Zürich entschweigen: Ausstellungskatalog
Von Peter Boller
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Über dieses E-Book
Unterschiedliche Quellen - Dokumente aus privaten und öffentlichen Archiven, Oral History-Interviews -, aber auch Übersichtstafeln und Stadtrundgänge dienten sowohl der Einordnung als auch dem Ziel, weiterführende Gespräche und Forschungsfragen zu ermöglichen.
Peter Boller
Peter Boller ist promovierter Historiker, Architekt und Ausstellungsmacher.
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Buchvorschau
Zürich entschweigen - Peter Boller
1 Psychologie hat viele Gesichter
Dass Zürich zu unterschiedlichen Zeiten ein Zentrum der Psychologie war, ist kein Geheimnis. Dennoch erstaunt bei näherer Betrachtung, wie lückenhaft und holzschnittartig das Wissen um Inhalte und Zusammenhänge ist. Auch wenn sich hier die Wege von Alice Miller und Alexander Mitscherlich kreuzten, Friedrich Liebling, Josef Rattner, Paul Parin, Mario Erdheim, Martha Eicke-Spengler, Oskar Pfister, Sabina Spielrein, Berthold Rothschild, Eugen Bleuler, C. G. Jung, Medard Boss, Ruth Cohn, Otto Gross, Arno Gruen und andere in Zürich Inspirationen holten oder bestehende Ansätze weiterentwickelten, so finden sich kaum Spuren dazu im öffentlichen Bewusstsein. Woher rührt diese bemerkenswerte Erinnerungsschwäche
? Es scheint sich um eine einseitige Amnesie
zu handeln, denn gewisse Autoritäten – Bleuler oder Jung – galten lange als Referenzpunkte.
Im Unterschied zu anderen Wissenschaften drangen die Erkenntnisse der Psychologie jedoch nicht durchgehend ins allgemeine Bewusstsein ein. Hilfesuchende, Künstlerkreise oder gesellschaftskritische Intellektuelle mochten die neuen Ideen seit Freud dankbar aufnehmen, doch in anderen Kreisen erregten sie Missfallen. Noch 1958 warnte etwa der Papst vor einer Überschätzung des Unterbewussten
(Dok 054).¹ Unter besonderer Beobachtung standen Psychologen, wenn sie sich zu militärischen Fragen äusserten, wie Freud, der 1920 ein Gutachten zu Wagner-Jauregg verfasste (Dok 021). Eine kritische Äusserung zum Koreakrieg beendete im Beispiel des Zürcher Psychiaters Rudolf Brun 1952 gar dessen Karriere (Dok 040). Noch Ende der 60er Jahre war die Skepsis in der Ärzteschaft gegenüber psychoanalytischen Themen so gross, dass Martha Eicke-Spengler dazu keine medizinische Doktorarbeit schreiben durfte. Da sie berufspraktische Erfahrungen darin hatte, hielt man sie überdies für voreingenommen (Dok 061). Dennoch erkannten manche Praktiker in den 1970er Jahren, dass eine psychologische Weiterbildung ein Vorteil im Lehrerberuf ist.² 2016 wiederum berichtete eine Zeitung, man habe lieber Lehramtskandidaten ohne psychologische Vorbildung (Dok 101). Die meisten psychologischen Richtungen durchlebten Spaltungen. Im Fall des Psychoanalytischen Seminars folgte eine produktive Blüte. In anderen Fällen litt die fachliche Arbeit darunter. Und während Neurologen mit ihren Methoden ein optimistisches Menschenbild nahelegen, wie es die Individualpsychologie und Neopsychoanalyse bestätigen können, tun sich die Medien ganz offensichtlich schwer, das verminte Feld
zu verlassen und im Sinne der Prävention aufzuklären.³
Die grössere Toleranz gegenüber Drogenabhängigen oder sexuellen Minderheiten steht wohl auch im Zusammenhang mit einer grösseren psychologischen Sensibilität der Öffentlichkeit. Auch die Liberalisierung der Psychotherapie von 2022 (direkte Abrechnung der Therapeuten mit Krankenkasse) ist ein Fortschritt. Ob allerdings die Institutionalisierung und die Akademisierung der Psychologenausbildung die Qualität tatsächlich verbessert, wird sich weisen. Immerhin haben sich Freud und fast alle Tiefenpsychologen für die Laienanalyse
ausgesprochen.
Neben den bekannten und anerkannten psychologischen Konzepten, die sich in den psychologischen Ausbildungsgängen integrierten und behaupteten, gab es zahlreiche Ansätze, die vergessen gingen oder verdrängt wurden, nicht nur, weil sie reaktionär oder wissenschaftlich unhaltbar waren – Beispiel Lavaters Charakterstudien – sondern weil sie im Gegenteil eine sehr berechtigte und schonungslose Kritik übten oder gar ihrer Zeit voraus waren. Die Ausstellung im Museum Strauhof (Wild Card 14
) ist eine gute Gelegenheit, die verlorenen Fäden zusammenzuführen und auf dem zeitgeschichtlichen Hintergrund einzuordnen. Welche Fragen sind heute erlaubt, sinnvoll, nötig? Wie offen darf man sprechen? Wie aktuell sind die zu entdeckenden Modelle und Perspektiven? Dies möchte die Ausstellung zur Diskussion stellen.
Abschliessend noch ein paar Hinweise zum Aufbau der Ausstellung: Hauptelement der Ausstellung ist eine Art Wäscheleine als Zeitstrahl. Daran hängen an Klammern rund 100 Dossiers zu einer Jahreszahl, die sich mit einem Namen oder Ereignis verbinden. Einige dieser Zettel sind leer, was den Besucherinnen und Besuchern die Gelegenheit gibt, Ereignisse und Erinnerungen, die ihrer Meinung nach auch in die Ausstellung gehören, einzufügen. – In einem Raum befinden sich um einen Tisch angeordnet zehn Hörstationen mit Ausschnitten aus biografischen Interviews. Diese stammen teilweise von Therapeuten unterschiedlicher Richtungen und teilweise von Zeitzeugen, die sich über einen längeren Zeitraum psychologisch weiterbildeten. – Mehrere Schaukästen enthalten Bücher, Bilder oder Zeitdokumente. Dabei sind sowohl der Testbericht von Leopold Szondi über Adolf Eichmann