirklich beurteilen. Aber er kann auch Nein zu der Welt sagen, sie als sinnlos, wertlos und nichtig befinden.² Betrachten wir zunächst das Grundvertrauen.

    Grundvertrauen und Gott

    Derjenige, der Ja zur Welt sagt, gibt subjektiv dem gesamten Universum, von den fernsten Galaxien bis hin zum Elektron, einen übergeordneten Sinn und erhält hierdurch ein Gefühl von Geborgenheit. Doch worauf fußt dieses Grundvertrauen eigentlich? Worin ist es denn begründet? Andernfalls wäre es ja unbegründet. Es bedarf einer Erklärung, weshalb etwas ist und nicht nichts ist.

    Die Menschen glaubten zu allen Zeiten – als würden sie einem natürlichen Impuls folgen – dass diese Geborgenheit auf ein höheres Wesen zurückzuführen ist. Der Mensch suchte die Verbindung zu diesem höheren Wesen und aus dieser Beziehung entstand eine weitere Grunderfahrung: Verantwortlichkeit.³ Die Bewertung der Fraglichkeit der Welt, das Gefühl von Geborgenheit und die damit einhergehende Verantwortlichkeit stellen das Fundament der Religion dar und erden zugleich die Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz.⁴ Der Poet Mir Taqi Mir (gest. 1810) dichtet:

    Mein Herr hat große Gnade mir erwiesen:

    Ein Nichts von Staub macht’ Er zu einem

    Menschen.⁵

    Gott ist für den Theisten somit die Antwort auf die Fraglichkeit dieser Welt. Gott wird zum Urgrund seiner Existenz. Gott wird zum Urhalt in allen Lebensumständen. Gott wird zur Hoffnung auf ein besseres Leben im Diesseits und im Jenseits. Gott wird zum Urziel, zur Heimat nach dem Tode. Gott wird für diesen Menschen zur einzigen Wirklichkeit.⁶ Der eine Gott ist für den Theisten die transzendente Ursache von allem, was existiert, zugleich ist Seine Barmherzigkeit in jedem Phänomen Seiner Schöpfung immanent.⁷ Poetisch heißt es im Qurʾān:

    Bei dem Berg (Sinai)! Bei der Offenbarung, geschrieben auf ausgerolltem Pergament! Bei dem vielbesuchten Haus! Bei dem hohen (Himmels-)Gewölbe! Und bei dem wellengeschwellten Meer! (52:1-6)

    Nach dem Qurʾānexegeten Muhammad Asad (gest. 1992) steht der im Versabschnitt erwähnte Berg Sinai metonymisch für die Offenbarung, durch die Gott seit Entstehung des vernunftbegabten Menschen das Gespräch mit diesem sucht, worauf das vielbesuchte Haus, gemeint ist die Kaʿba in Mekka, hinweist. Der Mensch antwortet auf den Ruf Gottes, nachdem er aufgrund der unendlichen Weite des Universums und des Meeres sich zunächst fragt, was wohl hinter ihnen liegt,⁸ was schließlich zu den existenziellen Fragen führt: „Wer bin ich? Was ist meine Aufgabe und was geht hier vor sich?"⁹

    Das Gespräch mit Gott führt schließlich zu einer Lebensgemeinschaft mit Ihm, d. h. es wird angestrebt, die eigene Existenz in Einklang mit dem Willen Gottes zu bringen. In den Psalmen heißt es:

    Weise mir, Herr, deinen Weg; / ich will ihn gehen in Treue zu dir. (Psalmen 86,11)

    Religion ist gelebtes Leben und für religiöse Menschen eine den Alltag bestimmende Angelegenheit. Sie ist eine Lebenssicht, Lebenseinstellung und Lebensart. Religion ist niemals nur Privatsache und reine Verinnerlichung, schon das Gebet des Gläubigen für eine bessere Welt ist ein Ich-überschreitender politischer Akt. Religion ist ein Mensch und Welt, ja die gesamte Schöpfung umgreifendes Koordinatensystem, durch das der Gläubige sieht, denkt, fühlt, handelt und leidet.¹⁰

    Betrachten wir aus islamischer Perspektive, was hier geschieht: In der Anschauung der Welt entdeckt der Mensch unter der Oberfläche allen Seins eine Macht, die er Gott nennt. Hierdurch findet der Mensch sein Selbst: „Ich bin, weil Du bist, und weil Du bist, bin ich." Durch diese Erkenntnis erhebt sich der Mensch, so der Qurʾānexeget Abdullah Yusuf Ali (gest. 1953) über ein gänzlich materialistisches Verständnis seines Selbst und der Welt, in der er lebt.¹¹ Die englische Redewendung Seeing is Believing wird hier umgedreht Believing is Seeing, denn der Gläubige sieht nun in allem, was ihn umgibt, einen Fingerzeig auf Gott.¹² Oder anders ausgedrückt: Gott spricht durch die Schöpfung in Zeichensprache zum Menschen.

    Im Gläubigen entsteht nun eine Kraft, die Liebe zu Gott (ʿišq-u ʾllāh), die ein Streben nach Ihm auslöst. Diese Kraft wächst und wächst und ergießt sich schließlich in ihrer Überfülle als Nächstenliebe auf die Umgebung des Gläubigen, der auf diese Weise Gottes Werk ehrt – die erotisch-männliche Komponente dieses Bildes ist unübersehbar. Die Schöpfung ist gebettet in einen Ozean der Nächstenliebe – ein erotischweibliches Bild. Diese Kraft soll im weiteren Verlauf auch relationale vereinigende Kraft genannt werden, da sie in Relation zur Gottesliebe steht und die gesamte Schöpfung miteinander verbindet. Durch die Liebe zu Gott findet der Mensch sein Lebensvertrauen und richtet sich auf, zugleich wird er aber auch geerdet, da er sich in der Erkenntnis seiner eigenen Grenzen Gott in Liebe unterwirft: Durch die Liebe zu Ihm und davon abgeleitet zu Seiner Schöpfung wird das soeben erkannte eigene Selbst zu einem selbstlosen Selbst, das sich Gott hingibt, Seine Schöpfung ehrt und sich dadurch zugleich findet.

    Spätestens an dieser Stelle sollte deutlich geworden sein, bei Religion geht es nicht ausschließlich darum, ein ethisch handelnder Mensch zu werden. Dies kann auch ohne Religion erreicht werden. So heißt es auch im Prophetenwort:

    Von Abū Huraira – Gottes Wohlgefallen auf ihm –, dass der Gesandte Gottes – Gottes Segen und Frieden auf ihm – sagte: „Die Menschen sind unterschiedlicher Art wie Gold und Silber; die besten unter ihnen in der vorislamischen Zeit sind die besten unter ihnen im Islam, wenn sie in der Religion bewandert sind."

    (Miškāt Al-Maṣābīḥ Nr. 201)

    Ziel von Religion ist, den Menschen mit der gesamten Schöpfung zu verlinken, die zu Gott hinstrebt:

    Aber vor Gott wirft sich nieder, was immer in den Himmeln und auf Erden ist (…). (13:15)

    Im Prophetenwort (Sg. ḥadīṯ, Pl. aḥādīṯ) berichtet der Gesandte Gottes Muhammad (gest. 632) von seiner visionären Himmelsreise und darüber, wie er im obersten Himmel ein Spiegelbild der Kaʿba erblickte, in der 70.000 Engel beteten (Al-Buḫārī Nr. 3207, Muslim Nr. 164). Die muslimischen Mystiker erklären, dass Religion eine Reise des Einzelnen ist, deren Ziel die Begegnung mit Gott ist. Ein Aspekt dieser Unternehmung stellt die ethische Vervollkommnung des Menschen dar, aber er ist eben nur ein Faktor unter weiteren. Ethische Weiterentwicklung ohne das Ziel, sich mit der himmlischen Welt zu verlinken, ist eine Reise mit anderem Ziel. Der indische Gelehrte Muhammad Zakariyya Kandhalwi (gest. 1982) zitiert in diesem Sinn das folgende Gedicht:

    Ich fürchte o Wanderer, zur Kaʿba wirst nicht kommen,

    Da nach Turkestan dein Pfad dich führt.¹³

    Selbstverständlich ist auch ein Nein zu Gott möglich. Es ist Resultat der individuellen Erfahrung der Fraglichkeit dieser Welt. Wenden wir uns also dem Grundmisstrauen zu.

    Grundmisstrauen und…?

    Das Nein zur Welt und damit zu Gott führt zu einer zunächst pessimistischen Sicht auf das Sein. Eines Urgrundes und einer Sinnhaftigkeit beraubt, steht der Mensch vor dem Nichts. Nihilistischer (lat. nihil = nichts) Atheismus ist ein dauerhaftes Misstrauen. Misstrauen gegenüber Gottesvorstellungen, Misstrauen gegenüber der Welt, Misstrauen gegenüber den eigenen Mitmenschen, in seiner exzessivsten Form sogar Misstrauen gegen sich selbst. Der Lebensweg ist nach dieser Vorstellung: Zufall – Geburt – Existenz – Tod – Nichts. Damit ist die individuelle Existenz eines Menschen bedeutungslos. Er existiert eine Zeit lang in einem feindlichen Universum und verschwindet irgendwann wieder aus ihm. Die Zeit ist für einen solchen Menschen ein Raubtier und kein freundlicher Begleiter, wie es in einem paschtunischen Volkslied heißt:

    Die Nacht, der Tag sind beides Löwen –

    Sie fressen Lebens Fleisch und lassen nur die Knochen.¹⁴

    Ist es dann nicht das Sinnhafteste, was der Mensch tun kann, sich selbst abzuschaffen? Der Philosoph Friedrich Nietzsche (gest. 1900) schreibt:

    Wir haben es nicht in der Hand, zu verhindern, geboren zu werden: aber wir können diesen Fehler – denn bisweilen ist es ein Fehler – wieder gut machen. Wenn man sich abschafft, thut man die achtungswürdigste Sache, die es giebt: man verdient beinahe damit, zu leben…¹⁵

    Nietzsches Gedanken wurden zum Nährboden für den Antinatalismus, eine philosophische Lehre, wonach es unethisch ist, Kinder in diese Welt zu setzen, denn die Erde sei ohne den Menschen besser dran. Um nichts anderes handelt es sich dabei, als um eine Absage an die Menschheit.

    Die nihilistisch-atheistische Grunderfahrung ist die der Verlorenheit, aus der die zweite Grunderfahrung resultiert, die der Verantwortungslosigkeit. Die Bewertung der Fraglichkeit der Welt, die Verlorenheit und die Verantwortungslosigkeit bilden das Fundament des nihilistischen Atheismus.

    Schließlich gibt es noch Mischformen von Theismus, Nihilismus und Atheismus in Form des nihilistischen Theismus und der atheistischen Idolatrie. Betrachten wir diese nun nacheinander genauer.

    Der Nihilist muss nicht zwangsläufig ein Atheist sein. Die Geschichte der Religionen zeigt, dass gläubige Menschen fähig sind, das Ja zur Welt in ein Nein zu verkehren unter gleichzeitiger Wahrung des Ja zu Gott. Der nihilistische Theismus ist die Lebensgestaltung desjenigen Mystikers und Asketen, der die Welt verabscheut, getrennt von den Menschen lebt und danach trachtet, sein eigenes Ich zu zerstören, um in Gott aufzugehen und zu verschwinden. Hier geht es nicht mehr um Selbstfindung, sondern um Selbstauslöschung, sodass nur noch Gott bleibt. Eine weitere Form des nihilistischen Theismus ist der militante Extremismus in Form von Selbstmordattentaten, der in der Selbstzerstörung und der Zerstörung des anderen eine Reinigung der Welt sieht. Durch die Auslöschung des Selbst und der anderen erfolgt das Nichtsein und somit die eigene Erlösung.¹⁶

    Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Nihilismus das Leben verneint und hierdurch die Realität und die Existenz des Menschen entwertet.

    Ein Atheist ist zwar im engeren Sinne ein Gottloser, aber er muss deshalb nicht zwangsläufig ein Nihilist sein. Auch ihm ist es über einen Umweg möglich, die Welt zu bejahen, indem die metaphysische Lücke, die die Entsagung von Gott hinterlassen hat, durch etwas anderes gefüllt wird, wie etwa die atheistischen Idole der Natur, die Vernunft, trivialer: die Karriere oder Selbstoptimierung. Der Glaube an Gott wird bei der atheistischen Idolatrie durch einen anderen Glauben, also einen Religionsersatz, ausgetauscht, um zu einer existenziellen Sinnhaftigkeit zu gelangen und in weiterer Folge ein ethisches Leben führen zu können. Schließlich kann man nur so „dazugehören" und ein soziales, konformistisches und produktives Mitglied der Gesellschaft werden. Auch der Tod verliert jeglichen Schrecken, denn er ist nichts anderes als ein Einschlafen und ein ewiger Schlaf. Der Dichter Momin Khan Momin (gest. 1851) schreibt:

    Idol! Ich bin ja irgendwie auch gläubig!

    Dank deinem Bilde finde ich doch Ruhe.¹⁷

    Folglich schreibt der Theologe Hans Küng: „Auch Atheisten und Agnostiker (…) können Humanisten und Moralisten sein: ernsthaft um Humanität und Moralität bemüht."¹⁸ Der bejahende Atheismus in Gestalt der atheistischen Idolatrie verdeutlicht zum einen, dass Spiritualität zum Sein des Menschen gehört, und zum anderen, dass wenn auch gottlos, der Atheismus auch ein Glaube (A-theismus) ist, nämlich darauf zu vertrauen, dass Gott nicht existiert. Und doch vermag so mancher Atheist, der sich als spiritueller Atheist einordnet, etwas mit dem Gottesbegriff anzufangen.

    „Gott ist, so erklärte mir ein solcher Atheist einmal, „für mich kein Wesen, das man verehrt oder anbetet, sondern umschreibt, was die Wissenschaft bisher nicht in der Lage ist oder nie sein wird zu erklären.

    Glaube ist vielleicht die höchste Leistung der Vernunft, die uns Menschen als Individuen und Gruppen vor der Sinnlosigkeit des Nihilismus bewahrt.

    Existiert Gott?

    Grundvertrauen und Grundmisstrauen, das Ja und das Nein, Theismus und Atheismus, beide Grundsatzentscheidungen stehen sich scheinbar unversöhnlich gegenüber. Jede Seite besitzt ihre „Ohrwürmer an Argumenten und „Impfungen vor Gegenargumenten. Betrachten wir einmal aus dem Arsenal der Monotheisten jene Argumente, die für das Grundvertrauen, für das Ja und für die Existenz Gottes sprechen.

    Monotheisten führen als Argument für die Existenz Gottes die sogenannten Gottesbeweise an – natürlich stets unter Auslassung ihrer Schwächen:

    ▪ Der kosmologische Beweis lautet, dass die Welt Folge einer Serie voneinander abhängiger Folgen ist, die in einer Ursache-Wirkungs-Beziehung zueinander stehen. Schließlich wird dem Argument ohne Erklärung diktiert, dass ein unendlicher Rückschluss unmöglich ist. Die Reihe wird folglich an einem bestimmten Punkt durch eine unverursachte erste Ursache für beendet erklärt, wodurch das Gesetz der Verursachung, auf dem das ganze Argument gründet, außer Kraft gesetzt wird.¹⁹

    Des Weiteren wird einer endlichen Kette illegitim eine unendliche nichtimmanente Ursache vorangestellt (x6 ← x5 ← x4 ← x3 ← x2 ← x1 ← y).²⁰ Schließlich wird mit der These, dass y der Gott der prophetisch-semitischen Religionen ist, eine unberechtigte Schlussfolgerung gezogen. Bei y könnte es sich genauso gut um eine kosmische Kraft oder den Zufall handeln.

    Letztendlich sind es die Unsicherheiten des beobachteten Prinzips von Ursache und Wirkung, die das kosmologische Argument hinfällig werden lassen; denn ein Kausalvorgang besteht aus drei Bestandteilen: 1. einer Ursache, 2. einer Wirkung und 3. einer Kraft, die von einem Ereignis auf das andere wirkt, sodass wir gewiss sein können, dass die zweite Begebenheit auf der ersten beruht. Aber weder können wir Gott als Ursache noch Seine Kraft wahrnehmen. Der Analogieschluss ist also willkürlich und dem Argument eines Atheisten, dass die Welt auf Zufall beruht, nicht überlegen.²¹

    ▪ Nach dem teleologischen Gottesbeweis ist die makellose Ordnung des Universums eine Bestätigung für die Existenz eines allmächtigen allvermögenden Planers, Schöpfers und Herrschers. Jedoch ist die Prämisse, dass das gesamte Universum „geordnet" ist, nicht beweisbar. Gerade die Evolution mit ihren zahlreichen Sackgassen und die Relativität der Zeit im Universum würden dem widersprechen.

    Epistemologisch stellt sich weiter die Frage, ob das Universum tatsächlich „geordnet ist oder wir uns im Zuge unserer Entwicklung an die Umwelt so angepasst haben, dass sie uns als „geordnet erscheint.

    Des Weiteren ist von einem geordneten Universum weder ein zufälliger Rückschluss auf die Existenz eines Gottes zu ziehen noch davon auszugehen, dass es sich bei diesem um den Schöpfergott des Judentums, Christentums und des Islam handelt. Ebenso denkbar wäre, dass es sich um einen Demiurgen handelt, ein Gottesbild, wonach Gott das Universum aus vorhandener Materie formte, also vielmehr Handwerker als Schöpfer ist.

    ▪ Nach dem ontologischen Gottesbeweis erlaubt das Vorhandensein der Idee eines vollkommenen Wesens auch den Rückschluss auf dessen Existenz. Aber alles, was das Argument beweist, ist, dass die Idee eines perfekten Wesens die Idee seiner Existenz beinhaltet. Zwischen der Idee eines perfekten Wesens und der objektiven Realität jenes Wesens besteht jedoch ein unübersehbarer Abgrund. Die Idee, mehrere tausend Euro im Portemonnaie zu haben, ist wunderbar, schaut man jedoch hinein, so stellt man ernüchternd fest, dass sie nicht der Realität entsprechen muss. Verständlich, dass der Philosoph Ludwig Feuerbach (gest. 1872) Gott als bloße Projektion des Menschen abtat.²²

    Der ägyptische Philosoph Karam Khella kritisiert an den „Gottesbeweisen, dass der Beweisführung der Glaube vorausgeht, „der einen Beweis als Bestätigung sucht und auch findet. Das Resultat steht vorab fest und wird nur noch „bewiesen. Der Beweis ist nicht voraussetzungslos. (…) Das heißt, das Ergebnis stand vor dem Beweis."²³

    Alle sogenannten Gottesbeweise vermögen es nur, gute Gründe anzugeben, dass dem Universum ein mächtiger Wille zugrunde liegt. Sie scheitern jedoch daran, diesen eindeutig als den Schöpfergott der abrahamischen Religionen zu identifizieren.

    Existiert Gott nicht?

    Genauso wie Monotheisten ihre Erklärungen für die Existenz Gottes haben, so verfügen auch Atheisten über ihre „Evergreens", die gegen die Existenz Gottes sprechen. Auch diese haben ihre Schwächen, die gerne verschwiegen werden. Nehmen wir sie nun in Augenschein:

    ▪ Gemäß der psychologischen Pseudo-Entität ist der Gottesglaube einst eine evolutionäre Notwendigkeit gewesen, da bereits die Möglichkeit, die Welt zu hinterfragen, zeigt, dass es zwischen dem Menschen und der Welt eine Distanz gibt. Der Mensch ist aus dem Naturzusammenhang herausgebrochen. Er stellt Sinnfragen, die über seine materielle Welt hinausreichen und Antworten verlangen.²⁴ Die empfundene Stille des Universums habe im Menschen eine existenzielle und bedrückende Angst hervorgerufen, die seine weitere Entwicklung gefährdet habe. Die Schaffung eines unsichtbaren Ansprechpartners war in einer frühzeitlichen bzw. kindlichen Phase menschlicher Entwicklung eine Antwort auf das existenzielle Grundgefühl der Angst, um so dem Menschen ein Lebensvertrauen zu schenken. Demnach ist das metaphysische Bedürfnis des Menschen ein Schössling existenzieller Beklemmung gewesen, die den Menschen erst zu einer metaphysischen Deutung der Welt und dem eigenen Sein verführt habe. Der Philosoph Karl Marx (gest. 1883) schreibt: „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes"²⁵, wonach er folgert: „Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen."²⁶ Nietzsche schreibt ähnlich:

    In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der „Weltgeschichte": aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben. So könnte Jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustriert haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt (…)[,] menschlich ist er, und sein Besitzer und Erzeuger nimmt ihn so pathetisch, als ob die Angeln der Welt sich in ihm drehten.²⁷

    Wir meinen, das Märchen und das Spiel gehöre zur Kindheit: wir Kurzsichtigen! Als ob wir in irgend einem Lebensalter ohne Märchen und Spiel leben möchten! Wir nennen’s und empfinden’s freilich anders, aber gerade dies spricht dafür, dass es das Selbe ist – denn auch das Kind empfindet das Spiel als seine Arbeit und das Märchen als seine Wahrheit.²⁸

    Das metaphysische Bedürfniss ist nicht der Ursprung der Religionen, (…) sondern ein Nachschössling derselben. Man hat sich unter der Herrschaft religiöser Gedanken an die Vorstellung einer „anderen (hinteren, unteren, oberen) Welt gewöhnt und fühlt bei der Vernichtung des religiösen Wahns eine unbehagliche Leere und Entbehrung, – und nun wächst aus diesem Gefühle wieder eine „andere Welt heraus, aber jetzt nur eine metaphysische und nicht mehr religiöse. Das aber, was in Urzeiten zur Annahme einer „anderen Welt" überhaupt führte, war nicht ein Trieb und Bedürfniss, sondern ein Irrthum in der Auslegung bestimmter Naturvorgänge, eine Verlegenheit des Intellects.²⁹

    Die Schwäche dieses Argumentes liegt jedoch darin, dass die Prämisse, der Gottesglaube sei Folge einer existenziell empfundenen Angst, auf die der menschliche Geist mit einem „unsichtbaren Freund" antwortete, nicht nachweisbar ist. Sie bleibt reine Spekulation.

    ▪ Der atheistische Blick auf die Theodizee fragt, wie das Leid und die Ungerechtigkeit in der Welt mit Seiner Barmherzigkeit vereinbar sein können. Wenn Gott allmächtig ist, warum ist das Leben auf Seiner Welt für die meisten Menschen derart miserabel? Warum gibt es Krankheiten, wenn Gott heilen kann? Weshalb gibt es Hunger, wenn Gott versorgen kann? Warum schuf ein barmherziger Gott eine Welt, in der der unzulängliche Mensch an seiner Unzulänglichkeit scheitern und schließlich bestraft werden kann? Ist Gott für uns Menschen da? Oder hat Er uns angelogen? Ist nicht an Ihn zu glauben nicht auch ein Appell an Gott, dass das, was Er ist, nicht genügt? Und zugleich eine Aufforderung, dass Er mehr aus sich machen und sich mehr anstrengen muss, damit Er es verdient, Gott genannt zu werden? Darf der Mensch bestraft werden, weil er diese Wahrheit erkannt hat und ambitioniert genug ist, nicht an einen schwachen Gott zu glauben?

    Andere Denker dieser Argumentation verweisen auf die unzähligen Irrwege der Evolution, die zur Auslöschung von Leben führten, und fragen, wie denn diese mannigfachen Fehlentwicklungen mit Seiner Allmacht und Seinem Wissen erklärt werden können. Wenn es einen Gott gäbe, dann wäre dieser ein Stümper, der wiederholt bei der Schaffung von Leben scheiterte und mit dem Menschen nun einmal Glück gehabt hat. Und einem solchen Wesen soll man Verehrung entgegenbringen?

    Auch diese Argumentation vermag es lediglich Fragen aufzuwerfen, unterschlägt jedoch theologische Antworten, die es vermögen, das Leid in der Welt mit Seiner Barmherzigkeit zusammenzudenken. Eine weitere Schwäche besteht darin, dass Gottes Existenz nicht negiert wird, sondern lediglich Seine Macht.

    ▪ Das Argument von der Verzauberung der Welt sieht in der Religion eine Form von Eskapismus, damit der Mensch vor einer einfachen Wahrheit fliehen kann: dass diese Welt nämlich miserabel ist und wir Gefangene einer vergänglichen Materie sind. Der Mensch ist lediglich ein Stück Fleisch auf einem Förderband; er betritt diese Welt und verlässt sie wieder. Religion ist ein Akt der Selbsttäuschung von Individuen und Gesellschaften, um zu einer Sinnhaftigkeit zu gelangen. Aufgabe des Atheismus ist, die Welt zu entzaubern.

    Nicht alle Atheisten werden eine solch pessimistische Sicht auf die Existenz des Menschen teilen, da sie den intellektuellen Wert ihres Lebens hoch einschätzen und ihnen viel an den Lebenserfahrungen, die sie machen, liegt; zustimmen werden sie aber, dass die Religion nichts weiter als einen Zaubertrick darstellt.

    Dieses atheistische Entzauberungsprojekt hat seit dem 19. Jahrhundert zur Entstehung massenkompatibler säkularer Weltanschauungen in Gestalt des Nationalismus, Faschismus, Nationalsozialismus, Kommunismus und Liberalen Imperialismus mit monströsen Folgen für die Menschen geführt. Somit besitzt auch der Atheismus eine Gewaltgeschichte, über die gerne geschwiegen wird oder es wird sich distanziert mit dem Verweis, man selbst lebe ja einen humanistischen Atheismus.

    ▪ Das Argument vom sadistischen Gott verweist zum einen auf die biblischen und qurʾānischen Erzählungen, in denen Gott den Menschen auf die Probe stellt, Völker vernichtet oder von Abraham verlangt, seinen Sohn zu opfern, und zum anderen auf die Historie der monotheistischen Gemeinschaften, die in Seinem Namen gehetzt, gequält und gemordet haben. Ist ein solcher Gott gut zu nennen? Ist ein solcher Gott überhaupt anbetungswürdig oder nicht eher als „kaputt" und böse zu bezeichnen?

    Auch bei diesem Argument wird Gott nicht widerlegt, sondern lediglich negativ gedacht. Dieses Unvermögen, Gottes Existenz zu negieren, wird bei Nietzsche in der wohl bekanntesten Erzählung der atheistischen Geisteswelt deutlich:

    Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: „Ich suche Gott! Ich suche Gott! – Da dort gerade Viele von Denen zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein grosses Gelächter. Ist er denn verloren gegangen? sagte der Eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der Andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? – so schrieen und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. „Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch Nichts von dem Lärm der Todtengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, – wer wischt diess Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine grössere That, – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser That willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war! – Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, dass sie in Stücke sprang und erlosch. „Ich komme zu früh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit. Diess ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert, – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Thaten brauchen Zeit, auch nachdem sie gethan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese That ist ihnen immer noch ferner, als die fernsten Gestirne, – und doch haben sie dieselbe gethan! – Man erzählt noch, dass der tolle Mensch des selbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo³⁰ angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur diess entgegnet: „Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?³¹

    Euphorie klingt anders. Der Aphorismus handelt nicht nur von dem Niedergang der Religionen, also einer Zeitenwende und den damit verbundenen moralischen Konsequenzen, sondern entwirft auch den kosmischen Horror, dass die Gebete der Gläubigen an einen vor sich hin verwesenden Gott gehen, der sie nicht mehr erhören kann. Die gesamte Himmelswelt ist tot. Erde und Himmel erfüllt von den Leichen Seiner Engel. Der Mensch ist von nun an allein. Und doch kommt der Philosoph nicht umhin einzugestehen, dass es Ihn zumindest einst gab.

    Eine selbstverantwortete Entscheidung

    Grundvertrauen oder Grundmisstrauen, alle Argumente für das eine oder das andere dürfen, wenn sie denn redlich vorgetragen werden wollen, nicht außer Acht lassen, dass sie den beschränkten Horizont des Menschen spekulierend übersteigen. Der Glauben an das eine oder andere ist am Ende ein begründetes Sich-Einlassen, ein Akt des Vertrauens auf eine Anschauung der Welt. Der Theist und der Atheist verstehen jeweils, warum und was sie da annehmen, d. h. sie können ihre jeweiligen Positionen rational verständlich und nachvollziehbar darlegen. Gläubige sind also nicht weniger kritisch als Religionskritiker.³² Aber zugleich ist das Einlassen mehr als nur Vernunft. Glauben ist nicht gleichzusetzen mit beweisen. Alle Argumente für oder gegen Gott können lediglich Fragen aufwerfen. Sie regen zum Nachdenken mit offenem Ausgang an. Vertrauen ist mehr als nur rationale Zustimmung.

    Aber, und dies wird anhand der „Gottesbeweise" deutlich, dieses Vertrauen darf niemals ein blindes, ein irrationales sein, das die Zuflucht beim Mysterium sucht. Der Unterschied zwischen Glaube und Aberglaube muss klar sein: Ersteres muss kohärent mit der Vernunft des Menschen sein. Die Vernunft, so der Philosoph Ibn Bağğa (gest. 1138), ist ein Geschenk und eine Gnade Gottes, die durch die Offenbarung nur hinsichtlich jener Stufen vollendet wird, die durch das Nachdenken nicht erfasst werden können. Keinesfalls ist es jedoch möglich, dass die Offenbarung der Vernunft widerspricht.³³

    Die Fraglichkeit der Welt bleibt jederzeit bestehen: Theismus oder Atheismus; beides bleibt als Alternative stets greifbar.³⁴ Die Entscheidung für das eine oder andere bleibt ein Wagnis. Und nicht alles in der Welt ist durch bloßes Nachdenken zu ergründen, sondern muss gelebt und erfahren werden, um letztendlich bewertet werden zu können. Eine Tatsache, die gerade Muslimen bewusst ist, da eine Konzentration auf das eigentümliche Islamische keine Offenbarung und keine Person, sondern eine Verhaltensweise Das Friedenmachen ist.

    Der Glaube ist eine individuelle selbstverantwortete Lebensentscheidung, die jeder allein trifft und die respektiert werden muss. In diesem Sinne dichtet der paschtunische Dichter Khuschhal Khan Khattak (gest. 1689):

    Lass den Frommen fasten, beten,

    ich füll’ meinen Becher mir:

    Jeder Mensch, sein eignes Leben

    soll er leben – oder nicht?³⁵

    Der Zugriff auf die metaphysischen Fragen „Was darf ich glauben? und „Was darf ich hoffen? ist Theisten und Atheisten gleichermaßen entzogen, sodass keine Seite sich mit einem objektiven Wahrheitsanspruch versehen kann.

    Von daher ist die intellektuelle Auseinandersetzung zwischen Theismus und Atheismus das falsche Schlachtfeld. Statt über Theorien zu schwafeln, sollten beide Seiten aus ihren Überzeugungen heraus der Menschheit durch Taten zeigen, dass sie es vermögen, diese Welt zu einem besseren Ort zu machen.

    Das heißt nicht, dass Monotheisten und Atheisten sich nichts zu sagen hätten. Der Atheismus ist uns Muslimen gar nicht so fremd, wenn es im ersten Teil unseres Glaubensbekenntnisses, der aš-šahāda, heißt: ašhadu al-lā ʾilāha (Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt), um dann anzufügen ʾilla ʾllāh (außer Gott).

    Über dieses Stoppen und Weitergehen an der Stelle keinen Gott gibt könnten beide Seiten ein respektvolles Gespräch führen dessen Gegenstand die Wucht der Fraglichkeit der Welt ist, die mit ihr verbundene epistemologische Angst und den Rahmen, den uns der Verstand aufzwingt und den wir als Realität bezeichnen, sowie unsere selbstverantwortete Entscheidung, wie wir unser Leben gestalten wollen.

    2 Vgl. Küng, Hans (1978: 73) u. Theißen, Gerd (2010).

    3 Vgl. Theißen, Gerd (2010).

    4 Vgl. ebda.

    5 Schimmel, Annemarie (1996: 142).

    6 Vgl. Küng, Hans (1978: 74).

    7 Vgl. Asad, Muhammad (2009: 1027).

    8 Vgl. ebda. (995).

    9 Jones, Brian Jay (2016: 40).

    10 Vgl. Küng, Hans; Bechert, Heinz (2004: 13).

    11 Vgl. Ali, Abdullah Yusuf (1992: 64).

    12 Vgl. ebda. (67).

    13 Kandhalwi, Muhammad Zakariyya (2009: 35).

    14 Schimmel, Annemarie (1996: 241).

    15 Nietzsche, Friedrich (2011: 135).

    16 Vgl. Kermani, Navid (2006: 54-55).

    17 Schimmel, Annemarie (1996: 157).

    18 Küng, Hans (1980a: 37).

    19 Vgl. Iqbal, Muhammad (2006: 53).

    20 Vgl. ebda.

    21 Vgl. Murtaza, Muhammad Sameer (2014: 42).

    22 Vgl. Küng, Hans (1994a: 38).

    23 Khella, Karam (2006: 302).

    24 Vgl. Striet, Magnus (2000: 94).

    25 Marx, Karl (2019: 11).

    26 Ebda.

    27 Nietzsche, Friedrich (2003: 875).

    28 Nietzsche, Friedrich (1999a: 493).

    29 Nietzsche, Friedrich (1999b: 494-495).

    30 Herr, schenke ihnen die ewige Ruhe.

    31 Nietzsche, Friedrich (1999b: 480-482).

    32 Vgl. Küng, Hans (2009: 141).

    33 Vgl. Avempace (2015: 138).

    34 Vgl. Küng, Hans (1980a: 34).

    35 Schimmel, Annemarie (1996: 230).

    Körperlichkeit

    Das Gedankenexperiment von der Fraglichkeit der Welt ist ein modernes Konzept, das vermitteln soll, dass der Glaube an Gott eine rational begründete Entscheidung ist.³⁶ Doch wir müssen uns klarmachen, dass eine rein theoretische Zustimmung zu Gott einem existenziellen Schock niemals standhalten kann: der plötzliche Tod eines geliebten Menschen, der Verlust unseres Zuhauses, der Sturz auf die unterste Stufe der sozialen Leiter; sie alle können zu Sinnverlust, dann Depressionen, Aggressionen, vielleicht sogar Sucht führen; also dem Zusammenbruch des ganzen religiösen Sinnsystems.³⁷ Der Glaube muss tiefer reichen, um eine Stütze sein zu können. Er muss eine gelebte Erfahrung sein.

    Als ich mit 16 Jahren ein spirituelles Erlebnis hatte, führte dieses mich schnurstracks in eine lokale Moscheegemeinde, ohne dass ich diesen Weg bewusst eingeschlagen hatte. Hinterher versuchte ich, diese Erfahrung rational einzuordnen und zu hinterfragen. Nur weil meine Füße mich zu einer Moschee brachten, bedeutete dies doch noch lange nicht, dass der Islam die für mich wahre Religion ist. In der darauffolgenden Zeit beschäftigte ich mich – soweit dies für einen Jugendlichen eben möglich ist – mit dem Judentum, Christentum, Islam und Buddhismus. Doch all das Grübeln verwirrte mich nur umso mehr. In dem Dorf, in dem ich aufwuchs, gab es einen Buddhisten, der am Waldrand ein Grundstück erworben hatte, um dort als Mönch zu leben. Er wohnte in zwei einfachen Lehmhügeln, der eine diente ihm als Wohn-, der andere als Schlafzimmer. Oft trug der wohl 36-jährige Mann, dessen Gesicht ein dichter schwarzer Bart schmückte, einen einfachen grünen Mao-Anzug. Wir verbrachten damals viel Zeit miteinander und unterhielten uns über die verschiedenen Religionen. Zu keinem Zeitpunkt versuchte er, meine Suchbewegung dahingehend zu beeinflussen, dass ich mir den Buddhismus erwähle. Als er merkte, dass meine Vernunft, die darauf aus war, einen unumstößlichen Beweis zu finden, damit ich mich meiner Entscheidung absolut sicher sein konnte, mich von der notwendigen Antwort auf mein Erlebnis abbrachte, riet er mir Folgendes: „Die Wahrheit ist es für dich, wenn dein Körper darauf reagiert. Wenn du Gänsehaut bekommst und sich die Härchen auf deinem Arm aufrichten, dann hast du die Antwort, die du suchst." Nachdem die Vernunft mir bei meiner Suche eher hinderlich gewesen war, vertraute ich meinem Körper, so wie damals, als er mich zu einer Moschee führte. Ich las noch einmal etwas in der Bibel, im Qurʾān und tatsächlich reagierte mein Körper auf letzteren und meine Härchen richteten sich auf. Diese körperliche Erfahrung war ein Glaubensmoment, dem ich vertraute und es bis heute nie bereut habe.

    Erfahrungsmedium Körper

    Nach der ursprünglichen islamischen Lehre war der Mensch zunächst ein lebloser Körper und wurde dann durch die rūḥ belebt. Es heißt in der Offenbarung:

    Dann formte Er ihn und blies von Seinem Geist (min rūḥihi) in ihn. (…) (32:9)

    Der pakistanische Gelehrte Ghulam Ahmad Parwez (gest. 1985) überträgt den Begriff rūḥ, der üblicherweise mit Geist Gottes übersetzt wird, mit göttliche Energie.³⁸ Es ist diese, die schließlich den Menschen belebt und über das Gehirn zur Entstehung eines Bewusstseins führt:

    (…) Und Er gab euch Gehör, Gesicht, Gefühl und Verstand. (…) (32:9)

    Durch das Elternhaus und soziale Einflüsse formt schließlich ein jeder von uns eine einzigartige Persönlichkeit. Dieser ganze Mensch wird in der qurʾānischen Terminologie als nafs (Selbst) benannt und es ist diese nafs, nicht die rūḥ, die von Gott am Jüngsten Tag befragt wird. Der Tod bedeutet immer nur den Tod des Körpers, aber nicht des Bewusstseins, das durch die ontologische Verbindung zu Gott mittels der rūḥ erhalten bzw. abgespeichert wird. Die Auferweckung ist schließlich die Zurückführung des Bewusstseins in den restaurierten Körper. Diese Phase des Getrenntseins nimmt der Mensch, laut der Offenbarung, so gut wie gar nicht wahr:

    Und am Tage, an dem Er sie versammelt, wird es ihnen sein, als hätten sie nur eine Stunde des Tages verweilt (…). (10:45)

    Der Mensch ist demnach Materie und er erfährt die Realität durch seinen Körper. Zugleich ist er aber mehr als nur rohe Materie; körperlich, aber durch sein Bewusstsein mehr als nur ein Körper.

    Und was ist mit der Seele? Seele ist eine griechische, keine abrahamische Vorstellung. Schon dem Volk Israel war eine vom Körper getrennt existierende Seele unbekannt. Den Menschen stellten sich die Israeliten als eine Einheit vor, der durch den Atem Gottes belebt wurde. Wer aufhört zu atmen, war leblos, da jegliche Lebensenergie aus dem Körper geflossen war. Dieser Zustand dauert an, bis, so ist es Daniel 12,1-3 zu entnehmen, die Körper wiederbelebt werden. Würde es eine vom Körper unabhängige Seele geben, wäre eine körperliche Wiederauferstehung überflüssig. Diese Sicht war auch jene von Jesu, der an die Wiederauferstehung des ganzen Menschen glaubte und nicht an eine unsterbliche Seele. Ewiges Leben gibt es nur als eine körperliche Existenz. Den Gedanken einer Seele verdankt die Welt dem Philosophen Platon (348/347 v. Chr.), die Propheten Israels und Jesu waren jedoch Juden und in ihrer Tradition, nicht der griechischen, bewegen sich Christen und Muslime.

    Das Sehen wird im Zusammenhang mit Erkenntnis im Qurʾān immer wieder betont, was zugleich eine Absage an ein Vernunftverständnis ist, das der Vernunft einen erhabenen Sitz über den Wolken zuschreibt. Schöpfung ist Sehen. Sehen ist Entdecken. Entdecken kann zu Einsicht und Wissen führen. Augen, Ohren und Hände, der Kern des Menschen; sie sind es, die uns das Universum erfassen lassen. Und sie sind es, die unsere Vernunft antreiben.

    Das Leben ist kein theoretisches Erleben, sondern eine körperliche Erfahrung. Nicht cogito ergo sum, sondern „Solange ich handle, bin ich lautete die Losung des Philosophen Muhammad Iqbal (gest. 1938).³⁹ Ihre Richtigkeit kann ein jeder praktisch nachvollziehen, indem er mit seinen Fingernägeln über seinen Arm streicht. In dieser Berührung erfährt und spürt man sich um so viel mehr als in einer bloßen Vergeistigung. Daher schreibt die Philosophin Stangneth: „Es ist etwas ganz Unterschiedliches, Körper zu sein und zu wissen, dass man körperlich ist.⁴⁰ Der Denkapparat bzw. Geist lässt den Menschen immer nur in die Vergangenheit oder Zukunft abschweifen, aber durch den Körper existiert man in der Gegenwart.⁴¹ Der Mensch sollte sich als Ganzes begreifen und mit seinem eigenen Körper in Verbindung treten, über den Gott positiv in der Offenbarung spricht:

    Wir erschufen den Menschen gewiß in schönster Gestalt. (95:4)

    Der Mythologieforscher Joseph Campell (gest. 1987) verweist auf eine interessante Erzählung, in der ein europäischer Ritter in den Wäldern einst auf einen muslimischen Ritter traf. Beide richteten ihre Lanzen aufeinander und ritten los. Die Lanze des europäischen Ritters traf und durchbohrte den Muslim. Dessen Lanze jedoch kastrierte den Europäer. Nach Campell repräsentiert diese Erzählung den platonischen und in das Christentum aufgenommenen Dualismus von Körper und Geist, Natur und Kultur, der letztendlich zu einer spirituellen Verkümmerung des Europäers führte.⁴²

    Platon unterschied zwischen einer Welt der Erfahrung und Vergänglichkeit, die der Mensch durch seine Sinne wahrnimmt, und einer Welt der unvergänglichen Urbilder oder Ideen, die nur dem Denken zugänglich sei. Bei Plotin (gest. 270) werden diese zwei Wirklichkeiten durch die Verbindung mit der Emanation noch verschärft. Demnach floss diese Welt aus dem Göttlichen heraus, sie wird aber von diesem nicht erkannt, sondern ist, wie Küng schreibt, „Abfall. Die Materie, der Leib ist das Schlechte, von dem der Mensch sich befreien muss."⁴³ Durch den Kirchenvater Augustinus (gest. 430) wurde Platons Wirklichkeitsscheidung christianisiert, wonach die Urbilder als Gedanken Gottes aufgefasst werden, anhand derer Er die Dinge in der vergänglichen Welt erschuf. Sowohl bei Platon als auch später im Christentum erfährt die diesseitige Welt eine enorme Abwertung, da sie die nicht wahre Wirklichkeit ist, während die jenseitige Wirklichkeit die wahre und erstrebenswerte Welt sei. Der einzige Unterschied bestand darin, dass die Christen das räumliche Modell des Platonismus Hier-Dort in ein zeitliches Jetzt-Dann ummünzten. Auf diese Weise wertete das Christentum den Gegenwartsbezug des Menschen zugunsten einer Zukunftserwartung ab. Die Vorstellung einer Seele fand auf zweierlei Weise auch Eingang in das muslimische Denken: über die falsafa, die islamisierte neuplatonische Philosophie, und den Sufismus, der Mystik, und deren zahlreiche Kontakte zu christlichen Mönchen. Die rūḥ wurde zur Seele umgedeutet und die nafs zum Ego degradiert, das ausgelöscht bzw. unterdrückt werden muss.

    Der Muslim in der Rittererzählung, so Campell, repräsentiert die Einheit von Körper und Geist, ein Verständnis, das für ein spirituelles Leben notwendig sei. Und so entdeckt der verletzte europäische Ritter schließlich eine Inschrift auf der Lanze seines Gegners, die auf den Heiligen Gral verweist und den Muslim als Gralsritter identifiziert. Campell deutet diese Erzählung als eine innerchristliche Kritik an der Zweiweltenlehre, da wahre Religion nur die Einheit kennt. Erst als der Ritter diesen Dualismus hinter sich lässt, erweist er sich als würdig, ein Gralsritter zu werden.⁴⁴

    Stangneth weist ebenfalls darauf hin, dass die Zweiweltenlehre das europäische Denken historisch tief geprägt hat und feste Koordinaten bildet, sich in der Welt und im eigenen Denken zu orientieren: Kultur versus Natur, Mensch versus Tier, Intellekt versus Körper und damit auch Sexualität. Die Abwertung dieser Welt machte die Natur, das Tier, den Körper und die Sexualität zu einem Feind des Menschen, da sie das Gegenteil einer vergeistigten Gottesvorstellung sind.⁴⁵

    Ganz anders im Islam, wenn es z. B. in der Offenbarung heißt:

    Und spendet auf Gottes Weg und stürzt euch nicht mit eigener Hand ins Verderben und tut Gutes; denn siehe, Gott liebt die, die Gutes tun. (2:195)

    Die Hand (yad) steht hier für die Körperlichkeit des Menschen und sein Handeln, das letztendlich seinen eschatologischen Ausgang bestimmt.

    Ein theoretisches und vergeistigtes Leben lehnt die qurʾānische Weltanschauung ab, stattdessen fordert sie vom Gläubigen, sich vielmehr in die Wogen des Meeres, die das Leben repräsentieren, zu stürzen. Iqbal dichtet:

    Halt nicht dein Festbankett am Meeresstrande – Dort klingt des Lebens Melodie gedämpft.

    Wirf dich ins Meer und streite mit den Wellen – Denn ew’ges Lebens heißt: daß man stets kämpft. (…)

    Der Rastplatz ist ein Stein im Weg mir nur!⁴⁶

    Bei dem britischen Schriftsteller Ian Fleming (gest. 1964) heißt es ähnlich: „Ich werde meine Tage nicht damit vergeuden, sie verlängern zu wollen. Ich werde meine Zeit nutzen."⁴⁷

    Erst im gelebten Glauben, der ihn zugleich auf den Prüfstand stellt, findet das Herz zur vertrauensvollen Gewissheit (yaqīn), wenn sich der Glaube bewährt hat. Nicht durch Theoretisieren, sondern durch den gelebten Glauben, d. h. durch die Tat, erlangt der Mensch die Einsicht, dass sein in Gott begründetes Grundvertrauen ein vernünftiges Wagnis ist. Hier erfährt der Mensch ein Ergriffenwerden und Ergriffensein, welches sich aber erst durch das Ausüben des Glaubens einstellt.

    Im Islam wird die Natur bzw. Schöpfung als ein Zeichen Gottes (āyah) geehrt, was manche christliche Theologen, gefangen in der Zweiweltenlehre, veranlasste, den Islam als primitive Naturreligion zu denunzieren. Des Weiteren wird der Mensch als Teil der Schöpfung betrachtet, der zugleich durch das Bewusstsein seines Selbst aus dem Naturzusammenhang herausgebrochen ist. Seine Aufgabe ist es, Zivilisation zu schaffen, die sich jedoch nicht als Gegensatz zur Natur begreift. Der Körper wird als das primäre Erfahrungsmedium erachtet und so sind die gottesdienstlichen Handlungen wie Gebet, Fasten und die Pilgerfahrt körperintensiv.

    Sich durch seinen Körper zu erfahren, klammert natürlich die Sexualität nicht aus. Sie ist im Islam ein dermaßen wichtiges und komplexes Element der Selbst- und Gotteserfahrung, dass sie fester Bestandteil selbst des paradiesischen Lebens ist, wenn es lustvoll heißt:

    Für die Gottesfürchtigen aber ist Beglückendes bestimmt: Gärten und Weinberge, vollbusige, ebenbürtige Partnerinnen und volle Becher. (78:31-34)

    An dieser Stelle muss ergänzt werden, dass dieser Vers aufgrund der Mehrdeutigkeit der arabischen Sprache interessanterweise doppeldeutig ist und je nach Geschlecht des Lesers eine andere Bedeutung annimmt, so liest er sich für eine Frau wie folgt:

    Für die Gottesfürchtigen aber ist Beglückendes bestimmt: Gärten und Weinberge, prächtige, ebenbürtige Partner und volle Becher.

    (78:31-34)

    Die Koordinaten des muslimischen Denkens, sich in der Welt und im eigenen Denken zu orientieren, sind folglich ganzheitlich.

    Dies erklärt, weshalb Christen sich bis heute daran stoßen, dass Sexualität einen Platz im Islam hat, während Muslime irritiert sind, dass die Gegenseite Religion und Lust oftmals nicht zusammendenken kann. Dies erklärt auch die Diffamierung des Gesandten Gottes (und damit der Muslime) als einen Sexgetriebenen, der aus diesem Grund niemals ein Prophet Gottes gewesen sein kann. Bei aller sexuellen Freizügigkeit in vielen europäischen Ländern wird die Sexualität unbewusst noch immer als etwas Viehisches betrachtet, während Religion und ihre Vertreter hierüber erhaben sein sollen und über den Wolken schweben müssen. So beklagt die Sexualerzieherin Barbara Carrellas, dass wir in der westlichen Sexualität zwar über einen dirty talk verfügen, aber über keine wertschätzende positive sexuelle Sprache.⁴⁸ Wie christlich das säkulare Abendland hier noch denkt! Dabei ist doch Sexualität, so der baptistische Pastor und Seelsorger Gary Chapman, Teil der Liebessprache der Zärtlichkeit.⁴⁹ Wäre es daher nicht unnatürlich, wenn die Freude an der Sexualität keinen wertschätzenden Platz in der Religion hätte?

    Sexualität und Gotteserfahrung

    An dieser Stelle sollen zwei Begriffe erläutert werden: Sex und Sexualität. Mit Sex bezeichne ich lediglich die Mechanik des Aktes, während ich unter Sexualität zwei Menschen verstehe, die sich auf Intimität einlassen und somit ein Liebespaar bilden.

    In den islamischen Quellen ist die Sexualität kein Thema, das an die Seitenlinie menschlicher Existenz verbannt wird, sondern sie zählt im Rahmen der Partnerschaft (nikāḥ) zu einer gottesdienstlichen Handlung und wird somit mit der Anrufung Gottes bismi ʾllāh (Im Namen Gottes) eingeleitet, gleich um welche Spielart von Sexualität es sich handelt, ob um Slow Sex oder BDSM. Es heißt in einem Prophetenwort:

    Anas berichtete, dass der Gesandte Gottes – Gottes Segen und Frieden auf ihm – sagte: „Wenn ein Diener [Gottes] heiratet, so hat er die Hälfte der Religion erfüllt. So soll er Gott um die verbliebene Hälfte fürchten." (Miškāt Al-Maṣābīḥ Nr. 3096)

    Wenn die Partnerschaft dermaßen wichtig ist, dann gilt dies auch für die Partnerwahl. Ein muslimischer Gelehrter in München erklärte einmal in einem Seminar, dass man bei der

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