Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Mary Engels - Dunkelheit hinterm Glanz des schönen Scheins: Roman/Erzählung
Mary Engels - Dunkelheit hinterm Glanz des schönen Scheins: Roman/Erzählung
Mary Engels - Dunkelheit hinterm Glanz des schönen Scheins: Roman/Erzählung
eBook315 Seiten4 Stunden

Mary Engels - Dunkelheit hinterm Glanz des schönen Scheins: Roman/Erzählung

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Die Zehntklässlerin Mary, die mit vollem Namen Maralen heißt, muss sich einer unerwarteten Herausforderung stellen. Nach einem Turnunfall ist sie blind, lässt sich davon aber nicht abhalten, alle Dinge zu tun, die ihr wichtig sind. Sie hat gelernt, die anderen Sinne zu benutzen, um die Welt um sich herum wahrzunehmen. Auf ihren Freund, ihre Clique und ihre Familie kann sie immer zählen.
Allerdings ist ihr nicht bewusst, wie attraktiv sie in den Augen anderer Menschen mit ihren langen blonden Haaren ist. Als sie mit ihrem Klassenkameraden Moritz in einer Eisdiele jede Menge Spaß hat, wird sie bereits von einem fremden Mann beobachtet. Mary lebt ihr Leben normal weiter, doch bald ist das Beobachten für den Fremden nicht mehr genug. Warum jedoch kommt Mary die Stimme des Mannes bekannt vor? Wer ist der Fremde und warum lässt er sie nicht in Ruhe? Mary und ihre Clique stoßen auf manches Geheimnis, das es zu lüften gilt, und sogar auf einen alten Kriminalfall. Die Spuren führen Mary und ihren Freund nach Mayenfeld ...
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum16. Sept. 2020
ISBN9783347009103
Mary Engels - Dunkelheit hinterm Glanz des schönen Scheins: Roman/Erzählung

Ähnlich wie Mary Engels - Dunkelheit hinterm Glanz des schönen Scheins

Ähnliche E-Books

Kinder – soziale Themen für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Mary Engels - Dunkelheit hinterm Glanz des schönen Scheins

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Mary Engels - Dunkelheit hinterm Glanz des schönen Scheins - Heidi Stehbach-Braunreuther

    Moritz sah Mary von der Seite an.

    „Wer macht dir eigentlich immer deine Frisuren?"

    „Ich selbst, antwortete Mary. „Ich habe irgendwie einen Frisurentick.

    „Du kriegst das prima hin und es steht dir auch. Wie geht das? Ich meine, du kannst dich ja nicht im Spiegel betrachten?"

    „Schau mal, sagte sie fröhlich und strich mit den Fingern über das Flechtwerk. „Ich sehe mit meinen Händen. Eine Bekannte von mir ist Friseurin auf Rädern. Die kennt mein Faible. Wenn sie zu uns ins Haus kommt, um uns die Haare zu schneiden, nimmt sie sich immer Zeit und zeigt mir Frisuren, die ich erfühlen und nachmachen kann.

    Die Bedienung brachte kleine Tabletts. „Einmal Stracciatellabecher, einmal Erdbeerbecher."

    „Wir zahlen gleich. Mary hielt der Frau einen Fünf-Euro-Schein hin. Moritz kramte ebenfalls in seinem Geldbeutel und gab ihr fünf Euro in Münzen. Die Frau stellte die Bestellung ab und bedankte sich. Mary nahm den Becher vor sich hoch und roch daran. „Hm, das ist deiner, Moritz. Stracciatella. Sie schob ihn grinsend zu ihm hinüber. „In diesem Fall benutze ich meine Hände lieber nicht. Moritz lachte und stellte den anderen Eisbecher vor Mary. Sie hörte es, griff danach und begann zu essen. „Dieser Quellhorst geht mir richtig auf den Senkel, seufzte Moritz. „Hat der mir doch tatsächlich ein Sauschwänzchen gegeben! Oiiink. Er grunzte laut. Mary prustete los: „Sauschwänzchen? Was bedeutet denn das?

    „Na, die Note, die wie das Ringelschwänzchen eines Schweins aussieht."

    „Eine Sechs?", riet sie.

    „Genau, bestätigte Moritz, „in der letzten Schulaufgabe muss ich unbedingt eine Vier schreiben, sonst wird es ernsthaft eng für mich. Er klang gequält.

    Mary überlegte. „Meinst du nicht, dass du noch einige ordentliche mündliche Noten hast?"

    „Ich denke nicht." Moritz zerriss einen Bierdeckel in viele Teile.

    „Wie wäre es mit einem Referat? Der Quellhorst ist immer dazu bereit. Das ist eine prima Möglichkeit, deine Sechs wieder auszubügeln", schlug Mary vor.

    „Ach nö, dieser Aufwand!", stöhnte Moritz.

    „Wir können auch zusammen lernen", bot Mary an.

    „Lernen? Das ist jetzt nicht dein Ernst!", fragte Moritz gespielt entsetzt.

    Vor ihrem geistigen Auge tauchte schemenhaft sein Bild auf. Sie konnte seinen Blick regelrecht fühlen und lachte. „Moritz Hänfling, du bist so eine faule Socke! Dir bleibt tatsächlich nur die Option, ordentlich zu spicken und dich nicht erwischen zu lassen."

    „Ich müsste neben dir sitzen", überlegte er.

    „Aber du könntest ja nicht lesen, was ich schreibe, warf Mary ein. „Die Vorlesefunktion bringt dir auch nichts, weil du keine Kopfhörer trägst.

    „Stimmt, gab er zu. „Fuck. Da müsste ich glatt noch Braille lernen.

    „Du bist verrückt. Genauso gut könntest du etwas für Französisch tun!", konterte Mary.

    „Na ja, es gibt ja auch noch Mathe, Englisch, Geschichte, Religion, Physik, Wirtschaft und so weiter. Braille bräuchte ich mir nur einmal anzueignen. Es würde für alle Fächer zum Spicken reichen. Wäre wie so eine Art Breitbandantibiotikum für mehrere Krankheiten."

    „Ich traue es dir zu, gluckste Mary. Sie ergriff die Speisekarte, tat so, als ob sie sie ihm über den Kopf ziehen würde und legte sie wieder auf den Tisch. „Kein Lehrer würde je vermuten, dass du es kannst, weil jeder weiß, wie stinkfaul du bist.

    Moritz kicherte albern. „Ist doch gut, oder?"

    Mary grinste. „Ja. Sie würden dich deshalb wahrscheinlich sogar zu Anne und mir ins kleine Zimmer lassen. Ohne mit der Wimper zu zucken."

    „Meine besseren Noten lägen dann eben an meiner guten Konzentration", frotzelte er.

    Mary lachte lauthals los und drehte den Kopf in seine Richtung. „Du hast es faustdick hinter den Ohren, Moritz Hänfling. Ich stelle mir gerade dein Gesicht vor. Leider bleibt es nur bei der vagen Vorstellung", platzte sie gedankenlos heraus. Erschrocken hielt sie die Hand vor den Mund. Ihr wurde bewusst, dass sie Moritz in Verlegenheit gebracht haben könnte.

    „Äh, machte Moritz, „hast du nicht vorhin gesagt, dass du deine Hände benutzt, wenn du etwas sehen willst?

    „Ja", antwortete Mary.

    „Na ja, dann mach es doch einfach", bot er an.

    „Hier? In der Öffentlichkeit?", fragte Mary ungläubig und grinste.

    „Warum denn nicht?, erwiderte Moritz. „Nur zur Info. Ich schaue dich ja auch gerade an.

    „Ja, mit deinen Augen, konterte Mary. „Das ist normal.

    „Es ist aber auch normal, dass du es anders machst, weil es mit deinen Augen nicht funktioniert."

    Mary lächelte. Sie freute sich, dass Moritz so dachte.

    „Die meisten, die ich in Mayenfeld kennengelernt habe, tun das zwar nicht, aber ich vermisse Gesichter manchmal sehr. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich bis zu dem Turnunfall sehen konnte. Ja, ich komme gern auf dein Angebot zurück", sagte sie leise.

    Er nahm ihre Hände in die seinen und legte sie an sein Gesicht. Das Mädchen begann, seine Haare zu erfühlen, dann seine Augen, Schläfen und das Kinn. Moritz lachte. Mary tastete nach seiner Nase und seinem Mund. Das allerdings tat sie normalerweise nie, aber sie war einfach etwas übermütig. „Ich kenne dein dreckiges Grinsen. Hast du was vor?", feixte sie.

    Moritz sah in ihre strahlend blauen Augen. Ihm war, als würden sich ihre Blicke direkt treffen. Für einen Moment vergaß er, dass sein Gegenüber blind war. Er grinste noch breiter. Mary hielt inne und ließ ihre Finger auf seinen Lippen liegen. Es gefiel ihr irgendwie, wenn er sie angrinste. Plötzlich streckte er seine Zunge heraus und leckte über ihre Finger.

    „Hey!, schrie Mary auf und zog die Hand weg. „Pfui Teufel! Ich weiß schon, warum ich grundsätzlich weder Nase noch Mund anfasse. Du Wildsau, du!

    Er begann lauthals zu lachen. Reflexartig schmierte sie die Spucke an seine Wange. „Sorry, kicherte er, „bitte nicht böse sein. Mir war jetzt einfach danach. Er grunzte wie ein Schwein.

    Da begann auch Mary zu schmunzeln. „Ich hätte es wissen müssen! Kenne dich ja schon lang genug."

    „Ich bring dich zur Toilette, wenn du deine Hände waschen willst", bot Moritz an.

    „Wäre nicht schlecht, stimmte Mary grinsend zu. „Die finde ich aufs erste Mal nicht alleine, ohne ewig zu suchen.

    „Ich muss auch erst einmal schauen, wo sie ist. Es ist ja alles komplett neu hier", murmelte Moritz.

    „Machst du hier auch wirklich keinen Scheiß? Womöglich führst du mich noch ins Männerklo. Mal so versehentlich. „Nein, entgegnete er mit ernster Stimme. „Du kannst mir vertrauen. Ehrlich."

    Mary zeigte ihm den Vogel. „Na klar, spöttelte sie und grinste. „Blind vertrauen – ausgerechnet dir, Moritz Hänfling?

    „Ernsthaft", beteuerte Moritz. Er jammerte beinahe, um seine aufrichtigen Absichten zu untermauern.

    „Dann gebe ich dir eben eine Chance, schmunzelte Mary. „Aber ich warne dich! Beide erhoben sich.

    „Es ist sehr eng hier", murmelte Moritz.

    „Am besten gehst du voraus. Ich halte mich an deinen Schultern fest", schlug Mary vor.

    Auf diese Art lotste er sie sicher durch die Sitzgruppen. Vor einer Tür blieb Moritz stehen. „Hier, schau. Der Beweis." Er führte ihre Hand zu einer Figur an der Tür. Mary ertastete sie. Es war eine Frau mit einem langen Kleid. „Damentoilette. Das ist dein Glück", stellte sie kichernd fest. Sie öffnete.

    Moritz warf einen kurzen Blick hinein. „Geh zwei Schritte geradeaus. Das Waschbecken ist links von dir. Wenn du davorstehst, findest du neben dem Waschbecken rechts die Klotür. Du musst nur deinen Arm ausstrecken."

    Mary lächelte in Moritz' Richtung. „Danke."

    „Ich warte hier auf dich."

    „Okay", antwortete Mary und schloss die Tür hinter sich. Moritz steckte die Hände in die Hosentaschen und ließ seinen Blick über den Raum schweifen. Das Eiscafé war gut besucht. Direkt neben ihrem Platz saß ein Mann mit Anzug und Krawatte an einem Zweiertisch. Er bestellte gerade. Die Toilettentür ging auf. Mary kam zurück.

    „Halt dich wieder fest", bot Moritz an. Sie legte ihre Hände auf seinen Rücken. Während sie zu ihrem Platz gingen, stellte Moritz fest, dass der Mann mit der Krawatte zu ihnen herübersah. Moritz nahm Marys Hand in die seine und zeigte ihr die Stuhllehne. Mary tastete nach der Sitzfläche und setzte sich. Der Junge hockte sich daneben. Der Mann vom Nachbartisch starrte sie an. Moritz stöhnte.

    „Was ist denn?", fragte Mary.

    „Gaffer am Werk, flüsterte er mürrisch. „So ein Schnösel neben uns schaut dich ununterbrochen an. Er ist geschniegelt und gestriegelt. Wirkt vom Aussehen wie ein Firmenchef; zumindest wie irgendein höheres Tier. Vom Alter her könnte er unser Vater sein.

    Mary seufzte. „Wahrscheinlich ist ihm noch nie ein blindes Mädchen begegnet. Muss schon sehr interessant sein!"

    Moritz löffelte eine Praline aus seinem Eisbecher. „Soll ich ihm was rüberschießen?, fragte er belustigt. „Schokolade mit Sahne?

    Mary lachte. „Moritz Hänfling, untersteh dich. Wir kriegen Hausverbot!"

    „Quatsch! Ich stelle mir das gerade so schön vor, die ganze Sauerei genau auf seinen Brillengläsern, und wie die Sahne auf seine Krawatte tropft, alberte Moritz, hob den Löffel hoch und tat so, als ob er ihn als Katapult verwenden würde. Mary saß so nah neben ihm, dass sie seine Bewegungen fühlte. Sie fürchtete, er könne sein Vorhaben in die Tat umsetzen. „Du zielst. Echt jetzt?, kicherte sie und griff nach seinem Arm. Dabei rutschte ihm die Praline mitsamt Sahne vom Löffel und klatschte auf den Tisch. Mary prustete los. Moritz lachte und wischte alles mit seiner Serviette weg. „Ich glaube, wir gehen lieber", sagte er plötzlich.

    „Ich wette, die Bedienung schaut schon zu uns rüber", gluckste Mary.

    „Du hast recht", bestätigte Moritz.

    Mary klappte ihren Stock auf. Beide erhoben sich. Als sie die Eisdiele verließen, sah ihnen der Fremde hinterher, bis sie aus seinem Blickfeld entschwunden waren.

    Das Klassenzimmer füllte sich. Moritz führte Mary an ihren Platz. Anne, ihre Schulbegleitung und ausgebildete Blindenlehrerin, war schon da. Sie half Mary, ihre Unterlagen für das Fach Wirtschaft herauszusuchen. Mit ihrer Hilfe funktionierte es so schnell wie bei den anderen. Svea und Florentina kamen auch zurück. Sie hatten in der Pause noch für Latein gelernt, da beide fürchteten, ausgefragt zu werden. Mary hatte das bereits doppelt hinter sich.

    Die Schüler stürmten auf ihre Plätze, als Frau Weber den Raum betrat. Sie grüßte, die Schüler grüßten murmelnd zurück. Frau Weber stellte ihre Tasche mit Nachdruck auf das Pult. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Die schlechte Laune war ihr anzusehen. „Die Ex habe ich bereits korrigiert. Man merkt, dass ihr wenig gelernt habt." Matze und Moritz unterhielten sich.

    „Mathias, nenne die Prinzipien der freien Marktwirtschaft."

    Moritz boxte Matze in die Seite.

    „Hä", machte der.

    „Hier vorne spielt die Musik. Mathias, du sollst aufpassen!, schimpfte Frau Weber. „Du hast es dringend nötig. Also, nun nenne mir die Prinzipien der freien Marktwirtschaft, wiederholte sie.

    „Aus Prinzip Leute bescheißen, antwortete Matze und grinste von einem Ohr zum anderen. Die Klasse brüllte. „Mathias, willst du einen Verweis haben? Dein Verhalten lässt zu wünschen übrig, deine Leistungen auch, klagte Frau Weber. „Lange schaue ich mir das nicht mehr an. „Machen Sie halt die Augen zu, frotzelte er. Die Schüler johlten.

    „Letzte Warnung!, drohte die Lehrerin. Sie wandte sich an Julie. „Kannst du mir die richtige Antwort nennen? Julie lächelte siegesgewiss, setzte sich aufrecht hin und hob selbstbewusst den Kopf. „Marktprinzip, passive Rolle des Staates, dezentrale Planung, Wirtschaftlichkeits- und Rentabilitätsprinzip, allgemeine Freiheitsverbürgung, Konkurrenz- und Wettbewerbsprinzip."

    „Prima, Julie, lobte Frau Weber. „Das wäre die richtige Antwort gewesen.

    Julie ließ einen abfälligen Blick über ihre Klassenkameraden schweifen.

    Frau Weber holte tief Luft. „In der Ex gab es drei Einser, drei Zweier, einen Dreier, acht Vierer, sechs Fünfer, der Rest sind Sechser!" Sie verteilte die Arbeiten. Frau Weber gab Florentina ihre Arbeit.

    „Glück gehabt!", seufzte sie erleichtert.

    „Was hast du denn?", fragte Mary neugierig.

    „Eine Eins minus."

    „Super, dann kriegst du die Eins ins Zeugnis! Mary lächelte und drückte Florentinas Hand. Als Mary ihr Blatt erhielt, suchte sie mit den Fingern nach der Note und der Punktzahl. Sie stellte fest, dass es eine glatte Eins ohne Fehler war. Julie drehte sich um. „Ich habe eine Zwei plus mit 28 Punkten. Die letzte Frage war einfach unfair gestellt. Da habe ich vier Punkte verloren. Was hast du, Mary? Ihre Stimme klang gequält, als sie die Arbeiten der Mädchen begutachtete. Die Note stand bei Mary nicht nur in Braille, sondern auch in normaler Schrift. „Sagt bloß, ihr habt beide eine Eins?"

    Mary hörte Julies Entsetzen aus dieser Frage heraus.

    „Ja", antwortete sie leise.

    „Wie viele Punkte hast du, Mary?"

    Mary stöhnte. Ihr war Julies Feilscherei um die Leistungen zuwider. Jedes Mal das gleiche Drama: War sie besser als Mary, erzählte sie es gefühlt jedem in der Klasse, egal, ob er es hören wollte oder nicht. Hatte sie schlechter abgeschnitten, lamentierte sie den anderen vor, wie ungerecht die Bewertung sei. Oder sie beschwerte sich beim Lehrer.

    „Wie viele?", fragte Julie noch einmal, diesmal etwas nachdrücklicher.

    „Acht", sagte Mary mit einem Anflug von Zorn in der Stimme.

    „Verarschen kann ich mich selber", zischte Julie und sah Mary giftig an.

    „Zahlvorzeichen, c und b, gab Mary knapp zur Antwort, „sind zusammen acht. Florentina gluckste. „Stimmt." Sie wusste genau, dass ihre Freundin von der Anzahl von Punkten in Blindenschrift bei der Zahl 32 sprach. Julie ärgerte sich grundsätzlich, wenn offensichtlich war, dass sie auf dem Schlauch stand und nicht mit Wissen prahlen konnte. Geschah ihr recht. Mary grinste in Florentinas Richtung.

    Julie ignorierte Marys Aussage, beugte sich weiter über den Tisch und konnte nun die Punktzahl erkennen, die neben der Note stand. 32.

    „Soll ich die Arbeit gleich einräumen?, fragte Anne, „dann kannst du dich um andere Sachen kümmern.

    Mary nickte lächelnd. „Ja. Danke, Anne."

    „Das gibt es doch nicht, jammerte Julie. „Woher hast du denn bloß immer deine Bestnoten? Kann es sein, dass du hier jedem Lehrer leidtust und deshalb bevorzugt wirst? Ich meine, vielleicht drücken sie bei dir ja beide Augen zu. Marys Magen krampfte sich zusammen.

    „Ganz bestimmt nicht", mischte sich Anne ein. Mary hätte Julie am liebsten geschüttelt.

    „Julie Bernauer, mahnte Frau Weber. „Du bist eine ausgezeichnete Schülerin. Doch es ist ein No-Go, dass du andere schlechtmachst. Marys Leistungen sind eben auch sehr gut. Ihre Noten haben überhaupt nichts damit zu tun, dass sie blind ist. Ich möchte so etwas nie mehr hören, hast du verstanden?

    „Ja", brummte Julie beleidigt.

    Julie saß mit ihrer Mutter gerade beim Abendessen, als ihr Vater von der Arbeit kam. „Was für ein blöder Tag", schimpfte er.

    Frau Bernauer erhob sich. „Ach, Klaus, setz dich doch erst einmal hin."

    Er stapfte ins Esszimmer und ließ sich ächzend auf der Eckbank nieder. Sein Blick verfinsterte sich, als seine Frau mit einem Bier zurückkam und es ihm öffnete. Er hob die Flasche und betrachtete sie genau. „Du weißt doch, dass ich dieses Gesöff nicht mag! Kannst du kein ordentliches Bier kaufen?", polterte er los. Er kniff die Augen zusammen. Was bedeutete, dass mit ihm im Moment nicht gut Kirschen essen war.

    Frau Bernauer nahm Platz und sagte nichts.

    „Julie, brummte Herr Bernauer, „gib mir das Fleisch. Sie griff nach der Platte und hielt sie ihm hin. Er spießte ein Stück auf seine Gabel und legte es auf seinen Teller.

    „Wie war die Schule?, fragte er, ohne seine Tochter anzusehen. „Hast du irgendeine Arbeit zurückbekommen?

    „Ja", antwortete Julie. Sie klang resigniert.

    „Und?", fragte er forschend und hob den Blick.

    „Eine Zwei plus in Wirtschaft, antwortete Julie gequält. „Gab es auch Einsen?

    „Ja", murmelte Julie.

    „Wer hat denn eine?"

    Julie zuckte mit den Schultern.

    „Tu bloß nicht so, als ob du es nicht wüsstest, knurrte er. „Wahrscheinlich hat diese blinde Göre auch wieder eine. Julie nickte.

    „Na klar, was auch sonst, brummte er. „Die hat doch allemal einen Sonderstatus wegen ihrer Blindheit.

    „Klaus, bitte, warf Frau Bernauer ein, „das kann und darf doch gar nicht sein. Das Mädchen war eine der Besten, als sie noch sehen konnte.

    „Ach, sei du doch ruhig, fuhr er sie an. Er blickte Julie ins Gesicht. „Ist sie auf dem Abschlussballfoto auch drauf?, fragte er.

    „Natürlich, antwortete Julie, „warum denn nicht? Sie hat den Tanzkurs mitgemacht wie alle anderen.

    „Hol es mal. Er forderte Julie mit einer unwirschen Handbewegung auf, sich zu erheben. Julie verließ das Zimmer und kam mit einem großen Foto wieder zurück. Er riss es ihr aus den Händen. „Wer ist sie denn jetzt?

    „Warum interessiert dich das?"

    Er ignorierte ihre Frage. „Zeig sie mir mal!"

    Julie deutete auf Mary. Herr Bernauer sah sich das Foto genau an. „Eine kleine Schönheit ist sie auch noch, brummte er. „Blonde lange Locken, schlank, die wird den Lehrern den Kopf verdrehen.

    „Klaus", schalt Frau Bernauer.

    Er sah genervt von seiner Frau zu Julie. Die schob sich gerade ein Stück Semmel in den Mund. „Iss nicht so viel. Streng dich an, damit deine Noten besser werden als ihre", sagte er zu seiner Tochter.

    Julie nickte. „In Französisch habe ich beim Aufsatz kleine Probleme. Mary fällt das natürlich leicht. Vielleicht könnte ich sie fragen, ob sie mir hilft?", schlug sie vor.

    „Das ist eine gute Idee, bestätigte Frau Bernauer freundlich. „Lade sie doch zu uns ein.

    Julie lächelte. „Ich weiß allerdings nicht, ob sie mag."

    „Ich war heute nicht nett zu ihr, fügte sie in Gedanken hinzu, froh darüber, dass ihr Vater die nicht lesen konnte. „Schmier' ihr etwas Honig ums Maul, das funktioniert meistens, entgegnete ihr Vater. Er grinste. Seine Laune schien sich wesentlich gebessert zu haben. Erleichtert nickte Julie. Sie erhob sich, um mit ihrer Mutter gemeinsam den Tisch abzuräumen.

    Am nächsten Tag bat Julie Mary nach dem Unterricht um Nachhilfe wegen der anstehenden Französischschulaufgabe. Mary tat, als ob sie Julie ansehen würde.

    „Was willst du eigentlich? Du behauptest doch, dass ich meine Noten nur bekomme, weil die Lehrer Mitleid mit mir haben. Laut deiner Meinung könnte ich dir nicht einmal helfen, weil ich zu blöd dazu bin", gab sie schnippisch zurück und wandte sich wieder ihren Schulsachen zu, die sie gerade einräumte. Sie verabschiedete sich von Anne, dann warf sie den Rucksack auf den Rücken und zog ihren Stock in die Länge.

    Julie fasste sie am Arm. „Es tut mir leid. Das war nicht so gemeint."

    „Wie sollte es denn dann gemeint sein, Julie?, fragte Mary forschend. „Deine Behauptung gestern war sehr verletzend.

    „Ich mach das nie wieder, jammerte Julie, „bitte nimm meine Entschuldigung an. Wahrscheinlich war ich sauer, weil ich nur eine Zwei hatte.

    „Ihr habt vielleicht Probleme, warf Moritz lachend ein, „was soll ich da sagen? Sauschwänzchen, oink!

    Mary kicherte und drehte den Kopf zu ihm hin.

    „Komm, der Bus fährt gleich. Heute ist wieder Reger der Raser an der Reihe. Der hat es immer so eilig", drängte Florentina. Mary griff nach dem Arm ihrer Freundin.

    „Bis morgen, Moritz", sagte sie lächelnd.

    „Mary, bitte", flehte Julie.

    „Also gut, seufzte Mary. „Passt es dir morgen Nachmittag?

    Julie überlegte einen Moment, bevor sie antwortete. „Prima sogar. Danke." Sie verabschiedete sich.

    „Welche Laus ist der denn über die Leber gelaufen?, fragte Florentina, während sie und Mary aus dem Klassenzimmer gingen. Die Mädchen beeilten sich. Mary zuckte lachend mit den Schultern. „Das weiß ich auch nicht. Ich hätte nie gedacht, dass sie sich jemals dazu herablassen würde, ausgerechnet mich zu fragen, ob ich mit ihr lerne!

    Julie öffnete die Tür. „Hallo, komm herein."

    Mary lächelte und betrat das Haus. Sie zog ihre Schuhe aus und stellte sie neben die Garderobe. Da sie noch nie hier war und sich überhaupt nicht auskannte, bat sie ihre Klassenkameradin, sie in ihr Zimmer zu führen. Mary ergriff Julies Arm. Nach wenigen Schritten blieb Julie stehen.

    „Alles okay?", fragte Mary, als sich Julie bückte.

    „Ja, aber Papas Schuhe stehen voll im Weg. Ich räume sie schnell zur Seite."

    „Wozu habt ihr Augen im Kopf?, rief eine mürrische Stimme vom anderen Ende des Flurs her. Zigarettenrauch stieg Mary in die Nase. Mary drehte ihren Kopf in die Richtung. Die Stimme kam näher, der Geruch wurde intensiver. „Sportlich sein, drüberspringen!

    Mary biss sich auf die Lippen. Sie ärgerte sich über diese plumpe Aufforderung. Da sie den Stock benutzte, musste ihre Sehbehinderung für den Mann offensichtlich sein. Sollte sie ihn extra darauf hinweisen? Als ob sie Gedanken lesen könnte, nahm Julie ihr diese Entscheidung ab. „Papa, das ist meine Klassenkameradin Mary Engels. Sie ist das Mädchen, das letztes Jahr diesen Turnunfall hatte und seitdem blind ist."

    Mary spürte, dass der Fremde sie anstarrte. In ihr stieg ein mulmiges Gefühl auf. „Ach, ja! Woher kommt sie?"

    „Aus Immenbach, erwiderte Mary schnell. Sie hasste es, wenn man anderen Fragen über sie stellte, obwohl sie anwesend war und selbst antworten konnte. Am liebsten hätte sie ihm unter die Nase gerieben, dass sie blind, aber nicht taub sei, doch sie schluckte diese bissige Antwort tapfer hinunter. Julies Vater holte tief Luft. „Aha, machte er. Er musterte Mary von oben bis unten. „Deine Augen sehen ganz normal aus, überhaupt nicht trüb oder milchig. Nicht so, wie man sie sich vorstellen würde, stellte er fest. „Himmelblau. Einfach nur wunderschön himmelblau, wiederholte er.

    „Komm, lass uns gehen", bat Julie schnell und führte Mary weiter, die Treppe hoch, und von dort aus bis zu ihrer Zimmertür. Mary war froh, von dem fremden Mann wegzukommen, der ihr so viel Unbehagen bereitete. Die Mädchen betraten das Zimmer.

    „Setz dich doch auf meinen Schreibtischstuhl, bot Julie an, „ich hole etwas zu trinken. Ich bin gleich wieder da. Magst du Wasser?

    Mary nickte. Bevor sie etwas erwidern konnte, verließ Julie den Raum, ohne die Tür zu schließen. Schreibtischstuhl? „Wäre gut zu wissen, wo er ist; ich kenne dieses Zimmer nicht und habe auch keine Zeit, es in Ruhe zu erkunden, dachte Mary etwas grimmig und tastete sich durch den Raum. Wenn sie etwas abgrundtief hasste, war es, sich nicht zurechtzufinden und hilflos zu wirken. Sie hoffte, dass Julies Vater nicht auf die Idee kam, heraufzustiefeln und sie zu beobachten. Nach einer Weile stieß ihr Stock gegen ein Metallgestell. Mary streckte die Hand danach aus, fühlte auf Brusthöhe etwas Gepolstertes und erkannte die Rückenlehne eines Bürostuhls. Sie ging herum und tastete nach der Sitzfläche. Erleichtert ließ sie sich darauf nieder. Der Schreibtisch befand sich vor ihr. Das stellte sie fest, als sie mit den Händen danach suchte. Sie fühlte sich hier irgendwie fehl am Platz. Mary hörte Julies Schritte. Ihre Klassenkameradin kam zurück, schloss die Tür hinter sich zu und hockte sich auf irgendeine Sitzgelegenheit neben sie. Sie goss Wasser in ein Glas, ergriff Marys Hand und gab ihr das Getränk. Mary zuckte zusammen, wie immer, wenn sie ohne Vorahnung berührt wurde. Julie bemerkte es nicht. „Darf ich dir nun meinen Französischaufsatz vorlesen?, fragte sie.

    „Natürlich, antwortete Mary lächelnd, nahm einen Schluck und stellte das Glas auf den Schreibtisch, „schieß los!

    Julie begann. Mary hörte aufmerksam zu. Wenn ihr ein grammatikalischer Fehler auffiel, stoppte sie Julie, verbesserte und erklärte, warum etwas falsch war. Sie schlug ihr vor, die Fehlerquellen schriftlich festzuhalten. Nach einer Weile waren sie fertig. Zum Schluss kontrollierte Mary noch einmal, ob Julie ihre Fehler begriffen hatte. Alles funktionierte einwandfrei. „Danke, Mary", sagte Julie.

    „Kein Problem, erwiderte Mary lächelnd. „Dein Aufsatz war wirklich gut.

    „Trotzdem bist du immer besser als ich", entgegnete Julie kläglich.

    „Da ist doch kaum ein Unterschied", widersprach Mary. Da klopfte es an der Tür.

    „Herein", rief Julie.

    Ihre Mutter trat ein. „Hallo Mädchen. Du bist Mary, stimmt's?"

    Mary drehte sich lächelnd zu ihr hin. „Ja."

    Julies Mutter stellte etwas auf dem Schreibtisch ab; es klang nach Geschirr „Ich habe Zitronenkuchen gebacken und dir ein Stück auf den Teller gelegt. Er steht neben der Tastatur rechts, genau vor dir, Mary. Hoffentlich schmeckt er dir."

    „Bestimmt", antwortete Mary.

    „Wenn du mehr magst, hole ich dir Nachschub", bot Julie an und begann, von ihrem Kuchen zu essen

    Mary nickte. „Danke."

    „Vera!", brüllte plötzlich

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1