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Das geheimnisumwobene Buch: Eine märchenhafte und mystische Reise
Das geheimnisumwobene Buch: Eine märchenhafte und mystische Reise
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eBook711 Seiten10 Stunden

Das geheimnisumwobene Buch: Eine märchenhafte und mystische Reise

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Über dieses E-Book

Eine schneeweiße Seemöwe sitzt hoch oben in einer Baumkrone und beobachtet das rege Treiben auf der paradiesischen Insel, die ein mystisches Geheimnis birgt. Deren Bewohner sind in heller Aufregung und freuen sich auf das alljährliche Fest zu Ehren von Gaia, Mutter Erde. Die Kobolde und Wichtel zimmern und hämmern gemeinsam für den Bühnenaufbau, das Musikensemble der Feen probt eifrig für seinen Auftritt und die Elfen flechten emsig Blütengirlanden. Unterdessen treffen sich sieben Jugendliche und ein wuscheliger Vierbeiner zufällig auf einem Mississippi-Dampfer, der wie von Geisterhand gesteuert wird. Fast zeitgleich machen sich vier Erwachsene mit einem alten Fischkutter auf die Suche nach einer versunkenen Insel. Während der Fahrt auf dem offenen Meer erlebt jeder von ihnen eine spannende innere und äußere Reise. Nach und nach öffnen sich ihre Augen und Herzen und sie entdecken völlig neue Perspektiven auf ihr Leben.
Dieses Buch beinhaltet einen bunten Mix aus Fantasie und Wirklichkeit, sowohl mit leichtem Witz, locker und unbefangen, als auch mit Ernsthaftigkeit und Tiefe.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum7. Juli 2020
ISBN9783749760879
Das geheimnisumwobene Buch: Eine märchenhafte und mystische Reise

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    Buchvorschau

    Das geheimnisumwobene Buch - Petra Henningsen

    I

    »Hey, pass doch auf, wohin du deine Wurzeln ausstreckst! Fast wäre ich gestolpert und hätte all deine leckeren Früchte auf den Boden fallen lassen.« Ein kleines, possierliches Wesen schaut griesgrämig den alten Baum an, dessen Früchte es kurz zuvor mühevoll in einen aus Weiden geflochtenen Korb gesammelt hat. Der Baum schüttelt sich etwas, weil er ein schelmisches Lächeln nicht unterdrücken kann.

    »Oh, entschuldige!«, ertönt donnernd die Antwort. »Aber weißt du, wenn man wie ich tagein und tagaus an derselben Stelle stehen muss, darf es doch bestimmt mal erlaubt sein, seine Wurzeln auszustrecken.«

    »Meinetwegen«, entgegnet das kleine Wichtelmännchen mit eher hell klingender Stimme. »Aber doch nicht genau vor meinen Füßen! Sollen deine Früchte Dellen und Risse bekommen und so zu Schaden kommen? Du weißt doch selbst, dass sie nur einmal sanft zu Boden fallen dürfen. Immer nur dann, wenn sie reif sind und sich uns zum Verzehr darbieten. Purzeln sie erneut auf die Erde, kann ihre Schale Risse bekommen und der leckere Nektar aus ihrem Inneren läuft aus. Sie verderben, ohne dass sie einen Nutzen für uns Inselbewohner hätten.«

    »Ist ja schon gut! Ich habe mich bereits entschuldigt und es ist doch nichts passiert. Du gehörst eben zu den Geschicktesten unter euch Sammlern, oder irre ich mich?« »Hör auf, mir jetzt mit Schmeicheleien zu kommen! Lass mich meine Arbeit machen und du mach die deine!«

    Noch immer vor sich hin schimpfend, tapst das Wichtelmännchen weiter durch den prächtigen Wald. Es kommt auf eine Waldlichtung und setzt sich mitten auf die blühende Wiese, etwas müde vom Wandern und dem Tragen des schweren Korbes mit den vielen Früchten.

    »Eine kleine Pause wird mir guttun«, beschließt der Wichtel und streckt sich zwischen den blauen und violetten, weißen, gelben und roten Blumen aus. »Mmh… Es duftet so herrlich und die Sonne kitzelt so angenehm meinen Bauch.« Kein Wunder also, dass der kleine Gnom sehr bald eingeschlafen ist.

    »Na, du Schlafmütze, meinst du nicht, dass es langsam Zeit wird, in dein Dorf zurückzukehren? Deine Mutter wartet bestimmt schon auf dich. Sieh nur, die Sonne zieht langsam über die Baumkronen hinweg! Jetzt dauert es nicht mehr lange, bis die Nacht hereinbricht.« Ein bunter Schmetterling hat sich frech auf die Nase des Wichtels gesetzt, um ihn zu wecken. Mit voller Wucht richtet sich der Wichtel auf. Völlig erschrocken schaut er sich um.

    »Was um Himmels willen war das?«

    ***

    Es ist sicherlich hilfreich zu wissen, dass unser kleiner Erdmann, er heißt Jarus, verliebt ist. Nun, er glaubt es jedenfalls. Ein Elfenmädchen namens Delia hat ihm vermeintlich sein Herz gestohlen. Nein, er ist nicht beraubt worden. Was denkst Du denn? Das würde sie nie tun. Delia ist ein liebreizendes, zartes Wesen, dessen graziöse Flügelchen das Licht der Sonne durchschimmern lassen. Ihr langes, goldenes Haar reicht fast bis zum Boden. Ihr Körper ist so zierlich, dass man Angst hat, er zerbreche, sobald sie sich stoße. Ihre Haut duftet betörend nach Lavendel. Nein, Delia könnte niemandem etwas zuleide tun, geschweige denn ihn berauben. Ihr liebliches Sein hat unseren Jarus betört. Der kleine Wichtel ist gern in ihrer Nähe, aber viel zu schüchtern, um so etwas Wunderschönes wie sie überhaupt anzusprechen. Er selbst findet sich abstoßend: klein, knubbelig, mit struppigen Haaren, dicker Nase und zu großen Ohren. Wie könnte so eine Schönheit, wie sie es ist, ihn überhaupt bemerken? Also, was träumte denn unser Wichtelmann?

    ***

    Jarus hatte wieder diesen schönen Traum, in dem beide in ein Abenteuer geraten und gemeinsam die Welt retten. Es gibt immer neue Herausforderungen, die sie meistern müssen. So entsteht eine große Nähe zwischen ihnen. Jedes Mal, wenn er kurz davor ist, sie zart auf die Wange zu küssen, wird er wach.

    »Wer hat mich aus meinem herrlichen Traum gerissen? Warum ist es mir nie vergönnt, ihre entzückende Wange sanft mit meinen Lippen zu berühren?« Verärgert schaut sich Jarus um. Es ist niemand zu sehen. Ein bunter Schmetterling fliegt, sich völlig unschuldig gebend, von Blume zu Blume.

    »Hey du, warst du es? Hast du mich geweckt?«, fragt Jarus grimmig den Schmetterling.

    »Ich? Meinst du mich?«, flötet der wunderschöne Falter.

    »Ja, wen sollte ich wohl sonst meinen? Hier ist kein anderer. Oder siehst du noch jemanden?«

    »Nun, richtig, momentan sind nur wir zwei hier auf der Wiese, weil die anderen alle bereits in ihren Dörfern sind, um rechtzeitig mit Anbruch der Dunkelheit zu Hause zu sein«, antwortet der Schmetterling frech. »Wen möchtest du denn küssen? Hmm, verrätst du es mir? Hast du dich verliebt? Wer ist die Glückliche? Komm schon, mir kannst du es doch erzählen!«

    »Gerade dir nicht! Du fliegst doch gleich von Blüte zu Blüte, und es dauert nicht lange, da weiß es die ganze Insel und ich bin der Narr. Nein, nein, dir verrate ich es nicht! Das geht dich gar nichts an, und verliebt bin ich auch nicht. Was du dir da zusammenreimst, tss… Außerdem muss ich jetzt los. Also, bis dann!« Der Wichtel macht eine abwehrende Geste mit der Hand und erhebt sich. Insgeheim hofft er, dass dem Schmetterling die Röte in seinem Gesicht entgangen ist. Jarus schultert den Weidenkorb und marschiert Richtung Dorf. Es ist nicht mehr weit, gleich hinter der nächsten Biegung kann er die Siedlung schon sehen.

    Einmal im Jahr wird ein riesiges Fest auf der Insel gefeiert. Alle Bewohner sind bereits Tage zuvor mit den Vorbereitungen beschäftigt. An einem großen Platz, dem Strand nahe, kommen sie zusammen, um zu feiern. Grund der Feier an jenem besonderen Ort ist eine mystische Höhle. In ihrem Innern soll etwas Kostbares verborgen sein, das auf diese Weise geehrt wird. Niemand darf die Höhle betreten, niemand außer Myrilia und Orpheus, den beiden Weisen der Insel. Der Höhleneingang ist ständig bewacht. Keiner weiß so recht, warum und wieso, aber alle lieben dieses außerordentliche Fest. Es wird gemeinsam gegessen, getrunken, getanzt und gelacht. Jedes Dorf der Insel bereitet seine eigenen Spezialitäten zu. Es wird zusammen musiziert, und später am Abend sitzen alle um ein großes Lagerfeuer. Es werden Geschichten erzählt, Mythen über das Geheimnis der Höhle. Myrilia und Orpheus bleiben währenddessen am Höhleneingang und schauen dem bunten Treiben gerne zu. Sie freuen sich über all die mystischen Legenden, die im Laufe der Jahrtausende entstanden sind, und haben nicht vor, das Geheimnis vorzeitig zu lüften. Jenes jährlich wiederkehrende Fest gehört zu den wichtigsten Feiern der Insel, und dieses Mal wird es ein ganz besonderes seiner Art werden. Das wissen aber nur die beiden alten Weisen, Myrilia und Orpheus.

    ***

    Ist es nicht viel interessanter zu versuchen, ein Geheimnis zu lüften und sich gegenseitig Geschichten darüber zu erzählen, als alles sofort zu wissen? Manches Mal tut eine gewisse prickelnde Spannung gut. Das Geheimnisvolle hat seinen eigentümlichen Reiz. Findest Du nicht auch?

    ***

    »Jarus, wo bleibst du denn? Du solltest doch nur frisches Obst sammeln. Seit Stunden warte ich auf deine Rückkehr!« Jarus‘ Mutter ist sehr aufgebracht. Sie läuft ihrem Sohn aufgeregt und laut schimpfend entgegen.

    »Mama, ich musste sehr weit in den Wald hineingehen, denn all die Früchte im nahen Umfeld wurden bereits eingesammelt. Vom vielen Laufen und vom schweren Tragen des gefüllten Korbes war ich müde geworden. Ich wollte mich etwas ausruhen und habe mich auf eine Wiese gelegt. Dort bin ich dann eingeschlafen, bis mich der regenbogenfarbene Schmetterling geweckt hat. Es tut mir leid, wenn du dir Sorgen machen musstest.« Etwas geknickt versucht der Wichtel, seine Mutter zu beruhigen.

    »Nun komm schon! Das Essen ist lange fertig. Wir müssen die Früchte noch verarbeiten. Du weißt doch, bald ist das Fest. Wir haben nicht mehr viel Zeit, den herrlichen Saft zu pressen. Er muss noch reifen, bis er endlich fertig ist.«

    Jarus‘ Mutter ist natürlich froh, dass ihr Sohn wieder daheim ist und daher recht schnell besänftigt. Lange kann sie ihm sowieso nicht böse sein. Jarus ist ihr einziges Kind und sie liebt ihn über alles. Sein Vater ist Höhlenwächter. Dies ist eine sehr wichtige Aufgabe, denn niemand anders als die Weisen und die Wächter dürfen sich in der Nähe des Eingangs aufhalten. Die Wachmänner sind zudem auch zur Verschwiegenheit verpflichtet. Missachtung kann bis zur Verbannung von der Insel führen, aber so etwas ist bisher noch nie vorgekommen. Kleinere Details machen schon mal die Runde, aber die Strafen fallen human aus. Wer weiß, vielleicht sollen ab und an winzige Bröckchen von dem großen Geheimnis in Umlauf gebracht werden, damit diese beim Fest wie Puzzleteile der immer weiter wachsenden, Tausende von Jahren alten Legende hinzugefügt werden können.

    ***

    Du bist schon voller Neugier, um welches Geheimnis es sich handelt? Dann lies weiter und warte mit den anderen, bis das Fest beginnt. Lausche den Inselbewohnern, wenn sie um das große Lagerfeuer sitzen und ihre Kostbarkeiten genießen. Sogleich fangen sie an zu erzählen. Bis dahin schauen wir uns weiter auf der Insel um. Komm mit!

    ***

    Die paradiesische Insel liegt inmitten des großen Ozeans. Bislang hat kein Mensch jemals einen Fuß auf dieses Land gesetzt, geschweige denn es je wahrgenommen. Von den Inselbewohnern werden ab und zu am Horizont, manchmal sogar in ihrer Nähe, Schiffe gesichtet. Ob groß oder klein, kein Wasserfahrzeug hat je Kurs auf die Insel genommen. Vielleicht gehört das auch zu dem Geheimnis, das dieses Eiland umgibt. Auf diesem, vom Ozean umgebenen, Land leben unterschiedliche Wesen zusammen mit zahlreichen Tieren in üppiger Natur. Ab und an bekommen sie Besuch von bizarren Geschöpfen aus weiter Ferne. Diese betreten dann mit den beiden Ältesten der Insel die Höhle und tauchen tagelang nicht mehr auf. Anschließend verschwinden sie genauso geheimnisvoll, wie sie gekommen sind. Es dauert nicht lange und neue Details über die seit Ewigkeiten existierende Legende kursieren auf der gesamten Insel, die beim großen Fest zum Besten gegeben werden.

    Die Inselbewohner, es sind kleine Naturwesen – Wichtel und Kobolde, aber auch Elfen und Feen – leben jeweils in einem Dorf auf einer großen Lichtung mitten in der Oase. Die zwei ältesten Inselbewohner, Myrilia und Orpheus, leben seit Anbeginn auf der Insel, nahe der Höhle, seit einer Zeit, in der das Eiland sich zu entwickeln begann. Sie hüten, wie schon erwähnt, jenes Geheimnis, das niemand sonst auf diesem Flecken Erde kennt. Da die Insel sehr klein ist, kann alles zu Fuß erreicht werden. Alle leben friedlich miteinander und es ist ihnen möglich, mit den Pflanzen und Tieren zu kommunizieren. Ihre Dörfer sind aus den Materialien der Natur gebaut, nicht ohne die nötige Wertschätzung gegenüber den Hölzern und Gräsern. Jedes Lebewesen auf dieser Insel, dazu gehören für sie auch die Pflanzen, Bäume und Steine, kennt seine Aufgabe, die es zu erfüllen hat. Jeder geht äußerst respektvoll und achtsam mit sämtlichen Inselbewohnern und mit der Natur um, die ihm sein Zuhause bietet.

    ***

    Ist das nicht das Normalste auf der Welt?, wirst Du dich vielleicht fragen. Schau Dich nur mal in Deiner Umgebung um! Selbst im kleinsten Kreis der Freunde oder Familie fehlt es oft an jenem Respekt und an Achtsamkeit. Woran liegt das nur?

    ***

    Die Natur meint es sehr gut mit ihren Bewohnern, die vielfältige Tierwelt inbegriffen. Hier gibt es saftige Wiesen mit einer Vielzahl von Blumen und Gräsern, Wälder mit hohen und niedrigen Bäumen, Sträuchern und vielen unterschiedlichen Tannen. Ein Fluss, ein kleiner See und sogar ein großer Wasserfall sind hier ebenfalls vorzufinden. Weite weiße Strände mit zahlreichen Buchten zieren die Grenzen der Insel. Zahlreiche Insekten und Vögel in den verschiedensten Farben und Größen, kleine und hochgewachsene Tiere leben hier.

    ***

    Am Himmel fliegen gebratene Hähnchen, Pizza und verschiedenste Torten. Oh, halt, Moment! Das ist wohl ein anderes Märchen, entschuldige bitte! Also, eine durch und durch perfekte Insel, selbst das Klima lässt keine Wünsche offen. Kannst Du Dir diesen traumhaften Ort vorstellen?

    Komm, mach Deine Augen zu und flieg mit mir dorthin! Kannst Du den Waldboden unter Deinen Füßen spüren? Du musst natürlich Deine Schuhe ausziehen! Kannst Du den Wald riechen? Den feuchten Waldboden, die Tannen, den würzig-herben Duft ihrer Nadeln, den süßen, aber auch herzhaften Duft der Blumen und Kräuter? Lausche! Kannst Du den Wasserfall hören, das Plätschern des Flusses und das Rauschen des Meeres, das Summen der Insekten, das Zwitschern der Vögel und hier und da das Piepsen und Brummen der Tiere? Herrlich! Kannst Du die angenehme Wärme auf Deiner Haut spüren und die leichte, milde Brise, die Dich sanft berührt? Ja? Dann bist Du angekommen!

    Herzlich willkommen auf der geheimnisvollen Insel!

    Lass Dich weiter verzaubern! … Du möchtest wissen, wer ich bin? Ich bin Deine Begleiterin auf dieser wundervollen, magisch anmutenden Reise. Komm, lass uns weiter beobachten, was dieses Jahr geschieht. Ich bin mir sicher, Du bist voller Entdeckerfreude!

    ***

    II

    Die Vorbereitungen für das größte und schönste Fest der Insel sind in vollem Gange. Alle helfen mit, ob jung oder alt. In den einzelnen Dörfern, die zusammen ein riesiges Dorf ergeben, hat jeder seine spezielle Aufgabe. Die Elfen sind eigens für die Musik und den Gesang zuständig, die Wichtel für die Getränke, die Kobolde für die warmen Speisen und die Feen für die Süßspeisen. Das Angebot auf der Insel ist reichhaltig, dennoch wird nur so viel verwendet und zubereitet, wie verzehrt wird. Nichts wird im Übermaß und ohne Bedacht verschwendet, weil jeder weiß, wie kostbar und wertvoll die gebotene Nahrung ist. Und die Bewohner sind überaus dankbar, dass sie sich an der Natur bedienen dürfen. So bedanken sie sich für jedes gepflückte Kraut, jede Frucht, jede Blume und jedes Tier, die ihnen als Nahrung dienen, respektvoll. Fleisch steht nur an ausgewählten Tagen auf dem Speiseplan.

    »Halt, halt, so geht das nicht! Stopp!« Völlig genervt wedelt die Musik- und Chorleiterin der Elfen mit dem Taktstock über das Pult. Sichtlich unzufrieden mit ihren Schülern reagiert sie sofort auf die wahrgenommenen Missklänge.

    »Quixi, was ist heute los mit dir? Du verpasst mit deiner Querflöte fast jeden Einsatz. Konzentriere dich! Wir haben nicht mehr viel Zeit zum Üben. Und ihr anderen? Wer sagt denn, dass es einen Preis dafür gibt, der oder die Erste zu sein? Das wäre mir neu. Wir arbeiten hier im Team. Jedes Instrument hat seine Bedeutung zur richtigen Zeit, und zwar zusammen mit den anderen. Ist das klar geworden?« Immer noch ist die Leiterin sehr erregt. Sie weiß, dass ihre Musiker hervorragend spielen und daher fordert sie immer mehr. »Sie dürfen nicht nachlässig werden, die kleinen Elfen. Der Erfolg darf ihnen nicht zu Kopfe steigen«, denkt sie im Stillen. Quixi, ihre Querflötistin, ist immer eine große Attraktion – egal, wann und wo sie spielt. Die kleine Elfe entlockt ihrer aus Bambus gefertigten Flöte die schönsten Töne, die je ein Wesen gehört hat. Sie und ihre Freundin Delia sind Frau Oxygenias Naturtalente, und sie ist sehr stolz, dass sie diese beiden Elfen unterstützen darf. Aber ihre anderen Schüler sind nicht minder erfolgreich.

    »So, nun ab mit euch! Morgen wünsche ich mir ein perfektes Zusammenspiel. Ach so, morgen proben wir gemeinsam mit dem Chor. Also dann, wir sehen uns!« Die Leiterin verabschiedet ihre Musiker, denn nun folgt der Chor. 16 junge, talentierte Elfen füllen erneut den Übungsraum. Unter ihnen ist auch Delia. Sie singt die Hauptstimme und übernimmt die Sologesänge. Ihre bezaubernde Stimme ist bisher von niemandem übertroffen worden.

    ›Dieser Klang muss aus dem Himmel kommen‹, sagen alle Bewohner der Insel ohne Neid, stattdessen mit stolz geschwellter Brust, Delia kennen zu dürfen.

    »Quixi, Quixi kannst du auf mich warten? Dann können wir gemeinsam nach Hause gehen. Ich möchte dir etwas erzählen.« Delia versucht zu flüstern, aber die strenge Leiterin hört alles, wie es scheint.

    »Wenn unsere Solosängerin soweit ist, können wir mit dem Einsingen beginnen.« Ihr Blick ist auf Delia gerichtet, die sofort rot anläuft. Schnell begibt sie sich auf ihren Platz und nimmt noch wahr, wie ihre Freundin ihr nickend zulächelt.

    ›Okay, sie wird warten‹, denkt sich Delia und die Probe beginnt. Mehr als eine Stunde lang werden Teile des Gesamtprogramms geübt. Heute stehen nur schwierige Stücke an, und auch hier setzt es Rügen und Kritik. Aber im Grunde ist die Musik- und Chorleiterin der Insel, Frau Oxygenia, zufrieden. Es wird wieder ein großer Erfolg werden, dessen ist sie sich sicher. Dennoch, nicht zu viel loben ist und bleibt ihre Devise. Immer nur so viel, dass die Motivation zum Weitermachen und der Ansporn zum Üben bleiben.

    »Oh, die war ja heute wieder drauf! Wie ist es euch ergangen? Als ich kam, durftet ihr ja auch ‘ne Lektion von ihr hören.« Delia stürmt sofort hinaus, um sich mit ihrer Freundin Quixi auszutauschen.

    »Na ja, wie immer, kennst sie doch. Je näher das Fest heranrückt, umso mehr möchte sie unseren Ehrgeiz steigern. Wie jedes Jahr zum großen Fest. Keine Feier scheint ihr wichtiger zu sein. Aber nun erzähl, was möchtest du mir sagen?«, fragt ihre Freundin wissbegierig.

    »Ja, Moment, lass uns etwas in den Wald hineinlaufen, damit es nicht gleich die anderen mitbekommen!«, flüstert Delia. Ihre Hütten grenzen an einen Wald, der nicht weit von einem großen Wasserfall entfernt ist. Gemeinsam ziehen sie los. Delia erzählt ihrer Freundin nun, was sich in der kurzen Zeit ereignet hat, in der sie sich nicht gesehen haben.

    Die Kobolde sind, wie jedes Jahr, mit der zum Fest gereichten Hauptspeise beschäftigt. Rufus, ein junger Kobold, hat sich etwas von den anderen abgesondert. Er mag das Jagen nicht sonderlich und überlässt gern denen die Arbeit, die darin eine Ehre sehen. Sicher, er weiß, dass ein uraltes Ritual praktiziert wird, bevor ein Tier erlegt wird. Aber dennoch kann er es nicht mit ansehen, wenn sie ein Tier mit der todbringenden Spitze ihrer Speere, geschnitzt aus den Hölzern des Waldes, durchbohren und es kraftlos zu Boden sinkt. Dummerweise isst er gern Fleisch, aber müsste er sich selber versorgen, dann würde er sich wohl nur von Pflanzen und Beeren ernähren, obwohl sie ja auch lebendige Wesen der Insel sind. ›Woran liegt das?‹, fragt er sich immer wieder. ›Nun, vielleicht daran, dass Tiere Augen haben und sich fortbewegen, Babys gebären und uns teilweise bei der Feldarbeit unterstützen. Ich sehe die Tiere als meine Freunde an‹, ist seine Antwort darauf. Rufus sitzt lieber unter einem Baum nahe dem großen Wasserfall und schaut ziellos in die Ferne. Das Rauschen der Wassermassen lässt seine Gedanken davonziehen, und so gelangt er in einen Zustand der inneren Leere. Hier versucht er, Antworten auf die vielen Fragen zu finden, die ihm täglich durch den Kopf gehen. Heute ist sein größtes Interesse der Höhle gewidmet.

    ›Warum nur darf niemand hinein, außer den beiden Alten? Warum feiern wir jedes Jahr dieses großartige Fest? Weshalb wird darum so ein großes Geheimnis gemacht, seit so vielen Jahrtausenden?‹ Alles, was er bisher herausgefunden hat, ist, dass dort etwas Kostbares verborgen ist, etwas, das die gesamte Menschheit retten wird. Doch wovor? Dieses Etwas entsteht aus der Verbindung des Himmels und der Erde, und das Fest ist so eine Art Geburtstagsfeier. Seit einigen Jahren rückt die Offenbarung jenes Geheimnisses immer deutlicher heran. Es muss sich wahrlich um etwas Wunderbares handeln, soviel ist sicher. Nebenbei versucht Rufus zu ergründen, warum sie hier auf diesem traumhaften Fleckchen Erde leben und ob es stimmt, dass ein so harmonisches und friedvolles Beisammensein, wie es unter ihnen herrscht, nicht selbstverständlich ist. Er würde so gern reisen und die Welt entdecken. Merkwürdigerweise ist vor ihm nie ein Inselbewohner auf diese Idee gekommen. Wenn er davon erzählt, fragen ihn die anderen Insulaner stets, weshalb er fort möchte. ›Hier ist es doch so paradiesisch, alles, was wir zum Leben brauchen, ist da‹, betonen sie immer wieder. Nach einiger Zeit des Grübelns und Träumens erhebt sich der Kobold. ›Meine Kameraden sind sicher schon zurück‹, denkt er. Bevor sich seine Familie um ihn Sorgen macht, will Rufus in sein Dorf zurückkehren.

    An diesem Tag begegnet der Kobold Delia im Wald, als er nach Hause läuft.

    »Hallo, Rufus! Bist du nicht mit den anderen zur Jagd?«, begrüßt ihn die Elfe.

    »Ähm, ja, wir sind wieder zurück.« Er möchte Delia auf keinen Fall wissen lassen, dass er die Stille im Wald dem Jagen vorzieht.

    »Was machst du denn hier?« Nervös geworden, lenkt er vom Thema ab.

    »Ach, ich hatte Lust, etwas allein zu sein, um zu üben, du weißt ja, das Fest«, entgegnet Delia und verdreht dabei ein wenig die Augen. Alle wissen, welch einen Trubel dieser eine Tag stets auf dem Eiland auszulösen vermag.

    »Möchtest du deine engelsgleiche Stimme mit den Düften des Waldes verzaubern?«, neckt Rufus die liebreizende Elfe.

    »So ein Quatsch! Die Luft des Waldes tut jedoch in der Tat meiner Stimme gut.« Delia ist etwas pikiert von der ruppigen Art des Koboldes, dennoch bleiben ihre Augen mit seinen verbunden. Ein sonderbarer, magischer Moment umgibt beide. Sie stehen sich gegenüber und schauen einander einfach nur an. Keiner kann mehr etwas sagen. Sie lauschen dem Gesang der Vögel, ohne ihre Blicke voneinander zu lassen.

    ***

    Oh, oh, wenn das jetzt unser Jarus sehen würde! Ich glaube, er wäre nicht sonderlich begeistert. Was denkst Du? Was macht er eigentlich gerade?

    ***

    »Jarus, wo steckst du denn schon wieder?« Die Mutter des Wichtels läuft im Garten umher und ruft nach ihrem Sohn. ›Der kleine Lümmel! Wenn er eine Möglichkeit sieht, sich vor der Arbeit zu drücken, ist er sofort dabei‹, grummelt es in ihr.

    »Jarus, komm, du musst mir helfen! Ich schaffe das niemals allein, all die Früchte in die Presse zu füllen und gleichzeitig an der Kurbel zu drehen.« Marila ist völlig geschafft von der vielen Arbeit.

    »Ich bin schon da!« Jarus kommt um die Hausecke auf seine Mutter zu. »Mich hat heute eine Fee gefragt, ob wir ihnen eine Kleinigkeit von dem Saft abgeben könnten. Dieses Jahr haben sie sich etwas Besonderes als Nachspeise ausgedacht und dazu bräuchten sie ein wenig von unserem frischen Saft.«

    »Aha, merken sie auch, dass es sich dieses Mal um ein besonderes Fest handeln muss?«, murmelt Marila vor sich hin.

    »Was hast du gesagt?«

    »Nichts, ähm … Na klar, sie können sich gern etwas Beerensaft abholen, wenn sie ihn brauchen. Jetzt komm und hilf mir bitte! Bald haben wir es geschafft.«

    Mit dem Saft der Beeren stellen die Wichtel unter anderem einen herrlichen Fruchtwein her. Eine spezielle Würzung und das tagelange Lagern in der Sonne verleihen ihm seine prickelnde Note. Wenn man nicht aufpasst und zu viel von dieser Köstlichkeit trinkt, fühlt man sich berauscht. Das kann lustig sein, aber ab einem bestimmten Zustand lästig für die anderen.

    Die Feen möchten dieses Jahr etwas Neues ausprobieren. Bisher gab es immer ein Dessert aus frischen oder frittierten Wiesenblumen oder Früchten, manches Mal verschiedene Cremespeisen. Dieses Mal soll es eine Kombination aus allem werden. Die anderen Inselbewohner sollen über ihre neue Kreation staunen. Den Beerensaft möchten sie zusammen mit den Blüten der Insel in der Sonne ziehen lassen, und das Ganze soll dann zu den Cremespeisen und dem frischen Obst serviert werden. Auf diese Idee ist Lilie gekommen, eine sehr junge Fee. Jedes Jahr wird heftig diskutiert, was man als Nachspeise zubereiten könne, ohne dass zu viel übrig bleibt. So entstehen immer endlose Debatten und letztendlich muss eine Abstimmung entscheiden. Wenn sie aber alles miteinander kombinieren, dann wäre jeder zufrieden und keiner müsste verzichten. So entstand Lilies Plan.

    Die Vorbereitungen auf den Festtag nehmen ihren Lauf. In ein paar Tagen ist es soweit. Die Wächter beobachten das Treiben wie jedes Jahr und werden ohne offizielle Genehmigung der beiden Weisen niemandem den Zutritt gewähren. Gerade in dieser Zeit vor dem Fest müssen sie extrem wachsam sein, denn die Neugier auf den verborgenen geheimnisvollen Schatz steigt von Jahr zu Jahr. Jeder würde gern derjenige sein, der das Geheimnis lüftet.

    Dieses Jahr scheint in der Tat etwas Besonderes zu passieren. Sechsmal sind Gäste aus weiter Ferne erschienen. Sechsmal! Sonst ist der Besuch höchstens dreimal im Jahr aufgetaucht. Gemeinsam mit den Ältesten, Myrilia und Orpheus, waren sie tagelang in der Höhle. Ab und an konnte man es hell blitzen sehen und vor dem Höhleneingang schien die Erde leicht zu beben. Seltsame Klänge kamen aus dem Innern der Höhle und die Wächter nahmen rätselhafte Schwingungen in der Luft wahr, ja sogar einen leichten Sog, der sie ins Innere zu ziehen schien. In der Tat, auch das Klima scheint sich etwas zu wandeln. Hier und da brausen heftigere Stürme über das Meer als sonst. Und das Licht der Sonne liegt ab und an hinter einem sonderbaren Schleier aus Wolken verborgen und taucht die Insel in ein seltsames Licht. Nicht, dass es für gewöhnlich immer nur strahlend blauen Himmel gab, ohne Regen und Sturm. Nein, wie könnte die Natur sonst überleben? Dennoch, irgendetwas änderte sich von Jahr zu Jahr.

    ***

    Jetzt aber mal wieder zurück. Was wollte Delia ihrer Freundin Quixi erzählen? Wir sind ja etwas abgetrieben, würde ich sagen. Schauen und hören wir doch einfach zu!

    ***

    »Quixi, als Rufus und ich einander so nah gegenüberstanden, da … Wie soll ich es sagen? Da hat es heftig gekribbelt in meinem Bauch und ich merkte, dass er immer verlegener wurde. Ich allerdings auch. Deshalb habe ich mich schnell wieder auf den Weg gemacht. Er hat mir noch einen schönen Tag gewünscht und ist ebenso seines Weges gegangen. Was meinst du? Wie findest du Rufus?« Delia bekommt vor Aufregung ganz rote Wangen.

    »Rufus? Das ist doch ein Träumer. Weißt du denn nicht, dass er davon schwärmt, die Insel zu verlassen, um die Welt um uns herum zu entdecken? Er möchte herausfinden, wie es anderswo auf unserem Planeten ist und wie die Menschen dort leben. Du kennst doch die Geschichten, die man sich erzählt von den anderen Erdbewohnern, die den größten Teil dieser Erde bevölkern. Es gibt Schönes und Schreckliches, was man sich von ihnen erzählt, aber wirklich dort gewesen ist noch keiner von uns, mit Ausnahme der Fische, der Vögel und mancher Insekten.« Quixi hält nicht viel davon, von anderen Welten zu träumen. Wozu auch? Hier auf ihrer Insel haben sie doch alles, was sie brauchen, um friedlich das Dasein genießen zu können. Wozu sich in ungewisse Abenteuer stürzen?

    »Nun ja, ein wenig gebe ich dir recht, aber dennoch… Ich fand es schön, dieses Kribbeln im Bauch, als ob man zu viel Limonade getrunken hat. Die von der Wichtelfamilie, weißt du? Außerdem habe ich Jarus gesehen, emsig Früchte sammelnd. Dieser kleine Tollpatsch stritt sich gerade mit einem Baum, weil er ihn zum Stolpern gebracht hatte. Ihn mag ich auch. Sie sind beide so verschieden und liebenswert zugleich«. Seufzend schaut Delia ihre Freundin an.

    Quixi schüttelt nur den Kopf. Sie sind schließlich Elfen. Jarus ist ein Wichtel und Rufus gehört zur Familie der Kobolde. Bisher hat sie noch nie erlebt, dass es zwischen den Familienstämmen mehr als freundschaftliche Verbindungen gegeben hätte. ›Delia ist vermutlich durch die ganzen Vorbereitungen und die eigenartige Stimmung in diesem Jahr etwas durcheinander. Bald ist es ja soweit. Gott sei Dank!‹, denkt sie sich. Quixi ist im Vergleich zu ihrer Freundin etwas größer und hat rotes, gelocktes Haar. Sie ist weniger sanftmütig als Delia, was nicht heißen soll, dass sie bösartig ist. Nein, eher etwas ruppiger und pragmatischer.

    ***

    Interessant, offenbar gibt es auch bei den Naturwesen unterschiedliche Charaktere.

    Übrigens sind zwei Schiffe auf dem offenen Meer unterwegs, ein Mississippi-Dampfer und ein alter Fischkutter. Am Horizont kann ich sie sehen. Du auch? Schauen wir doch mal, wer so an Bord ist, um die Besatzung kennenzulernen!

    ***

    Die Passagiere des Mississippi-Dampfers, der sich der Insel aus der östlichen Richtung nähert, sind Kinder und Jugendliche. Sie haben sich aufgemacht, um der Welt, in der sie leben, zu entfliehen. Alle haben sie in ihren jungen Jahren schon viel Schlimmes erlebt. Zum Teil sind sie von zu Hause oder aus dem Heim geflohen. Auf sonderbare Weise trafen sie sich an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit, um gemeinsam einem besseren Leben entgegenzustreben.

    Christoph, 17 Jahre, und Isabelle, 16 Jahre, sind die beiden Ältesten an Bord. Sie lebten monatelang auf der Straße und sind mittels Trampen und Betteln von einem Ort zum anderen gelangt, einfach nur fort von Gewalt, Verständnislosigkeit und Lieblosigkeit, der sie in ihren Familien ausgesetzt waren. Den Übrigen an Bord, Henry, Claus, Peggy, Sammy und Percy, erging es nicht anders.

    Smutje, ein Mischlingshund mit weichem, struppigem Fell, hat sich Claus angeschlossen, als dieser vor Kurzem aus dem Heim geflohen ist. Er hat es dort nicht mehr ausgehalten. Claus fehlen seine Eltern, die bei einem Autounfall ums Leben kamen, sehr. Er ist jetzt 14 Jahre alt. Auf ein Leben im Heim mit so vielen anderen in einem Zimmer hatte er wirklich keine Lust mehr.

    Sammy, 9 Jahre alt, und Percy, 6 Jahre alt, sind von zu Hause fortgelaufen. Sammy hat ihren Bruder Percy mitgenommen, damit ihr Vater ihm nicht auch so etwas Schlimmes antun würde wie ihr selbst. Darüber reden kann und will sie nicht.

    Henry, 12, und Peggy, 10, lebten im selben Heim. Sie waren aus unterschiedlichen Gründen dorthin gekommen. Auch sie reden nicht darüber. Dieses stillschweigende Abkommen hat sie Freunde werden lassen. Wenn die anderen Kinder um sie herum manches Mal ihrem Schicksal völlig ausgeliefert zu sein schienen und sie im Tal der traurigen Vergangenheit gefangen saßen, haben sich Henry und Peggy ihre Zukunft in bunten Bildern ausgemalt. Nun ist es soweit, dass sie sich auf die Suche nach ihrer Vision von einem besseren Leben aufgemacht haben.

    Seit kurzer Zeit sind sie auf hoher See und haben bereits kleine Stürme überstanden, nicht nur, was die Seewinde betrifft. Sie alle haben keine Ahnung, wohin ihre Reise sie führen wird. Sie hatten einfach dieses große Schiff und ein Schild am Ufer entdeckt:

    Freie Fahrt zum friedlichsten Flecken der Erde!

    Überraschungen inbegriffen!

    Keiner geht leer aus!

    Hereinspaziert! Willkommen an Bord!

    An beiden Seiten des Dampfers sind riesige Schaufelräder angebracht. Der größte Teil des Bootes ist rotbraun gestrichen. Die Luken sind weiß eingerahmt, auch die Reling ist weiß lackiert, verziert mit sonderbaren Symbolen. Die Flagge zeigt eine Insel mit einer Höhle, und darüber strahlt etwas, das aussieht wie die Sonne. Das Schiff bietet ausreichend Platz für seine Passagiere und Nahrungsmittel sind ebenfalls genug an Bord. Das Einzige, was sie tun müssen, ist, sich selbst zu versorgen; das heißt, sich die Tagesspeisen herzurichten, auf sich zu achten und das Schiff sauber und in Ordnung zu halten, alles andere wird wie von Geisterhand gelenkt. Sogar für frische Wäsche ist gesorgt. Erstaunlicherweise ist für jeden etwas dabei.

    Inzwischen haben sie sich längst daran gewöhnt, aber am Anfang war es ihnen schon etwas unheimlich. Zunächst hatten sie versucht, die Tür zur Kommandobrücke zu öffnen, aber sie hatten keine Chance. Immer wieder wurden sie durch einen kleinen elektrischen Schlag zurückgewiesen. Das Schiff wird dennoch gelenkt, das ist deutlich zu beobachten. Nichts wurde bisher dem Zufall überlassen. So wurde ihr Gefährt bislang immer souverän durch die Wellen geleitet, egal, wie stark der Wind war. Alle an Bord haben sich auf dieses Abenteuer eingelassen, ohne zu wissen, was auf sie zukommt. Klar ist lediglich Eines: Es kann nur besser werden als das, was sie bisher erlebt haben. Das erfahrene Leid und die Suche nach Glück und Liebe haben sie zu Verbündeten werden lassen.

    ***

    Ja, und das andere Schiff?, wirst Du Dich vielleicht interessiert fragen. Lass uns einen Blick hineinwerfen!

    ***

    Das Schiff am westlichen Horizont der Insel ist ein kleines, altes Fischerboot. Es gehört einem Professor der Geologie. Sein Name ist Michael. Mit 65 Jahren folgt er noch immer seinem Kindheitstraum und ist auf der Suche nach einer vor langer, langer Zeit versunkenen Insel. Er hat als Kind von vielen Legenden gehört und ebenso viele gelesen. Das war sein Antrieb, Geologie zu studieren, immer mit dem Ziel, diesen Ort eines Tages zu finden.

    Ebenfalls an Bord des alten Fischerbootes ist ein junger Mann namens Robert. Die beiden haben sich auf Michaels Schiff kennengelernt. Robert ist 34 Jahre und besitzt eine kleine Segelyacht. Erst seit kurzer Zeit sind sie Bootsnachbarn. Michael hatte Robert bei einem gemütlichen Beisammensein von seinen, inzwischen zu einem manischen Hobby gewordenen, Reisen erzählt. Eines Tages, als er sich wieder einmal startklar machen wollte, um mit seiner Tochter Josephine eine neue mögliche Position der versunkenen Insel auszukundschaften, spürte Robert die Abenteuerlust in sich. Er hatte sowieso gerade Zeit, und für einen freischaffenden Journalisten wie ihn klang das nach einer interessanten Story.

    Josephine ist 30 Jahre jung. Nach dem Tod ihrer Mutter war sie ihrem Vater eher etwas aus dem Weg gegangen und hatte sich voll und ganz auf ihren Beruf konzentriert. Josie kann die Trauer um den Verlust ihrer Mutter nicht so zeigen und den Kummer ihres Vaters nicht ertragen. Dieses Mal nimmt sie sich jedoch in ihrem Institut für Meeresforschung frei. Es wird höchste Zeit, dass sie dort mal wieder rauskommt. Sie ist gerne in der Natur und vor allem auf dem Meer.

    Zu erwähnen wäre noch Emma. Robert hat sie mitgebracht. Sie wohnen im selben Mehrfamilienhaus auf einer Etage. Emma steckt gerade in einer Lebenskrise und weiß nicht, wie es weitergehen soll. Sie hat ihren Job verloren und ihr Freund hat mit ihr Schluss gemacht. Gerade 28 Jahre jung und ohne Perspektive, da kam das Angebot genau richtig und der Professor stimmte zu. Während Emma sich freiwillig als Köchin gemeldet hat, kümmert sich der Professor ums Navigieren. Josie unterstützt Emma. Robert hilft dort, wo er gebraucht wird und bringt seine neue Story ins Rollen.

    ***

    So treiben also zwei Boote auf dem offenen Meer. Jedes hat einen anderen Ausgangspunkt und doch, so scheint es mir, dasselbe Ziel. Schauen wir doch wieder auf der Insel vorbei. Inzwischen sind Delia und Quixi zurück in ihrem Dorf. Langsam versinkt die Sonne im Meer und malt einen bildschönen, rot-orangefarbenen Horizont. Das Wasser funkelt, als seien Tausende von Diamanten in ihm verteilt. Allmählich kehrt Ruhe in den einzelnen Dörfern ein. Vereinzelt entdecke ich hier und da einen Inselbewohner. Ach, sieh mal, dort am Strand! Das ist doch Delia, oder? Klar! Ihr goldglänzendes, in sanften Wellen fallendes, langes Haar, das selbst der Mond noch zum Glitzern bringt, ihre fast zerbrechlich wirkende Figur und … psst! Ja, ich kann sie hören, ihre liebliche Stimme. Mit wem redet sie denn so herzergreifend?

    ***

    »Ach, lieber Mond, kannst du mir nicht helfen? Seit einiger Zeit gibt es so viel Unruhe in mir. Ich weiß gar nicht genau, warum. Liegt es an den intensiven Aktionen für das Fest? Dieses Jahr sind alle auf der Insel noch hektischer. Selbst unsere Musik- und Chorleiterin ist strenger als sonst. Ja, und dann ist da noch Rufus, ein Kobold aus dem Nachbardorf. Er ist so entzückend. Ich weiß gar nicht, warum. Vielleicht, weil er so verträumt wirkt. Und dann sein ständig struppiges Haar … Ich glaube, einen Kamm kennt er nicht. Seine Augen scheinen stets in die Ferne zu blicken, als nähmen sie dort eine andere Welt wahr. Und er riecht so lecker nach Wald.« Delia lächelt. Sogleich beginnt es wieder so sonderbar in ihrem Bauch zu prickeln.

    »Delia ist verliebt, Delia ist verliiiiebt, Delia ist verliebt!«

    »Hey, wer sagt so etwas? Mond, bist du das?« Delia blickt sich suchend um. Niemand ist zu sehen. Neckt der Mond sie? Die Stimme klang allerdings nicht so machtvoll wie die des Mondes.

    »Hallo?! Zeig dich mir! Wer will mich hier veralbern?«

    Immer wieder ist zu hören: »Delia ist verliebt, Delia ist verliiiiebt, Delia ist verliebt!« Langsam wird sie etwas ungehalten. Ihre Freundin Quixi hat auch so merkwürdig reagiert, als sie ihr von der Begegnung mit Rufus erzählte. Er ist ein Kobold und sie eine Elfe. Sie kann sich gar nicht in Rufus verliebt haben!

    »Delia ist verliebt, Delia ist verliiiiebt, Delia ist verliebt!« Neben sich entdeckt sie einen kleinen Krebs. Er hat auf dem Weg zurück ins Meer Halt gemacht.

    »Hey, kleines Krabbentier, bist du es, der mich ständig mit diesen Worten bombardiert?« Leicht wütend geworden, blickt sie der Krabbe direkt in die Augen. Gerade möchte der Krebs wieder seinen Singsang von sich geben, doch Delia kommt ihm zuvor.

    »Hör auf! Was soll das? Ich bin nicht verliebt. Ich mag Rufus, ja, und es fühlt sich wohlig im Bauch an, wenn ich an ihn denke, aber er ist ein Kobold. Und Kobolde bleiben unter sich, so wie wir Elfen, Feen und Wichtel. Apropos Wichtel. Jarus zum Beispiel, den mag ich ebenfalls. Er ist so herzallerliebst in seiner Tollpatschigkeit.« Delia hält inne. »Ja, stimmt, auch Jarus schaut mich in letzter Zeit so versonnen an, und es wird mir dann so warm ums Herz.« Sie ist aber fest davon überzeugt, dass sie nicht verliebt ist, weder in den einen noch in den anderen. Es muss etwas anderes sein, was sie innerlich dermaßen aufwühlt, und vielleicht ist es bei den beiden genauso. Sie spüren möglicherweise, dass etwas noch nie Dagewesenes in der Luft liegt.

    »Delia, hab Geduld, bald wirst du es wissen!« Mit tiefer, sonorer Stimme mischt sich nun der Mond ein. Die Elfe zuckt leicht erschrocken zusammen und der kleine Krebs zieht eilend ins Meer.

    »Mond, bist du das? Wie lange muss ich noch warten? Und was werde ich dann wissen?«

    »Geduld, Geduld, meine kleine Elfe! Das, was du fühlst, ist der Beginn einer neuen Zeit.«

    »Neue Zeit? Was für eine neue Zeit?« Delia ist inzwischen noch erregter als zuvor, aber der Mond hat sich hinter eine Wolke zurückgezogen und schweigt. Kopfschüttelnd begibt sie sich zurück in ihr Dorf. Sie beschließt, erst einmal niemandem davon zu erzählen. Niemandem, auch nicht ihrer Freundin. Sie wird ihr sowieso nicht glauben und weiterhin der Meinung sein zu wissen, was mit ihr los ist. So ist Quixi eben. Aber dennoch mag Delia sie von Herzen gern.

    ***

    Die Nacht ist auf der Insel und über dem Meer hereingebrochen. Im Dorf ist es still geworden. Und auf den beiden Schiffen?

    ***

    In dieser Nacht erscheint der Mond extrem hell und nah. In der Ferne sind kleine Wolkengruppen zu sehen. Auch auf die Crew an Bord des Mississippi-Dampfers hat der Mond eine eigentümliche Anziehungskraft. Henry und Peggy befinden sich an Deck und haben sich am Fuße der Kapitänsbrücke unter einer Decke zusammengekuschelt. Sie genießen es, in den Himmel zu schauen, ob bei Tag oder Nacht. Dabei kann man so herrlich seinen Träumen den Raum geben, den sie benötigen, um zu wachsen.

    »Du, Henry, was meinst du, wann werden wir am Ziel sein?«, durchbricht Peggy das Schweigen.

    »An welchem Ziel? Haben wir denn eines? Erst seit kurzer Zeit sind wir hier auf diesem mysteriösen Schiff. Wir können es nicht selbst lenken, doch wird es irgendwie gesteuert. Außerdem können wir uns verpflegen, denn auf geheimnisvolle Weise wird für uns gesorgt. Das ist alles, was wir wissen. Jeder von uns hat seinen ganz eigenen Lebensweg. Haben wir denn dasselbe Ziel? Wir kennen uns doch kaum.« Henry streckt sich etwas. Die beiden sind schon einige Zeit an Deck.

    »Nun, du hast recht. Wir haben alle unsere eigene Geschichte, aber suchen wir nicht alle das Glück?«

    »Glück? Was bedeutet Glück? Was ist Glück für dich?« Henry schaut seine Freundin fragend an. Obwohl sie eigentlich noch Kinder sind, sind sie durch ihre Lebensumstände schneller erwachsen geworden, als sie wollten.

    Henry war sieben Jahre lang im Heim. Seine Eltern sind Alkoholiker. Ein gemütliches Zuhause kennt er nicht. Bei ihnen war es ständig schmutzig und unaufgeräumt. Überall in der Wohnung standen leere Flaschen und übervolle Aschenbecher herum. Ein eigenes Zimmer nur für ihn gab es nicht. Henry teilte sich meist das Bett mit seiner Mutter im elterlichen Schlafzimmer. Am Schlimmsten war es, wenn sein Vater nach tagelanger Sauftour wieder nach Hause kam. Dann musste Henry irgendwann mitten in der Nacht ins Wohnzimmer. Dort stand in einer Nische ein Schlafsofa. Es roch immer nach kaltem Rauch und Alkohol. Häufig kam es zu Streitereien innerhalb der Familie. Henry hatte meistens Glück und konnte sich vor den Schlägen des Vaters retten, seine Mutter jedoch nicht. Später versöhnten sich seine Eltern wieder und irgendwann verschwand der Vater aufs Neue. Durch die Nachbarn wurde eines Tages das Jugendamt informiert und er kam ins Heim. Henry erinnert sich nur noch recht wenig an all das, was sich vor seiner Zeit im Heim abgespielt hat. Schließlich war er noch sehr klein. Glück bedeutet für ihn schlicht und einfach: ein eigenes Zimmer, ein liebevoller Umgang mit anderen Menschen, Achtung und Respekt, ein sauberes, wohlriechendes Zuhause, liebevolle Eltern und vielleicht auch Geschwister, eventuell ein Haus mit Garten und ein Hund. Während er in seinen Gedanken versunken ist, meldet sich Peggy plötzlich zu Wort. Auch sie hat lange über die Frage nachgedacht, was Glück für sie bedeutet, und ohne Henry die eigentlichen Umstände ihres bisherigen Lebens zu schildern, sagt sie:

    »Glück bedeutet für mich Freiheit, nicht immer nur tun zu müssen, was andere von mir wollen, mich selbst wahrnehmen zu dürfen, so wie ich bin und nicht, wie ich sein sollte.« Dann schweigt sie wieder. Peggy war erst das zweite Jahr im Heim. Ihre Eltern waren völlig überfordert mit ihr gewesen, weil sie von klein auf oft Wutanfälle bekam. Dabei kam es schon mal vor, dass sie sich scheinbar grundlos auf die Straße warf oder im Einkaufszentrum auf den Boden. Oder sie schrie ganz laut und hörte nicht mehr auf. Später fing sie an zu treten und zu beißen. Peggy kommt aus einer gutbürgerlichen Familie. Sie lebte in einem Haus mit einem kleinen Garten. Alles war sauber und gepflegt. Peggys Vater arbeitete immerzu und hatte selten Zeit für sie. Ihre Mutter glich eher einem nervlichen Wrack. Streit gab es nie, dafür herrschte oft eine spannungsgeladene Ruhe. Peggy war klar, wenn das Leben ihrer Eltern ein liebevolles, achtsames Umgehen miteinander war, dann zog sie die Freiheit vor.

    »Und was bedeutet Glück für dich?«, fragt sie Henry.

    »Nun, im Grunde bin ich jetzt im Glück. Wir befinden uns hier mitten in einem Abenteuer, immer umgeben von frischer Luft. Alles ist sauber, denn wir kümmern uns gemeinsam drum. Fast wie eine Familie. Findest du nicht? Wir haben sogar einen Hund.« Henry grinst Peggy an. »Was wir nicht kennen, ist das Ziel unserer Reise. Von mir aus kann es immer so weitergehen. Findest du nicht?«

    »Hmm, ich weiß nicht. Ständig hier an Bord? Nie zu wissen, wohin die Reise uns führt? Soll das der Sinn sein? Wir sind frei und doch an etwas gebunden. Wir können nicht selbst bestimmen, sondern werden auf geheimnisvolle Weise gelenkt.«

    »Hmm, wenn du das so siehst…«

    Plötzlich taucht Isabella auf. »Hallo, ihr beiden. Könnt ihr auch nicht schlafen? Es muss am Mond liegen. So hell und klar. Ja, irgendwie erscheint er heute außergewöhnlich nah.«

    »Komm, setz dich zu uns! Wir reden gerade über das Glück. Was bedeutet Glück für dich?« Peggy hebt die Decke an und macht etwas Platz, damit Isabella sich zu ihnen setzen kann.

    »Glück? Was bedeutet Glück für mich? Hmm… Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Ich bin glücklich darüber, nicht mehr bei meinen Eltern wohnen zu müssen und glücklich, mit euch hier an Bord des geheimnisvollen Schiffes zu sein. Ihr wisst ja, dass ich zuvor ungefähr ein halbes Jahr auf der Straße gelebt habe. Da empfand ich es als Glück, wenn ich etwas zu essen bekam und einen sicheren Platz für die Nacht fand. Aber alles war immer noch besser, als zu Hause zu sein. Ich habe viele nette Obdachlose getroffen, die mir geholfen und Tipps gegeben haben, wie man sich am besten durchschlägt. Ich denke, für mich ist Glück innerer Frieden, ein Frieden mit sich und dem Leben, das man führt. Und Liebe leben zu dürfen, wie man sie empfindet.«

    »Innerer Frieden«, wiederholt Henry. »Wow, das klingt toll! Was meinst du mit Liebe leben zu dürfen, wie man sie empfindet?«

    »Ach, das ist eine lange Geschichte. Kurz gesagt, dass man seinem Herzen folgen darf, ohne dass sich jemand einmischt, der es vermeintlich besser weiß.«

    Daraufhin verstummen alle drei wieder und schauen gedankenversunken zum Mond. Hier und da hört man eine Welle, die an die Schiffswand platscht, und das Knarren der alten Balken ihres Gefährts. Nach einer Weile erzählen Henry und Peggy Isabella von ihren Träumen im Heim, aber sie hört nur mit halbem Ohr zu. ›Es hat etwas Magisches, dieser Mond, das sanfte Schaukeln durch die Wellen.‹ Isabella seufzt leise, als ihre Gedanken eine Reise in die Vergangenheit machen. Sie ist zwar froh, hier an Bord sein zu dürfen, dennoch vermisst sie jemanden sehr, mit dem sie diese Momente gern geteilt hätte.

    ***

    Und unser Fischerboot? Was passiert in dieser Nacht dort an Bord?

    ***

    Auch auf dem alten Kutter übt der Mond in dieser Nacht eine magische Anziehungskraft auf die Besatzungsmitglieder aus. Josie und Robert können nicht schlafen und treffen sich zufällig an Deck.

    »Hi Robert! Kannst du auch nicht schlafen? Eine sonderbare Nacht heute. Sie hat fast etwas Mystisches.« Josie zieht ihr Schultertuch enger um ihre Schultern. Der leichte Seewind umschmeichelt sanft ihren schlanken Körper. Ihr langes, fast schwarz wirkendes, glattes, braunes Haar hat sie zu einem Zopf zusammengebunden. Hier an Bord ist es die leichteste Art, sich zu frisieren, jedoch trägt sie auch sonst ihr Haar eher selten offen. Sie ist nicht eine von den sogenannten Schickimicki-Girls. Das war sie noch nie. Wohl das Erbe ihrer Kindheit, denn sie liebt die Natur und daher auch ihre eigene Natürlichkeit.

    »Ja, du hast recht. Man kann gar nicht den Blick vom Mond lassen. Er wirkt so unnatürlich groß heute Nacht.« Robert schaut nicht nur zum Mond, sondern auch Josephine an und bittet sie, stillschweigend mit der Hand neben sich klopfend, sich zu ihm zu setzen.

    »Was meinst du, wird dein Vater dieses Mal seine Vision finden, den geheimnisvollen Ort, die versunkene Insel?« Robert ist der typische Hingucker von Mann. Groß, gut gebaut, dichtes, schwarzes, leicht gelocktes, halblanges Haar und ein markantes Gesicht mit faszinierenden dunklen Augen, die einem in die Seele zu blicken scheinen.

    »Ich wünsche es ihm so sehr«, antwortet Josephine. »Seit ich denken kann, ist er auf der Suche und hat bisher noch nie aufgegeben, auch wenn es jedes Mal eine herbe Enttäuschung für ihn war, dass alle noch so genauen Angaben ihn erfolglos bleiben ließen. Ja, ich weiß, dass hinter seinem Rücken immer wieder getuschelt wird, er sei ein verrückter Professor, besessen von einer Vision, einem Mythos. Ich glaube an ihn, nicht nur, weil er mein Vater ist. Es ist so eine Art Bauchgefühl, und ja, auf irgendeine Weise glaube ich, dass wir diesmal sehr nah am Ziel sind.«

    Inzwischen hat sie sich zu Robert gesetzt und schaut wieder, wie auch ihr Gesprächspartner, versonnen zum Mond. Der Himmel ist fast sternenklar, nur ein paar wenige Wölkchen unterbrechen die glitzernde Himmelspracht.

    »Und wenn es doch nur ein Mythos ist? Wenn er seine Insel, von der er so schwärmerisch erzählt, nie finden wird?«

    »Die Geschichte von der versunkenen Insel liegt weit mehr als 10.000 Jahre vor Christi Geburt zurück. Zahlreiche Legenden werden über sie erzählt. Jedoch geriet sie auch eine ganze Zeit lang in Vergessenheit. Es gibt zwei Gruppen von Historikern. Die einen halten sie für eine Erfindung der Antike, die anderen sind von der Existenz dieses Ortes fest überzeugt. Viele haben sich in der Vergangenheit bemüht, die Lage zu lokalisieren, immer wieder ohne Erfolg. Mein Vater geht diesen alten Koordinaten nach, denn inzwischen haben sich die Möglichkeiten einer genaueren Positionsbestimmung um ein Vielfaches verfeinert. Glaubst du nicht auch, dass etwas dran sein muss an dieser Legende, die sich so vehement über Jahrtausende halten kann?«

    »Ich weiß es nicht. Ehrlich gesagt hatte ich bis zu dem Zeitpunkt, zu dem ich deinen Vater kennenlernte, nichts von einer versunkenen Insel gehört. Ich bin Journalist und gleichzeitig Realist. Ich gehe Fakten nach und keinen Spekulationen – bisher jedenfalls. Die begeisternde Beharrlichkeit deines Vaters, als er von seiner Vision erzählte, hat mich jedoch mitgerissen. Keine Ahnung warum, aber ansonsten wäre ich nicht hier und hätte mich nicht auf dieses Abenteuer eingelassen. Abgesehen davon, dass es mir so möglich ist, mit seiner reizenden Tochter diese schöne Nacht zu verbringen.« Robert blickt Josie, die verlegen an ihrem Tuch nestelt, von der Seite an. Sie möchte vom Thema ablenken und fragt unvermittelt nach Emma.

    »Wie lange kennst du Emma schon?«

    »Emma? Sie ist meine Nachbarin, seit ein oder zwei Jahren. Armes Ding, keinen Job, keine Liebe, keine Perspektive. Ich hoffe, dass ihr dieses Abenteuer genug Ablenkung bringt. Im Moment hängt sie ziemlich durch und kommt nicht vor und nicht zurück. Sie muss wohl den Kopf und ihr Herz wieder freibekommen, damit sich Neues entfalten kann, oder?«

    »Ist es so abwegig? Wie verhältst du dich, wenn du in einer Krise steckst?« In diesem Augenblick schaut Josephine direkt in Roberts Augen, sieht aber gleich wieder weg, weil es sie irritiert, von diesem Mann so intensiv angesehen zu werden. Sie würde gern wissen, was ihn wirklich zum Mitkommen bewogen hat.

    Das Schiff ihres Vaters ist wahrlich kein Luxusliner. Man muss auf jeglichen Komfort verzichten. Der Kutter ist alt, und das sieht man ihm nur zu gut an, obwohl der Kapitän ihn sorgsam pflegt. Die Kabinen sind klein und nachträglich mit einer sehr engen Nasszelle ausgestattet worden. Auch die Pritschen sind eher hart und schmal. Selbst die Küche bietet kaum Abwechslung: viel Fisch, der frisch gefangen werden muss, Konserven, Nudeln und was eine große Kühlgefrierkombination so hergibt. Emma hat sich die Kunst des Brotbackens angeeignet. So gibt es jeden Tag frisches Brot, dazu Fett, Marmelade, Wurst, Käse, eingelegtes Gemüse und Obst. An Deck gibt es keinen Swimmingpool, geschweige denn Liegestühle, sondern nur eine Holzbank und schlichte Klappstühle sowie ein altes Fischernetz und diverses Equipment, was man auf solchen Reisen eben so braucht.

    ›Bei Emma liegt es mehr als eindeutig auf der Hand‹, denkt Josie, als sie von Robert aus ihren Gedanken gerissen wird.

    »Nun, ich glaube, ich war in meinem Leben noch nie in einer wirklichen Krise. Ich bin ein Einzelkind. Und alles folgte bisher einem scheinbaren Plan. Ich habe wenige, aber wertvolle Freunde, bis heute. Der Wunsch zu schreiben entstand früh in meiner Kindheit. Buchstaben haben bereits einen Reiz auf mich ausgeübt, als ich noch nicht schreiben und lesen konnte. Ich bin damit, so glaube ich, vielen in meiner Familie auf die Nerven gegangen. Es wäre meinen Eltern bestimmt lieber gewesen, wenn ich, wie andere Kinder, zum Beispiel Fußball gespielt hätte. Nach der Schule studierte ich Journalismus, und dann verschaffte ich mir eine Position in der Welt der sogenannten unabhängigen Berichterstatter. Ich musste, so wie alle anderen auch, Lehrgeld zahlen. Jetzt habe ich meinen Platz gefunden und behaupte, wirklich unabhängig recherchieren und berichten zu können.« Mit diesen Worten wiederholt er, wie immer, wenn er danach gefragt wird, seinen Lebenslauf in knappen Sätzen.

    Josie ist das etwas zu nüchtern, gern würde sie genauer nachfragen, aber sie spürt, dass auch Robert offensichtlich nicht gern über sich selbst redet. ›Gibt es denn keine Frau in seinem Leben?‹ Das würde sie jetzt gerne wissen. Doch die Tochter des Kapitäns respektiert die knappe Schilderung, denn im Grunde lernen sie sich ja erst jetzt genauer kennen. An Bord des Bootes ihres Vaters sind sie sich erst ein- oder zweimal begegnet. Josie hat sich aber sehr zurückgehalten. Robert war ihr in gewisser Weise zu schön, um ein Mann zu sein, der ihr Interesse hätte wecken können. Seine Augen allerdings haben sie von Anfang an irritiert. Aus ihrer Sicht passen sie nicht zum Gesamtbild dieser Person. Sie wirken recht mystisch, der andere Teil des Mannes eher oberflächlich.

    »Wie sieht es denn in deiner Biographie aus? Du bist nicht das erste Mal mit deinem Vater unterwegs, oder? Was ist mit Frau Professor? Ich habe mich bisher nicht getraut, deinen Vater nach ihr zu fragen. Er hat sie nur einmal erwähnt und da merkte ich, dass er unruhig wurde und schnell das Thema wechselte.«

    »Frau Professor, wie du meine Mutter nennst, ist seit sieben Jahren tot. Ich studierte zu diesem Zeitpunkt noch. Mein Paps und meine Ma waren mal wieder auf Reisen. Sie sind, so oft es ihnen möglich war, zusammen losgefahren. Meine Mutter war Meeresbiologin, so wie ich jetzt. Durch einen seiner zahlreichen Vorträge über die versunkene Insel war sie auf meinen Vater aufmerksam geworden. Es war wohl Liebe auf den ersten Blick und der kleine Altersunterschied schien beide nicht zu stören. Sie studierte damals im letzten Semester an der Uni, an der mein Vater einen seiner vielen Vorträge hielt. Auch sie hegte eine stille Sehnsucht nach diesem Ort. Später wurde sie schwanger und sie heirateten. Als ich groß genug war und mich allein mit einer Schwimmweste fortbewegen konnte, folgten wir zusammen den Spuren des Mythos. So habe ich von Anfang an mit dieser Legende zu leben gelernt. Auf diese Weise entstand auch mein Interesse an den Meeren dieses Planeten. Dann kam meine Schulzeit und sie konnten mich nicht immer mitnehmen. Solche Reisen lassen sich nicht auf die Sommerferien beschränken und die anderen Ferien waren zu kurz. Meine Mutter wollte mich auch nicht zu sehr auf diese Legende fixieren. Ich sollte offen und frei selbst für mich herausfinden, was mich interessiert. So blieb Ma bei mir und Paps heuerte, wie davor auch schon, abenteuerlustige Studenten zur Unterstützung an. Meine Mutter und ich unternahmen oft mit meinen Freunden Ausflüge, was Kindern eben so gefällt. Nun ja, als ich älter wurde, ist sie wieder allein mit meinem Vater auf Reisen gegangen und vor sieben Jahren nicht zurückgekommen.« Josie schweigt plötzlich. ›Was bewegt mich dazu, Robert, den ich kaum kenne, so viel von meinem Leben zu erzählen?‹ Sie wundert sich über ihre spontane Offenheit. Das ist wirklich nicht ihre Art, gerade bei Menschen, die ihr eher als nicht verlässlich erscheinen.

    Robert bemerkt, wie das Gespräch zwischen ihnen viel zu schnell aus dem Smalltalk in eine nicht beabsichtigte Richtung läuft und wie sehr es Josie bewegt, von der Vergangenheit zu sprechen – ähnlich wie bei ihrem Vater. Er hüstelt und entschuldigt sich.

    »Das tut mir leid. Ich wollte dich nicht bedrängen. Jetzt

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