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Imperator
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eBook475 Seiten6 Stunden

Imperator

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Über dieses E-Book

Seit Hunderten von Standardjahren herrscht Frieden im Reich von Jemed, dem »Ewigen«, der die Planeten der ehemaligen Föderation unter seiner Herrschaft geeint hat und schon zu Lebzeiten zur Legende geworden ist.

Doch jenseits der Grenzen des Reiches schreitet die Evolution der Maschinenintelligenzen voran und bedroht nicht nur die Menschen und ihre
Unterstützer, sondern ruft auch eine Macht auf den Plan, die imstande ist, ganze Universen auszulöschen.

Doch von alldem ahnt man auf dem beschaulichen Bücherplaneten Libaria Rock nichts, wo der junge Railan Cortez in Geborgenheit aufwächst, bis er in einen Strudel von Ereignissen gerissen wird, die ihm schon bald seine Bestimmung offenbaren.
SpracheDeutsch
HerausgeberAtlantis Verlag
Erscheinungsdatum11. Dez. 2022
ISBN9783864028755
Imperator

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    Buchvorschau

    Imperator - Frank W. Haubold

    IMPERATOR

    Buch I

    Der verlorene Gott

    Prolog

    Vor 500 Standardjahren opferten sich Miriam Katana und Commander Raimond Farr, um die Energiebasis der Spieler (abtrünnige KIs, die in menschlichen Klonkörpern zu Hybridwesen wurden) zu zerstören.

    Dadurch brach auch die Invasion zusammen, die die rachsüchtige Geliebte eines Spielers mithilfe einer hochgerüsteten Klonarmee gegen ihre alte Heimat führte. Viele Planeten der Föderation wurden zerstört, aber der Schlüsselplanet Patonga konnte bis zuletzt gehalten werden, sodass die Verteidiger über ein geheimes Portal nach Terra fliehen konnten, der seinerzeit durch den Krieg fast entvölkerten alten Erde.

    Die halbmenschliche Ailin Ramakian (Tochter eines Spielers und einer Menschenfrau) wurde zur ersten Herrscherin der Neuansiedlung, gefolgt von ihrem Sohn Jemed, dem ein Seher eine große Zukunft vorhergesagt hatte.

    Jemed Ramakian organisierte in der Folge nicht nur die Wiederbesiedlung der alten Erde, sondern vereinte auch die verbliebenen Planeten der ehemaligen Föderation unter seiner Herrschaft. Mithilfe einer Macht, die im Verborgenen bleibt, errichtete er den sogenannten Limes, der verhindern sollte, dass versprengte Spieler Zugang zum Reichsgebiet finden. Die Maßnahme bewährte sich, und nachdem Jemed die kaiserliche Flotte zu einem militärischen Machtfaktor hochgerüstet hatte, verpflichteten sich selbst die wehrhaften Sikhaner, die Reichsgrenzen zu respektieren.

    Um Glaubenskriege wie damals auf Terra für immer auszuschließen, verbot Jemed sämtliche religiösen Aktivitäten im Reichsgebiet, sodass auch der ehrwürdige Orden der Heiligen Madonna der letzten Tage seine Heimstatt außerhalb der Reichsgrenzen nehmen musste.

    Von gelegentlichen Scharmützeln mit Raumpiraten oder räuberischen Söldnerclans wie den Mareen abgesehen, herrscht nun seit Hunderten Standardjahren Frieden in Jemeds Reich, auch wenn dem Langzeitherrscher selbst persönliches Glück versagt blieb und ihm die Amtsgeschäfte immer mehr zur Last werden.

    Doch die Zeiten von Frieden und Prosperität neigen sich ihrem Ende zu. Die Zerstörung ihrer Basis hat die abtrünnigen KIs zwar geschwächt, aber nicht geschlagen. Daran ändert auch die hartnäckige Verfolgung ehemaliger Spieler durch das sikhanische Sichelschiff Amesha nichts, das wie sein Kommandant Admiral Okura inzwischen selbst zur Legende geworden ist.

    Die Evolution der Maschinenintelligenzen schreitet dennoch voran und bedroht nicht nur die Menschen und ihre Unterstützer, sondern ruft auch eine Macht auf den Plan, die imstande ist, ganze Universen auszulöschen.

    Doch von alldem ahnt man auf dem beschaulichen Bücherplaneten Libaria Rock nichts, wo eifrige Archivare das Schrifttum der Menschheit sammeln und bewahren und der junge Railan Cortez in Geborgenheit aufwächst …

    1

    Der Perlenmeister

    Ein Misston! Daran bestand kein Zweifel, auch wenn gewöhnliche Sinne außerstande gewesen wären, die kaum merkliche Störung der Harmonik überhaupt wahrzunehmen. Doch wie ein begnadeter Dirigent, der unter Dutzenden Violinisten mit Leichtigkeit den Urheber eines falschen Tones herauszufinden vermag, war der Meister in der Lage, jede Unregelmäßigkeit in den akustischen Mustern des aus Hunderten Quellen gespeisten Klangteppichs, der den Perlensaal erfüllte, herauszufiltern.

    Dazu bedurfte es nicht einmal besonderer Aufmerksamkeit, denn die Beziehung zwischen dem Objekt seiner Fürsorge und den eigenen Sinnen war inzwischen beinahe symbiotischer Natur. Für einen Außenstehenden mochte die winzige Tonabweichung angesichts der vielstimmigen Wucht der Harmonien vernachlässigbar sein, dem Meister bereitete sie jedoch fast körperlichen Schmerz wie ein haarfeiner Stachel im Fleisch.

    Schlagartig war er hellwach, auch mit jenen Bereichen seines multiplen Bewusstseins, die mangels Beschäftigung normalerweise im Halbschlaf dahindämmerten oder sich aus dem unerschöpflichen Reservoir des Traumlandes bedienten.

    Wie unsichtbare Fingerkuppen glitten die geschärften Sinne des Meisters über die Oberflächen der frei im Raum schwebenden Perlen und tasteten sie ab, ohne ihre jeweilige Position jedoch auch nur um einen einzigen Millimeter zu verändern. Jede noch so winzige Abweichung würde das fragile Gebilde beschädigen und Disharmonien hervorrufen, die in ihren Folgen unkalkulierbar waren. Allein die Vorstellung war ein Sakrileg, weshalb der Meister den Gedanken sofort wieder aus seinem Bewusstsein verbannte.

    Zudem war die Ursache des Übels schnell gefunden – eine unscheinbare Perle vergleichsweise geringer Größe, die sich äußerlich in nichts von ihren Nachbarn unterschied. Dennoch war die Normabweichung signifikant, sowohl mathematisch als auch in ihrem Schwingungsverhalten, was bedeutete, dass ihr inneres Gleichgewicht zumindest punktuell gestört war. Zweifellos – so absurd die Vorstellung auch schien – gingen dort Dinge vor, die sich ihrer Kontrolle entzogen, gefährliche Dinge. Natürlich hatte es Ähnliches schon gegeben – wenn man so lange Dienst tat wie der Meister, gab es wenig, was wirklich neu war –, aber das war eine halbe Ewigkeit her und nach der Reorganisation der betroffenen Objekte waren die Sicherheitsmaßnahmen drastisch verschärft worden. Wenn jetzt erneut eine Welt außer Kontrolle geriet, hatte jemand versagt: der Hüter!

    Da das Objekt inzwischen eingeordnet war, benötigte der Meister nur wenige Augenblicke, um die Identität des Hüters festzustellen und eine Kontaktanforderung auszulösen. Doch zu seiner Überraschung blieb die Nachricht unbeantwortet, selbst nach Wiederholung mit erhöhter Dringlichkeitsstufe. Entweder der Hüter verweigerte den Kontakt, was angesichts der Konsequenzen einer derartigen Insubordination kaum vorstellbar war, oder ihm war etwas zugestoßen.

    Auch das war extrem unwahrscheinlich – Hüter waren innerhalb ihres Verantwortungsbereiches unsterblich und mit Fähigkeiten ausgestattet, die jeden physischen oder mentalen Angriff auf ihre Person zur Aussichtslosigkeit verdammten –, aber ein gewisses Restrisiko bestand immer. Zumindest hatte es in der Vergangenheit vereinzelt Fälle gegeben, in denen Hüter Hilfe angefordert hatten, weil sie bestimmten Entwicklungen nicht mehr Herr wurden. Tatsächlich zu Schaden gekommen war allerdings keiner von ihnen, was das Schweigen seines Untergebenen noch mysteriöser machte.

    Allerdings konnte es auch ein psychologisches Problem sein, das den Hüter an einer Antwort hinderte. Zwar waren dem Meister keine diesbezüglichen Präzedenzfälle bekannt, wohl aber Berichte, nach denen die emotionale Beziehung zwischen Hüter und Schutzbefohlenen im Einzelfall zu Konflikten geführt hatte. Die Betroffenen waren auf eigenen Wunsch abgelöst worden, es war allerdings durchaus denkbar, dass das System der Selbstkontrolle bei extremer Belastung auch einmal versagte.

    Der Schaden, den ein psychisch gestörter Hüter anrichten konnte, war unter Umständen immens, aber solange es keine konkreten Anhaltspunkte für ein derartiges Szenario gab, waren dem Meister die Hände gebunden. Er brauchte dringend Informationen, die es ihm gestatteten, sowohl Art und Umfang der Normabweichungen einzuschätzen als auch die Ursache für das sonderbare Verhalten des Hüters herauszufinden.

    Aufgrund der komplexen Struktur des Systems und der begrenzten Kommunikationsmöglichkeiten war es ihm jedoch unmöglich, selbst Recherchen vor Ort anzustellen. Zwar gab es eine direkte Verbindung zwischen den Welten und ihrer jeweiligen Entsprechung im Perlensaal, die beschränkte sich aber auf den Austausch von für das geometrisch-harmonikale Gesamtbild relevanten Informationen. Offenbar blieb ihm keine andere Wahl, als die Seherinnen um Unterstützung zu bitten, was er jedoch nur ungern tat.

    Das hatte nichts mit persönlichen Animositäten zu tun, so gut kannten sie einander nicht. Vielmehr irritierte ihn die Aura des Außergewöhnlichen und Geheimnisvollen, mit der sich die Seherinnen bei all ihren Aktivitäten umgaben. Der Meister war ein Freund klarer Strukturen, Formen, Modelle und Harmonien. Unschärfen waren ihm suspekt, ebenso wie Vorgänge, deren Wirkprinzip er nicht zu durchschauen vermochte. Genau das traf jedoch auf die Fähigkeit der Seherinnen zu, sich selbst oder vielleicht auch nur Teile ihres Bewusstseins an Orte zu versetzen, die auf herkömmlichem Wege nur mit enormem zeitlichen und energetischen Aufwand erreichbar waren. Zudem besaßen sie einen gewissen Hang zur Theatralik, den der Meister nicht nur als deplatziert, sondern auch als ausgesprochen unprofessionell empfand.

    Doch die Situation duldete keinen Aufschub, sodass ihm keine andere Wahl blieb, als sich mit ihren Eigenheiten abzufinden. Wenigstens reagierten die Seherinnen umgehend auf seine Anforderung, wenngleich ihre Abgesandte die Gelegenheit zu einem bühnenreifen Auftritt nutzte, indem sie auf einem geflügelten Fabeltier in Nebel gehüllt in sein Blickfeld schwebte. Kaum abgesessen, erkundigte sie sich nach einer devoten Verbeugung in ironischem Tonfall: »Womit können wir Nichtswürdigen dem gestrengen Bewahrer der Weltenordnung zu Diensten sein?«

    »Ich brauche Informationen über auffällige Vorgänge, die möglicherweise stabilitätsgefährdend sind«, erwiderte der Meister kühl und übermittelte eine Darstellung des betroffenen Objekts. »Eventuell liegen die auslösenden Ereignisse zeitlich auch schon etwas zurück. Die Normabweichungen sind jedenfalls signifikant.«

    »Wie Ihr befehlt.« Die in schimmernden Nebel gehüllte Gestalt verbeugte sich ein weiteres Mal. »Und was ist mit dem zuständigen Hüter?«

    Die Frage war zu naheliegend, als dass der Meister ihr hätte ausweichen können.

    »Kein Kontakt«, erwiderte er lakonisch. »Aber im Moment ist das zweitrangig. Die Priorität liegt auf der Ermittlung von Art und Umfang der Störung, damit wir die notwendigen Maßnahmen einleiten können. Die Angelegenheit ist dringlich.«

    »Selbstverständlich. Wir melden uns so schnell wie möglich zurück.« Der ironische Unterton war verschwunden. Offenbar war es ihm gelungen, den Ernst der Lage klarzumachen. Die schimmernde Gestalt und ihr Reittier verschwanden ohne die befürchtete Abschiedsvorstellung. Die Verbindung war getrennt.

    Trotz ihrer speziellen Fähigkeiten würden die Seherinnen einige Zeit brauchen, um ihren Auftrag zu erfüllen. In der Zwischenzeit konnte der Meister nur darauf hoffen, dass sich die Störung nicht ausbreitete und ihn zum Handeln zwang. Es war weniger der Misston selbst, den er fürchtete, selbst wenn dieser sich noch verstärkte, als vielmehr die Gefahr des Übergreifens des unbekannten Phänomens auf benachbarte Objekte.

    Die Harmonik in ihrem komplexen Zusammenspiel stand über allem und die Aufgabe eines Perlenmeisters war es, sie unter allen Umständen zu bewahren. Die Mittel, die ihm dafür zur Verfügung standen, waren vielfältig und reichten von der Isolation über die schrittweise Säuberung bis hin zur vollständigen und unwiderruflichen Auslöschung der außer Kontrolle geratenen Welten.

    Was den Meister davon abhielt, sie schon jetzt zum Einsatz zu bringen, waren keine wie auch immer gearteten Skrupel – Sentimentalitäten waren ihm fremd –, sondern reiner Pragmatismus. Es widerstrebte ihm, Ressourcen zu vernichten, die möglicherweise durch einen gezielten Eingriff am rechten Ort stabilisiert und im System gehalten werden konnten. Außerdem hoffte er weiterhin auf ein Lebenszeichen seitens des Hüters, der sich nach wie vor innerhalb des Objektes aufhalten musste, wo auch immer er sich verbarg.

    Dennoch musste er für alle Eventualitäten gerüstet sein. Auch wenn der Einsatz der Fänger noch längst nicht beschlossen war, konnte es nicht schaden, ihnen einen Besuch abzustatten. Vor Ort war das unmöglich, selbst wenn der Meister willens gewesen wäre, den Perlensaal zu verlassen. Die harte Strahlung im Zwinger schloss physische Nähe aus. Die einzige Verbindung zur Außenwelt bildete der Wächter, ein intelligentes Überwachungssystem mit eigener Persönlichkeit, dessen Komponenten in strahlungssicheren Feldblasen untergebracht waren. Wie alle bewussten Entitäten verfügte der Wächter über eine Traumlandverbindung, die es ihm in Ruhephasen gestattete, den Mangel an Ansprache und äußeren Reizen zu kompensieren.

    Dennoch reagierte er sofort, als der Meister über die Direktverbindung Kontakt herstellte: »Welche Überraschung, der Hüter der Harmonik selbst gibt sich die Ehre!« Trotz der leisen Ironie schwang eine Spur Besorgnis in der Begrüßung mit. »Gibt es ein Problem?«

    »Möglicherweise«, gab der Meister zu. »Die Recherchen laufen noch. Im Grunde wollte ich mich nur versichern, dass Ihr wohlauf seid und Eures Amtes waltet.«

    »Das ist sehr fürsorglich von Euch«, erwiderte der Wächter amüsiert. »Aber abgesehen von allerlei praktischen Hemmnissen hättet ihr längst Nachricht erhalten, wenn ich desertiert wäre.«

    »Das stimmt, vor allem, wenn Ihr vorher Eure Schützlinge von der Kette gelassen hättet.«

    »Ohne autorisierte Zielvorgabe sind Fänger vollkommen harmlos«, erklärte der Wächter gekränkt. »Ihre bescheidene Intelligenz ließe im Übrigen gar keine Alleingänge zu.«

    »Dann erübrigt sich die Frage der Motivation«, versetzte der Meister trocken. »Es ist immerhin schon einige Zeit her, dass wir ihrer Dienste bedurften.«

    »ST 14, ich erinnere mich.« Die Stimme des Wächters klang nachdenklich. »Eine Komplettlöschung – tragische Geschichte.«

    »Nicht tragisch, sondern zwangsläufig. Es war der einzige Weg, einen Flächenbrand zu verhindern.«

    »Ich weiß, trotzdem hoffe ich, dass es dieses Mal nicht so weit kommt.«

    »Das hoffen wir alle«, pflichtete ihm der Perlenmeister bei. »Aber wenn es doch zum Äußersten kommt, darf es keine Verzögerung geben.«

    »Natürlich nicht. Die Fänger sind jederzeit einsatzbereit, wie Ihr Euch gern überzeugen könnt.«

    Das Wesen, das im nächsten Moment im Blickfeld des Meisters erschien, ähnelte mit seiner schimmernden Haut und dem stromlinienförmigen Körper, der in einer Art Schwanzflosse auslief, eher einem überdimensionalen Raubfisch als einer sternverschlingenden Kampfmaschine, dennoch ging etwas Bedrohliches von ihm aus. Die bläulich fluoreszierende Aura, die das Geschöpf umgab, verstärkte diesen Eindruck noch. Obwohl er sich nicht bewegte, wirkte der Fänger auf schwer zu erklärende Weise lebendig und energiegeladen. Zweifellos würde er auf einen entsprechenden Befehl hin sofort wie von der Sehne geschnellt losjagen, um das Ziel aufzuspüren und zu vernichten – präzise und gnadenlos, wie es seiner Bestimmung entsprach …

    Falls der Meister je Zweifel an der Einsatzbereitschaft der Fänger gehabt hatte, waren sie jetzt beseitigt.

    »Danke, das genügt!« Die Projektion verschwand augenblicklich. »Ich wusste, dass wir uns auf Euch verlassen können.«

    »Stets zu Diensten, Perlenmeister.« Wieder die leise Ironie, die das Unbehagen des Wächters jedoch nicht kaschieren konnte. Eine tödliche Waffe zu verwahren, war etwas anderes, als sie einzusetzen …

    »Gut, ich melde mich, falls es notwendig wird.« Der Meister trennte die Verbindung, bevor der Wächter antworten konnte. Sentimentalitäten lagen ihm fern und es gab ohnehin nichts mehr zu besprechen. Was jetzt kam, lag nicht mehr in ihrer Hand …

    2

    Der Bücherplanet

    Railan Cortez, der Sohn des Großarchivars, war ein stiller, nachdenklicher Junge. Er hatte ein intelligentes, fein geschnittenes Gesicht, dunkle Haare und rauchblaue Augen, die manchmal leicht abwesend wirkten, als nähme er seine Umwelt gar nicht wahr. Railan war hochgewachsen und ein wenig schmal für seine Größe, aber zäh und ausdauernd, wenn er sich einmal an den Spielen und Wettkämpfen der Gleichaltrigen beteiligte.

    Trotz seines zurückhaltenden Wesens war er beliebt, denn er prahlte nie mit seinem Wissen und half großzügig, wenn ihn jemand darum bat. Provokationen ließ er ins Leere laufen, indem er sich so defensiv verhielt, dass jede Form von Gewalt den Angreifer sofort ins Unrecht gesetzt hätte. Es gab nur eine Schule auf Libaria Rock und jeder kannte jeden.

    Seine schulischen Leistungen waren überdurchschnittlich, aber nicht so perfekt, dass er als Streber geächtet worden wäre. Es gab allerdings Lehrer, die argwöhnten, dass Railan manchmal bewusst Fehler und Unsicherheiten einstreute, um die anderen nicht zu brüskieren. Beweisen ließ sich das natürlich nicht, auch wenn es den einen oder anderen wurmte, dass der Junge mit seinem Wissen hinterm Berg hielt. Auf diese Weise hatte Railan jedoch kaum Neider, was ihm nur recht sein konnte, denn obwohl er nach außen hin stets gleichmütig wirkte, war er durchaus harmoniebedürftig.

    Die Schule betrachtete er allerdings eher als ein notwendiges Übel, das seine Zeit weit über das notwendige Maß beanspruchte. Railans einzige Leidenschaft galt den Büchern, die zu Tausenden und Abertausenden im Archiv seines Vaters gespeichert waren, das offiziell »Belletristisches Zentralarchiv der kaiserlichen Hofakademie« hieß, im Grunde aber nichts weiter war als eine riesige Bibliothek. Natürlich existierten all diese Bücher nicht körperlich, sondern nur als elektronische Kopien, die in Hunderten vernetzter Modulblöcke in den Katakomben des Planetoiden gespeichert waren.

    Die Nutzung und Bewahrung dieses Schatzes war die zentrale und eigentliche Aufgabe der Bewohner von Libaria Rock, das einzig zu diesem Zweck ausgewählt und terraformt worden war. Fast jeder, der hier lebte und arbeitete, hatte in irgendeiner Weise mit der Bibliothek zu tun, sei es als Archivar, Dokumentar, Informatiker oder Wartungstechniker. Neben den unterirdischen Datenspeichern und den Bereichen Organisation und Recherche verfügte die Bibliothek über eine hochmoderne Dirac-Anlage, über die tagtäglich Tausende von Abfragen aus allen bewohnten Welten eingingen und beantwortet wurden.

    Hatte der Dienst auf Libaria Rock in den Anfangsjahren hauptsächlich durch die großzügige Bezahlung und diverse Vergünstigungen Bewerber angezogen, so hatte im Lauf der Jahrzehnte ein gewisses Statusbewusstsein Einzug gehalten. Wer hier arbeitete, versah nicht nur irgendeine Tätigkeit, sondern half mit, das Erbe der Menschheit zu bewahren und zugänglich zu halten. Nicht wenige der Jungen, die nach Schulabschluss ein Studium auf der Akademiewelt aufgenommen hatten, kehrten anschließend nach Libaria zurück, um die Familientradition fortzusetzen.

    Dieser Weg war auch für Railan vorgezeichnet, obwohl er sich nur schwer mit dem Gedanken anfreunden konnte, für eine gewisse Zeit keinen direkten Zugriff mehr auf seine geliebten Bücher zu haben. Anders als sein Vater, dem Ordnung über alles ging, interessierten Railan die Mechanismen der Datenspeicherung und Zugriffsorganisation nur am Rande. Er lebte mit und in den Büchern, die er las, tauchte ein in die Welt, die der Autor vor seinem inneren Auge erstehen ließ, und hatte manchmal sogar Mühe, danach in sein gewohntes Umfeld zurückzufinden. Auch deshalb empfand er den Schulunterricht häufig als langweilig und sogar störend, es sei denn, seine Lieblingsfächer Literatur und Geschichte standen auf dem Programm.

    Mit zunehmendem Alter änderte sich jedoch Railans Sicht auf das Gelesene. Hatte er anfangs hauptsächlich die Handlung verfolgt und mit den Protagonisten mitgefiebert, suchte er jetzt nach Zusammenhängen, die über das konkrete Geschehen hinausgingen. Er versuchte, sich die Welt vorzustellen, in der der Autor gelebt hatte, und fragte sich dabei auch, was jenen letztlich zum Schreiben bewogen hatte. Nicht immer war seine Suche nach einer offenen oder verborgenen Botschaft erfolgreich. Insbesondere bei älteren Büchern, die aus der Zeit vor dem Exodus stammten, blieb ihm vieles fremd. Offenbar spielte Religion damals eine bestimmende Rolle, ein Begriff oder vielmehr Phänomen, das im Lauf der Jahrhunderte fast vollkommen aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden war.

    Als er seinen Vater danach fragte, erfuhr er zu seiner Überraschung, dass vor allem eine der alten Religionen nach wie vor ihre Anhänger hatte. Es handelte sich um einen christlichen Orden, der auf einem Planetoiden im Grenzland ansässig war, einer dünn besiedelten Region außerhalb der Geschützten Welten. Neben dem Hauptsitz auf Agion Oros existierten angeblich einige noch weiter abgelegene Abteien, in denen jeweils nur eine Handvoll Mönche ein bescheidenes Eremitendasein fristete.

    Die Vorstellung faszinierte Railan auch wegen der Kompromisslosigkeit, mit der die Mönche ihren von niemandem eingeforderten Dienst versahen. Es mussten tiefe innere Überzeugungen sein, die sie dazu brachten, ihr Leben fernab der Annehmlichkeiten und Zerstreuungen der modernen Welt einzig dem Gebet und der Betrachtung zu widmen. Natürlich hatte Railan in alten Büchern häufiger von Mönchen, Nonnen und Klöstern gelesen, aber das war in jenen gefahrvollen Zeiten gewesen, in denen die Klöster auch Schutzräume und Orte der Bildung gewesen waren. Heute war Bildung jedoch nur noch eine Frage des eigenen Anspruchs und das Leben im Grenzland gefahrvoller als unter dem Schutz der kaiserlichen Autorität …

    Einmal auf diese Spur gebracht, fiel es Railan nicht schwer, Literatur über besagten »Orden der Heiligen Madonna der letzten Tage« zu finden, dessen Wurzeln tief in das föderale Zeitalter, lange vor dem Zusammenschluss der Geschützten Welten zurückreichten. Railan las, und je tiefer er in die Geschichte eindrang, umso mehr wuchsen seine Faszination und sein Respekt vor den Männern, die um ihres Glaubens willen der Welt entsagt hatten.

    Sie sind ein bisschen wie ich, dachte er manchmal, wenn er las, mit welcher Ernsthaftigkeit und Akribie sie ihre Exerzitien verrichteten, die heiligen Schriften studierten und ihr eigenes Archiv ergänzten und betreuten. Ihr Glaube blieb Railan zwar fremd – wozu sollte man eine angeblich allmächtige Gottheit anbeten, wenn sie am Ende doch niemals eingriff, um die Dinge wieder ins Lot zu bringen? –, aber die grundlegenden Fragen, die sie sich stets aufs Neue stellten, waren durchaus auch die seinen.

    Mit dem Begriff »Seele« tat Railan sich ein wenig schwer, vermutlich war damit jedoch nichts anderes gemeint als das Ich-Bewusstsein, das der Wissenschaft nach wie vor Rätsel aufgab. Wo kam es her und erlosch es tatsächlich wie eine Kerze, wenn man starb? Und selbst wenn es irgendwie überdauerte, wie es die Gläubigen von ihrer Seele annahmen, womit beschäftigte es sich dann für den Rest der Ewigkeit? Sich für alle Zeiten im Glanz und der Herrlichkeit besagten Gottes zu sonnen, erschien ihm dann doch als eine etwas zu kindliche Vorstellung, selbst an einem Ort allumfassender Liebe und Barmherzigkeit. Aber was blieb, wenn er dieses Hilfskonstrukt verwarf? Nur der Weg in ein Nichts, das alles Erworbene und Erlernte sinnlos machte, ebenso wie den unter Mühen und Irrtümern gefundenen Weg zu der einen oder anderen Einsicht oder einer gewissen inneren Harmonie? Keine Melodie, kein Gedicht, kein Märchen ging jemals für immer verloren, aber ein ganzes Menschenleben schon? Das war weder gerecht noch sinnvoll, sondern im Gegenteil zutiefst deprimierend, es sei denn, überhaupt alles, was Railan war und empfand, beruhte auf einer Täuschung. Aber wenn man sich erst in der Wüste des Zweifels verirrte, blieb am Ende nicht einmal eine verwehte Spur im Sand. Oder eine Grabinschrift wie die jenes antiken Dichters: »… dessen Name in Wasser geschrieben war.«

    Für einen Jungen von kaum 16 Jahren waren das sehr abgeklärte Erwägungen und zweifellos auch die Folge seiner Beschäftigung mit den großen Autoren der Literaturgeschichte, angefangen mit Homer und Hesiod über Spötter wie Swift, Heine oder Houellebecq bis hin zu den Chronisten der Großen Invasion und des Zusammenbruchs der Föderation. Das wenigste davon hätten ihm seine Lehrer zur Lektüre empfohlen, was man ihnen kaum zum Vorwurf machen konnte, denn inzwischen war Railan nicht nur seinen Altersgenossen ein großes Stück voraus. Doch mit dem Wissen wuchs auch der Abstand zu seiner Umgebung und trotz seines freundlichen und ausgleichenden Wesens fiel es Railan zunehmend schwer, seine Ansichten mit anderen auszutauschen oder gar ihr Vertrauen zu gewinnen. Auch das war ein aus der Literatur bekanntes Phänomen, aber es war etwas anderes, die Kühle und Einsamkeit am eigenen Leib zu spüren, die diese unfreiwillige Distanz mit sich brachte. Intellektuell hätte es ihm wohl weniger ausgemacht, aber in jüngster Zeit war etwas in sein Leben getreten, dem mit distanzierter Betrachtung kaum beizukommen war.

    3

    July und Morgana

    Was Railan zunehmend beschäftigte, war ebenso bekannt wie unausweichlich und all sein Wissen nützte ihm wenig, als es wie aus heiterem Himmel Macht über ihn gewann. Die körperlichen Veränderungen waren allmählich gekommen. Er war zwar immer noch schlank, aber breitschultriger und muskulöser als noch vor ein, zwei Jahren. Der Flaum auf seinen Wangen war kräftiger und dunkler geworden und er musste sich rasieren, um nicht wie ein Landstreicher auszusehen. Zwar gab es keine Landstreicher auf Libaria, aber in Railans Büchern schon, die nach wie vor einen dominierenden Teil seines Lebens darstellten.

    Aber auch anderes ließ sich nicht länger ignorieren: nicht die abschätzenden und manchmal sogar einladenden Blicke der Mädchen, denen die Veränderungen an ihm vermutlich eher aufgefallen waren als Railan selbst; nicht sein Interesse gerade für jene früh erblühten Schulschönheiten, deren intellektuelle Schlichtheit er früher gelegentlich belächelt hatte; nicht die heftige Reaktion seines Körpers selbst auf die banalsten und durchschaubarsten Darbietungen realer oder imaginierter Paarungsbereitschaft, wobei die Grenzen zunehmend verschwammen; und erst recht nicht die zunehmend obsessiven nächtlichen Vorstellungen, in denen besagte Schulschönheiten eine dominante Rolle spielten. Es war würdelos und oft schalt er sich hinterher einen Narren, aber eben erst nachdem er sich Erleichterung verschafft hatte.

    Zum ersten Mal vermochten ihm die Bücher nicht zu helfen, obwohl Liebe, Leidenschaft und sexuelle Obsessionen das zentrale Thema sogar einiger der berühmtesten Werke waren. Es gab kein Entkommen aus den Fallstricken der Libido, die sich um intellektuelle Eitelkeiten ebenso wenig kümmerte wie um moralische Bedenken. Natürlich konnte Railan versuchen, sie so lange wie möglich zurückzudrängen, doch das würde die zwangsläufige Eruption nur verzögern, aber niemals aufhalten. Und eigentlich – und das war eine nicht unbedingt intellektuell begründete Einsicht – wollte er das auch gar nicht. Wenn eine Frucht reif war, fiel sie irgendwann vom Baum und er konnte nur hoffen, dass der Aufprall nicht allzu heftig sein würde.

    Es bedurfte nicht viel, um Railan zu Fall zu bringen, vermutlich nicht einmal der zwei oder drei Gläser Wein, die er an jenem Abend auf dem Sommerfest eines Schulfreundes getrunken hatte. Das Mädchen hatte sich ihm so plötzlich in den Weg gestellt, als er gedankenverloren durch den Garten streifte, dass er erschrocken aufsah.

    »Du bist Ray, nicht wahr?« Ihr Lächeln war betörend und sie musterte ihn so aufmerksam, dass Railan den Blick niederschlug. Natürlich kannte er sie. Es war Juliette aus der Abschlussklasse und es gab wohl keinen Jungen an der Schule, der nicht vernarrt in sie war.

    »Railan eigentlich«, murmelte er verlegen und fragte sich, was sie im Schilde führte.

    Juliette trug ein hellblaues Sommerkleid, dessen Saum zwei Handbreit über den Knien endete, eine Art Schärpe als Gürtel und bestimmt keinen Büstenhalter. Das rotbraun gelockte Haar fiel ihr weit in den Nacken und ihre Haut war so weiß wie die einer Porzellanfigur. Ihre saphirblauen Augen waren leicht schräg angesetzt wie die einer Katze und ihre vollen Lippen dunkel, fast schwarz geschminkt. Railan würde von ihr träumen, selbst wenn sie sich jetzt abwandte und ihrer Wege ging. Doch ihrem Blick nach zu urteilen, der ihn nach wie vor gefangen hielt, hatte sie etwas anderes vor.

    »Ray gefällt mir besser, genauso wie July«, bemerkte sie leichthin und beugte sich dann plötzlich vor, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern: »Laila Estefan sagt, du wärst schwul?«

    »Bin ich nicht!«, wehrte er sich empört und spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg.

    »Pst, nicht so laut!« Sie lächelte und legte den Finger auf die Lippen. »Ich sehe ja, dass es nicht stimmt. Wollen wir ein Stück gehen?«

    Für einen Moment verschlug es ihm die Sprache und er nickte nur heftig. Selbst ohne die Einladung ihres Blicks wäre er ihr überallhin gefolgt.

    »Dann geh schon mal vor zum Parkplatz. Ich muss mir nur noch mal kurz die Nase pudern.« July hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und eilte hüftschwingend davon. Verwirrt und immer noch ein wenig ungläubig sah er ihr nach, beeilte sich dann aber, möglichst unbemerkt zum Treffpunkt zu kommen.

    Der Parkplatz lag jenseits der Festwiese im Halbdunkel. Railan erkannte nur die Konturen von ein paar E-Quads und einem Kopter auf dem Landekreuz. In der Dunkelheit verrannen die Sekunden noch langsamer und nach einer Weile begann Railan zu fürchten, dass sie ihn versetzt hatte.

    Doch dann kam sie, leichtfüßig und mit einer Handtasche über der Schulter. Offenbar sollte es ein längerer Ausflug werden.

    »Da bin ich«, erklärte sie ein wenig außer Atem und lächelte, als sie seinen versunkenen Blick bemerkte. »Nun komm schon!« Sie griff nach seiner Hand. »Sehen wir zu, dass wir von hier wegkommen.«

    »Und wohin wollen wir?«

    »Zur Wolfsaue, dort haben wir immer als Kinder gespielt.« Es klang so unbefangen, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, mit jemandem, den sie kaum kannte, einen derart abgelegenen Ort aufzusuchen.

    »Ja, wir auch manchmal«, erwiderte er, nur um überhaupt etwas zu sagen. »Das ist gar nicht so weit weg.«

    »Deswegen ja.« Sie drückte seine Hand. »Ich habe es nämlich ein bisschen eilig.«

    »Willst du etwa noch weg?«, frage er verwirrt und erschrak, als sie plötzlich hell auflachte.

    »Nein.« Sie unterdrückte erneut ein Kichern, wurde dann aber sofort wieder ernst. »Aber du weißt schon, worauf du dich einlässt?«

    »Na ja«, wich er aus. »Ich hätte, was das angeht, zumindest eine Idee …«

    »Und die wäre?«, erkundigte sie sich mit leisem Spott. Es machte ihr Spaß, ihn in Verlegenheit zu bringen.

    »Sag nichts«, flüsterte sie ihm ins Ohr, als er nicht gleich antwortete. »Später vielleicht.«

    Obwohl es kaum mehr als eine Andeutung war, genügten die geflüsterten Worte und ein Hauch ihres Parfums, um seinen Verstand fast aussetzen zu lassen. Er begehrte July mehr, als er selbst in den wildesten Träumen je ein Mädchen begehrt hatte, und die Erregung wurde fast übermächtig. Noch vermochte er sich zu beherrschen, aber etwas in ihm riss immer heftiger an den Fesseln.

    Es war still, als sie in das Dunkel des Waldes eintauchten, dessen dichtes Blätterdach selbst die Sterne auslöschte. Ein würziger Geruch nach Laub und ausgedörrtem Gras trieb ihnen entgegen, seltsam vertraut wie eine Erinnerung aus alten Tagen. Dann knarrte doch irgendwo, ganz in der Nähe, ein Ast und Railan zuckte fast zusammen. Die Lichtung war jetzt nicht mehr weit, doch bevor der Pfad breiter wurde, blieb das Mädchen plötzlich stehen und wandte sich ihm zu.

    »Du kannst immer noch zurück, Railan Cortez«, sagte sie mit einer Stimme, die kühl und dunkel war wie die Schatten ringsum. »Dann bleibt alles, wie es war, und wir haben nur einen kleinen Spaziergang gemacht.«

    »Und wenn ich das nicht will?«

    »Dann wirst du die dunkle Seite kennenlernen.« July lächelte und fuhr sanft mit den Fingern über seinen Arm. »Das hier zum Beispiel.« Im nächsten Moment bohrten sich ihre Nägel in seine Haut, gaben ihn aber sofort wieder frei und der Schmerz verging. Sie beugte sich über die Wunde, umschloss sie mit den Lippen und saugte das Blut auf. Als sie aufblickte und sich mit der Zunge über die Lippen fuhr, leuchteten ihre Augen: »Willst du das, Ray?«

    Darauf gab es keine Antwort, zumindest keine in Worten, und so nahm er sie nur in die Arme und spürte beglückt, wie sie sich an ihn schmiegte. Er presste sie an sich, so fest, dass sie seine Erregung fühlen musste.

    »Dann heißt dann wohl ›Ja‹«, bemerkte sie trocken, bevor sie sich ihm entgegenbeugte und seinen Mund mit einem besitzergreifenden Kuss verschloss. Es war nicht mehr als ein erstes Abtasten und ein Versprechen für später, aber allein das Spiel ihrer Zunge und der Duft ihres Haares genügten, um seine Erregung ins fast Unerträgliche zu steigern.

    Mit unerwarteter Behändigkeit löste sie sich aus seiner Umarmung, schlüpfte aus ihren Schuhen und nahm sie in die Hand.

    »Na, komm schon!«, rief sie bereits im Laufen und winkte ihm übermütig zu. »Wer zuerst da ist!«

    Jetzt gab es kein Halten mehr, selbst wenn Railan noch imstande gewesen wäre, klar zu denken. Etwas ihn ihm hatte den Ruf gehört und die Fesseln zerrissen. Er jagte ihr nach wie ein Raubtier seiner Beute, atemlos und fast außer sich vor Gier.

    Aber July war keine Beute, das wurde ihm schnell klar, als er sie auf der Lichtung eingeholt hatte und sie zusammen ins weiche Gras fielen. Ihre Wildheit stand seiner in nichts nach, als sie sich gegenseitig die Kleider von Leib rissen und sie ihn sich aufnahm und ihrem Willen unterwarf. July war wie eine Woge, weich und anschmiegsam zuerst, aber von unwiderstehlicher Kraft, wenn sie sich schließlich aufbäumte, ihn umschlang, auspresste und mit ihm verging.

    Sie war es, die über Aufstieg und Fall entschied, auch wenn sie manchmal zum Schein seinem Drängen nachgab, um seine Leidenschaft noch mehr anzustacheln. Und wie ein gezähmtes Tier nahm Railan die Lehre an, denn ihr gehörte die Nacht, das hatte er instinktiv begriffen, und alles, was sie ihm gewährte, war ein Geschenk.

    »Du wirst wiederkommen«, sagte sie irgendwann, als sie erschöpft voneinander abgelassen hatte, und diesmal klang es nicht nach einer Anzüglichkeit, eher traurig. »Egal, was sie dir erzählen.«

    »Warum sollte mich das interessieren?«, fragte er und tastete nach ihrer Hand.

    »Weil es wahr ist, was sie sagen«, erwiderte sie ruhig. »Aber es wird dir nichts ausmachen, das weiß ich.«

    »Natürlich nicht.« Er schüttelte den Kopf und sah etwas beunruhigt zu ihr hinüber. Aber July lächelte schon wieder und in ihren Augen tanzten herausfordernde Fünkchen.

    »O, da braucht wohl jemand Zuspruch«, erklärte sie munter und beugte sich über seinen Schoß. »Aber das bekommen wir hin …«

    Sie behielt recht. In jeglicher Hinsicht.

    Railan erfuhr es schon am nächsten Tag. Und seltsamerweise von seinem Vater, der sich normalerweise nie in seine Angelegenheiten mischte. Aber jemand hatte sie wohl beobachtet, als sie gegen Morgen splitternackt zum See gelaufen und noch eine Runde geschwommen waren, und nichts Besseres zu tun gehabt, als seinen Vater zu informieren.

    Natürlich ging es nicht ums Baden, sondern um July. Sie war angeblich eine Hure, und da es nur eine Handvoll in der Stadt gab, wusste das auch jeder – jeder außer Railan. Ihre Pflegeeltern hatten sie rausgeworfen und deshalb wohnte sie in einem kleinen Cottage am Rand des Stadtparks. July war längst volljährig und besuchte die Schule nur, wenn sie Lust hatte, weshalb sie schon ein paarmal durch die Abschlussprüfung gefallen war. Jedenfalls wäre diese junge Dame kein Umgang für ihn.

    Ist sie doch, dachte Railan trotzig, gab sich aber überrascht und reumütig. Sein Vater klopfte ihm auf die Schulter und ließ ihn allein. Das war auch gut, sonst hätte er ihn vielleicht gefragt, woher er das alles so genau wusste. Immerhin war Railans Mutter schon vor vielen Jahren weggegangen und Salvatore Cortez immer noch ein attraktiver Mann … Aber er wollte keinen Streit, sondern nur in Ruhe gelassen werden. Im Grunde war er nicht einmal besonders überrascht. Dass July Geld dafür nahm, war natürlich ein Schock, ihre Erfahrung mit anderen Männern aber kaum. Auf der dunklen Seite gab es keine Unschuld …

    Railan las nicht viel an diesem Abend, und eine halbe Stunde nachdem sein Vater zu Bett gegangen war, schlich er sich mit klopfenden Herzen aus dem Haus. Zum Glück wusste er, wo July wohnte, auch wenn er sie am Morgen nur bis zum Park begleitet hatte. Er klopfte an der Tür, erst schüchtern, dann ein wenig lauter, und die Frau ließ ihn ein – an diesem Abend und all jenen, die folgten.

    Irgendwann brachte Railan den Mut auf, sie zu fragen, ob sie tatsächlich Geld dafür nahm.

    »Ziemlich viel sogar«, erwiderte sie mit einem amüsierten Lächeln. »Bin ich es etwa nicht wert?«

    »Doch, aber es ist …« Er suchte vergeblich nach Worten.

    »So, wie es ist«, brachte July seinen Satz zu Ende. »Sie nehmen dir nichts weg, oder hattest du den Eindruck?«

    Railan schüttelte heftig den Kopf und kam nie wieder darauf zurück.

    Er war ihr verfallen.

    Dennoch verlief sein Leben, abgesehen natürlich von den nächtlichen Ausflügen, weitgehend

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