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Nullmenschen
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eBook531 Seiten6 Stunden

Nullmenschen

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Über dieses E-Book

Eva Völkel hat Hinweise zu gewissenlosen Versuchen am Menschen von der Tochter des Großindustriellen Stephan von Arche erhalten. Gemeinsam mit dem Journalisten Moritz Dressler und dem Computergenie Christian Specht geht sie der Sache nach und stößt auf eine rätselhafte Serie von ausgeweideten Frauen im Main- und Hochtaunus-Kreis.
Ihre Recherchen führen sie bis in die Abgründe berechnender und eiskalter Forschung, die, gut versteckt im Hintertaunus und ausgelöst von totalem Perfektionismus, unbemerkt betrieben werden.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum24. Nov. 2020
ISBN9783347193925
Nullmenschen
Autor

E.D.M. Völkel

E.D.M. Völkel wurde 1960 im Main-Taunus-Kreis geboren. Die Liebe zu dieser Gegend mit ihren zahlreichen Ereignissen ist die Grundlage der Romane an tatsächlichen Schauplätzen.

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    Buchvorschau

    Nullmenschen - E.D.M. Völkel

    E.D.M. Völkel

    Nullmenschen

    © 2020 E.D.M. Völkel

    Verlag und Druck:

    tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

    Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

    Ein dickes Dankeschön an meine Familie für die großartige Unterstützung, den unermüdlichen Kaffeenachschub und die immense Geduld beim Probe-Lesen.

    Zudem mein Dank an Herrn Klomann, der mir mit seinem historischem Wissen wertvolle Informationen gegeben hat, und an die vielen anderen Menschen, die mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben.

    Prolog

    Völkel stand am Klingelschild des kleinen Eckhauses in der Bergstraße Eschborn. Im weitläufigen Garten leuchteten in kräftigen Farben die letzten Blüten der Herbststauden. Karmesinrot blitzten die Hagebutten durch das grüne, dünner werdende Laub der Kletterrosen über dem Eingang des Gartentores. Der Weg am Haus entlang führte in einen mit hellgrauen Natursteinen gepflasterten Hof. Dieser wurde durch die Garage und einen Gartenschuppen zum Nachbargrundstück begrenzt. Hier standen, vor dem kälter werdenden Novemberwind geschützt, die empfindlichen Pflanzen und warteten darauf, in ihr Winterquartier gebracht zu werden. Der sonst weitaufgespannte Sonnenschirm war in seiner Hülle verpackt im Schuppen abgestellt. Dort lagen ebenfalls die Abdeckungen für den Holztisch, die Bank und die Stühle bereit.

    Evas Schmerz über den unerwarteten Tod der Eltern, welcher ihre Rückkehr aus Hamburg nach Eschborn auslöste, wurde nach knapp zwei Jahren schwächer. Doch die Erinnerungen an die überaus merkwürdigen Umstände brannten sich unauslöschbar in ihren Kopf. Diese Ereignisse hatten eine gigantische Welle an Änderungen für ihr bisheriges Leben ins Rollen gebracht.

    Als Tochter eines Wissenschaftlers war sie im Grunde ihres Wesens neugierig. Sie versuchte mit den bescheidenen Möglichkeiten, welche ihr zur Verfügung standen, die Fakten der abrupten Todesfälle zu klären, um diese vielleicht zu verstehen. Ihre Wertvorstellungen von richtig und falsch gerieten massiv ins Wanken. Letztendlich stürzten sie über ihr zusammen und begruben sie mitsamt ihrem Glauben an die Menschlichkeit unter sich.

    Neue Freunde entpuppten sich als heimtückische Feinde, Personen, die unerreichbar schienen, wurden zu engen und geliebten Partnern. Die ungleichen Kumpel Moritz, der Journalist, und Chris, der überaus findige Fachmann am Computer, nahmen sie ohne Vorbehalte in ihre Gemeinschaft auf. Von ihnen lernte sie alles, was zum investigativen Journalismus gehörte. Rasch merkte Eva, das der bisherige Job in der Bank lediglich eine vorübergehende Tätigkeit gewesen war. Die erlebnisreiche Zusammenarbeit mit den beiden gefiel ihr weitaus besser, als sie es jemals für möglich gehalten hätte.

    Ihre zögerliche und fast schon ängstliche Haltung in der ersten Recherche verwandelte sich stetig in entdeckerischen Wagemut. Dieser bescherte ihrem neuen Freund Moritz viele schlaflosen Nächte. Die gerade beendeten Nachforschungen, welche in einem spektakulären Artikel ihren Höhepunkt fanden, schlugen hohe Wellen. Die Ausläufer waren auch heute noch spürbar. Ihre Suche führte sie zu den fragwürdigen Machenschaften alteingesessener Aristokratie und als ausgleichendes Gegengewicht zu dem ortsansässigen Rockerclub, Lakota MC. Schmunzelnd bemerkte sie im vergangenen Sommer, dass ihre Vorstellung vom typischen Klischee des Rockers passte. Sie teilte die Männer für sich in drei Gruppen auf. Die drahtigen, die bierbäuchigen, und jene, die sich noch nicht entschieden hatten, zu welcher sie gehören wollten. Glücklicherweise hatte sie bei ihren Besuchen in deren Clubhaus auch Normalos kennengelernt und mit Tina, der Frau des Präsidenten, verband sie eine lockere Freundschaft.

    Die gefährlicher werdenden Recherchen bescherten ihr unter anderem eine unfreiwillige Fahrt im Auflieger mit einem alptraumhaften Aufenthalt im Vorderen Orient. Moritz verlangte daraufhin, dass sie niemals mehr während einer laufenden Ermittlung einer Spur folgte, ohne Nachricht, wohin sie gehe.

    * * * * * * *

    Der November verlängerte den goldenen Oktober mit seinem atemberaubenden Farbenspiel der Natur. Dennoch kam der Herbst; unerbittlich zog er mit großen Schritten über das Land und kündigte den nahenden Winter an. Die Zeit des aus den Wiesen und Feldern aufsteigenden Nebels verwandelte die Landschaft auf geheimnisvolle Art und Weise.

    ›Jetzt fehlt nur noch der unverkennbare Geruch des Kartoffelfeuers‹, ging es Eva durch den Kopf. Sie seufzte und wandte sich den vertrockneten Stängeln der Stauden zu, die darauf warteten, abgeschnitten zu werden. Moritz kam eilig den Gartenweg entlang auf sie zugelaufen und reichte ihr das Telefon. Er hatte keine Augen für die feinen, schimmernden Tautropfen auf den in bunten Herbstfarben leuchtenden Blätter.

    »Kathi ist dran, sie erzählt so viel durcheinander, ich kann damit nichts anfangen«, verdrehte er die graugrünen Augen. Eva warf ihrem ein Meter achtzig großen und muskulösen Freund glücklich strahlend einen Kuss zu.

    »Hey Kathi, wo bist Du gestern hin verschwunden? Wir haben Dich gesucht…«, sie strich sich eine aus dem geflochtenen Zopf gelockerte Haarsträhne aus der Stirn.

    »Ich musste mal an die frische Luft…«, entgegnete diese ohne Begrüßung, was alles bedeuten konnte.

    »Gerade bin ich in der alten Firma. Stell Dir vor, er hat doch tatsächlich versucht, die Inhaber zu überzeugen, mich zu feuern und vor versammelter Mannschaft als unfähig hingestellt!«, drang ihre Stimme schrill und aufgebracht aus dem Hörer.

    ›Die unglaubliche Geschichte, geht weiter. Hatte der blaublütige, arglistige Vater der unantastbare Herr von Arche seine Tochter jetzt endgültig auf der Abschussliste?! Traute er selbst einer Frau selbst im 21. Jahrhundert nicht die Führung eines Unternehmens wie der Automo-Hessen zu?‹ »Ehrlich, mich wundert gar nichts mehr. Er ist und bleibt ein widerlicher, heimtückischer Fiesling«, kommentierte Eva schneller als gewünscht.

    »Sie geben mir eine Chance mit fast unerreichbaren Zielen. Wenn ich es schaffe, den Kunden an Land zu ziehen, kann ich bleiben. Falls ich es verbocke, räum` ich meinen Schreibtisch«, keuchte sie. »Es sei ein Test, ob ich überhaupt fähig wäre einen Teil der Geschäftsleitung zu übernehmen.«

    »Er hat auch dort so weitreichende Kontakte? Wo stecken eigentlich seine Finger nicht drin?!«

    »Ja und noch sehr viel weiter. Beim letzten Mal hat er gedroht, mir das Leben so schwer wie möglich zu machen. Wenn er will, kann er mich jederzeit auf immer vernichten«, flüsterte sie. »Wie Du selbst erfahren hast, haben die von Arches fast überall die Finger drin, bis ganz nach oben in die Führungsebenen der Politik und Wirtschaft. Genau wie in Deinem Artikel beschrieben. Es macht ihm Spaß mich scheibchenweise zu diskreditieren. Er stellt mir Fallen wo es geht, nur um mir zu zeigen, dass ich keine Chance habe jemals in dem uralten Konstrukt aus Männermacht fußzufassen. Als Frau hast Du in dieser Familie keinerlei Rechte.«

    Eva erinnerte sich an die ungeheuren Erkenntnisse. Eingeschworene Gruppen versuchten die neuralgischen Punkte des Staates und der Wirtschaft zu unterwandern, um diese zum geeigneten Zeitpunkt zu übernehmen. Innerlich hoffte sie, dass in Zukunft die Kontrollbehörden, aufgeschreckt der gefundenen Tatsachen, gründlicher arbeiteten. Die Ansicht von Moritz: Die Hintermänner sitzen in so hohen Positionen und haben ihre eigenen Vorstellungen. Außerdem hängt die halbe Politik, Industrie und Wirtschaft dort mit drin. Das Schlimmste, über all dem schwebt die Hand des allmächtigen Geldes und schützt sie; war ihr noch lebhaft im Gedächtnis.

    »Kathi, was ganz anderes, Du warst gestern richtig fertig. Was war los? Können wir Dir helfen?«

    »Erinnere mich bitte nicht mehr an gestern, ich war schwach und hab mich gehen lassen«, die Worte klangen eher unsicher als selbstbewusst.

    »Nein Kathi, Du hast uns um Hilfe gebeten Deine Identität herauszufinden und es ist für uns, Deine Freunde, selbstverständlich, Dich zu unterstützen.«

    »Ach Eva, ich habe gestern zu viel getrunken und kann mich fast nicht mehr an euren Besuch erinnern«, versuchte sie abzulenken. Eva runzelte die Stirn, ›was zum Kuckuck war plötzlich in sie gefahren?! Erst macht sie uns rebellisch und jetzt kneift sie? Das ist nicht die Kathi, die ich kenne!‹, stand sofort für sie fest. ›Es musste in der Zwischenzeit etwas passiert sein, das sie veranlasste, einen Rückzieher zu machen. Hing das alles noch mit der dubiosen Familiengeschichte aus, Erpressung, Mord und Totschlag zusammen?‹ Unbewusst schüttelte sie sich, ›gruselig, was dort in den vergangenen Jahrzehnten alles passiert war.‹

    »Eva, ich wünsche euch beiden eine gute Zeit und wir sehen uns irgendwann einmal. Grüß Moritz von mir. Ciao.« Perplex starrte Eva auf das Telefon in ihrer Hand.

    ›Da stimmt was nicht. Nicht nach gestern‹, beunruhigt ging sie rasch den Weg zum Haus. Den spät blühenden Astern und Primeln in den Beeten rechts und links schenkte sie nur einen kurzen, flüchtigen Blick.

    Moritz erwartete sie bereits mit einer Tasse voll heißem duftenden Kräutertee in der Küche. Die langen hellbraunen Locken umrahmten sein kantiges Gesicht.

    »Was hat sie Dir am Telefon erzählt?!«, überfiel sie ihren Freund und die saphirblauen Augen funkelten. Ein Teil des kastanienfarbenen Haares hatte sich endgültig gelöst und hing wirr um ihr hübsches, rundes Gesicht. Er kniff die Augen zusammen, legte seinen Kopf in den Nacken und dachte einen Moment lang nach.

    »Es war allerlei wirres Zeug, ich bin nicht daraus schlau geworden, deshalb habe ich Dir das Gespräch gegeben. Ihr Frauen versteht euch nun mal anders.«

    »Also los. Was hat sie gesagt«, bestand Eva auf einer Antwort. »Los, erinnere Dich!«

    »Hm… ich habe es erkannt, es ist ein Kopf, seine Bösartigkeit wird noch übertroffen…« Moritz sah zur Decke und überlegte. »Sebastian ist auch einer… und, ich habe es gesehen.« »Was noch?«, sah sie ihn wartend an.

    »Das war es. Nichts mehr. Ich konnte ihr nicht folgen und habe sie gebeten einen Moment zu warten. Das ich Dich im Garten suche, weil Du sicherlich mehr mit diesem Kauderwelsch anfangen kannst.«

    »Sie hat mich abgewimmelt, da stimmt was nicht.« Eva verzog misstrauisch ihr Gesicht. »Denk an gestern, als wir zu Kathi in die Villa gefahren sind. Denk an ihren fürchterlichen Zustand. Etwas später erzählte sie, wie ihr Vater die Tatsache offenbarte, das sie ein Experiment sei, ein … wie hat sie es ausgedrückt? Bestell-Baby aus dem Reagenzglas-Katalog. Damit wäre sie keine echte von Arche und hätte, nicht nur als Frau sondern auch genetisch, keinerlei Anspruch auf einen Sitz in der Firmenleitung.« Unruhig schritt Eva durch die Küche in die Diele und wieder zurück. Moritz kannte dieses Verhalten, das er selbst ab und an zum Nachdenken an den Tag legte.

    »Sie wollte wissen, wer sie ist und woher sie kommt. Dann unser Erstaunen, wir konnten es zu Beginn nicht glauben. Kathi hat noch genickt und ihre Augen waren sehr traurig, als sie bestätigte ganz sicher zu sein. Das gruselige Stöhnen, als sie flüsternd erzählte, dass es ihrem Vater Spaß gemacht hätte sie zu demütigen. Sie habe es ganz deutlich in seinen Augen gesehen. Das boshafte Aufleuchten kurz bevor er zu dem zerschmetternden Schlag ansetzte. Du konntest Dich nicht länger zurückhalten und hast sie gefragt, ob es handfeste Beweise gäbe, die er ihr gezeigt habe, damit sie die Korrektheit seiner Behauptungen prüfen könne.« Eva war stehengeblieben und trank einen großen Schluck ungesüßten Tee.

    »Dann ihre Bestätigung, dass sie die Belege angeschaut habe und diese die Krönung seiner Vernichtung gewesen seien. Sie habe es gelesen und schwarz auf weiß mit eigenen Augen gesehen.« Moritz nickte, er konnte sich sehr gut an den gestrigen Tag erinnern.

    »Auch dass es Originale gewesen seien, die Möglichkeit einer Fälschung kam für Kathi nicht in Frage. Deine Empörung über diese Bösartigkeit wuchs unaufhaltsam und dein Sinn für Gerechtigkeit rumorte solange in Deinem Inneren, bis Du ihm mit einem Aufschrei durch den ganzen Salon Luft gemacht hast. Unsere Frage, ob er ihr eine Kopie ausgehändigt hätte oder sie den Briefkopf auf den ominösen Beweisen sehen konnte.«

    »Genau, Du warst aufgesprungen und zu den hohen Fenstern hinübergegangen. Ich erkannte Deine Abscheu gegen so viel Niedertracht ganz deutlich im Gesicht.«

    »Ja, als ich in den Park hinuntersah, dachte ich: Verdammt was nutzt einem das schönste und reichste zu Hause, wenn du dort nicht willkommen bist. Kathi bewohnt einen ganzen, mit allem, was das Herz begehrt, ausgestatteten Flügel der Villa allein. Und jetzt? Jetzt ist sie eine Persona non grata.«

    »Mit etwas Glück könnte sie dort wohnen bleiben, doch wie ich diesen niederträchtigen, arglistigen Drecksack einschätze, schmeißt er sie raus. Nur so zum Spaß. Weil er es kann.«

    »Ruf sie gleich an«, schlug Moritz pragmatisch vor, »wenn sie jetzt keine Lust oder Zeit hat, mach einen Termin aus, wir treffen uns nochmals.«

    »Da stimmt was nicht. Sie bat uns, ihr zu helfen, herauszufinden, wer sie ist«, beharrte Eva.

    »Genau. Aber ihre Frage war: ›Auch wenn ich erst einmal nicht alle Fakten offenlegen kann?‹, was meinst Du verheimlicht sie uns noch?«

    »Bestimmt sehr vieles, ich will nicht in ihrer Haut stecken. Die von Arches haben es in sich, das ist ein kolossaler Haufen von hinterhältigen und widerwärtigen, Möchtegern-Aristokraten die auf das gemeine Volk hinabblicken und es verachten. Die niederen Wesen können froh sein für den Clan der Hochwohlgeborenen zu arbeiten und haben auch noch die Unverschämtheit, Geld dafür zu verlangen«, erbost über diese Tatsache stemmt Eva ihre Hände in die Hüften.

    »Lass uns die Geschehnisse weiter rekapitulieren«, holte Moritz Eva zum Thema zurück. »Nach ihrem dritten Whisky, habe ich die Flasche in den Vitrinen Schrank gestellt. Du hast vorgeschlagen, sie solle versuchen von dem Logo aufzumalen, woran sie sich erinnere. Hast sogar noch in Deiner Handtasche nach einem Papier und Stift gegraben.«

    »Hab ich auch gefunden und bin runter in die Küche, auf der Treppe ist mir noch Henry der Butler begegnet, der anbot den Tee zu kochen. Dann klingelte der gnädige Herr und er ist verschwunden. Ich habe alles recht schnell in dieser topmodernen Küche gefunden und bin mit dem Tablett wieder zu euch hoch.«

    Moritz nickte wissend. »Ja, ich hatte mich auf das Sofa gesetzt und die Beine ausgestreckt, dann muss ich eingeschlafen sein.«

    Eva zog die Augenbrauen bis zum Haaransatz.

    »Muss ich eingeschlafen sein?! Du hast tief und fest geknackt, nicht alles, dass Du noch laut geschnarcht hast«, frotzelt sie.

    »Ach hör schon auf, die letzten Monate waren echt anstrengend. Dich zu lieben und mit Dir zu leben ist eine echte Herausforderung. Ich hatte viele schlaflose Nächte, bevor Du wieder zu Hause warst«, verteidigte er sich.

    »Als ich Dich wachrüttelte, war Kathi schon weg, einfach so, ohne Nachricht, oder hat sie Dir noch etwas gesagt?«

    »Nein, wirklich nicht. Sie saß immer noch auf dem Sessel und so viel wie sie intus hatte, war ich der Meinung, dass sie nicht mehr stehen kann, geschweige denn laufen.« Eva hatte den Tee ausgetrunken und füllte erneut ihre Tasse.

    »Ich bin felsenfest überzeugt, von gestern auf heute ist was passiert. Zu Beginn unseres Gespräches war sie noch Kathi und plötzlich, von einer Sekunde zur anderen, war sie ganz Geschäftsfrau.«

    »Apropos Geschäftsfrau, wo arbeitet sie?«

    »Das hat sie mir leider nicht verraten. Aber Chris, der kann es bestimmt herausfinden«, verschwörerisch grinste Eva Moritz an.

    »Ja. Is´ schon gut. Aber ich ruf ihn an, schließlich hast Du mich in diese Sache hineingezogen«, schob er als Einwand vor und drückte die Kurzwahltaste auf seinem Handy. Eva knuffte ihn an der Schulter, »vielen Dank Herr Dressler für Ihre unendliche Güte sich herabzulassen, mein Anliegen vorzutragen«, lachte sie und machte eine leichte Verbeugung.

    »Du brauchst mich als Bodyguard, à la Kevin Costner, so wie Du von einer Aktion in die nächste stolperst, muss Dich ja einer beschützen.« Eva verstand sehr wohl die Andeutung auf ihr gegebenes Versprechen. Sie setzte sich ihm gegenüber an den Küchentisch, öffnete den zerzausten Zopf und strich sich die langen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Ihre Augen blitzten ihn unternehmungslustig an.

    »Guude mein Lieber«, begrüßte Moritz seinen besten Freund, den etwas kurz und breit geratenen, kahlköpfigen Chris, der mit seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten die verstecktesten Informationen ausgraben konnte. »Wie geht´s Dir? Hat sich die siebte Etage nach dem Vorfall wieder beruhigt?«

    »Moritz, schön von Dir zu hören. Evas Artikel hat sehr viel Staub aufgewirbelt, Respekt. Zwei Kollegen sind immer noch dran und verfolgen die Auswirkungen bis ins kleinste Detail.« Durch das Handy war das Klappern der Tastatur zu hören. »Hau raus Alter, was kann ich für Dich tun?«

    »Wir suchen zusätzliche Informationen über eine Katharina von Arche. Sie ist zirka dreißig Jahre alt, plus minus und die Tochter des Automo-Hessen Besitzers.«

    »Mehr nicht?! Ist das alles? Moment«, bat er, »so, ich habe hier eine Katharina von Arche, ja sie ist dreißig, die Unternehmertochter der Automo-Hessen, Wohnsitz im Kreis Wiesbaden. Arbeitet bei … Moment mal, hier passt was nicht«, führte Chris eine Art Selbstgespräch. »Ich melde mich«, und legte auf.

    Fragend sahen sich Eva und Moritz an.

    »Ich wusste, da stimmt was nicht.« Die Sorge um Kathi spiegelte sich in ihren Augen.

    »Ja. Du hast Recht«, nickte er, »so wie meistens.«

    * * * * * * *

    Das diabolische Glühen seiner stahlgrauen Augen steigerte sich zu einem Lodern, befriedigt legte Stephan von Arche den Hörer auf die Gabel. Die letzten Anweisungen waren erteilt und Katharina, die Verräterin der Familiengeheimnisse, würde einen sehr hohen Preis für ihr aussichtsloses Unterfangen bezahlen. Ärgerlich verzog er den Mund, undenkbar, eine Frau an der Führungsspitze! Niemals! Nicht solange er das Sagen hatte und die Geschicke der eigenen Unternehmen lenkte.

    Vor dreißig Jahren hatte er sich gegen seine Überzeugung überreden lassen, einen der Bälger aufzunehmen, um ihren Charakter zu formen. Sie entwickelte sich überraschenderweise ausgesprochen gut, erwies sich als sehr intelligent und besaß eine schnelle Auffassung. Sie wuchs zu einer begehrenswerten jungen Frau heran und würde die Verhandlungen mit dem Großindustriellen der Stahl-Branche erleichtern. Sie war sein perfektes Aushängeschild, wie bedeutungsvoll die Veränderung der DNA sein konnte. Sebastian hatte er zu seinem Ebenbild erschaffen lassen und setzte wirklich alles daran, ihn mit absoluter Härte zu dem eigenen, persönlichen Charakter zu formen. Mit Genugtuung stellte Stephan fest, dass sein Sohn ebenfalls die Vorliebe zum Sadismus verinnerlichte und ließ ihm freien Lauf. Empathielose Menschen sind die besseren Führungskräfte. Keine Gefühlsduseleien lenkten sie ab, Mitgefühl und Anteilnahme waren störende Züge, um die notwendige Entscheidungen zu treffen.

    Schade, dass Katharina aus einem anderen Experiment stammte und kein männlicher Nachkomme war. Sie übertraf Sebastian an Intelligenz um ein Vielfaches. Immer wieder hatte er die Organisation bedrängt, endlich auch männliche Ausführungen in dieser Versuchsreihe zu erschaffen. Aus für ihn nicht nachvollziehbaren Gründen sei dies angeblich unprofitabel. Die jetzigen Erkenntnisse aus den Experimenten waren bedeutend aber noch nicht hundertprozentig zu ihrer Zufriedenheit. Die Produktion lief auf vollen Touren und bescherte ihnen satte Gewinne. Erst wenn der letzte Baustein zum perfekten, komplikationsfreien Produkt gefunden war, würde seinem Wunsch entsprochen werden.

    All dies lag viele Jahre zurück, Sebastian war schon siebenundzwanzig Jahre alt und sich jetzt noch einmal mit einem Säugling zu befassen, ihn zu formen und ihm seine grausamen Vorlieben beizubringen, kam für ihn als Vater nicht mehr in Frage. Sein Sohn sollte sich damit auseinandersetzten, auf einen Enkel hatte er immer noch genügend Einfluss, um ihm den rechten Weg zu weisen.

    * * * * * * *

    Durch den Lärm der Bohrmaschine und den hohen, durchdringenden Laut der Kreissäge war der markante Klingelton von Fritz mobilem Telefon kaum zu hören.

    »Dein Handy«, schrie Berti laut, stellte den Strom der Maschine ab und deutete auf die Weste seines Präsidenten. Nickend dankte der drahtig schlanke Mann von mittlerer Größe. Er wischte rasch die mit Holzstaub bedeckten Hände an der Dachdeckerhose ab. Seine schwarze Lederweste mit dem Abzeichen des Lakota Motorradclubs hing über der benachbarten Stuhllehne und geschickt zog das Telefon aus der Innentasche.

    »Guude«, begrüßte er den Anrufer herzlich mit seiner sonoren Stimme, »was has´de?« Ein harter Zug um die Mundwinkel zeigte sich auf dem mit tiefen Furchen durchzogenen Gesicht. Schmerzlich dachte er an die vergangenen Monate zurück. Sie hatten dem Lakota MC gravierende Lücken in ihre Reihen gerissen, viele der Brüder waren getötet und einige von ihnen mit schwersten Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert worden. Die Beerdigungen der, durch die mutwillige Explosion ihres ehemaligen Clubhauses in Eschborn, Getöteten, waren vergangen. Der Trauerflor wehte, als sichtbares Zeichen des Gedenkens an jedem einzelnen Motorrad. Der MC hatte seine eigenen Gesetzte, die Hierarchie war klar abgesteckt und deutlich auf jeder Weste der Rocker erkennbar.

    »Danke Mann«, nickte er kurz, legte auf und sah in die Gesichter der anderen.

    »Habt ihr was rausgefunne?!«, wartend standen Berti, Hugo und Mike vor ihm. Unerwartet flog polternd die Haustür auf und Kralle, der bärtige Vizepräsident, kam mit zwei Eimern Farbe herein.

    »Draußen ist noch mehr im Auto, ihr steht hier und babbelt, los, auf, auf!« Seine unverkennbare, raue und tiefe Stimme, die einem Schauer über den Rücken jagte, drang durch die Eingangshalle. Ein kurzer Blick auf die Brüder genügte, »Was ist passiert?«

    »Neuigkeiten«, bestätigte Fritz.

    »Ihr habt was, ich seh´s Euch genau an«, Berti schwang sich behände auf die halbfertige Theke, zündete sich eine Zigarette an und blickte erwartungsvoll auf sie.

    »Ja, das ist korrekt«, bestätigte Kralle und strich sich mit der Hand durch den Bart. »Wir sagen es heute Abend beim Meeting. Schon mal zur Beruhigung, den Bombenbastler haben wir gefunden.«

    »Ha! Ich wussd es!«, rief Hugo. »Bestimmd bis de schon seid Taachen an em dran«, grinste er breit und schlug ihm mit seiner riesigen Hand anerkennend auf die Schulter.

    Kralle nickte, baute bedächtig einen Joint, zündete ihn an und zog den Rauch tief in seine Lungen. Dann reichte er ihn weiter, langsam drehte er die Runde und der unverkennbare Geruch des erstklassigen Marihuanas breitete sich im Erdgeschoß aus.

    »Wir konnten alte Verbindungen neu aufleben lassen und ham eine Übereinkunft getroffen. Alle Brüder entscheiden heute Abend, ob und wie es weitergeht«, bestätigte er.

    »Okay, dann lasst uns weidermache, vielleichd läufd zum Meeting schon des ersde kühle Blonde aus em Zapphahn.« Mike schupste Berti von dem Tresen und warf Hugo den Schraubendreher zu.

    »Wie sagte unser Vize vorhin? Los, auf, auf, babbelt ned, es gibt viel zu tun.«

    Fritz stellte sich unauffällig zu Kralle und reichte ihm eine Flasche Wasser.

    »Bist Du in eigner Sache weitergekomme?«, er sah besorgt, wie dieser den Kopf schüttelte.

    »Nein, leider nicht.«

    * * * * * * *

    Gekonnt hatte Chris eine Recherche gestartet und innerhalb kurzer Zeit lagen die ersten Ergebnisse vor.

    Das Unternehmen, für welches Kathi arbeitete, beriet Firmen, die Führungskräfte entsprechend ihren Anforderungen suchten. Geeignete Kandidaten wurden gerne mit unwiderstehlichen Angeboten abgeworben. Dieses Vorgehen bescherte ihnen nicht nur Lob und Anerkennung, sondern ebenfalls unverhohlenen Tadel bis hin zu Drohungen.

    Umgehend meldete er sich per Mail mit einigen interessanten Neuigkeiten.

    - Hallo ihr beiden, es gibt eine Diskrepanz in Kathis frühster Vergangenheit, die ich beinahe überlesen hätte. Ihr Vorname und das Geburtsdatum wurden am 20. September eingetragen, der Familienname ›von Arche‹ allerdings erst zehn Tage später, am 30. Ich habe etwas weiter gegraben, anscheinend wurde sie kurz nach der Geburt im Waisenhaus aufgenommen. Sowas passiert jedoch nur, wenn sie ein Findelkind war. Das würde auch den nachträglich eingetragenen Familiennamen erklären. Schwieriger wird es, wenn die Mutter selbst sie nicht wollte oder noch viel zu jung war. Oder, sie wurde der Mutter wegen unzureichender Fürsorge durch die Behörden entzogen. In den beiden letzten Fällen wäre allerdings der Familienname vermerkt. Glück im Unglück, als Baby hast du die größten Chancen adoptiert zu werden. Wenn ich etwas Neues gefunden habe, melde ich mich.

    Ciao Chris

    Post Skriptum, Eva, ich kann es fühlen, es liegt fast greifbar in der Luft. Du bist dem nächsten Skandal auf der Spur.-

    »Ich glaube, die Kommissarin Heinzer hatte vor einigen Wochen doch recht mit ihrem Spruch, die Ratten haben sich in ihren Löchern verkrochen.« Moritz stützte seinen Kopf in die Hände und blickte nachdenklich zum Fenster hinaus.

    »Jetzt warten sie erst bis die Luft rein ist und zack, sind sie wieder da.«

    »Sie sind clever und opfern einen, damit der Clan überlebt«, vervollständigte Eva das Beispiel aus der Fauna. »Ich bin noch nicht überzeugt, dass der hochwohlgeborene von Arche wirklich ein Opfer ist. Ich denke mal, er zieht nach wie vor die Fäden aus dem Hintergrund und sein Sohn Sebastian, der widerliche Sadist, macht, was Papa sagt. Kathi haben sie ganz nach Familienmanier fein säuberlich abserviert.«

    »Jetzt verstehe ich das auch, durch ihre Adoption ist sie keine ›genetisch echte‹ von Arche. Sie ist das Bauernopfer, der Herr Graf ist fein raus und Sebastian wird zum Alleinerben.« Moritz war aufgestanden und schüttelte sich bei diesem Gedanken. Eva versuchte zum x-ten Mal Katharina auf dem Handy zu erreichen.

    »Apropos Sebastian, habe ich es richtig in Erinnerung? Sagte sie nicht, er ist auch einer? Was ist er? Auch adoptiert oder ebenfalls ein Experiment?« Sie legte enttäuscht das Telefon zur Seite. Alle Bemühungen waren leider erfolglos, aber sie hinterließ mehrere Nachrichten auf der Mailbox mit Bitte um Rückruf.

    »Genau, Du hast vollkommen recht«, erhellte sich Moritz bedrücktes Gesicht, »ich schreibe Chris, er soll mal prüfen, ob es bei ihm ebenfalls Diskrepanzen gibt.«

    Der Winter zog mit großen, nasskalten Schritten über das Land und vertrieb die letzten warmen Tage des endenden Herbstes. Eine dichte Nebelsuppe schwappte bis in die Straßen und hüllte die Umgebung in sein verschwommenes Gewand. Es roch nach feuchter Erde, nassem Laub und der erste Schnee schien auch nicht mehr weit zu sein.

    Tags drauf klingelte unerwartet Evas Handy und flink angelte sie es aus der Dielenschale.

    »Kathi!«, rief sie erstaunt und freudig zugleich. »Schön, dass Du Dich meldest.«

    »Eva, er hat es tatsächlich geschafft, ich bin raus! Er war höchstpersönlich da und hat mir die Entlassung mitgeteilt. Es hat ihm richtig Spaß gemacht! Seine Augen hatten einen teuflischen Ausdruck und er war wie früher, wenn er mich verprügelte«, hörte sie ihre Worte mit leichtem Zittern in der Stimme.

    »Du kannst zu uns kommen, das Gästezimmer ist frei. Klein aber fein.

    Du hast die Adresse?!«, reagierte Eva blitzschnell.

    »Ist schon gut, ich danke euch. Sei nicht böse, ich habe ein Zimmer im Hotel und suche mir einen neuen Job. Vielleicht ist es besser, da raus zu sein und einen anderen Weg einzuschlagen.«

    »Stopp! Kathi. Wo kann ich Dich erreichen?«

    »Ja, das ist korrekt. Vielen Dank, auf Wiederhören.«

    »Was war das?«, hörte Eva Moritz Stimme direkt neben ihrem Ohr. Er war ganz dicht an sie getreten und hatte das Telefonat mitgehört. Stirnrunzelnd sah er sie an.

    »Da stimmt was nicht. Hast Du die Veränderung im letzten Satz gehört?!«, resigniert legte sie das Handy auf den Tisch. »Sie hat mich schon wieder abgewimmelt. Was habe ich falsch gemacht?!«

    »Gar nichts. Sie ist eben so. Vielleicht hat sie Dich ein weiteres Mal benutzt?! Wie lange kennst Du sie und wie oft hast Du mit ihr gesprochen?« Fragend sah er sie an. Eva wiegte den Kopf hin und her, Moritz nahm ihr die Antwort ab. »Eben. Sie ist und bleibt eine unbekannte Größe in Deiner Rechnung. Das x, das Du bestimmen musst.«

    Die durchdringende Klingel an der Haustür holte Eva in die Realität zurück.

    »Ja. Möglicherweise hast Du recht«, seufzte sie. Moritz ging voraus und öffnete.

    Der Briefträger mit seiner großen, gutgefüllten Zustellertasche stand vor ihm, lächelte freundlich und hielt ihm einen unfrankierten Umschlag entgegen. Moritz entzifferte etwas mühsam die rasch hingeschmierten Namen, Völkel und Dressler.

    »Guten Tag, ich habe einen Brief ohne Porto. Sind Sie bereit die Nachgebühr zu zahlen?«, hörte Eva die ihr bekannte Stimme des Postboten. Bevor Moritz antworten konnte, trat sie rasch zu ihnen, sah neugierig auf den Umschlag und nahm das zerknitterte hastig beschriftete Kuvert in die Hand.

    »Er ist an uns beide adressiert. Leider ohne Absender«, sie drehte und wendete ihn mit gemischten Gefühlen.

    »Ja, selbstverständlich«, entschied Moritz spontan und zog sein Portemonnaie aus der Hosentasche und bezahlte. Eva reichte ihm das Kuvert, »mach ihn auf, es bringt nichts, die Entscheidung hinauszuzögern.

    Glaub mir, ich spreche aus Erfahrung.«

    Vorsichtig schlitzte er den arg mitgenommenen Umschlag auf. In seinem Inneren befand sich lediglich ein Zettel, den Moritz sofort als, das abgerissene Stück der Rechnung wiedererkannte.

    »Das ist von Kathi«, stellte er sachlich fest und betrachtete das Papier aus allen Richtungen.

    »Zeig her«, forderte Eva und griff nach dem kleinen Blatt.

    »Es ist nur Gekritzel darauf, sieh es Dir an und überzeug Dich selbst«, überreichte er ihr den Zettel in der Diele. »Egal wie Du ihn ansiehst, er ergibt keinen Sinn. Was will sie uns damit sagen?«

    »Es ging um eine Art Bestellung oder Formular als ich sie aufforderte, das Symbol auf dem Absender zu zeichnen.« Sie drückte Moritz die Zeichnung in die Hand und holte sich eine neue Tasse Tee.

    »Du hast recht, aber ich kann trotzdem nichts mit dem Krickelkrakel anfangen, was soll das sein?!« Moritz drehte das Blatt in alle Richtungen, doch die Zeichnung ergab keinen weiteren Hinweis. Kein Symbol, keinen Gegenstand oder eine Andeutung von irgendwas. Eva kam mit einer großen Tasse aus der Küche.

    »Halt! Stopp! Nicht bewegen, bleib genau so stehen.« Moritz erstarrte direkt, langsam kam sie näher, »es ist spiegelverkehrt, gegen das Licht betrachtet kannst Du ganz feine Linien sehen, als habe der Stift nicht geschrieben. Es ergibt die Andeutung von einem Gesicht.«

    Moritz verdreht erst einmal den Hals, wendete das Blatt letztendlich und hielt es etwas näher gegen die Deckenlampe. »Genau, das könnte ein Kopf sein, oder eine Fratze, möglicherweise auch ein Symbol. Schatz Du hast eine blühende Phantasie«, schüttelte er seinen Kopf.

    »Ach was, Du musst nur genauer hinsehen«, sagte sie, schnappte den Zettel und ging in die Küche zurück. Mit dem Bleistift zog sie die kaum sichtbaren Linien nach. Moritz schaute über ihre Schulter.

    »Sei mir nicht böse, ich kann immer noch nicht erkennen, was Du gesehen haben willst.«

    Eva sah über ihre Schulter und grinste schelmisch.

    »Achtung, Abrakadabra, Du verbindest diese Punkte miteinander und bekommst eine Art Kopf. Das hat Kathi auch erkannt und ist wahrscheinlich deswegen unbemerkt von Dir gegangen. Sie sagte doch auf den Unterlagen, die sie gesehen habe, sei etwas in dem oberen Bereich gewesen…«

    »Genau, wenn es zum Briefkopf gehört, hat sie es spiegelverkehrt betrachtet und konnte deshalb nichts damit anfangen«, unterbrach Moritz Eva.

    »Lass uns gemeinsam zu diesem Kopf recherchieren. Er wird nicht einfach so in der Luft schweben, es muss noch einen Rahmen oder Umrandung dazu geben.«

    »Oder einen Schriftzug?!« Moritz sah das bestimmte Lächeln auf Evas Gesicht und die Art und Weise, wie sie ihre Augen blitzten.

    »Denk nicht mal dran! Er ist eigentlich im Urlaub und hat nur uns zu liebe recherchiert. Sein Handy ist ausgeschaltet. Nein! Eva, er braucht eine Pause. Er war die letzten Monate durchgängig am Arbeiten.«

    * * * * * * *

    Jens Schmidt war stinksauer über die indirekte Unterstellung seiner Vorgesetzten, der Hauptkommissarin Melanie Heinzer. Das er vielleicht illoyal sei, kränkte ihn zutiefst.

    Im letzten Sommer hatte er seinen verschwunden Halbbruder Julius bei den Rockern des Lakota MC´s wiedererkannt. Dies gefiel ihr überhaupt nicht, zumal sie die Meinung vertrat, dass alle Personen aus der Szene kriminell waren. Aber dass sie nach jahrelanger Zusammenarbeit seinem Wort nicht mehr vertraute, nagte schwer am Selbstbewusstsein.

    Damals war sein erstes Gefühl, ›ich habe mich getäuscht‹, doch von diesem Tage an geisterten die alten Geschichten des Erwachsenwerdens immer wieder durch seine Gedanken.

    Langsam ließ er das kalte Wasser in die Hände laufen und schüttete es ins Gesicht. Vor wenigen Wochen hatte die Explosion des Clubhauses der Rocker sein Leben verändert. Hartnäckig kehrte diese Erinnerung regelmäßig in seine Träume zurück. Er sah die Trümmer, Steine, Metall, Glas, Holz, der halbverbrannte Bezug eines Sofas und abgerissene menschliche Körperteile.

    Der nächste Schwall Wasser landete im Gesicht. Er roch den heißen Staub, versengten Stoff gemischt mit nasser Asche, verbrannter Erde und verkohltes Fleisch. Über allem schwebte der Tod.

    ›Das Wasser ist nicht kalt genug, es spült die Erinnerung nicht fort.‹ Die zahlreichen Toten und Schwerverletzten hatten ihn bis ins Mark getroffen. Er konnte nicht anders, als ihn anzusprechen. ›Komisch in solchen grauenvollen Situationen finden sich Geschwister, ziehen sich wie Magnete an, sie können sich nicht ignorieren.‹

    Dieses Erlebnis kehrte immer und immer wieder, es war wie eine Dauerschleife in seinem Kopf und er fand den Ausschalter nicht.

    Bereits als der damals noch Fremde zum ersten Mal mit ihm sprach, hatte er die unverwechselbare Stimme wiedererkannt. Sie hatte ihn durch seine Jugend getragen und ihm Ratschläge von unschätzbarem Wert gegeben. Manches verstand er als Heranwachsender nicht, doch es erwies sich im Nachhinein als richtig. Jens hob kurz den Kopf und blickte in den Spiegel, bevor er ein weiteres Mal die Hände mit dem eiskalten Wasser füllte.

    ›Sobald ich das Bedürfnis hatte konnte ich ihn anrufen, Julius war immer für mich da. Dann, urplötzlich, hatte er von mir verlangt, sich um unsere Mutter zu kümmern und war abgetaucht. Ausgerechnet als ich in der Polizeiakademie und mitten in meiner Ausbildung steckte.‹

    Ruckartig drehte Jens den Wasserhahn zu und zerrte einige Papiertücher aus dem Wandspender. Damals war er sehr verärgert, hatte begonnen ihn zu hassen, ausgerechnet dann, als er ihn am meisten gebrauchte hatte, war er abgehauen. Einfach von der Bildfläche verschwunden und hatte ihm die ganze Verantwortung überlassen. Aggressiv knäulte er die Tücher zusammen und warf sie in den Mülleimer.

    Kurz bevor Mutter starb hat sie ihm die Wahrheit über Julius erzählt, der sich heimlich all die Jahre um sie und ihn gekümmert hatte. Dass er den Schlägertrupp von drei Mann aus der Wohnung vertrieben und so die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Alles, um sie beide zu schützen. Bevor Mutter die Hintergründe des Vorfalls erzählen konnte, verstarb sie. Erst aus den Papieren im Nachlass erfuhr er mehr von seinem Bruder und dessen Vater.

    Nachdenklich blickte er in den Spiegel und stützte sich auf dem Waschbecken ab. Die Hartnäckigkeit, mit der seine Chefin Melanie versuchte, ihn von Julius Kriminalität zu überzeugen, hatte ihm den Rest gegeben. So konnte und wollte er nicht weitermachen. Er brauchte Abstand und musste nachdenken. Vielleicht war es an der Zeit seine Zukunft neu zu gestalten. Die Vorstellung bis zum Ende aller Zeiten Verbrecher, Mörder und andere kriminelle Individuen zu jagen, hatte ihm schon seit Kindertagen gut gefallen. In der Realität sah es leider ganz anders aus. Allzu oft waren ihnen die Hände gebunden. Der kleinste Fehler genügte, um die Arbeit von Wochen und Monaten durch einen herbeigepfiffenen Anwalt zerrissen und in den Dreck getreten zu bekommen. Verflucht, diese schmierigen Winkeladvokaten, kannten jedes Schlupfloch und uns sind die Hände gebunden. Der eintretende Kollege holte ihn aus den Gedanken, »Morgen«, grüßte Jens kurz und strich sich mit den Fingern durch das

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