Hereinspaziert!
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Über dieses E-Book
Hinter dem Vorhang wartet eine andere Welt. Oder das, was die Welt nirgendwo anders sehen möchte. Was wird hinter Samt und Käfigstäben sichtbar? Menschen oder Tiere? Oder gar Maschinen? Launen der Natur oder Durchbrüche der Wissenschaft?
Nur manche Fragen stellen sich die Wenigsten, die kommen, gaffen und wieder gehen: Was sind die Geschichten hinter der für Schaulustige aufgesetzten Fassade? Was bewegt die Menschen, sobald der Vorhang fällt?
Die Geschichten:
Olaf Lahayne - Prothetik
Julia Winterthal - Elfenbein und Bronze
Cel Silen - Die Feenkönigin
Lisanne Surborg - Das Kurbelkind
Marcel Streit - Der menschliche Müllschlucker
Andi Zobernig - Drachenherz
Kornelia Schmid - Eselsfrau
Ilka Mella - Der Mondscheinzirkus
Kris Gosen - Anomalie des Herzens
Andreas Acker - Zahnrad
L. Lancetta - Die Frau, die die Sonne hält
Tessa Maelle - Der Ruf des Panthers
Katja Rocker - Wir sind Wunder
Fabian Elfeld - Signora Frencinis Fliegender Circus
Peter Michael Meuer - Die vier famos-fantastischen Wesen aus der Urzeit
Michael Schwendinger - Ella
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Buchvorschau
Hereinspaziert! - Ingrid Pointecker (Hrsg.)
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Olaf Lahayne
Prothetik
Julia Winterthal
Elfenbein und Bronze
Cel Silen
Die Feenkönigin
Lisanne Surborg
Das Kurbelkind
Marcel Streit
Der menschliche Müllschlucker
Andi Zobernig
Drachenherz
Kornelia Schmid
Eselsfrau
Ilka Mella
Der Mondscheinzirkus
Kris Gosen
Anomalie des Herzens
Andreas Acker
Zahnrad
L. Lancetta
Die Frau, die die Sonne hält
Tessa Maelle
Der Ruf des Panthers
Katja Rocker
Wir sind Wunder
Fabian Elfeld
Signora Frencinis Fliegender Circus
Peter Michael Meuer
Die vier famos-fantastischen Wesen aus der Urzeit
Michael Schwendinger
Ella
Ingrid Pointecker (Hrsg.)
Hereinspaziert!
Anthologie
Grafik2Die Deutsche Bibliothek und die Österreichische Nationalbibliothek verzeichnen diese Publikation in der jeweiligen Nationalbibliografie. Bibliografische Daten:
http://dnb.ddp.de
http://www.onb.ac.at
© 2022 Verlag ohneohren, Ingrid Pointecker, Wien
www.ohneohren.com
ISBN: 978-3-903296-53-4
E-Book Distribution: XinXii
www.xinxii.com
logo_xinxiiHerausgegeben von: Ingrid Pointecker
Coverillustration: fran_kie | Adobe Stock, freepik.com
Lektorat, Korrektorat: Sabrina Železný | hummingwords.de
Redaktionelle Bearbeitung: Birgit Schwäbe
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und/oder der Autor*innen unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind völlig frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Vorwort
Liebe Lesende, hereinspaziert!
Mit dieser Anthologie schicken wir euch auf eine Reise in die Welt der Phantastik. Jedoch nicht ausschließlich. „Hereinspaziert!" hat auch einen historischen Hintergrund, der nicht vernachlässigt werden darf und dessen Grausamkeit nicht ausschließlich in den Geschehnissen an sich ruht, sondern auch in dem Umstand, dass kaum darüber gesprochen und publiziert wird.
Menschenschauen (im englischsprachigen Raum oft „Freak Shows genannt) waren eine historische Realität, besonders in den Jahren zwischen 1840 und 1940. Weltausstellungen und Großveranstaltungen zeigten ebenso Menschen als „Ausstellungsobjekte
wie Zoos und Zirkusshows. Dabei gibt es vor allem vier Gruppen von Menschen, die der Neugierde des Publikums ausgesetzt wurden: Personen mit Behinderungen (wie beispielsweise kleinwüchsige Personen), Menschen anderer Herkunft (aus einer sehr westeuropäischen bzw. nordamerikanischen Perspektive betrachtet) und Personen mit besonderen körperlichen Merkmalen, die heute wie damals in den Rahmen von „Body Modification fallen (zum Beispiel sehr viele Tätowierungen) sowie „Wundermenschen
mit speziellen Fähigkeiten (zum Beispiel Schwertschlucker*innen).
Es bleibt aber nicht bei dem menschenverachtenden Vorgang des „Menschenschauens und „Gezeigtwerdens
, sondern auch die Hintergründe bringen Leid mit sich. Die Zurschaugestellten standen in den meisten Fällen außerhalb der Mehrheitsgesellschaft in Isolation, wurden entwurzelt und hatten häufig keine andere Wahl, ein gutes Auskommen zu finden. Themen wie Menschenhandel, Zwangsarbeit und (Zwangs)Prostitution finden sich ebenso in den Quellen.
Warum also haben wir uns dazu entschieden, dieses Thema auf der Ebene der Phantastik anzugehen? Ist das nicht verharmlosend?
Phantastik ist auch immer ein Versuch, Unausgesproch-enes an eine Lesendenschaft heranzuführen. Und wir konzentrieren uns mit „Hereinspaziert! nicht ausschließlich auf die sehr offensichtlichen Schattenseiten des Themas. Das Ziel soll es sein, den Vorhang zu lüften und die Menschen dahinter zu zeigen – mit ihnen auf den fiktiven Leib geschriebenen Hoffnungen und Träumen. Denn es gibt Parallelen zu unserer Welt, zur Trennung zwischen „uns
und „denen". Mögen wir uns für noch so fortschrittlich und aufgeklärt halten, das Prinzip der Menschenschau existiert in vielen Köpfen weiter.
Wir möchten mit dieser Anthologie einen Anknüpfungspunkt bieten, zum Recherchieren, Weiterlesen und zum Nachdenken. Wenn uns das gelingt, ist das unser Funken Hoffnung für eine Welt, die weniger anstarrt und angestarrt werden muss.
Zu jeder Geschichte gibt es Content Notes (Hinweise zum Inhalt). Diese wurden mit großer Sorgfalt von Schreibenden und Verlagsteam erstellt. Sollten wir trotzdem etwas übersehen haben, freuen wir uns über Hinweise. Für die ganze Anthologie gilt, dass wir uns um einen umsichtigen Umgang mit Sprache bemüht haben, es finden sich trotzdem Charaktere, die Verhaltensweisen an den Tag legen, die Themen wie Ableismus, Saneismus und Othering berühren.
Für alle, die sich originale Dokumente aus der Zeit dieser Ausstellungen ansehen möchten, empfehlen wir das Projekt Anno der Österreichischen Nationalbibliothek. Kostenlos liegen hier digitalisierte Zeitungen vor (vorwiegend aus Österreich): https://anno.onb.ac.at
Wir wünschen eine phantastische Lektüre. Und nun: Vorhang auf!
Olaf Lahayne
Geboren und aufgewachsen in Niedersachsen, lebt der Autor seit 1997 in Wien, wo er als Wissenschaftler an der Technischen Universität tätig ist. Seit 2008 veröffentlichte er Zeitungsartikel, ein Sachbuch sowie ca. 100 Kurzgeschichten aus so ziemlich allen Genres in Anthologien und Zeitschriften. Fünf Sammlungen wurden auch gesondert als E-Books oder Print-Bücher veröffentlicht.
Content Notes - Hinweise zum Inhalt der Geschichte
Es geht in der Geschichte um Diebstahl, d.h. es gibt keinerlei Schilderungen von (körperlicher) Gewalt; es fließt kein Blut, keine sonstigen Körperflüssigkeiten – abgesehen von etwas Schweiß.
Prothetik
Olaf Lahayne
Einige Minuten verfolgt die Frau, wie der Mann durch den saalartigen Raum irrt, als suche er etwas. Dabei ist nur zu offensichtlich, dass es dort nichts zu finden gibt: Der Raum ist vollkommen kahl, leer, abgesehen von zwei Stühlen und jenen zwei Personen. Die Frau sitzt auf dem einen Stuhl, während der Mann die zweite Sitzgelegenheit ignoriert. Stattdessen deutet er mehrfach auf helle Flecken, die sich an der Holzvertäfelung abzeichnen, oder auf Schrammen auf dem Granitboden. „Hier hing das Portrait von Großvater … Da stand die Empire-Kommode … der böhmische Kristallspiegel … die Tapisserien … Und natürlich der Perserteppich …"
„Herr Dyckhoff, das bringt doch nichts. Bitte setzen Sie sich!"
Aber der Angesprochene scheint dies kaum gehört zu haben. Stattdessen weist er mit einer weiten Geste auf den Boden. „Sogar das Hypokaustum haben sie geklaut!"
„Das was?"
„Unsere Fußbodenheizung. Sie wurde erst letztes Jahr installiert; dafür nutzten wir den Abdampf unseres Generators. Wie herrlich war es im letzten Winter, barfuß über den warmen Boden zu laufen! Selbst jetzt, sogar durch die Schuhsohlen, da spüre ich, wie kalt der Stein nun ist! Merken Sie es nicht auch, Major Vogel? Sie – oh; bitte um Verzeihung!"
Beide blicken kurz auf die Stiefel der Frau, die auf der Fußablage des Stuhles ruhen. Dann schaut die Majorin den Mann an. „Herr Dyckhoff, dies ist gewiss ein schwerer Schlag für Sie und Ihre Familie, aber …"
„Ein schwerer Schlag? Wir sind ruiniert!"
„Umso mehr sollten Sie Interesse daran zeigen, die polizeilichen Ermittlungen zu unterstützen. Momentan versuchen wir noch, den Tatablauf zu rekonstruieren. Wenn Sie mir also die gestrige Zirkusvorstellung so detailliert als möglich schildern könnten? Das sollte uns bei der Suche nach den Tätern helfen. Wir können ja gewiss davon ausgehen, dass die Mitwirkenden in der Vorstellung auch die Diebe waren, die sich hier betätigt haben. Zumindest dürfte es sich um Komplizen gehandelt haben. Da zugleich noch sechzehn weitere Häuser leergeräumt wurden, muss man von mindestens hundert Beteiligten ausgehen."
„Alles weg …"
Der Mann irrt weiter kreuz und quer durch den Saal; so ändert die Majorin schließlich ihre Taktik: „Würde es helfen, wenn wir uns zurück an den Tatort begeben?"
Überrascht dreht sich Dyckhoff zu der Ermittlerin um; nach kurzem Überlegen nickt er. „Zum Zirkus? Nun, das ist allemal besser als das hier."
Er deutet mit einer ratlosen Geste auf die Umgebung. Die Majorin nimmt dies nickend zur Kenntnis.
„Aber … Was ist denn hier passiert?"
Erst als Dyckhoff neben der Majorin steht, findet er Worte. Wieder sieht er sich ungläubig um, doch ist es diesmal nicht ein leerer Saal, in dem er steht. Vielmehr befindet man sich unter freiem Himmel; es tröpfelt leicht, doch das nimmt der Mann kaum zur Kenntnis. Stattdessen stapft er durch die Sägespäne, die in der Mitte eines Trümmerfeldes ein gut dreißig Schritt weites Rund bedecken; es ist nur noch zu erahnen, dass es sich hier um eine Zirkusmanege gehandelt hat. Je weiter man sich von der Mitte der Arena entfernt, desto zahlreicher werden die Zeltfetzen, die Bruchstücke von Balken und Stahlstreben, von Bänken und Sitzen, die den Boden bedecken: Trümmerteile, die zum Großteil verkohlt sind, teils sogar noch qualmen; über dem gesamten Gelände liegt Brandgeruch. Die Majorin bleibt im Zentrum des Rundes sitzen, von wo aus sie wieder den Mann beobachtet. „Vorsicht, Herr Dyckhoff. Die Aufräumarbeiten laufen noch – und ebenfalls die Spurensicherung."
Erst daraufhin bemerkt der Mann die Anwesenheit einiger Dutzend anderer Personen: Am Rand des Trümmerfeldes beseitigen einige Arbeiter mit schnaufenden Dampfbaggern erste Überreste des Zeltes; weiter innen kriecht eine Reihe Ermittler in grünen Ganzkörper-Schutzanzügen durch die Trümmer; mit Hilfe von Lupen und klobigen Spezialbrillen suchen sie verwertbare Spuren. Diese Zirkuszelt-Überreste bedecken die Mitte einer Wiese, an deren Rand zwanzig Einsatz-Dampfwagen parken.
„Was könnte ich Ihnen noch sagen, was Sie nicht ohnehin schon wissen?, fragt Dyckhoff schließlich. „Oder aus den Resten hier herauslesen können?
„Wie gesagt, wir versuchen noch viele Details zum Ablauf zu klären, berichtet die Majorin. „Einige Kollegen sprechen gerade mit weiteren Opfern. Gewiss haben auch Sie vor der Vorstellung mit dem einen oder anderen Besucher geplaudert?
„Ja, mit einigen schon", erwidert Dyckhoff.
„Hat es Sie nicht erstaunt, dass diese alle – wie Sie selbst – Gratis-Tickets für jene Vorstellung zugeschickt bekamen?"
„Ehrlich gesagt: Nein. So was kommt öfters vor: Einladungen zu Konzerten, Theatervorstellungen, exklusive Führungen … Für die Veranstalter, da bedeuten prominente, zahlungskräftige Besucher zusätzliche Publicity; man kann Kontakte knüpfen, findet Sponsoren …"
„Ich verstehe. Beziehungspflege also."
„Das auch, sicher. Zu Beginn waren ja auch einige Journalisten vor Ort."
„Nun gut. Aber können Sie mir jetzt ein wenig die Vorstellung schildern? Vor allem geht es uns natürlich um die Mitwirkenden. Wussten Sie eigentlich, um was für eine Art von Zirkus es sich handelte?"
„Irgendwie schon. Ich kannte Berichte über die ersten Vorstellungen im Ausland. Auch in der Einladung, da gab es ja einige Andeutungen. Man nennt solch eine Veranstaltung sicher nicht ohne Grund Steam Freak Show, oder? Also, wie lief das ab …"
Während die Majorin in der Mitte der einstigen Manege sitzen bleibt, wandert der Zeuge an deren Rand entlang, wobei er sich die Vorstellung wieder ins Gedächtnis ruft: „Ach ja: Zuerst kam der Zirkusdirektor in die Manege. Der hatte stelzenartige Kunstbeine, dampfgetrieben natürlich, gut zwei Meter hoch; das machte ihn regelrecht zum Riesen. Damit stampfte er durch die Manege, während er die Auftritte ankündigte. Als erste Nummer kam dann eine Art Kraftmensch. Der hatte statt künstlicher Beine eben Arm-Prothesen; so sah er fast schon aus wie ein mechanischer Gorilla. Er stemmte monströse Gewichte, verbog Stahlträger, hob gar den Direktor in die Luft. Das alles wurde übrigens von einer Wasserorgel begleitet, die auf der Empore über dem Eingang stand. Ich glaube, die Organistin hatte vier Arme – natürlich ebenfalls mechanisch.
Die Jongleurin, die als Zweites kam, die war ebenfalls vierarmig. Sie ließ zum Schluss sicher zwanzig Bälle oder mehr kreisen, die Hälfte im Uhrzeigersinn, die Hälfte dagegen, im schnellen Wechsel, bis zur Zeltdecke hoch … Außerdem jonglierte sie mit Äpfeln, brennenden Kegeln, Messern … Ach ja: Die Messer warf ihr schon der Messerwerfer zu; der kam als Nächster. Wobei, da kann man von Werfen kaum sprechen; er schoss die Messer eher mit seinem rechten Arm ab – der war eine Art Katapult.
Nach dem Abgang der Jongleurin, da zeigte der Messerwerfer eine Art Zielschießen, mit Bällen, zuletzt gar mit Münzen, die er in die Luft warf. Dann spannte er eine Assistentin auf eine Drehscheibe; so führten die zwei eine Wurfnummer vor. Anfangs schien das eher fad zu werden."
„Wieso das?"
„Wegen dem Oberkörper der Assistentin: Der war komplett aus Stahl; jedenfalls sah’s so aus. Allerdings platzierte der Messerwerfer dann einige Geschosse unglaublich dicht neben ihrem Gesicht und – und neben anderen Körperteilen; so ging doch jedes Mal ein erleichtertes Ächzen durch die Reihen.
Da war es eine nette Abwechslung, dass als Nächstes die Clowns kamen; zwei männliche Clowns und ein weiblicher – Clownin? Wie auch immer: Die fuhren alle eine Art Dampf-Autoscooter; mit denen waren sie regelrecht verwachsen. Sie veralberten den Straßenverkehr, mit Verkehrsrowdys, Polizeiwagen und natürlich jeder Menge Kollisionen, dass es nur so dampfte.
Als Letztes, da waren dann die Trapez-Artisten dran, wieder zwei Männer und eine Frau. Sie hatten einen oder zwei mechanische Arme, einer sogar mechanische Beine. Mit denen schwang und fing er ebenso sicher wie mit den Armen. Spektakulär, das Ganze! Und dann …"
Er zögert so lange, bis die Majorin nachhakt: „Und dann?"
„Danach, da kletterten alle anderen Darsteller zu den Artisten aufs Trapez – fast alle, heißt das: der Direktor, der Kraftmensch, die Jongleurin und der Messerwerfer samt Assistentin. Freuen Sie sich nun auf unsere große Schlussnummer!, rief der Direktor runter. Vielen Dank schon im Voraus, und gute Nacht euch allen!
Dieser Gruß kam uns etwas seltsam vor, auch weil die Vorstellung ja erst eine halbe Stunde oder so lief. Es wurde aber noch seltsamer: Die Clowns kamen wieder in die Manege gefahren; sie trugen nun aber Gasmasken mit langen Schläuchen dran. Hinten auf den Dampfwagen, da lagen außerdem Flaschen, aus denen grünliches Gas strömte."
„Das Betäubungsgas, konstatiert die Majorin. „Ironischerweise mutmaßlich Lachgas.
Der Mann kann darüber momentan gar nicht lachen. „Wie auch immer: Alle, die direkt neben der Manege saßen, die fielen zuerst in Ohnmacht. Mein Platz war in der fünften Reihe; so kippte ich kurz darauf um. Was mit den anderen geschah, das wissen Sie sicher besser als ich. Entkam irgendwer dem Anschlag?"
„Nun, einige aus den oberen Zuschauerreihen versuchten in der Tat zu fliehen", erklärt die Polizistin. „Aber dazu mussten sie die Tribünen hinabsteigen – und gelangten so erst recht in den Bereich, wo das Gas waberte. Kurz und schlecht: Niemand der gut zweitausend Leute im Zelt entkam.
Danke für Ihre Schilderung, Herr Dyckhoff! Was danach geschah, konnten wir seit gestern zum Teil schon rekonstruieren: Der Großteil der Zuschauer wurde zum Rand der Wiese gebracht, dort drüben, wo nun die Wagen parken. So waren sie außer Gefahr, als das Zelt angezündet wurde."
„Was sollte das eigentlich? So ein riesiges Zelt, das ist doch sicher nicht ganz billig."
„Gewiss. Aber offensichtlich sollten so Spuren beseitigt werden – was auch gelang.
Interessanter dürfte allerdings sein, was mit Ihnen und den zwanzig anderen geladenen Gästen geschah: Sie wurden in der Nacht zu Professor Vodniks Klinik für generelle Prothetik gebracht; in den umgebenden Grünanlagen wachten Sie dann am Morgen auf. Haben Sie eine Erklärung dafür, dass man Sie ausgerechnet dorthin verfrachtet hat?"
Die Majorin blickt zu dem Mann hinüber; der vermeidet jedoch den Blickkontakt. „Äh … nein."
„Aber von der Klinik hatten Sie gewiss schon gehört?"
„Ja, sicher; wer nicht? Vodnik, das ist ja der Pionier auf dem Gebiet der … Wie nannten Sie das gleich?"
„Prothetik. Also die Herstellung und Anpassung von menschlichen Prothesen aller Art."
„Ach ja. Sicher, gehört hatte ich davon irgendwann."
„Aber Sie persönlich hatten mit der Klinik noch nie zu tun?"
„Nein, warum denn auch?"
Die Polizistin seufzt unwillig, ehe sie antwortet: „Nun, wir konnten bereits Einsicht nehmen in die Unterlagen der Klinik, Herr Dyckhoff. Und in denen kommen nicht nur Sie vor, sondern auch alle anderen geladenen Gäste, die dort neben Ihnen aufwachten. Und zwar als Auftraggeber."
Erst daraufhin wendet sich der Mann wieder der Ermittlerin zu. „Was? Aber das ist illegal! Was ist mit dem Datenschutz, dem Patientengeheimnis, der ärztlichen Schweigepflicht? Wir werden …"
„Illegal sind zuallererst die Deals, die Sie – Sie alle! – mit den Klinikbetreibern abgeschlossen haben, unterbricht ihn die Majorin. „Welche Folgen das für Vodnik haben wird … Aber er zeigt sich kooperationsbereit. Daher wissen wir, dass in der Klinik in den letzten sieben Jahren insgesamt zweiundzwanzig Operationen durchgeführt wurden, von denen weder Krankenkassen noch Behörden Kenntnis erhielten. Zweiundzwanzig Operationen, geregelt durch siebzehn mündliche Vereinbarungen, weil es teilweise um mehrere Verletzte, also um mehrere Patienten ging. Vereinbarungen jeweils zwischen erstens diesen Patienten, zweitens Professor Vodnik, und drittens jemandem aus Ihrer Ehrengast-Gruppe. Letztere gaben das Geld; Vodnik übernahm alles Medizinische, und die Verletzten erklärten sich damit einverstanden, sich operieren zu lassen. So viel wissen wir also bereits. Natürlich finanzierten Sie diese höchst aufwendigen Operationen nicht aus Menschenliebe: Sie alle waren verantwortlich für die Verstümmelungen, die Verletzungen, die jene Patienten erlitten: Denn diese Patienten waren zumeist Opfer von Arbeits- und Verkehrsunfällen mit abgetrennten, zerschmetterten Gliedmaßen und Körperteilen. Unfälle, die von Ihnen und Ihresgleichen direkt verursacht wurden oder die Sie zumindest zu verantworten haben. Unfälle, die Ihnen allen jede Menge Ärger und schlechte Presse beschert hätten. Habe ich recht?
Der Mann windet sich sichtlich. „Das ist Verleumdung, Anpatzerei, eine Hexenjagd!"
„In Ihrem Fall, Herr Dyckhoff, ging es um einen Mann, dem in Ihrem Müllentsorgungsunternehmen beide Beine zerquetscht wurden, weil die Dampf-Müllpresse nicht den behördlichen Sicherheitsvorschriften entsprach.
Natürlich hätte das ‚Unfall‛-Opfer Sie auch verklagen können. Aber solche Prozesse dauern Jahre, wenn sich die Beklagten die besten Anwälte leisten können – anders als der Kläger. Letzterer hätte bis dahin mit einer Billig-Prothese leben müssen – wenn überhaupt, je nach Lust und Laune der Versicherung. Also haben Sie dem Opfer angeboten, ihm eine Spezial-Prothese zu verschaffen, die es ihm auch erlaubt, seinen Lebensunterhalt zu verdienen – falls es dafür auf alle rechtlichen Schritte gegen Sie verzichtet und die Presse außen vor lässt. Nicht wahr? Haben Sie den Mann gestern womöglich gar wiedererkannt? War es einer der Clowns? Vodnik meinte, Ihrem Arbeiter wurde ein variabler, dampfgetriebener Untersatz verpasst: eine Prothese also,