Ohne Handy bin ich tot: Heimat finden in der Fremde
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Über dieses E-Book
1961 erlebt Anna im gleichen Alter den Bau der Berliner Mauer. Ihr Vater ist als Spion im geteilten Deutschland unterwegs. Auch sie erfährt, was Entfremdung, Angst und Verlust bedeuten.
Said und Anna treffen sich, sie bringt ihm Deutsch bei. Die beiden lernen miteinander und voneinander. Sie teilen ihre Erfahrungen. Anfangs sind sie sich fremd, doch sie nähern sich einander an. Neugierig nehmen sie die Kultur des anderen wahr, finden eine gemeinsame Sprache und gehen ein Stück des Lebenswegs zusammen.
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Buchvorschau
Ohne Handy bin ich tot - Barbara Renner-Wiest
Wechsel
Ist »Wechsel« das richtige Wort für ein Hüben und ein Drüben
Für ein »dort unten« und »hier oben«
Said kommt aus Afrika
Das ist dort unten
Jetzt lebt er hier oben
Auf der Landkarte ist Deutschland für ihn oben
Hier wollte er hin
So weit, so hoch, wollte er reisen
In der Schule lernen können
Ankommen – frei sein
Afrika war früher für mich Albert Schweitzer
Hungrige, dünne Kinder und Missionarin werden
»Iss deinen Teller leer«
Sagte die Mutter
»Die Kinder dort unten haben nichts zu essen«
Mahnte sie
»Du solltest wissen, wie gut es dir geht«
Die Stiefel aus der Kleiderkammer der Kirche drückten
Sie waren Reichtum und das Klagen erstarb mir im Mund
Im Kopf des Negerkindes war ein Schlitz – meine Sparbüchse
Der Kopf nickte zustimmend bei jedem Geldstück
Viele kostbare Groschen steckte ich hinein
Ich hörte sie auf andere fallen
»Was ist schon dein Kaugummi gegen den Hunger der Negerkinder«
Sagte die Mutter
Heute sagt man nicht mehr Negerkind
Heute sind die Kinder »schwarz«, die zu uns kommen
Wir gehen nicht mehr zu ihnen runter
Sie kommen zu uns hoch, die Schwarzen
Als Said hier ankam, war er 16 Jahre alt
Jetzt ist er derjenige, für den ich gerne gebe
Meine Mutter würde frohlocken
Said hat das Land gewechselt
Er hat die Familie gewechselt
Doch so wie ein Zebra seine Streifen im Fell
Nicht in die Streifen eines Tigers wechseln kann
So wenig kann er seine Heimat wechseln
»Du bist jetzt meine Familie«
Sagt Said
Er ist oft traurig
Ich wechsle die Seiten
Manchmal bin ich Lehrerin, manchmal Mutter
Manchmal Fremdenführerin
Ich tröste mein Kind
Ich zeige ihm das Werk
Eines deutschen Malers im Museum
Wir üben die deutsche Sprache, die Aussprache
Ich weiß doch so wenig von dem Kind
Noch viel weniger von dem jungen afrikanischen Mann
Nichts von seiner Familiengeschichte, nichts von seinem Land
Ich gebe erst einmal deutsche Nachhilfe:
Artikel, Personalpronomen, die Uhrzeit
Modalverben, Konjugieren, Deklinieren
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
Kleine Buchstaben und Großschreibung
Schreiben, Lesen, Erzählen, Zuhören
Aussprache trainieren und wiederholen
Adjektive, Fragenquiz und Diktate berichtigen
16 Bundesländer für die Einbürgerung pauken
»Hör mal«
Sage ich
»Das Geld auf dem Handy heißt Guthaben
Nicht gute Abend«
»Ach so«
Sagt Said
»Ohne Handy bin ich tot«
Als ich 14 Jahre alt war
Wurde Berlin durch eine Mauer aus Stein in zwei Hälften getrennt
Es gab »ein Hüben und ein Drüben«
Die von Drüben wollten fliehen Manchen gelang es
Sie wechselten dann in den Westen hinüber
Wir von »hüben« waren auch eingesperrt
Andere wechselten aus Überzeugung nach »drüben«
Allen gemeinsam war die Trauer
Sowohl hüben als auch drüben war die Trennung schmerzhaft
Traurigkeit lag wie ein Schleier über der Stadt
Die Trauer – sie kannte keine Grenze
»Erst die Dinge werden wesentlich,
die einander vollkommen ausschließen.«
Hans Arndt
Entscheidung
Du erzählst:
Die Al-Shabaab-Miliz durchkämmte die Häuser eurer Straße
Mogadischu war ein brodelnder Topf voller Angst
Das Meer gehörte den Piraten
Zuerst war der Horizont eine Rauchwolke
Dann nahmen sie eure Straße in Besitz
Jeden Tag weiteten sie ihre Macht aus
Du hattest nur noch Angst,
Du konntest vor Erschrecken und Panik nicht mehr schlafen
»Ich war doch noch ein Kind«
Sagst du immer wieder
Donqo, deine älteste Schwester
Bewachte die Eingangstür eures Hauses
Die rabiaten Schreie der Rebellen hallten die Straße hinauf
Donqo scheuchte die kleineren Geschwister in die Küche
Arif, Ismael, Axmed und Fatima verschwanden weinend
Todeswind wehte vor den Rebellen her
Du kamst mit Wasserkanistern vom Strand
Jeden Tag übtest du dort das Schwimmen
Fünf Tage zuvor hatten sie deinen Vater erschossen
Anschließend drückten sie dir das Gewehr in die Hand
Durch einen Nebel hindurch hörtest du sie schreien:
»Schieß oder wir erschießen dich!«
Deine Mutter fiel in Ohnmacht
Du konntest deine Hände nicht mehr bewegen
Das schwere Gewehr fiel auf den Boden
Du ranntest weg
Abends bist du zitternd zum Haus zurückgeschlichen
Deine Mutter schrie und schrie und schrie
Ihr habt den Vater in ein weißes Tuch gewickelt
Gemeinsam habt ihr ihn aus dem Haus getragen
Im Dämmerlicht sahst du einen Falken über den Hütten kreisen
»Ich gehe weg«
Riefst du ihm leise entgegen:
»Ich gehe weg, Falke«
Das war dein Schwur, die Faust in der Tasche war fest geballt:
»Ich muss weg«
Während Said erzählt
Sehe ich die zugemauerten Häuser in der Bornholmer Straße
Eine Mauer beginnt Berlin zu trennen
Wir schreiben Sonntag, den 13. August 1961
Ich habe Ferien und fahre mit der Mutter an die Grenze
Schreie gellen uns am provisorischen Stacheldraht entgegen
Hinter den ersten gemauerten Steinen beginnt »das Drüben«
Wir stehen »im Hüben«
Ich bin so alt wie Said, als er seine Familie verließ
Von drüben winken Menschen aus offenen Fenstern
Manche Fenster sind schon zugemauert
Die von drüben winken mit weißen Tüchern
Gelähmt beobachte ich das Geschehen
Die Mauer wächst, Stein auf Stein, dazwischen Beton
»Langsam mauern sie uns ein«
Sagt die Mutter
Viele Spatzen bevölkern den Bürgersteig
Spatzen hüben und Spatzen drüben
Ich dachte:
Sie finden überall Essbares
Sie fliegen von hüben nach drüben
Der Falke
Du warst ein Kind und 13 Jahre alt
Straßen waren dein Spielplatz
Du drehtest schon Zigaretten
Du inhaliertest den Rauch gegen den Hunger
Nachts schliefst du in der Moschee
Tagsüber lebtest du auf der Straße
Du hattest in der Moschee eine Matratze
Ein Kissen für den Kopf
Manchmal gab dir der Imam etwas zu essen
In der Moschee lerntest du den Koran zu lesen und zu schreiben
In einer Sprache, die nicht die deine war
Hattest du ein Wort vergessen
Schlug dich der Imam mit der hohlen Hand auf den Hinterkopf
Mit dem Stock auf Hände und Rücken
Du wolltest lernen, viel lernen
Über die Zeit und die Ewigkeit
Über das Leben und die weite Welt
Eines Tages lauerten dir die Piraten im Hafen auf
Sie warben dich für die nächste Kaperfahrt an und drohten:
»Kämpfe für dein Land oder es kostet dich dein Leben«
Sie hatten deinen Vater erschossen
Sie hatten deine Mutter verletzt
Du ranntest weg und lebtest weiterhin auf der Straße
Angst und Trauer waren dein täglich Brot
Der Falke ist ein stolzer Vogel
Er fängt Mäuse, Hasen und Kaninchen
Im Hunger jagt er erbarmungslos und schnell
Alles, was ihm in den scharfen Blick kommt
Ergreift er sekundenschnell
Er stürzt aus großer Höhe hinab
Und krallt sich an seiner Beute fest
Er lässt sie nicht mehr los
Am Rande von Kismayo sahst du den ersten Falken
Du hattest bereits 13 Sommer erlebt
Du kanntest deinen Falken
Er zeichnete große Kreise am blauen Himmel
Er flog über die fernen Hügel hinweg
Du hörtest ihn schreien
Hungrig drang sein gellender Ruf zu dir
Du konntest ihn verstehen
Das war auch deine Sprache
Dir war, als hättest du seinen Ruf schon immer gehört
Du wolltest weg
Du wolltest nach Deutschland
Du wolltest satt werden
Du wolltest für die Geschwister und die Mutter sorgen
Sie sollten nicht mehr hungern
Du wolltest Fußball spielen
Du wolltest leben
Leben wie Schweinsteiger
Du wolltest kicken wie Podolski
Tore schießen wie Lahm und Müller
Auf deiner Reise verbrachtest du ein Jahr im Gefängnis
Die Wüste war weit und einsam, ob zu Fuß oder im Auto
Du heuertest mit zu wenig Geld bei den Schleusern an
Das Boot fuhr über das große Meer
Du warst noch ein Kind, dünn und ausgemergelt
Du brauchtest wenig Platz
Deswegen nahmen sie dich mit weniger Geld an Bord
25 Menschen ertranken
Du gehörtest nicht dazu
Du warst einer von den 90 im Boot
Die drei Tage ohne Nahrung und Wasser überlebten
»Die letzten zwei Stunden auf dem Meer waren die schlimmsten«
Sagst du
Das überladene Boot kenterte
Du konntest schwimmen!
Als kleiner Junge drückte ein Freund
Deinen Kopf oft unter Wasser
Eines Tages fiel deine Entscheidung
Du brachtest dir das Schwimmen selbst bei
Du übtest solange, bis dich das Wasser trug
Du bist am Meer aufgewachsen
»Neben mir schwamm eine Frau«
Erzählst du unter Tränen:
»Sie hat sich auf den letzten Metern an mich geklammert
Ich habe sie angefleht
Lass mich los!
Das Klammern macht mir Angst
Es zieht mich in die Tiefe hinunter«
Du packtest die Frau an ihren Kleidern
Du konntest sie wie ein Kaninchen im Nacken halten
Du zogst sie neben dir her
Nicht lange genug
Dir fehlte die Kraft nach den Tagen ohne Nahrung und Wasser
Um dich herum gingen viele Freunde unter
Ihr habt euch gekannt
Drei Tage lang habt ihr gemeinsam im Boot gekauert
Gestapelt wie Stühle – übereinander – untereinander
Ihr wart Freunde der Kälte, der Enge
Ihr wart Freunde des Durstes und des Hungers geworden
Drei-Tage-Freunde – steif und schmutzig
Die Rettungsboote suchten euch vor Sizilien
Für dich kamen sie rechtzeitig
Manchmal erzählst du davon
Du hast überlebt
Die Ertrunkenen verfolgen dich im Traum
Von Weitem entdecktest