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Ohne Handy bin ich tot: Heimat finden in der Fremde
Ohne Handy bin ich tot: Heimat finden in der Fremde
Ohne Handy bin ich tot: Heimat finden in der Fremde
eBook200 Seiten1 Stunde

Ohne Handy bin ich tot: Heimat finden in der Fremde

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Über dieses E-Book

2014 kommt Said, ein 13-jähriger Somalier, in Deutschland an. Hier endet seine Flucht. Er hat seine Heimat verlassen, nachdem Al-Shabaab-Rebellen seinen Vater getötet hatten und ihn zum Selbstmordattentäter ausbilden wollten. Said hat Lebensbedrohliches durchgemacht: Sklaverei, Gefängnisaufenthalt, unterwegs in der Wüste und auf dem Meer. Am Ende hat er überlebt.

1961 erlebt Anna im gleichen Alter den Bau der Berliner Mauer. Ihr Vater ist als Spion im geteilten Deutschland unterwegs. Auch sie erfährt, was Entfremdung, Angst und Verlust bedeuten.

Said und Anna treffen sich, sie bringt ihm Deutsch bei. Die beiden lernen miteinander und voneinander. Sie teilen ihre Erfahrungen. Anfangs sind sie sich fremd, doch sie nähern sich einander an. Neugierig nehmen sie die Kultur des anderen wahr, finden eine gemeinsame Sprache und gehen ein Stück des Lebenswegs zusammen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum14. Sept. 2018
ISBN9783746958835
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    Buchvorschau

    Ohne Handy bin ich tot - Barbara Renner-Wiest

    Wechsel

    Ist »Wechsel« das richtige Wort für ein Hüben und ein Drüben

    Für ein »dort unten« und »hier oben«

    Said kommt aus Afrika

    Das ist dort unten

    Jetzt lebt er hier oben

    Auf der Landkarte ist Deutschland für ihn oben

    Hier wollte er hin

    So weit, so hoch, wollte er reisen

    In der Schule lernen können

    Ankommen – frei sein

    Afrika war früher für mich Albert Schweitzer

    Hungrige, dünne Kinder und Missionarin werden

    »Iss deinen Teller leer«

    Sagte die Mutter

    »Die Kinder dort unten haben nichts zu essen«

    Mahnte sie

    »Du solltest wissen, wie gut es dir geht«

    Die Stiefel aus der Kleiderkammer der Kirche drückten

    Sie waren Reichtum und das Klagen erstarb mir im Mund

    Im Kopf des Negerkindes war ein Schlitz – meine Sparbüchse

    Der Kopf nickte zustimmend bei jedem Geldstück

    Viele kostbare Groschen steckte ich hinein

    Ich hörte sie auf andere fallen

    »Was ist schon dein Kaugummi gegen den Hunger der Negerkinder«

    Sagte die Mutter

    Heute sagt man nicht mehr Negerkind

    Heute sind die Kinder »schwarz«, die zu uns kommen

    Wir gehen nicht mehr zu ihnen runter

    Sie kommen zu uns hoch, die Schwarzen

    Als Said hier ankam, war er 16 Jahre alt

    Jetzt ist er derjenige, für den ich gerne gebe

    Meine Mutter würde frohlocken

    Said hat das Land gewechselt

    Er hat die Familie gewechselt

    Doch so wie ein Zebra seine Streifen im Fell

    Nicht in die Streifen eines Tigers wechseln kann

    So wenig kann er seine Heimat wechseln

    »Du bist jetzt meine Familie«

    Sagt Said

    Er ist oft traurig

    Ich wechsle die Seiten

    Manchmal bin ich Lehrerin, manchmal Mutter

    Manchmal Fremdenführerin

    Ich tröste mein Kind

    Ich zeige ihm das Werk

    Eines deutschen Malers im Museum

    Wir üben die deutsche Sprache, die Aussprache

    Ich weiß doch so wenig von dem Kind

    Noch viel weniger von dem jungen afrikanischen Mann

    Nichts von seiner Familiengeschichte, nichts von seinem Land

    Ich gebe erst einmal deutsche Nachhilfe:

    Artikel, Personalpronomen, die Uhrzeit

    Modalverben, Konjugieren, Deklinieren

    Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

    Kleine Buchstaben und Großschreibung

    Schreiben, Lesen, Erzählen, Zuhören

    Aussprache trainieren und wiederholen

    Adjektive, Fragenquiz und Diktate berichtigen

    16 Bundesländer für die Einbürgerung pauken

    »Hör mal«

    Sage ich

    »Das Geld auf dem Handy heißt Guthaben

    Nicht gute Abend«

    »Ach so«

    Sagt Said

    »Ohne Handy bin ich tot«

    Als ich 14 Jahre alt war

    Wurde Berlin durch eine Mauer aus Stein in zwei Hälften getrennt

    Es gab »ein Hüben und ein Drüben«

    Die von Drüben wollten fliehen Manchen gelang es

    Sie wechselten dann in den Westen hinüber

    Wir von »hüben« waren auch eingesperrt

    Andere wechselten aus Überzeugung nach »drüben«

    Allen gemeinsam war die Trauer

    Sowohl hüben als auch drüben war die Trennung schmerzhaft

    Traurigkeit lag wie ein Schleier über der Stadt

    Die Trauer – sie kannte keine Grenze

    »Erst die Dinge werden wesentlich,

    die einander vollkommen ausschließen.«

    Hans Arndt

    Entscheidung

    Du erzählst:

    Die Al-Shabaab-Miliz durchkämmte die Häuser eurer Straße

    Mogadischu war ein brodelnder Topf voller Angst

    Das Meer gehörte den Piraten

    Zuerst war der Horizont eine Rauchwolke

    Dann nahmen sie eure Straße in Besitz

    Jeden Tag weiteten sie ihre Macht aus

    Du hattest nur noch Angst,

    Du konntest vor Erschrecken und Panik nicht mehr schlafen

    »Ich war doch noch ein Kind«

    Sagst du immer wieder

    Donqo, deine älteste Schwester

    Bewachte die Eingangstür eures Hauses

    Die rabiaten Schreie der Rebellen hallten die Straße hinauf

    Donqo scheuchte die kleineren Geschwister in die Küche

    Arif, Ismael, Axmed und Fatima verschwanden weinend

    Todeswind wehte vor den Rebellen her

    Du kamst mit Wasserkanistern vom Strand

    Jeden Tag übtest du dort das Schwimmen

    Fünf Tage zuvor hatten sie deinen Vater erschossen

    Anschließend drückten sie dir das Gewehr in die Hand

    Durch einen Nebel hindurch hörtest du sie schreien:

    »Schieß oder wir erschießen dich!«

    Deine Mutter fiel in Ohnmacht

    Du konntest deine Hände nicht mehr bewegen

    Das schwere Gewehr fiel auf den Boden

    Du ranntest weg

    Abends bist du zitternd zum Haus zurückgeschlichen

    Deine Mutter schrie und schrie und schrie

    Ihr habt den Vater in ein weißes Tuch gewickelt

    Gemeinsam habt ihr ihn aus dem Haus getragen

    Im Dämmerlicht sahst du einen Falken über den Hütten kreisen

    »Ich gehe weg«

    Riefst du ihm leise entgegen:

    »Ich gehe weg, Falke«

    Das war dein Schwur, die Faust in der Tasche war fest geballt:

    »Ich muss weg«

    Während Said erzählt

    Sehe ich die zugemauerten Häuser in der Bornholmer Straße

    Eine Mauer beginnt Berlin zu trennen

    Wir schreiben Sonntag, den 13. August 1961

    Ich habe Ferien und fahre mit der Mutter an die Grenze

    Schreie gellen uns am provisorischen Stacheldraht entgegen

    Hinter den ersten gemauerten Steinen beginnt »das Drüben«

    Wir stehen »im Hüben«

    Ich bin so alt wie Said, als er seine Familie verließ

    Von drüben winken Menschen aus offenen Fenstern

    Manche Fenster sind schon zugemauert

    Die von drüben winken mit weißen Tüchern

    Gelähmt beobachte ich das Geschehen

    Die Mauer wächst, Stein auf Stein, dazwischen Beton

    »Langsam mauern sie uns ein«

    Sagt die Mutter

    Viele Spatzen bevölkern den Bürgersteig

    Spatzen hüben und Spatzen drüben

    Ich dachte:

    Sie finden überall Essbares

    Sie fliegen von hüben nach drüben

    Der Falke

    Du warst ein Kind und 13 Jahre alt

    Straßen waren dein Spielplatz

    Du drehtest schon Zigaretten

    Du inhaliertest den Rauch gegen den Hunger

    Nachts schliefst du in der Moschee

    Tagsüber lebtest du auf der Straße

    Du hattest in der Moschee eine Matratze

    Ein Kissen für den Kopf

    Manchmal gab dir der Imam etwas zu essen

    In der Moschee lerntest du den Koran zu lesen und zu schreiben

    In einer Sprache, die nicht die deine war

    Hattest du ein Wort vergessen

    Schlug dich der Imam mit der hohlen Hand auf den Hinterkopf

    Mit dem Stock auf Hände und Rücken

    Du wolltest lernen, viel lernen

    Über die Zeit und die Ewigkeit

    Über das Leben und die weite Welt

    Eines Tages lauerten dir die Piraten im Hafen auf

    Sie warben dich für die nächste Kaperfahrt an und drohten:

    »Kämpfe für dein Land oder es kostet dich dein Leben«

    Sie hatten deinen Vater erschossen

    Sie hatten deine Mutter verletzt

    Du ranntest weg und lebtest weiterhin auf der Straße

    Angst und Trauer waren dein täglich Brot

    Der Falke ist ein stolzer Vogel

    Er fängt Mäuse, Hasen und Kaninchen

    Im Hunger jagt er erbarmungslos und schnell

    Alles, was ihm in den scharfen Blick kommt

    Ergreift er sekundenschnell

    Er stürzt aus großer Höhe hinab

    Und krallt sich an seiner Beute fest

    Er lässt sie nicht mehr los

    Am Rande von Kismayo sahst du den ersten Falken

    Du hattest bereits 13 Sommer erlebt

    Du kanntest deinen Falken

    Er zeichnete große Kreise am blauen Himmel

    Er flog über die fernen Hügel hinweg

    Du hörtest ihn schreien

    Hungrig drang sein gellender Ruf zu dir

    Du konntest ihn verstehen

    Das war auch deine Sprache

    Dir war, als hättest du seinen Ruf schon immer gehört

    Du wolltest weg

    Du wolltest nach Deutschland

    Du wolltest satt werden

    Du wolltest für die Geschwister und die Mutter sorgen

    Sie sollten nicht mehr hungern

    Du wolltest Fußball spielen

    Du wolltest leben

    Leben wie Schweinsteiger

    Du wolltest kicken wie Podolski

    Tore schießen wie Lahm und Müller

    Auf deiner Reise verbrachtest du ein Jahr im Gefängnis

    Die Wüste war weit und einsam, ob zu Fuß oder im Auto

    Du heuertest mit zu wenig Geld bei den Schleusern an

    Das Boot fuhr über das große Meer

    Du warst noch ein Kind, dünn und ausgemergelt

    Du brauchtest wenig Platz

    Deswegen nahmen sie dich mit weniger Geld an Bord

    25 Menschen ertranken

    Du gehörtest nicht dazu

    Du warst einer von den 90 im Boot

    Die drei Tage ohne Nahrung und Wasser überlebten

    »Die letzten zwei Stunden auf dem Meer waren die schlimmsten«

    Sagst du

    Das überladene Boot kenterte

    Du konntest schwimmen!

    Als kleiner Junge drückte ein Freund

    Deinen Kopf oft unter Wasser

    Eines Tages fiel deine Entscheidung

    Du brachtest dir das Schwimmen selbst bei

    Du übtest solange, bis dich das Wasser trug

    Du bist am Meer aufgewachsen

    »Neben mir schwamm eine Frau«

    Erzählst du unter Tränen:

    »Sie hat sich auf den letzten Metern an mich geklammert

    Ich habe sie angefleht

    Lass mich los!

    Das Klammern macht mir Angst

    Es zieht mich in die Tiefe hinunter«

    Du packtest die Frau an ihren Kleidern

    Du konntest sie wie ein Kaninchen im Nacken halten

    Du zogst sie neben dir her

    Nicht lange genug

    Dir fehlte die Kraft nach den Tagen ohne Nahrung und Wasser

    Um dich herum gingen viele Freunde unter

    Ihr habt euch gekannt

    Drei Tage lang habt ihr gemeinsam im Boot gekauert

    Gestapelt wie Stühle – übereinander – untereinander

    Ihr wart Freunde der Kälte, der Enge

    Ihr wart Freunde des Durstes und des Hungers geworden

    Drei-Tage-Freunde – steif und schmutzig

    Die Rettungsboote suchten euch vor Sizilien

    Für dich kamen sie rechtzeitig

    Manchmal erzählst du davon

    Du hast überlebt

    Die Ertrunkenen verfolgen dich im Traum

    Von Weitem entdecktest

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