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Plädoyer für eine realistische Erkenntnistheorie
Plädoyer für eine realistische Erkenntnistheorie
Plädoyer für eine realistische Erkenntnistheorie
eBook481 Seiten5 Stunden

Plädoyer für eine realistische Erkenntnistheorie

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Über dieses E-Book

In der langen Geschichte der Erkenntnistheorie waren die meisten Philosophen davon überzeugt, den Anspruch auf sichere Wahrheitserkenntnis gut begründen zu können. Welche Antwort die Philosophie auf die Frage nach der Wahrheit gibt, das hat bis heute Einfluss auf Politik und Gesellschaft - manchmal einen so tiefgreifenden wie die Religionen. In diesem Buch werden die Erkenntnistheorien von Descartes, Hume, Kant, Hegel, Gadamer, Habermas und Popper sowie die Evolutionäre Erkenntnistheorie gründlich auf ihren Wahrheitsanspruch geprüft. Das Plädoyer für eine realistische Erkenntnistheorie hat einen doppelten Sinn: unseren Erkenntnisanspruch auf das zu beschränken, was an unserer Welt wenigstens im Prinzip real erfahrbar ist, und die Erfolge unseres Strebens nach Wahrheit auch auf diesem Feld realistisch einzuschätzen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum31. Aug. 2020
ISBN9783347103290
Plädoyer für eine realistische Erkenntnistheorie

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    Buchvorschau

    Plädoyer für eine realistische Erkenntnistheorie - Jürgen Daviter

    Inhaltsverzeichnis

    I. Einleitung:

    Zur Klärung einiger wichtiger Begriffe

    1. Zum Verständnis von Begriffen und Definitionen an sich

    2. Erkenntnis und die philosophische Position des Realismus

    3. Begriff der Wahrheit

    4. Wahrheit, Gewissheit und Sicherheit der Erkenntnis

    5. Realität, Objektsprache und Metasprache

    II. Descartes’ Erkenntnistheorie:

    Der Beginn der Moderne

    1. Kurzer Abriss der Erkenntnistheorie nach der Abhandlung

    2. Vertiefung der Erkenntnistheorie nach den Meditationen

    3. Kritische Würdigung

    (1) Das Fehlen eines gültigen Wahrheitskriteriums

    (2) Die besondere Beweisnot in Bezug auf die Existenz Gottes

    (3) Die Sonderstellung des cogito, ergo sum

    (4) Abschließende Bemerkungen

    III. Humes Erkenntnistheorie:

    Die Entzauberung kausaler Gewissheiten

    1. Vorbemerkung zu den Originalquellen

    2. Der radikale Bruch mit der „alten" Metaphysik

    3. Unsere „lebhaften Perzeptionen" als Grundlage der Ideen

    4. Zweifel an der Erkennbarkeit der Kausalität: Der Kern von Humes Erkenntnistheorie

    5. Skeptische Lösung dieser Zweifel

    6. Zusammenfassung und kritische Schlussbemerkungen

    (1) Zur Nichterkennbarkeit der Kausalität

    (2) Zu Humes Anerkennung der Kausalität und merkwürdigen Zweifeln daran

    (3) Zu einer Präzisierung Humescher Kausalvorstellungen

    (4) Humes Ideen zur empirischen Forschung

    IV. Kants Erkenntnistheorie:

    Der Versuch, Humes Skeptizismus zu überwinden

    1. Kants erkenntnistheoretisches Projekt

    2. Grundsteine der Kritik der reinen Vernunft

    3. Erkenntnis als sicheres Wissen über Naturgesetze

    4. Die besondere Bedeutung der Kausalität

    5. Zur Begründung der Kausalität als Verstandesbegriff a priori

    6. Zu Grenzen des Kausalitätsprinzips für die konkrete Naturerkenntnis

    Exkurs: Axiomatische Theoriensysteme

    V. Hegels Weltdeutung:

    Ein Rückfall in die traditionelle Metaphysik

    1. Vorbemerkung zur erkenntnistheoretischen Bedeutung der Hegelschen Philosophie und zum inhaltlichen Aufbau des Kapitels

    2. Grundannahmen von Hegels Weltinterpretation

    (1) Der Weltgeist und seine Identität mit der Wirklichkeit

    (2) Identität von Wirklichkeit und Vernunft

    (3) Dialektik

    (4) Kritischer Kommentar

    3. Hegels Erkenntnistheorie

    (1) Zu den Vorstellungen von Begriff und Wahrheit

    (2) Zu den Vorstellungen vom Erkenntnisprozess

    4. Vertiefung einiger problematischer Aspekte der Hegelschen Metaphysik

    (1) Zur teleologischen Weltinterpretation

    (2) Zu sozialen Einheiten als Ganzheiten

    (3) Zum Zusammenhang zwischen Teleologie, ganzheitlichem Denken und Dialektik

    (4) Zum Zusammenhang von Sein und Sollen

    5. Descartes, Kant, Hume und Hegel im erkenntnistheoretischen Vergleich

    Exkurs: Notizen zu Hegels Erbe bei Marx und Horkheimer

    VI. Gadamers Hermeneutik:

    Verstehen als Wahrheitssuche

    1. Ein paar Vorbemerkungen zur Hermeneutik im Allgemeinen

    (1) Ein kurzes und abschließendes Wort zu Heidegger

    (2) Gegenstände, Facettenreichtum und erkenntnistheoretische Fragen zur Hermeneutik

    (3) Giambattista Vicos Entdeckung des besonderen Wissens: Zur Entstehung der Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften

    (4) Was unter Verstehen verstanden wird

    2. Wie das Verstehen gelingen soll

    (1) Der hermeneutische Zirkel als Grundform aller Verstehensbewegung

    (2) Erhebung der Geschichtlichkeit des Verstehens zum hermeneutischen Prinzip

    (3) Der Begriff der Erfahrung, das Wesen der hermeneutischen Erfahrung, das wirkungsgeschichtliche Bewusstsein und die Überlieferung als ein Du

    3. Zur besonderen Bedeutung der Sprache

    (1) Sprache und Verstehen

    (2) Sprache als Weltansicht

    (3) Der Geschehenscharakter des Verstehens aus der Mitte der Sprache heraus

    (4) Der universale Aspekt der Hermeneutik

    4. Erkenntnistheoretische Bewertung der Hermeneutik

    (1) Vorstellungen von Wahrheit

    (2) Zum Umgang mit dem korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff

    (3) Wahrheitssuche ohne Wahrheitskriterium

    (4) Zur Idee der Wahrheit in Sprache und Begriffen und ihre naturwissenschaftliche Gegenposition

    (5) Zum Sinnverstehen

    (6) Zur Überlieferung als einem Du

    (7) Zum Verstehen durch Horizontverschmelzung im wirkungsgeschichtlichen Bewusstsein

    (8) Der hermeneutische Zirkel als Problem der Allgemeingültigkeit der Erfahrung

    1. Exkurs: Verstehen und Erklären in den Naturund Geisteswissenschaften

    2. Exkurs: Carnaps Stellungnahme zur hermeneutischen Methode des Verstehens

    5. Schlussbemerkung

    VII. Habermas’ Konsenstheorie der Wahrheit:

    Die Überforderung des Diskurses

    1. Zum Anlass und Anspruch der Konsenstheorie

    2. Kompetenz der Diskursteilnehmer und ideale Sprechsituation als Bedingungen für die Wahrheit des Konsenses

    (1) Zur Kompetenz der Diskursteilnehmer

    (2) Zur idealen Sprechsituation

    3. Kritische Schlussbetrachtung

    VIII. Poppers Kritischer Rationalismus:

    Nach allem Scheitern der Letztbegründung

    1. Grundgedanken des Kritischen Rationalismus

    2. Das Induktionsproblem und Poppers „Lösung"

    3. Falsifikationstaugliche Beobachtungsaussagen

    4. Empirische Unmöglichkeit einer endgültig sicheren Falsifikation

    5. Vergleich der empirischen Unmöglichkeit von Verifikation und Falsifikation

    6. Zu erkenntnistheoretischen Implikationen

    7. Zur gesellschaftlichen Bedeutung

    (1) Zum Skeptizismus

    (2) Zum Dogmatismus

    (3) Zum Relativismus

    IX. Evolutionäre Erkenntnistheorie:

    Erkenntnisvermögen naturwissenschaftlich betrachtet

    1. Die wichtigsten Gesetzesannahmen

    2. Zur Art und Begründung der Erkenntnistheorie sowie zum Vorwurf ihrer Zirkularität

    3. Die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt

    4. Zur Reichweite

    Exkurs: Kants unvollendeter Weg zur Evolutionären Erkenntnistheorie

    X. Schlusswort

    Literaturverzeichnis

    I. Einleitung:

    Zur Klärung einiger wichtiger Begriffe

    Laß dich nie dazu verleiten, Probleme ernst zu nehmen, bei denen es um Worte und ihre Bedeutung geht. Was man ernst nehmen muß, sind Fragen und Behauptungen über Tatsachen: Theorien und Hypothesen; die Probleme, die sie lösen; und die Probleme, die sie aufwerfen.

    Karl R. Popper

    Das Motto ist programmatisch für dieses Kapitel ebenso wie für die ganze Abhandlung, obwohl es scheint, als ob der Zweck schon allein dieses Kapitels dazu im Widerspruch stünde; denn da es darin um die Klärung von Begriffen geht, geht es doch offensichtlich um „Worte und ihre Bedeutung". Der Widerspruch ist leicht aufzulösen. Wörter und ihre Bedeutung werden zum Problem, wenn man sich etwa fragt, was Wörter im Sinne von Begriffen wirklich bedeuten. In diesem Kapitel soll demgegenüber nur geklärt werden, wie im folgenden Text immer wieder auftretende zentrale Begriffe verstanden werden sollten. Es geht also gar nicht um Probleme im Zusammenhang mit Wörtern, sondern einfach um Vorschläge zur Definition von Begriffen und zu ihrem Gebrauch.

    Wie der folgende erste Abschnitt zeigen soll, ist damit allerdings auch schon eine Vorentscheidung zum Verständnis von Begriffen an sich gefallen. Denn ob Begriffen tatsächlich eigene Wirklichkeitsbedeutungen zukommen, ist eine uralte erkenntnistheoretische Frage, die die ganze Abhandlung wie ein roter Faden durchziehen wird.

    1. Zum Verständnis von Begriffen und Definitionen an sich

    Begriffe und Definitionen hatten in der Philosophie und speziell in der Erkenntnistheorie von alters her ganz unterschiedliche Bedeutungen und Funktionen, und dabei ist es bis heute geblieben. Es gibt einerseits die im Vorspann kurz erwähnte nominalistisch genannte Praxis, Begriffe lediglich zu definieren: Der Begriff wird ohne jeden Erkenntnisanspruch inhaltlich beschrieben oder festgelegt; Dinge haben oder bekommen einen Namen. Bei der entgegengesetzten sogenannten essentialistischen Position geht man davon aus, dass Begriffe Wesensbeschreibungen sind, in denen die wahre Natur der durch sie bezeichneten Dinge zum Ausdruck kommt. Anders als beim Nominalismus stecken in solchen Begriffen also Aussagen über die Wirklichkeit; sie sind deswegen erkenntnistheoretisch relevant und problematisch.

    Der Nominalismus könnte leicht in den Verdacht von Beliebigkeit und Willkür geraten. Doch volle Wahlfreiheit im Gebrauch von Begriffen haben wir nur in besonderen Fällen, z. B. wenn es um in der Natur neu entdeckte Dinge geht, wie z. B. schwarze Löcher, Galaxien oder Neutrinos, oder aber wenn Phänomene benannt werden sollen, an deren mögliche Existenz bis dahin nicht gedacht wurde wie z. B. in der Psychoanalyse Freuds das Über-Ich, das Ich und das Es. Auch wissenschaftliche oder juristische Operationalisierungen fallen, wie schon der Begriff andeutet, weitgehend unter die Entscheidungsfreiheit. Wenn z. B. im Strafrecht der Begriff des Jugendlichen auf ein bestimmtes Alter begrenzt wird, folgt man dabei zwar u. a. einer gewissen Vorstellung davon, bis zu welchem Alter man bei der Bemessung von Strafen aus Altersgründen mildernde Umstände walten lassen sollte. Man kann aber doch keine wesensmäßige Grenze zwischen Jugend und Erwachsensein zugrunde legen, sondern muss sich für eine Altersgrenze entscheiden. Abgesehen von solchen Beispielen haben sich die in unseren Begriffen liegenden inhaltlichen Vorstellungen meistens im Laufe der kulturellen Evolution der Sprache nach und nach herausgebildet, weil die Menschen darauf angewiesen waren, für einander gleiche oder gleich erscheinende Dinge und Prozesse jeweils bestimmte und möglichst immer gleiche Wörter zu gebrauchen, zunächst um überhaupt lebensnützliche Informationen austauschen zu können (s. dazu Kapitel VI, 7. [3] sowie das IX. Kapitel), später um sich auch in den höheren Formen des Gedankenaustauschs möglichst irrtumsfrei verständigen zu können. Was dabei herausgekommen ist, kann man herrschenden, konventionellen Sprachgebrauch nennen, den es in Fachsprachen ebenso gibt wie im Alltag. In diesem Sprachgebrauch drückt sich oft auch ein Weltbild aus; aber ebenso wie mit den oben genannten „freien" Begriffsbildungen werden mit ihm keinerlei erkenntnistheoretische Ansprüche verknüpft.

    Die essentialistische Begriffsauffassung¹ ist demgegenüber erkenntnistheoretisch anspruchsvoll. Sie hat die längste Zeit über und bis in die jüngste Vergangenheit hinein die zweieinhalb Jahrtausende alte Geschichte der abendländischen Philosophie dominiert. Popper fasst diese Auffassung folgendermaßen kurz zusammen: „Die philosophische Richtung, die ich methodologischen Essentialismus nennen möchte, wurde von Aristoteles begründet, der lehrte, daß die wissenschaftliche Forschung zum Wesen der Dinge vordringen muß, um sie zu erklären. Die methodologischen Essentialisten haben die Neigung, wissenschaftliche Fragen so zu formulieren: Was ist Materie? Was ist Kraft? Was ist Gerechtigkeit? Und sie glauben, daß eine gründliche Beantwortung solcher Fragen, die die wahre und wesentliche Bedeutung dieser Begriffe und damit die wahre Natur der durch sie bezeichneten Essenzen enthüllt, zumindest eine notwendige Voraussetzung wissenschaftlicher Forschung, wenn nicht überhaupt deren Hauptaufgabe ist."²

    Anders als manche seiner Nachfolger hatte Aristoteles allerdings die komplexen erkenntnistheoretischen Konsequenzen eines essentialistischen Begriffsgebrauchs klar im Blick.³ Für ihn war unabdingbar, dass wir unsere Erkenntnisse beweisen müssen, wenn wir sie für wahr erklären wollen; und er wusste, dass beweisen ein Schlussverfahren ist, das einen sicheren Ausgangspunkt haben muss: „ Daß man nun nichts durch Beweis wissen kann, wenn man nicht seine ersten und unvermittelten Prinzipien kennt, steht von früher her fest." Den Ausgangspunkt für Beweise sah er also in sogenannten unvermittelten Prinzipien, solchen, die keines Beweises mehr bedürfen. Das genau waren die wesenhaften Naturen der Begriffe. Aristoteles brauchte natürlich eine Lösung dafür, wie wir diese unvermittelten Prinzipien denn für wahr halten können, wenn wir für sie doch keine Beweise haben. Er sah die halbe Lösung in einem Induktionsverfahren (s. im VIII. Kapitel unter 2.), das er aber nicht für ein vollgültiges Beweisverfahren hielt. So griff er am Ende auf die Vorstellung zurück, die Wahrheit läge in der Vernunft begründet, also in einem rein geistigen Vermögen, das man in diesem Fall am besten als Intuition versteht.

    Was Wörter „eigentlich sind und bedeuten", diese Frage wurde schon vor Aristoteles in der griechischen Philosophie erörtert, und zwar in Platons Kratylos, einer Schrift, die Gadamer „die Grundschrift des griechischen Denkens über Sprache"⁴ nennt. Dort steht auch schon genau die Alternative zur Diskussion, die hier unter den Begriffen Nominalismus als konventionelle Festlegung der Bedeutung von Wörtern und Essentialismus als Beschreibung des Wesens der Dinge durch Wörter vorgestellt wurde. Gadamer nennt die Alternative etwas anders, nämlich Konventionalismus (im Sinne von Begriffsdefinition als Namensgebung) und Ähnlichkeitstheorie (im Sinne der natürlichen Übereinstimmung von Wort und Sache), und er weist darauf hin, dass „die griechische Philosophie geradezu mit der Erkenntnis eingesetzt [hat], daß das Wort nur Name ist, d. h. daß es nicht das wahre Sein vertritt"⁵. Im Kratylos, in dem Platon Sokrates im Dialog den alternativen Charakter von Wörtern erörtern lässt, wird das Problem nicht eindeutig geklärt. Gadamer glaubt aber die Absicht Platons erkannt zu haben: „Nun scheint mir Platos Absicht ganz klar – und das kann angesichts der nie aufhörenden Usurpation des >Kratylos< für die systematischen Probleme der Sprache gar nicht genug betont werden: Plato will mit dieser Diskussion der zeitgenössischen Sprachtheorien zeigen, daß in der Sprache, in dem Anspruch auf Sprachrichtigkeit … keine sachliche Wahrheit … erreichbar ist …"⁶

    In diesem Sinne könnte Platons Kratylos als eine frühe Parteinahme für den bescheidenen, erkenntnistheoretisch harmlosen Standpunkt des Nominalismus angesehen werden. Sie hätte dann aber keine bleibende Bedeutung gehabt; denn sein Schüler Aristoteles legte sich mit nachhaltiger Wirkung auf ein essentialistisches Begriffsverständnis fest, das bis ins hohe Mittelalter vorherrschte. Von Descartes, Hume und Kant sowie im Kritischen Rationalismus und in der Evolutionären Erkenntnistheorie wird es ausdrücklich abgelehnt. In Hegels Philosophie und noch in Gadamers Sprachverständnis und in seiner ganzen Hermeneutik spielt es aber eine herausragende Rolle und wird in den beiden Kapiteln ausführlich zu erörtern sein.

    An dieser Stelle sollte die große erkenntnistheoretische Bedeutung des alternativen Umgangs mit Begriffen nur erst aufgezeigt werden. Poppers ganze Verzweiflung über den Essentialismus lässt sich erahnen, wenn man seinen Kommentar dazu liest: „Das Problem der Definitionen und des «Sinnes der Begriffe» … war eine unerschöpfliche Quelle von Verwirrung und jener eigentümlichen Kunst des Wortemachens, die sich im Geiste Hegels mit dem Historizismus vereinigte und dadurch jene giftgeschwängerte intellektuelle Zeitkrankheit erzeugte, die ich die orakelnde Philosophie nenne. Es ist außerdem … die Quelle all des wortreichen und leeren Scholastizismus, der nicht nur im Mittelalter sein Unwesen trieb, sondern auch unsere zeitgenössische Philosophie heimsucht; …⁷ Was es mit der „orakelnden Philosophie auf sich hat, wird ganz besonders im Hegel-Kapitel zur Diskussion stehen müssen.

    In seinen eigenen Ausführungen verwendet der Verfasser Begriffe ausschließlich im nominalistischen Sinne. Darin liegt eine praktische Vorentscheidung, weil ein Autor die Bedeutung seiner eigenen Sprache nicht in der Schwebe halten sollte.

    2. Erkenntnis und die philosophische Position des Realismus

    Erkenntnis wird umgangssprachlich regelmäßig als sichere Erkenntnis verstanden, wobei aber doch die Sicherheit der Erkenntnis gerade das zentrale Problem jeder Erkenntnistheorie ist. Um Missverständnisse zu vermeiden, könnte man an Stelle von Erkenntnis zunächst einmal von Wissen sprechen; doch auch Wissen bedeutet semantisch eigentlich sicheres Wissen.⁸ Demgegenüber sollen Wissen und Erkenntnis hier zunächst als gut begründetes, d. h. möglichst methodisch gewonnenes sowie bewährtes Vermutungswissen über die Welt verstanden werden. Ob man über die zurückhaltende Position des Vermutungswissens hinauskommen kann, das ist die Kernfrage dieses Buches, und dazu werden im Folgenden verschiedene erkenntnistheoretische Denkansätze kritisch erörtert.

    In jedem Fall setzt auch ein so verstandenes Wissen voraus, dass es eine reale Welt gibt und dass diese Welt nicht chaotisch ist. In diesem Sinne werden Objekte und ihre Eigenschaften, Zustände, Prozesse und Ereignisse erforscht, und es wird gefragt, aus welchen Gründen die Dinge so sind, wie sie sind, und sich so verhalten, wie sie es tun. Das Wissen darüber besteht aus Kenntnissen (Annahmen) über systematische, gesetzmäßige Zusammenhänge, also über Ursachen und ihre Wirkungen. Man sieht: Die Voraussetzung einer nicht chaotischen Welt ist für jede Erkenntnis zwingend, weil es in einer chaotischen Welt keine Gesetzmäßigkeiten geben könnte, man aus ihr also auch nichts lernen und von ihr nichts wissen könnte.

    Die Ansicht, dass es eine wirkliche Welt mit ebenso wirklichen Dingen und Ereignissen gibt, nennt man Realismus, oft auch ganz bescheiden hypothetischen Realismus, denn es ist eine philosophische Position, die selbst nicht beweisbar ist (dazu Näheres insbesondere im Kapitel über Hume). Der hypothetische Realismus „sieht selbst die Existenz der Welt nur als eine (wohlbegründete) Vermutung an und versucht, Argumente zur Stützung dieser Hypothese zu finden.⁹ Es sollte allerdings leicht fallen, solchen Argumenten zu vertrauen, denn „[a]ller Realismus im Sinne einer realistischen Grundhaltung ist Ausdruck der fundamentalen Tatsache, dass ohne die Annahme einer realen, wirklich existierenden Welt (= Summe realer Vorkommnisse) unser gesamter Lebenszusammenhang, alle Erfahrungen, Handlungen sowie der Umstand, daß wir miteinander kommunizieren (können), nicht nur sinnentleert, sondern gänzlich unbegreiflich wäre.¹⁰ Und Hume schreibt: „Es scheint offenkundig, dass die Menschen durch einen natürlichen Instinkt oder eine Voreingenommenheit zum Vertrauen in ihre Sinne gebracht werden, und dass wir ohne jegliches Denken, ja selbst fast vor dem Gebrauch der Vernunft, immer eine Außenwelt annehmen, die nicht von unserer Perzeption abhängt, sondern auch existieren würde, wenn wir und jedes vernünftige Geschöpf nicht vorhanden oder vernichtet worden wären."¹¹

    Aus all diesen guten Gründen hat Nicolai Hartmann seine Grundzüge der Metaphysik der Erkenntnis mit dem Satz begonnen: „Die nachstehenden Untersuchungen gehen von der Auffassung aus, dass Erkenntnis nicht ein Erschaffen, Erzeugen, oder Hervorbringen des Gegenstandes ist, wie der Idealismus alten und neuen Fahrwassers uns belehren will, sondern ein Erfassen von etwas, das auch vor aller Erkenntnis und unabhängig von ihr vorhanden ist."¹² In der Evolutionären Erkenntnistheorie findet diese Position des hypothetischen Realismus und eine darin eingebettete Erkenntnistheorie übrigens eine eindrucksvolle empirische Unterstützung (s. dazu das letzte Kapitel).

    3. Begriff der Wahrheit

    Ist auf diese Weise die Existenz einer realen, nichtchaotischen Welt vorausgesetzt, lässt sich eine nachvollziehbare Definition des Begriffs der Wahrheit vorschlagen: Ein Satz ist wahr, wenn er mit den Tatsachen oder mit der Wirklichkeit übereinstimmt, mit ihr „korrespondiert: „Die Aussage ‚Schnee ist weiß‘ ist wahr genau dann, wenn Schnee weiß ist.¹³ Diese Konzeption der Wahrheit wird von Alfred Tarski, ihrem modernen Begründer, „Korrespondenztheorie der Wahrheit" genannt (obwohl Tarski selber den Begriff nicht für sich reklamiert, s. Tarski, S. 143). Es ist ganz wichtig, genau zu verstehen, was es mit der Korrespondenztheorie der Wahrheit auf sich hat; denn der Begriff wird oft überinterpretiert. Tarski selbst nennt das Hauptproblem seines Aufsatzes eine befriedigende Definition des Begriffs der Wahrheit: „Unsere Diskussion kreist um den Begriff der Wahrheit. Das Hauptproblem ist eine befriedigende Definition dieses Begriffs, …" (Tarski, S. 141.) Es geht also um einen Vorschlag darüber, wie man den Begriff der Wahrheit verstehen sollte, nicht um die erkenntnistheoretisch letztlich entscheidende Frage, wie wir die Wahrheit über die Dinge herausfinden können, ob es also sichere Kriterien der Wahrheit gibt.

    Die Korrespondenztheorie der Wahrheit hat eine sehr alte Tradition; sie reicht mindestens bis auf Aristoteles zurück: Tarski (S. 142 f.) möchte, dass seine „Definition den Intuitionen der klassischen aristotelischen Konzeption der Wahrheit gerecht wird – die ihren Ausdruck in den wohlbekannten Worten der Metaphysik des Aristoteles finden: Von etwas, das ist, zu sagen, daß es nicht ist, oder von etwas, das nicht ist, daß es ist, ist falsch, während von etwas, das ist, zu sagen, daß es ist, oder von etwas, das nicht ist, daß es nicht ist, wahr ist. " Auch Kant ist ein Vertreter dieser korrespondenztheoretischen Version der Wahrheit: „Was ist Wahrheit? Die Namenerklärung der Wahrheit, daß sie nämlich die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande sei, wird hier geschenkt, und vorausgesetzt; man verlangt aber zu wissen, welches das allgemeine und sichere Kriterium der Wahrheit einer jeden Erkenntnis sei."¹⁴ Auch Kant unterscheidet also ausdrücklich zwischen Namenerklärung, also Definition des Begriffs der Wahrheit, und Kriterium der Wahrheit, also dem, woran man das Vorliegen der Wahrheit erkennen kann.

    Die Implikationen des korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriffs hat Bertrand Russell mit den folgenden drei Aspekten umrissen: „1) Unsere Theorie muß auch das Gegenteil der Wahrheit, die Falschheit, zulassen. … 2) … In der Tat sind Wahrheit und Falschheit Eigenschaften von Meinungen und Aussagen, deshalb könnte eine bloß materielle Welt – eben weil sie keine Meinungen oder Aussagen enthielte – auch keine Wahrheit oder Falschheit enthalten. 3) Des eben Gesagten ungeachtet müssen wir daran festhalten, daß die Wahrheit oder Falschheit einer Meinung immer von etwas abhängt, das außerhalb der Meinung selbst liegt."¹⁵ „[D]ie Idee der Wahrheit … kann als die Idee der zutreffenden Darstellung von Sachverhalten aufgefaßt werden, …¹⁶ Um zu guter Letzt zwei weitere Beispiele für diesen Gebrauch des Begriffs der Wahrheit zu bringen, hier zunächst die Version von Maimon, einem Zeitgenossen Kants: „Wahrheit ist das Verhältnis der Übereinstimmung zwischen dem Zeichen und bezeichneten Dinge, …¹⁷ Und Kant selbst schreibt: „Wahrheit aber beruht auf der Übereinstimmung mit dem Objekte, in Ansehung dessen folglich die Urteile eines jeden Verstandes einstimmig sein müssen."¹⁸

    So klar verständlich und einleuchtend die korrespondenztheoretische Version des Wahrheitsbegriffs auch scheinen mag, so sehr ist sie doch in den Strudel großer Begriffsverwirrungen geraten. Das liegt daran, dass die Frage, was wir unter dem Begriff ‚wahr‘ verstehen sollten, mit dem Problem vermischt wurde, wie wir feststellen können, was wahr ist. Ein Ausgangspunkt der Kritik am korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff ist, dass in ihm eine Beziehung zwischen einem Satz, also Sprache, und der Wirklichkeit hergestellt wird. Und der diesbezügliche Einwand lautet, dass auch die Wirklichkeit selber nicht anders als sprachlich dargestellt werden kann: Es gibt für die Wahrnehmung des Menschen keine „nackte", an sich bestehende Wirklichkeit, an der dann die Wahrheit der Aussage überprüft werden könnte, sondern eine immer schon sprachlich formulierte Wirklichkeit. Habermas nennt die Wirklichkeit folgerichtig und griffig „sprachimprägniert und stellt diese anerkannte Tatsache kritisch der „Intuition [gegenüber], von der das ontologische Paradigma gelebt hatte: daß die Wahrheit der Urteile durch eine in der Wirklichkeit selbst begründete Korrespondenz mit der Wirklichkeit verbürgt ist¹⁹. „Weil wir unsere Sätze mit nichts konfrontieren können, was nicht selber schon sprachlich imprägniert ist, lassen sich keine Basisaussagen auszeichnen, die in der Weise privilegiert wären, dass sie sich von selbst legitimieren und als Grundlage einer linearen Begründungskette dienen könnten."²⁰

    Der korrespondenztheoretische Wahrheitsbegriff wird also mit dem Argument kritisiert, dass er keinen gangbaren Weg zur Wahrheit eröffne. Dadurch wird die Diskussion über den Begriff der Wahrheit ohne Not mit der Diskussion über Wahrheitskriterien verbunden. Sinnfällig kommt diese Vermischung darin zum Ausdruck, dass Habermas in dem zitierten Kapitel Abschnitte über den semantischen, epistemischen und pragmatischen Wahrheitsbegriff bringt, sich darin aber vorrangig über die Erreichbarkeit der Wahrheit auslässt. Der Wahrheitsbegriff wird also bereits mit Problemen belastet, die er selber gar nicht aufwirft: Der korrespondenztheoretische Wahrheitsbegriff sagt nichts darüber aus – und will und soll es auch gar nicht –, ob und auf welche Weise „die Wahrheit der Urteile … verbürgt ist". Beim Begriff der Wahrheit geraten Rechtfertigungsprobleme, das Hauptthema im zitierten Habermas-Aufsatz, also noch gar nicht ins Blickfeld. Dennoch führt bei Habermas und Apel die Kritik am korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff geradenwegs zu ihrem Konzept der Diskurstheorie, um der Sprache und der sprachlichen Verständigung bei der Wahrheitssuche den ihrer Meinung nach gebührenden Platz zu geben (s. ausführlich dazu Kapitel VII über die Konsenstheorie der Wahrheit).

    Demgegenüber sollte unbedingt an der reinen Vorstellung der Wahrheit als Idee der zutreffenden Darstellung von Sachverhalten festgehalten werden, auch wenn keine Garantie für die Entdeckung der Wahrheit damit verbunden werden kann. Mehr noch: Die vielen zitierten Beispiele belegen, dass wir auch tatsächlich, und gerade in der Philosophie, immer schon eine Idee der Wahrheit hatten, ohne damit das Problem der Wahrheitsfindung zu verbinden. Ohne eine solche Idee könnten wir weder im praktischen Leben noch in der Erkenntnistheorie noch in der Wissenschaft auskommen: Wir wüssten sonst nicht einmal, wonach wir suchen und was wir tun sollten.

    Schließlich finden wir im Kritischen Rationalismus sogar ein starkes Plädoyer für die Vernunft der Wahrheitsidee, obwohl er die Wahrheit als unerreichbar beschreibt. Unter anderem sehen Kritische Rationalisten eine letztlich unüberwindbare Hürde in demselben Phänomen, das Habermas als Sprachimprägniertheit der Wirklichkeit bezeichnet, wenn sie nämlich anerkennen, dass Sinneswahrnehmungen Anpassungsreaktionen und daher Deutungen seien, dass es also keine reine Wahrnehmung, kein reines Datum, geben könne, und dass alle Begriffe von Theorien und Mythen durchsetzt seien (s. ausführlich VIII. Kapitel unter 4.). Und dennoch bleibt die Vernunft einer Idee der Wahrheit von allen Problemen des Nachweises der Wahrheit unberührt.

    Gegenüber der hier vorgeschlagenen Konzeption der Wahrheit im Sinne einer bestimmten Definition des Begriffs der Wahrheit finden wir insbesondere bei Hegel, aber auch noch in manchen zeitgenössischen Denkansätzen, eine ganz andere, geradezu entgegengesetzte Vorstellung von Wahrheit: Hegel schreibt: „Es ist aber nicht schwer einzusehen, daß die Manier, einen Satz aufzustellen, Gründe für ihn anzuführen und den entgegengesetzten durch Gründe ebenso zu widerlegen, nicht die Form ist, in der die Wahrheit auftreten kann. Die Wahrheit ist die Bewegung ihrer an ihr selbst, jene Methode aber ist das Erkennen, das dem Stoffe äußerlich ist.²¹ „Es ist der Prozeß, der sich seine Momente erzeugt und durchläuft, und diese ganze Bewegung macht das Positive und seine Wahrheit aus.²² Da Hegel Begriffe (also Sprache) und Wirklichkeit einander gleichsetzt (s. u. Kapitel V.3.[1]), kann er auch die Wahrheit als eine Eigenschaft der Sache selbst verstehen: Für ihn sind Dinge an sich wahr: „… die Sache ist; und sie ist, nur weil sie ist; sie ist, dies ist dem sinnlichen Wissen das Wesentliche, und dieses reine Sein oder diese einfache Unmittelbarkeit macht ihre Wahrheit aus.²³ Das reine Sein selbst macht in seiner Unmittelbarkeit seine eigene Wahrheit aus, die Wahrheit liegt also im „Wesen der Dinge selbst: ein Beispiel für die Vorstellung, die oben unter 1. (1) als essentialistisch bezeichnet und beschrieben wurde.

    Dass Wahrheit und Falschheit demgegenüber als objektive Eigenschaften von Sätzen angesehen werden sollten, drückt Gottlob Frege so aus: „Man muss, wie mir scheint, daran erinnern, daß ein Satz ebensowenig aufhört, wahr zu sein, wenn ich nicht mehr an ihn denke, wie die Sonne vernichtet wird, wenn ich die Augen schließe.²⁴ Russell mag das Schlusswort in dieser Darstellung der kontroversen Ansichten zum Begriff der Wahrheit haben: „Nachdem wir nun festgestellt haben, was ‚Wahrheit‘ und ‚Falschheit‘ bedeuten, müssen wir überlegen, auf welche Weise sich erkennen läßt, ob diese oder jene uns vorgetragene Meinung wahr oder falsch ist.²⁵ „Vorgetragene Meinung kann man ersetzen durch „in einem Satz formulierte Sachbehauptung. In diesem nicht-hegelianischen Sinne soll von nun an klar unterschieden werden zwischen dem Begriff der Wahrheit im Sinne der Korrespondenztheorie (Was heißt „wahr"?) einerseits und dem eigentlichen erkenntnistheoretischen Problem andererseits, nämlich möglichst herauszufinden, was wir im Prinzip und in konkreten Fällen als wahr betrachten dürfen (Was ist wahr?).²⁶

    4. Wahrheit, Gewissheit und Sicherheit der Erkenntnis

    Wahrheit und Licht sind sich überall gleich, nur der Irrtum hat tausend Gestalten.

    Isaiah Berlin

    Der Begriff der Wahrheit verlangt eine Abgrenzung zum Begriff der Gewissheit. Der korrespondenztheoretische Begriff der Wahrheit zielt auf Objektivität und Allgemeingültigkeit: Wenn wir von einer nicht-chaotischen realen Welt ausgehen, dann muss es wahre Aussagen über die Welt geben, und zwar völlig unabhängig davon, wer sie äußert, wann sie geäußert wurden, und genauso unabhängig davon, ob wir wissen oder davon überzeugt sind, dass eine Aussage wahr ist, oder nicht.

    Wir können von der Wahrheit einer Aussage überzeugt sein, ihrer gewiss sein; trotzdem können andere zur selben Zeit von der Falschheit derselben Aussage überzeugt sein. Und nicht selten gibt es für die beiden einander widersprechenden Standpunkte gute Gründe. Also kann die jeweilige Überzeugung an sich nicht sicher objektiv wahr, also allgemeingültig sein. Gewissheit wird oft auch etwas unscharf mit subjektiver Wahrheit gleichgesetzt; das folgende Zitat soll deutlich machen, dass es sich dabei um dasselbe Problem handelt: „Eine von irgend einem besondern denkenden Wesen erkannte Wahrheit ist in so fern bloß eine subjektive Wahrheit: wird sie aber von demselben so erkannt, daß sie auch von jedem denkenden Wesen überhaupt … dafür erkannt werden muß, so ist sie eine objektive Wahrheit.²⁷ Man kann in diesem Zusammenhang genauso gut auch vom Fürwahrhalten reden: „Der Irrtum, der Aberglaube hat ebenso seine Ursachen wie die richtige Erkenntnis. Das Fürwahrhalten des Falschen und das Fürwahrhalten des Wahren kommen beide nach psychologischen Gesetzen zustande. Eine Ableitung aus diesen und eine Erklärung eines seelischen Vorganges, der in ein Fürwahrhalten ausläuft, kann nie einen Beweis dessen ersetzen, auf das sich dieses Fürwahrhalten bezieht.²⁸

    Subjektive Wahrheit – genau genommen ein Widerspruch in sich – im Sinne von Gewissheit, Überzeugung oder Fürwahrhalten ist erkenntnistheoretisch und wissenschaftlich belanglos. „Der Umstand, daß ein Satz einigen oder sogar allen Menschen «selbstevident» zu sein scheint, d. h. der Umstand, daß einige Menschen oder alle Menschen fest an seine Wahrheit glauben und seine Falschheit undenkbar finden, dieser Umstand ist kein Grund für die Wahrheit des Satzes. (Wenn uns die Falschheit eines Satzes undenkbar zu sein scheint, so ist das oft nur ein Grund für den Verdacht, daß unsere Vorstellungskraft mangelhaft oder unentwickelt ist.) Es ist einer der schwersten Irrtümer, wenn eine Philosophie die Selbstevidenz eines Satzes als ein Argument zugunsten seiner Wahrheit anführt; aber so gehen fast alle idealistischen Philosophen vor. Was zeigt, daß idealistische Philosophien oft Apologien sind für gewisse dogmatische Glaubensannahmen.²⁹ Auch Reichenbach hat das Streben nach Gewissheit mehr als nüchtern beurteilt: „Die Suche nach Gewißheit ist eine der gefährlichsten Irrtumsquellen, weil sie mit der Behauptung einer höheren Art von Erkenntnis verbunden ist.³⁰

    Der Unterschied zwischen Wahrheit und Gewissheit ist schon vor zweieinhalbtausend Jahren Xenophanes (ungefähr 565-470) bewusst gewesen, wie er es in den folgenden Zeilen beschreibt:

    „Selbst wenn es einem auch glückt,

    Die vollkommenste Wahrheit zu künden,

    Wissen kann er sie nie:

    Es ist alles durchwebt von Vermutung."³¹

    Wenn man von der erkenntnistheoretischen Hypothese absieht, die in diesen Zeilen steckt (und die hier noch nicht zur Diskussion steht), dann kann man sich auf folgenden Gedanken konzentrieren: „Xenophanes lehrt hier, daß etwas, das ich sage, wahr sein kann, ohne daß ich oder sonst jemand weiß, daß es wahr ist. Das heißt aber, daß die Wahrheit objektiv ist: Wahrheit ist die Übereinstimmung dessen, was ich sage, mit den Tatsachen, ob ich nun weiß oder nicht, daß diese Übereinstimmung besteht. Das bedeutet aber, daß die Übereinstimmung unabhängig von meinem Wissen besteht: Die Wahrheit ist objektiv; …"³² „Zum vollen Verständnis von Xenophanes’ Theorie der Wahrheit ist es besonders wichtig zu betonen, daß er die objektive Wahrheit von der subjektiven Sicherheit deutlich unterscheidet. Die objektive Wahrheit ist die Übereinstimmung einer Aussage mit den Tatsachen, ob wir das nun wissen – sicher wissen – oder nicht. Die Wahrheit darf also nicht mit der Sicherheit oder mit dem sicheren Wissen verwechselt werden.³³ Der Begriff des sicheren Wissens ist leider etwas unscharf, weil er dem Wissen durch das Beiwort „sicher sprachlich eine objektive Note gibt; er könnte also genauso gut als Synonym für „objektiv gesichertes Wissen und dann auch im Sinne von Wahrheit verstanden werden. Aus dem Kontext der Argumentation ergibt sich allerdings ganz klar, dass mit „sicherem Wissen eben nur die starke Überzeugung, also die subjektive Gewissheit gemeint ist.

    Wir sollten eine klare Vorstellung vom Begriff der Wahrheit haben und deutlich zwischen (subjektiver) Gewissheit und (objektiver) Wahrheit unterscheiden. Der korrespondenztheoretische Wahrheitsbegriff in der Formulierung, ein Satz sei wahr, wenn er mit der Wirklichkeit übereinstimmt, lässt denn auch keinen Raum für irgendeine subjektivistische Vorstellung von Wahrheit im Sinne von Gewissheit. Doch das zentrale Problem der Erkenntnistheorie ist nicht, was man unter Wahrheit versteht, auch nicht der Unterschied zwischen subjektiver Gewissheit und objektiver Wahrheit, nicht einmal, ob es Wahrheit überhaupt gibt oder nicht; denn dass es sie gibt, darf und muss man – unter der Voraussetzung einer von sprachfähigen Wesen belebten wirklichen Welt – voraussetzen, und zwar im Sinne der Korrespondenztheorie der Wahrheit. Das zentrale Problem ist vielmehr, ob die Wahrheit – und wenn ja: auf welche Weise – unbezweifelbar zu erkennen ist, und wenn nicht, welches darunterliegende Maß an Sicherheit und Zuverlässigkeit unserer Erkenntnisse erreichbar ist. Die zentrale Frage der Erkenntnistheorie ist die Frage nach der Erreichbarkeit von Objektivität im Sinne von sicherer Allgemeingültigkeit unserer

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