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Laguna Morta: Der Tod in Venedig
Laguna Morta: Der Tod in Venedig
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eBook588 Seiten8 Stunden

Laguna Morta: Der Tod in Venedig

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Über dieses E-Book

Venedig bereitet sich auf die Eröffnung eines gigantischen Projekts italienischer Ingenieurskunst vor, eines Staudamms mit dem unromantischen Namen MOSE, der künftig die Lagunenstadt gegen die Adria von Hochwasser abschirmen soll. Es ist nicht unumstritten. Naturschützer laufen Sturm, Bedenkenträger gehen umher und vergiften die Stimmung.
Plötzlich verschwindet nach einem waghalsigen Einsatz der Taschendieb Luigi Lorenzo. Er wird eine Woche später an der Küste der venezianischen Friedhofsinsel San Michele angeschwemmt. Seine Freundin Loretta und sein Kollege Marius geraten in einen Strudel von Gefahren, denn sie haben etwas, das die Mörder Luigis unter allen Umständen wiederhaben wollen. Dem mürrischen Commissario Barroso gelingt es zunächst nicht, die verschiedenen Fäden zu verknüpfen, und er wird in den Strudel ebenso hineingerissen, der jeden, der sich ihm zu nahe wagt, zu verschlingen droht.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum23. Sept. 2016
ISBN9783734554964
Laguna Morta: Der Tod in Venedig
Autor

Bernd W. Wuthenow

Bernd W. Wuthenow, Jahrgang 1959, lebt mit seiner Ehefrau in Brandenburg. Er hat vier erwachsene Söhne. Er war zunächst Forstwirt und arbeitete in diesem Beruf, bevor er sich entschied, Jura zu studieren. Anschließend war er als Jurist in der Verwaltung und der freien Wirtschaft tätig, bis er sich 1994 in Berlin als Rechtsanwalt niederließ. Sein erster Kriminalroman, „Laguna Morta – der Tod in Venedig“, erschien 2016.

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    Buchvorschau

    Laguna Morta - Bernd W. Wuthenow

    1

    Marius verließ das Haus durch den Seiteneingang und lief vor bis zur Piazzetta San Marco. Hier kannte er jeden Quadratzentimeter. Die Luft war mild, und von der Lagune wehte eine leichte Brise herüber. Die Straßenhändler hatten ihre Stände bereits aufgebaut. Es schien, als sei das willkürlich geschehen, tatsächlich aber lag dem ein genauer Plan zugrunde. Drüben auf der Piazza San Marco, zwischen der Basilika und dem Museo Corrér war es noch geordneter. Jeder fliegende Händler wollte seine Geschäfte in unmittelbarer Nähe von Dom und Campanile machen. Aber das ging nur, wenn alle das ausgeklügelte System von wechselnden Standorten und vorgegebenen Zeiträumen einhielten. Grundsätzlich klappte das, und wenn es einmal nicht klappte, wurde rüde nachgeholfen.

    Er überquerte die Piazza San Marco, wo das bunte Gewimmel der Touristen bereits in vollem Gange war. In der Frühe musste ein Kreuzfahrtschiff eingetroffen sein, denn überall drängten sich bleiche Gesichter um Stadtführer, die Schirme oder ähnliche Utensilien als Erkennungszeichen hochhielten.

    Er lief bis zum Postamt in der Orseolo dell’Ascensione. Sein Gefühl sagte ihm, dass es wieder ein guter Tag werden würde. Die Venezianer mochten den Trubel nicht und mieden San Marco, er hingegen stürzte sich mit Wonne in das Gewimmel. Es konnte gar nicht quirlig genug sein, denn das kam seiner Profession entgegen.

    Marius war ein Taschendieb, und er liebte seinen Beruf. Er hatte das Handwerk in den Gassen Venedigs erlernt und betrieb es inzwischen mit einer gewissen Perfektion. Er kannte die Stadt wie seine Westentasche und konnte im Labyrinth von Gassen und Brücken in Windeseile untertauchen. Stets war er längst verschwunden, wenn eines seiner Opfer den Verlust bemerkte.

    Er gehörte nicht zu den gewissenlosen Kollegen, die unterschiedslos jeden bestahlen; er beschränkte sich auf Opfer, die sich anboten, indem sie sorglos mit offenen Handtaschen durch die Gassen flanierten oder ihre Jacken achtlos irgendwo aufhängten und auf alles achteten, nur nicht auf ihre Geldbörsen. Es genügte ihm vollkommen, sich auf die zu konzentrieren, die es nicht besser verdient hatten.

    Seine Taktik wechselte. Manchmal nutzte er sich plötzlich bietende Gelegenheiten aus, die zu verlockend waren, um sie vorüberziehen zu lassen, in kurzen Gassen etwa, in denen er sofort flüchten und die Geldbörsen ins Wasser werfen konnte, kaum dass er das Bargeld herausgenommen hatte. Manchmal folgte er seinem Opfer auch durch die Stadt, wie ein Leopard seinem Opfer folgt, und wartete auf einen passenden Augenblick. Es war wie ein Spiel aus Kindheitszeiten, jemandem zu folgen, bis er entweder zugreifen konnte oder durch seine Anhänglichkeit auffiel und besser aufgab.

    Am Postamt hinter der Piazza San Marco holten sich erstaunlich viele Touristen Bargeld aus dem Automaten. Es war ein idealer Ort, um ein Opfer auszumachen. Während er den Geldautomaten im Auge behielt, wechselte er ständig den Standort. Er blieb nie länger an einem Punkt. Nach spätestens drei Minuten postierte er sich woanders, um nicht aufzufallen.

    Er beobachtete drei Mädchen mit großen Sonnenbrillen und kurzen Röckchen, die fortwährend kicherten. Er sah, dass es nicht lohnte. Sie waren zu dritt und legten ihre Geldbörsen auf den Grund ihre Taschen, die sie anschließend verschlossen. Er ließ die Mädchen vorbeilaufen, wechselte vom Vorplatz in die Einmündung der Calle di Preti und lehnte sich an eine Hauswand.

    Wenig später sah er eine fette Frau auf sich zukommen. Sie wälzte sich gleichsam durch die Menschenmenge. Sie trug einen Sommerhut mit breiter Krempe, hatte eine geflochtene, offene Tasche bei sich und achtete nicht auf ihre Umgebung, als sie einen ansehnlichen Stapel Bargeld aus dem Automaten zog und danach in Richtung Markusplatz davonging. Sie watschelte mehr, als dass sie ging. Marius folgte ihr und konnte nicht anders, als ihr auf die dicken Waden und die Hornhaut an den nackten Fersen zu sehen. Die Frau überquerte den Markusplatz, wobei es schien, als pflüge sie durch die Menschen, und wechselte neben dem Dom in die Calle di Angelo. Jetzt lief er dichter auf, um sie in dem Gedränge nicht zu verlieren. Sie bog jetzt in die Calle di Rimédio ein und blieb auf der Brücke vor dem Hotel Colombina stehen, um Atem zu schöpfen, als drei Asiaten auf sie zukamen, die keine Anstalten machten auszuweichen. Marius wusste, dass das die Gelegenheit war, auf die er gewartet hatte. In dem Augenblick, da die Asiaten die massige Frau anrempelten, was diese mit einem derben englischen Fluch quittierte, griff Marius zu, zog blitzschnell die Scheine aus der Geldbörse und warf das Leder in den Rio de Palazzo.

    Obwohl er sofort die Gasse wechselte, hörte er die Frau noch immer fluchen. Wenn sie den Verlust bemerken würde, würde ihr Verdacht auf die drei Asiaten fallen.

    Es war ein wundervolles Gefühl, plötzlich unverdientes Geld in den Händen zu halten. Er kostete es aus und ließ sich Zeit. Auf Umwegen kehrte er zur Piazza San Marco zurück. Als er in die Calle di Canonica einbog, konnte er sein Glück kaum fassen. Am Rande eines Straßenrestaurants saß ein Mann, der sich weit vorgebeugt und seiner ordinär lachenden Begleiterin den Arm um die Schulter gelegt hatte. Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt, als besprächen sie Konspiratives, und redeten laut durcheinander. Der Blick des Mannes wurde von der Frau verdeckt, und über ihrem Stuhl hing ein knappes Herrenjackett, wie es jetzt Mode war. Als Mario an den Dreien vorbeigelaufen war, hing es vier Stühle weiter und war seines Inhalts entledigt. Er verschwand in einem Ledergeschäft nebenan und legte das Portemonnaie in die Auslage, nachdem er das Bargeld herausgenommen hatte. In Sekundenschnelle hatten 900 Euro ihren Besitzer gewechselt.

    Er beschloss, sein Glück nicht weiter herauszufordern und zu Hause ein wenig zu auszuruhen. Er bewohnte eine kleine Wohnung unterm Dach im Palazzo Malipiero, einem renovierungsbedürftigen, ständig muffig riechenden Gebäude aus dem 15. Jahrhundert am Rio de Fontego, aus dem es sommers wie winters nach Fisch roch. Im Sommer glich sein Domizil einer Gluthölle, und im Winter war es nasskalt. Aber es kostete nicht viel und war direkt vom Treppenhaus zu erreichen. Er musste nicht den Umweg über die Wohnung der Wirtin, der neugierigen Witwe Patrona nehmen, die unter ihm wohnte.

    Die Haustür knarrte, als er sie aufschob. Abgestandene Luft schlug ihm entgegen. Die Witwe Patrona lüftete nur ungern. Man lade Diebe nicht noch ein, pflegte sie zu sagen.

    Er durchquerte die Halle und stieg die Treppe hinauf. Die Stufen knarrten. An der Wohnungstür seiner Vermieterin roch es nach gekochter Milch und Kernseife. Sie hatte den Fernseher laut gestellt und hörte wahrscheinlich Nachrichten.

    Seine Wohnung bestand aus einem Zimmer mit Kochnische, einem Schlafraum, einem kleinen Flur und einem winzigen Bad sowie einer kleinen Kammer. Mehr brauchte er nicht. Er betrat den Flur und streifte sich die Schuhe und die Jacke ab. Dann verstaute er seine Beute in einem Karton, den er danach wieder unter den Dielen im Wohnzimmer versteckte. Anschließend gönnte er sich ein Schläfchen.

    Marius arbeitete allein, auch wenn er damit gegen eine Grundregel seiner Profession verstieß. Die Plätze, an denen er arbeitete, waren immer quirlig voll. Stets konnte er irgendwo verschwinden, und seine Opfer hatten in dem Gewirr von Gassen, Kanälen, Hauseingängen und Booten keine Chance, ihn zu erkennen oder gar zu verfolgen. Die Vorsichtsmaßnahme eines Gehilfen war unnötig. Nur gelegentlich zog er mit Luigi los.

    Manchmal saßen sie abends an der Pier der Piazzetta San Marco und sahen der untergehenden Sonne zu. Während sich Marius zurückhielt, schwadronierte Luigi immer drauflos. Luigi war nicht nur ein geschickter Taschendieb, viel geschickter und ungleich draufgängerischer als er selbst, vor allem aber war er ein Träumer. Er träumte vom großen Geld und von Anerkennung, am besten als Politiker. Manchmal spann er sich sogar seine Berufung als Nachfolger der venezianischen Dogen zusammen. Er konnte spinnen wie kein Zweiter und wurde nicht müde, seiner blühenden Fantasie freien Lauf zu lassen. Aber er war ein liebenswerter Träumer. Seit er Loretta hatte, die drüben in Murano mit dem Glas zu tun hatte, das sie sich bei ihrem Hungerlohn nie würde leisten können, hatte er Halt gefunden und war mittlerweile zu so etwas wie einer Lebensplanung übergegangen. Er hatte sogar schon erwogen, für Loretta seine Profession aufzugeben. Sie dachten schon ans Heiraten und Kinderkriegen. Nur noch diese eine Saison wollte er durchhalten.

    Drei Tage später, in denen Marius sehr erfolgreich gewesen war, aber auch beinahe einer Streife der Carabinieri in die Hände gefallen wäre, trafen sie sich auf der Via Garibaldi. In der untergehenden Augustsonne beobachteten sie die flanierenden Mädchen. Luigi hatte ein Baguette mitgebracht und Marius eine Flasche Rotwein. Sie zogen sich in einen Hauseingang zurück, und Luigi schwadronierte munter drauflos. Zwischen zwei Bissen redete er von einer weißen Yacht, die an der Riva di Ca’ di Dio festgemacht hatte. Er schwärmte sofort drauflos. Es stecke wahrscheinlich mehr Kohle in dem Pott, als er in Säcken nach Hause tragen könne, orakelte er.

    Marius war die Yacht bisher nicht aufgefallen. Er schüttelte missbilligend den Kopf. Wie konnte Luigi nur so naiv sein? Der Pott fahre nicht mit Kohle, und üppig Geld werde es darauf nicht geben, erwiderte er. Wer sowas fahre, benutze Kreditkarten.

    Marius hatte es immer nur auf Bargeld abgesehen. Den übrigen Inhalt seiner Beute ließ er immer sofort verschwinden. Er nahm weder Handys noch Schmuck. Sowas machte von Hehlern abhängig, offenbarte die Profession und war deshalb riskant. Der Ertrag seiner Arbeit genügte ihm vollkommen. Außer Luigi und Loretta wusste niemand, wovon er lebte.

    Für einen Diener habe er entschieden zu wenig Fantasie, behauptete Luigi. Und wahrscheinlich rieche er das große Geld genauso wenig wie das kleine.

    Sie vermieden es grundsätzlich, den Begriff Taschendieb zu verwenden. Er schien ihnen für die Kunst, die sie zelebrierten, entschieden zu gewöhnlich. Sie seien Diener, behaupteten sie immer, Diener ihrer Kunst.

    Das große Geld rieche nicht, es stinke, konstatierte Marius. Es entsetzte ihn, dass sich Luigi für die weiße Yacht tatsächlich zu interessieren schien. Er könne doch nicht erwarten, dass …

    Nur mal schauen, fiel ihm Luigi ins Wort. Interessiere es ihn denn gar nicht, wie diese Geldsäcke lebten? Reize es ihn nicht, denen etwas von dem wegzunehmen, wovon sie im Überfluss hatten? Die würden es nicht mal merken, wenn er sich dort drüben an ihrer Kasse die Taschen füllen würde. Mehr wolle er ja gar nicht. Nur so ein kleines Andenken vielleicht, so als Draufgabe, als Souvenir von der für sie unerreichbaren Welt des richtig großen Geldes.

    Marius’ Überzeugung stand sofort fest: Er sei ein Spinner, gab er zurück, der besser die Pfoten davon lasse. Das könne nicht gut enden.

    Während er es aussprach, überlegte er bereits, wie er Luigi diese fixe Idee ausreden konnte. Es gab Grenzen. Sie waren Taschendiebe, sie nahmen aus Taschen und stiegen nirgendwo ein. Sie erleichterten leichtsinnige Touristen um ihr Geld, aber sie baldowerten nichts aus. Er sei ein Diener, besser vergesse er das nicht, mahnte er. Das Risiko eines solchen Vorhabens, das sich in seinem kleinen Spinnerhirn festgesetzt habe, sei unüberschaubar. Er solle an Loretta denken. Was denn aus ihr werden solle, wenn man ihn erwische und im Kielraum in siedendem Öl röste?

    Luigi kam nicht mehr dazu, zu antworten, denn plötzlich wurde die Haustür, vor der sie saßen, aufgerissen und ein Mann erschien mit einem Besen in der Hand und forderte sie lautstark und unmissverständlich auf, sofort den Treppenabsatz zu verlassen. Hier lungere niemand herum. Der Mann war groß und tätowiert und machte nicht den Eindruck, als ob er nur drohen wollte, denn als die beiden Freunde nicht gleich reagierten, holte er sofort aus.

    Sie machten, dass sie fortkamen. Man sah in Venedig das Herumlungern in Hauseingängen nicht gern. Wortlos liefen sie zur Riva di Ca’ di Dio hinüber. Es war inzwischen dunkel geworden, und der Strom der Passanten war schon erheblich ausgedünnt.

    An der Pier lag Luigis Objekt der Begierde. Beim Anblick der weißen Yacht mit den drei Schiffsdecks, den getönten Scheiben und dem glänzenden Lack kam Luigi erneut ins Schwärmen. Menschenskind, das wäre doch was, wenn sie …

    Marius schnitt ihm kurzerhand das Wort ab. Das solle er vergessen, und am besten sofort, mahnte er. Aber natürlich wusste er, dass sich Luigi von ihm nicht würde abhalten lassen, das durchführen, was sich in seinem Kopf festgesetzt hatte. Er wolle nichts mehr davon hören, sagte er. Er mache ja sowieso, was er wolle. Loretta werde ihn eine Weile beweinen, und die Welt werde vergessen, dass es ihn gegeben habe.

    Luigi lachte. Es klang, als keckere ein Specht. Die Welt werde wegen des Paukenschlages aufhorchen, man werde ihn hochleben lassen, man werde … Weiter kam er nicht, denn plötzlich hielt ihm jemand von hinten die Augen zu. Es waren die kleinen, schlanken Hände einer zierlichen Frau. Sie drängte, sich jetzt zwischen den beiden Männern hindurch und küsste Luigi, während sie ein Bein um ihn schlang. Sie war schlank, klein und hatte große, neugierige Augen, die alles zu sehen schienen. Es war Loretta, Luigis große Liebe. Sie war heißblütig und leidenschaftlich und hatte immer gute Laune. Sie hatte das Haar hochgesteckt, und trug ein kurzes, braunes Sommerkleidchen mit kleinen bunten Blüten, das ihr gut stand.

    Luigis Frage, wie sie ihn denn gefunden habe, quittierte sie mit der Bemerkung, dass sie ihn überall finde. Er brauche sich vor ihr gar nicht zu verstecken und solle es am besten erst gar nicht versuchen. Sie wisse nämlich alles über ihren Schlaufuchs. Dann wandte sie sich Marius zu und drückte ihm einen Kuss auf die Wange, während sie sagte, dass sie ihn knuddeln müsse.

    Sie setzten sich am Durchgang zum Campo Zaccaria unter die Markise eines Restaurants und bestellten Weißwein. Marius ließ es zu, dass Loretta das Gespräch sofort an sich zog; sie schwatzte und schwatzte, während sie immer wieder Luigi liebevoll übers Haar strich. Es schien ihm, als nehme sie Luigi nicht ernst. Vielleicht hatte die Beziehung der beiden inzwischen eine gewisse Abkühlung erfahren, aber einem Außenstehenden fiel das nicht auf.

    Nachdem der Kellner den Wein gebracht hatte, sah Loretta ihm nach, bis er verschwunden war. Sie sei heute wieder einmal ganz plump belogen worden, sagte sie übergangslos, während sie mit dem Finger den Rand des Weinglases nachzog. Überhaupt sei es erstaunlich, wie oft einen die Lüge anspringe. Sie merke es inzwischen oft, dass gut zu lügen mehr als nur ein gutes Gedächtnis erfordere. Es nütze überhaupt nichts, wenn das Entlarven schon vorher erfolge.

    Wenn man es bemerke, sei es doch gut, warf Luigi ein.

    Loretta schüttelte heftig den Kopf. Dabei löste sich ihre Frisur und ihr langes schwarzes Haar legte sich wie ein Schleier um ihr schmales Gesicht. Marius konnte sich von dem Anblick gar nicht lösen. Loretta mochte oberflächlich und naiv sein, vor allem aber war sie schön und begehrenswert. Er starrte sie an, wie man jemanden anstarrt, den man gefahrlos anhimmeln kann, weil er unerreichbar ist. Sie wolle nicht immer belogen werden, hörte er sie sagen, und sie verstehe nicht, weshalb ausgerechnet sie so oft belogen werde, ausgerechnet sie, und warum es viele der dreisten Lügner so schlecht täten.

    Sofort hakte Luigi ein. Woran man denn die Lüge und vor allem den Lügner als solchen erkenne, wollte er wissen. Schließlich sei ja wohl niemand ein Pinocchio, dem beim Lügen die Nase aus dem Gesicht wachse.

    Mit ihm könne man aber auch gar nicht ernsthaft diskutieren, gab Loretta zurück und versetzte ihm einen Klaps gegen den Hinterkopf.

    Die Frage nach dem Pinocchio sei vollkommen ernsthaft gemeint.

    Marius lächelte. Er stellte sich vor, dass Luigi genau dies passierte, denn er selbst nahm es mit der Wahrheit s nicht so genau. Der Lügner, sagte er, spare beim Reden an Details. Die Feststellung mündete in allgemeine Heiterkeit. Loretta und Luigi sahen sich vergnügt an, und Marius ahnte sofort den Grund: Für gewöhnlich war er nämlich alles andere als redselig, sondern geizte mit den Worten.

    Es dauerte, bis sich die Heiterkeit legte.

    Das sei wohl deshalb so, nahm Loretta schließlich den Faden wieder auf, weil der Lügner, und selbstverständlich auch die Lügnerin, weniger Redezeit brauche. Es sei dann später ganz einfach weniger zu reproduzieren. Sie wüssten schon: Lügen und Gedächtnis …

    Marius warf Luigi einen unzweideutigen Blick zu, und Luigi steuerte eine Erfahrung eigener Art bei. Natürlich habe er auch schon mal gelogen, bekannte der, selten zwar und harmlos und natürlich mit ganz schlechtem Gewissen, aber das tue ja wohl jeder.

    Er kam aber nicht weiter, weil Marius jetzt einwarf, dass er das nun aber wirklich nicht glauben könne.

    Sie lachten, und Luigi versetzte ihm einen Klaps. Was er habe sagen wollen, erwiderte er, sei nicht die unter seinen Freunden sattsam bekannte Tatsache, dass er eine ehrliche Haut sei, sondern dass der Lügner eher von „man" spreche als von sich selbst. Die Frage, ob es denn jemandem in der Runde auch schon so gegangen sei, ging in allgemeiner Heiterkeit unter.

    Von der Vaporettostation kamen Leute herüber. Sie lachten, schwatzten und liefen vorbei. Vom Campanile schlug die Turmuhr.

    Marius wollte das so absolut nicht stehen lassen. Es komme doch immer auf das Motiv an, räumte er ein, nachdem es wieder ruhig um sie herum geworden war. Wer lüge, um Konflikte zu vermeiden, handele doch wohl vernünftig, genauso wie einer, der schwindele, um jemanden zu schützen.

    Es erstaunte ihn, dass Loretta ihm sofort beipflichtete. Das sei schon richtig, sagte sie, während sie heftig nickte, aber wenn jemand lüge, um sich zu bereichern oder sich einfach nur Ärger zu ersparen, sei das genau so schäbig wie die Lüge um der Lüge oder eine Verheimlichung um des persönlichen Vorteils willen.

    Marius sah sie erstaunt an. Das sei ja mal ein Satz, sagte er. Er bleibe dabei, dass lügen unter gewissen Umständen legitim sei, weshalb es nicht grundsätzlich schlimm sei, dass der abgrundtief ehrliche Luigi manchmal so heftig lüge, dass sich die Balken des Dogenpalastes bögen.

    Luigi knuffte ihm die Schultern, sagte aber nichts.

    Es lohne demnach, sich Gedanken darüber zu machen, woran man die Lüge und den Lügner erkenne, setzte Marius fort, denn das Motiv könne noch so edel sein, es verpuffe, wenn die gut gemeinte Lüge als solche erkannt und der Lügner enttarnt werde. Es sei nämlich nicht das Motiv, das man erkenne, sondern das, was als wahr vorgetragen tatsächlich falsch sei.

    Loretta setze ihr Glas so heftig ab, dass Wein auf den Tisch schwappte. Ihr Blick verunsicherte ihn. Aber offenbar galt die Tiefe des Blickes nicht ihm, denn sie setzte damit fort, dass ihre Schwester zum Beispiel eine grottenschlechte Lügnerin sei. Wenn sie lüge, lästerte sie, sei das leicht zu erkennen, denn sie verstricke sich in Widersprüche, spreche mit höherer Stimme und meide Blickkontakte.

    Marius hatte einen ganz anderen Blickkontakt im Sinn, als er Luigi empfahl, seine Fistelstimme künftig im Zaum zu halten. Den Klaps gegen den Hinterkopf nahm er lächelnd hin.

    Genau das habe sie auch schon erlebt, behauptete Loretta, wenngleich natürlich nicht an Luigi. Auch habe sie festgestellt, dass ein Lügenmaul die Augen verdrehe, sich im Gesicht und am Hals kratze und ekelhaft oft die Lippen lecke.

    Sie lachten. Laut hupend legte ein Vaporetto an und entließ einen neuen Schwung Menschen auf die Pier. Eine Gruppe Asiaten strömte in das Restaurant, und es wurde unruhig.

    Loretta nahm den Faden wieder auf. Sie habe übrigens festgestellt, dass der Lügner perfekt wirken wolle und selten sage, dass er sich an etwas nicht genau erinnern könne. Das komme wohl daher, dass vergessen von Details und falsches reproduzieren von Erlogenem in eine Schublade passten.

    Zumindest sei das naheliegend, bekräftigte Luigi. Er habe übrigens bemerkt, dass derjenige, der besonders miserabel lüge, Text und Mimik oft nicht zusammenbringe, also nicke und gleichzeitig nein sage.

    Loretta erwiderte, dass sie das auch schon bemerkt habe. Sie breitete die Arme aus und stieß dabei ihr Glas um. Sie murmelte etwas Unverständliches und wischte die Pfütze mit einer Serviette weg. Es passe oft einfach nicht zusammen, setzte sie fort, und wirke außerdem komisch. Solch einer lächele auch dann, wenn es gar nichts zu lächeln gebe. Außerdem verschränke ein Lügenbeutel oft die Arme und werde rot im Gesicht.

    Es entstand eine Pause. Dann sprachen sie darüber, wie viele Menschen sie kannten, die beim Lügen rot wurden. Das Ergebnis war verblüffend.

    Marius fand es erstaunlich, wie viel es zu dem Thema zu sagen gab, wollte es nun aber dabei bewenden lassen. In ihrem Urteil waren sie sich offenbar einig: Man konnte die Lüge erkennen und von der Wahrheit trennen, wenn man auf die Anzeichen achtete.

    Dann sprachen sie noch über dies und das und lachten viel. Das Gespräch blieb an der Oberfläche, und die Themen wechselten schnell. Und als der Kellner in immer kürzeren Abständen danach fragte, ob sie noch einen Wunsch hätten, brachen sie auf.

    2

    Mitten in der Nacht klopfte es leise an Marius’ Tür. Es war wie das Tropfen eines Wasserhahnes und erreichte ihn irgendwann. Mehrere Gedanken schossen ihm gleichzeitig durch den Kopf: Dass die Carabinieri auf ihn aufmerksam geworden waren, dass Luigi ihn bequatschen wollte oder seine Vermieterin ihn brauchte. Aber das Klopfen war schwach, geradezu so, als wollte der nächtliche Besucher niemand anderen auf sich aufmerksam machen. Folglich waren es weder die Witwe Patrona noch Carabinieri, von denen eine solche Zurückhaltung nicht zu erwarten gewesen wäre. Er erhob sich und ging zur Tür. Jetzt hörte er das leise Stimmchen Lorettas. Als er wortlos die Tür öffnete, fiel ihm Lorette in die Arme. Sie zitterte am ganzen Leib. Durch ihr dünnes Jäckchen spürte er ihre Angst. Er schloss die Tür und wartete. Er ließ ihr Zeit, während er fieberhaft überlegte, weshalb sie so verstört war, dass sie ihn nachts aufsuchte. Sie stand zitternd da, krallte sich an ihm fest und weinte.

    Schließlich löste er sich behutsam von ihr. Er hielt sie an den Schultern und sah ihr in die Augen, die ihn gerötet und angstgeweitet ansahen. Er war jetzt hellwach.

    Was denn los sei, fragte er.

    Loretta sank an der Tür auf den Boden herab. Sie wisse es nicht, hauchte sie. Luigi sei nicht nach Hause gekommen.

    Er sah sie verwundert an. Aber sie seien doch gemeinsam losgegangen. Vor Stunden schon.

    Loretta nickte heftig. Er sei noch mal los, sagte sie, nur was schauen. Sie habe ihn nicht zurückhalten können.

    Er kannte das. Wenn Luigi sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, waren nichts und niemand auf der Welt in der Lage, ihn davon abzuhalten. Er war dann wie ein Terrier auf Beutezug.

    Er begann zu rechnen. Es war jetzt zwei Uhr durch. Sie hatten sich vor mehr als vier Stunden getrennt. Sein Gefühl sagte ihm, dass etwas passiert sein musste. Er sei bestimmt versumpft und hocke längst zu Hause, versuchte er sie zu beruhigen, aber er ahnte, dass das nicht stimmte und ihr außerdem nicht half.

    Luigi versumpfe nicht, schluchzte sie

    Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Der Spinner wird doch nicht … Sollte es tatsächlich kein Hirngespinst gewesen sein, dem Luigi nachgehangen hatte? Wenn er tatsächlich noch mal wegwollte, dann wahrscheinlich nur aus diesem einen Grund. Er sollte es ihr sagen, aber wenn sich seine Vermutung später als Unsinn herausstellen würde und Luigi tatsächlich nur wegen eines banalen Streits mit Loretta abgehauen war, würde Luigi ihm die Offenbarung seiner Mutmaßung vielleicht nicht verzeihen.

    Als sich ihre Blicke trafen, spürte er, dass sie in seinen Gedanken wie in einem offenen Buch las. Sie hatte eine feine Antenne für Stimmungen und erkannte sofort, dass er eine Erklärung haben könnte. Er wisse doch, wo Luigi sei, rief sie mit schreckgeweiteten Augen. Sofort verlegte sie sich aufs Flehen und rutschte auf den Knien zu ihm herüber. Er sei doch Luigis bester Freund und wisse, wo er sei. Das sehe sie ihm an. Er lüge nun wirklich gerade miserabel. Ihre großen braunen Augen flehten ihn an. Er müsse es ihr sagen.

    Er hockte sich ihr gegenüber und nahm ihre Hände in seine. Dann schüttelte er den Kopf. Er wisse es nicht. Wirklich nicht, bekräftige er, aber er sah, dass sie ihm nicht glaubte. Offenbar log er tatsächlich schlecht.

    Er habe doch eine Idee, flehte sie. Das sehe sie an seinen Augen. Sie seien das Lesebuch der Seele. Luigi verschwinde nicht so einfach, und er bleibe auch nicht einfach so fort. So lange schon gleich gar nicht. Er wolle ihr wohl nicht helfen.

    Er fühlte sich plötzlich hilflos. Doch, sagte er, das wolle er, aber er dürfe sie nicht noch mehr ängstigen. Und wahrscheinlich denke er sowieso nur dummes Zeug.

    Es half nichts. Loretta schlang ihre Arme um seinen Hals. Sie sei so voller Angst, gestand sie unter Tränen. Andeutungen machten es noch schlimmer. Er müsse ihr sagen, was er wisse.

    Er wand sich wie ein Aal. Widerstreitende Gedanken balgten sich in ihm. Ob es sein könne, dass sie, nun ja, dass sie …

    Sie sah ihn mit großen Augen an. Dass sie sich mit Luigi gestritten habe, vollendete sie seinen Satz. Meine er das allen Ernstes? Sie schüttelte den Kopf. Nein, ganz im Gegenteil, sie hätten sich geliebt, heftig, und … na ja, er wisse schon, aber auch das habe ihn nicht davon abgehalten, loszuziehen. Er habe das öfter gemacht, sei aber nach ein, zwei Stunden immer zurückgewesen.

    Als er nicht reagierte, weil er viel zu erschrocken war, verlegte sich Loretta neuerlich aufs Flehen. Marius, rief sie, er wisse doch etwas. Er müsse es ihr sagen. Luigi sei sein Freund. Er müsse ihm helfen. Sie sah ihn mit ihren großen Augen flehend an, dann legte sie ihm die Hände auf die Unterarme und drückte sie. Bitte! Als das nicht half, rutschte sie auf Knien dicht an ihn heran und schlang ihre Arme um ihn.

    Er spürte am Druck der Arme ihre Angst. Er musste es ihr sagen, dachte er, und er tat es, verpackte es aber in eine Vermutung.

    Loretta begriff auch so. Ihr Entschluss stand sofort fest. Sie sprang auf und hastete drauflos. Gemeinsam liefen sie zur Riva di Ca’ di Dio an der Ponte dell’Accademia. Loretta hastete und zog ihn mit sich. Die Frage, wohin sie denn um Himmels Willen wolle, ließ sie unbeantwortet. Sie sah sich nicht einmal um. Auf der Piazzetta war um diese Zeit, anders als auf der Piazza San Marco, die nie zu schlafen schien, keine Menschenseele.

    Als er merkte, dass sie allein waren, ahnte er, was sie vorhatte. Er schloss zu ihr auf. Sie solle warten, sagte er bestimmt. Das, was sie vorhabe, sei wahrscheinlich gefährlich. Ob sie sich mal umgesehen habe? Sie seien weit und breit die einzigen Menschen.

    Loretta hielt inne, drehte sich zu ihm und umschlang ihn. Ob es so unauffälliger sei?

    Das nicht, dachte er, aber schöner. Eng aneinander geschmiegt erklärte er ihr, was sie tun mussten. Schließlich löste sie sich von ihm, hakte sich bei ihm ein, und dicht aneinandergeschmiegt liefen sie langsam weiter in Richtung der weißen Yacht. Marius spürte ihre Wärme, und er fand, dass er gerade dabei war, seine Freundschaft zu Luigi zu entweihen. Er hatte bisher jede körperliche Nähe zu Loretta vermieden, und nun fühlte er ihren zerbrechlichen Körper durch ihr dünnes Jäckchen. Aber es musste sein.

    Ihr gefalle diese Art der Tarnung, sagte sie, ohne ihn anzusehen. Dann sprachen sie kein Wort mehr, bis sie die Ponte dell’Accademia erreicht hatten. Dort hielten sie inne und umarmten sich. Loretta atmete schwer. Während er nach San Marco blickte, betrachtete Loretta die weiße Yacht mit den drei Schiffsdecks, den getönten Scheiben und dem glänzenden Lack.

    Was sie sehe, wollte er wissen.

    Loretta schien ein Gespür für das Wesentliche zu haben, denn sie beschränkte sich auf wenige Sätze: Einen weißen Protzdampfer sehe sie, hell erleuchtet, mit heruntergelassener Gangway. Am Eingang stehe jemand. Er sei kaum zu sehen, weil ihn der Schatten von innen fast verdecke.

    Und was sehe sie nicht?

    Ihr Atem stockte, bevor sie sagte: Luigi.

    Er strich ihr übers Haar. Es war mehr als nur eine Geste der Tarnung, es war die Entäußerung des Gefühls, dass sie ihm leid tat. Es würde aussichtslos sein, ihr zu sagen, dass es keinen Sinn hatte, hier zu stehen und die Yacht anzustarren.

    Plötzlich riss sie sich los, lief zur Gangway und verschwand in der Yacht. Marius stockte das Herz. Wie unvernünftig und verzweifelt musste sie sein, dass sie sich so töricht verhielt? Was wollte sie auf dem Schiff?

    Er lehnte sich tief über die Brüstung der Ponte dell’Accademia und hoffte, mit dem Grau der Nacht zu verschmelzen. Er fühlte sich hilflos. Sein Gefühl des Selbstschutzes hinderte ihn daran, ihr zu folgen. Er musste warten. Wahrscheinlich würde man sie anhören und mit freundlichen Worten wegschicken. Als sie aber nach drei Minuten noch immer nicht zurück war und er das Gefühl hatte, beobachtet zu werden, verließ er die Brücke und trat im Schatten des Geländers an den Rio dei Greco heran. Loretta würde über die Brücke kommen. Er würde sie hören und beruhigen. Er konnte nichts tun, als zu warten.

    Plötzlich hörte er ein seltsames Klatschen. Er kannte das Geräusch noch aus seiner Kindheit. Wenn seine Großmutter die Wäsche an das Ufer des Canale geschlagen hatte, hatte es genau so geklungen. Er sah sich um, aber da war nur die undurchdringliche Schwärze der Nacht. Es dauerte mehr als einen Augenblick, bis er das Dunkel des Wassers von dem darin schwimmenden Gegenstand unterscheiden konnte. Dann aber erschrak er, weil er erkannte, dass weniger als einen Meter von ihm entfernt im Rio dei Greco ein lebloser Körper lag, dessen grauer Blouson sich über dem Wasser aufwölbte. Er hielt sich an einer Stange fest, die aus dem Canale ragte und beugte sich soweit vor, dass er den Stoff zu greifen bekam und den Körper an sich heranziehen konnte. Als er ihn umdrehte, sah er in das Gesicht. Weit aufgerissene Augen sahen ihn kalt an. Der Anblick machte ihn fassungslos. Auch wenn sich seine Sinne dagegen wehrten und das Gesicht schemenhaft blieb, so war er doch fest davon überzeugt, dass das, was vor ihm im Rio dei Greco an der Ponte dell’Accademia lag, Luigis Leiche war. Noch ehe er es richtig begriff, drehte sich der Leichnam wieder um, und eine Hand schlug ihm plötzlich entgegen, die seltsam verkrampft wirkte. Er versuchte, sie zu öffnen, um an ihr die Leiche aus dem Canale zu ziehen. Es war wie ein Reflex, er musste es tun. Plötzlich hatte er ein kleines Stück Plastik in der Hand, das sich wie der Speicherstick eines Computers anfühlte. Er steckte seinen Fund achtlos in die Jackentasche und versuchte, den Körper an sich heranzuziehen. Dabei passierte es: Er strauchelte. Um sich abzufangen, musste er die Hand loslassen. Der tote Körper rutschte in die ursprüngliche Lage zurück und entfernte sich langsam vom Ufer. Er konnte ihn nicht mehr greifen und musste hilflos zusehen, wie er in der Schwärze der Nacht versank.

    Plötzlich hörte er leise Schritte über das Pflaster huschen. Er drückte sich in den Schatten der Ponte dell’Accademia und sah Loretta, die sich langsam entfernte. Leise rief er nach ihr. Als sie sich umwandte, verließ er für einen Augenblick den Schatten, winkte ihr und legte einen Zeigefinger auf den Mund. Ihre Augen weiteten sich, aber sie sagte nichts, sondern kroch neben ihn, keinen Augenblick zu früh, denn plötzlich hörten sie Schritte, schwere und schnelle Schritte. Loretta presste sich an Marius, der sich lautlos erhob und sie mit sich zog. Sie huschten zu einem kleinen Steg zwischen dem Palazzo und dem Rio dei Greco bis zu einem Mauervorsprung und verschmolzen dahinter mit dem rauen Mauerwerk.

    In diesem Augenblick erschienen auf der Ponte dell’Accademia zwei Männer, die sich suchend umsahen. Einer von ihnen trug eine Stange. Sie warfen sich einige Sätze zu. Die Sprache klang hart und abgehackt und war Marius unbekannt. Die Männer liefen mehrmals über die Brücke, als suchten sie jemanden, dann betraten sie genau die Stelle, an der er eben noch gestanden hatte, und hantierten am Wasser.

    Marius drückte Loretta ganz dicht an die Hauswand. Der Schatten hatte sie aufgenommen. Aus Richtung der Brücke hörte er Geräusche plätschernden Wassers und Wortfetzen, aber schon nach wenigen Minuten war der Spuk vorbei und die Stille der Nacht legte sich wieder über sie.

    Loretta fand als erste die Sprache wieder. Was das zu bedeuten habe, wollte sie flüsternd wissen. Er antwortete nicht. Stattdessen legte er ihr einen Zeigefinger auf die Lippen, und als er sah, dass sie nickte, zog er sie mit sich. Sie balancierten den schmalen Grat zwischen dem Rio dei Greco und dem Palazzo entlang, immer an die Hauswand geschmiegt. Er suchte den Durchgang, den er wiederholt benutzt hatte. Als er ihn schließlich fand, zog er Loretta erbarmungslos mit sich. Sie liefen und liefen, und erst am Campo San Maria Formosa hielten sie inne.

    Loretta keuchte. Sie war völlig erschöpft. Er zog sie zur Stufe eines Hauseingangs hinunter und nahm sie in die Arme. Dann berichtete er ihr, was er gesehen hatte.

    Es erstaunte ihn nicht einmal, dass sie nickte.

    Man habe sie auf dem Schiff freundlich empfangen, erzählte sie stockend, nachdem sie ein Weilchen still geweint hatte. Eine der düsteren Gestalten habe sie wegschicken wollen, aber dann sei jemand in einem weißen Anzug gekommen, der sie freundlich angehört habe. Er habe sie über Luigi ausgefragt, durchaus geschickt und in fehlerfreiem Italienisch. Was das für ein Landsmann gewesen sei, wisse sie nicht. Die Männer, die sie wegschicken wollten, seien hingegen Slawen gewesen, da sei sie sich sicher. Die Flüche auf der Brücke seien wohl von ihnen gewesen. Der Mann im weißen Anzug habe bedauert, ihr nicht helfen zu können. Dann habe er sie zur Gangway gebracht. Sie solle auf sich aufpassen, habe er sie ermahnt, Venedig sei voll von Strolchen.

    Langsam wandten sie sich dem Palazzo Malipiero zu. Marius fühlte sich hilflos und schuldig.

    3

    Die ganze Nacht hindurch weinte Loretta. Es war ein stilles Weinen. Krampfhaft hielt sie ein Tuch, mit dem sie sich die Tränen und die zerlaufene Schminke abwischte. Sie hatte aus Luigis Plan, die Yacht zu entern, die falschen Schlussfolgerungen gezogen, denn als sie wieder reden konnte, klagte sie ihn an. Er sei ein Beziehungskiller gewesen, lamentierte sie unter Tränen, ein Sittenstrolch und gar ein egoistischer Drecksack. Es war ihre Verzweiflung, die sie diese ungerechten Worte finden ließ, und schließlich wich die Anklage einem hilflosen Wimmern.

    Während sich Loretta, vom Weinen geschüttelt, an ihn lehnte, reifte in Marius ein Gedanke. Er musste etwas tun. Er konnte nicht einfach abwarten. Deshalb nutzte er den Moment, als Loretta im Bad verschwand, und verließ für einen Augenblick die Wohnung. Er rief bei der Post an. Im Canale an der Ponte Greco liege ein Toter, sagte er. Als die unvermeidliche Frage folgte, wer er denn sei und wie man ihn erreichen könne, legte er auf.

    Er war kaum in die Wohnung zurückgekehrt, als Loretta auch schon auf ihn zustürmte und sich an ihn klammerte. Sie zitterte. Er dürfe sie nicht verlassen, flehte sie, keinen Augenblick und nie wieder. Sie habe solche Angst gehabt. Als sie seine Schritte gehört habe, habe sie geglaubt, jetzt kämen Luigis Mörder auch zu ihr.

    Das Bild, das Loretta vor ihrem geistigen Auge zu haben schien, schockierte Marius. Offenbar trauerte sie nicht nur um Luigi, sondern versuchte auch, eine ganz tief sitzende Angst zu beherrschen. Er versicherte ihr deshalb, dass er sie nicht mehr allein lassen werde, obwohl ihm das überhaupt nicht möglich war.

    Sie saßen in der Küche. Das Grün der Herduhr schuf ein diffuses Licht. Die Geräusche des Hauses hatten sich in der nahezu vollkommenen Stille der Nacht aufgelöst.

    Als es zu dämmern begann, fasste er sich ein Herz und fragte Loretta, wieso sie geahnt habe, dass der Tote im Canale Luigi gewesen sei. Die Frage hatte ihn die ganze Nacht hindurch beschäftigt. Loretta hatte so seltsam reagiert, und es schien ihm, als sei ihr bereits bewusst gewesen, was passiert war.

    Sie sah ihn aus verweinten Augen an und sagte etwas vollkommen Unfassbares: wegen des Schuhs.

    Er verstand nicht, was sie meinte. Er ahnte es nicht einmal. Sie war fahrig, und ihr Blick huschte unstet hin und her. Als sie nichts weiter sagte, fragte er kopfschüttelnd, was sie denn meine.

    Ihr Versuch einer Antwort erstickte in einem Weinanfall. Er musste lange warten. Schließlich putzte sie sich geräuschvoll die Nase. Am Ausgang der Yacht habe ein schwarzer Müllsack gestanden, sagte sie stockend. Den habe sie gesehen, als sie hinauskomplimentiert worden sei. Er sei zwar zugeschnürt gewesen, aber es habe der Teil eines Schuhs herausgeragt, der …

    Ein neuer Weinkrampf schüttelte den zierlichen Körper. Sie konnte nicht weitersprechen

    Aber er hatte genug gehört, um zu ahnen, was Loretta meinte. Das, was sie entdeckt und bisher für sich behalten hatte, musste ein Schock für sie gewesen sein. Und es schien ihm geradezu unfassbar, dass sie über diese Entdeckung und die grausige Erkenntnis, die darauf sofort gefolgt sein musste, bisher geschwiegen hatte. Stattdessen hatte sie sich mitziehen lassen wie eine willenlose Gliederpuppe.

    Ganz vorsichtig hakte er nach. Sie meine tatsächlich …

    Sie nickte heftig. Mit einer Energie, die er ihr nicht zugetraut hätte, richtete sie sich auf und funkelte ihn an. Luigi habe die gelben Sneakers mit den abgelatschten Sohlen geliebt. Es gebe überhaupt keinen Zweifel, dass es sein Schuh gewesen sei. Als sie ihn gesehen habe, habe sie sofort gewusst, dass, dass …

    Ein erneuter Weinanfall unterbrach sie.

    Aber es gebe tausende solcher Schuhe, gab er vorsichtig zu bedenken.

    Loretta blieb indes dabei. Ja, vielleicht, aber nur einen linken Schuh, dessen Sohle vorn angeschmort und hinten links abgewetzt sei und außerdem ein Loch habe, das von einem rostigen Nagel stamme, den sich Luigi einmal im Arsenale auf der Flucht eingetreten habe. Eine Woche lang habe er nicht laufen können. Es gebe überhaupt keinen Zweifel. Das sei sein Schuh gewesen, und da Luigi nicht drangehangen habe, sei ja wohl klar, was passiert sein müsse.

    Er sagte nichts.

    Loretta sah auf. Und die Jacke, fügte sie hinzu. Er wisse doch selbst, dass Luigi einen grauen Blouson gehabt habe, wie, wie … Die restlichen Worte gingen in Tränen unter.

    Seine Zweifel begannen sich aufzulösen. Er sah die Augen vor sich, die ihn aus dem Wasser des Canale angestarrt hatten. Er hatte den schemenhaften Anblick des im Wasser liegenden Gesichts vor sich und erkannte plötzlich, dass Loretta mit allem recht hatte. Sie war eine gute Beobachterin. Luigi war tot, weil er in die weiße Yacht eingestiegen war, die er so neiderfüllt angeschmachtet hatte, als wolle er sie kapern. Dabei hatte er nur das Abenteuer gesucht und seine Neugier befriedigen wollen. Er hatte die überzogene Neugier eines unbedeutenden Taschendiebs mit seinem Leben bezahlt. Nie mehr würde er durch diese Tür treten und munter drauflos fabulieren oder träumen wie ein kleines Kind. Bei dem Gedanken kamen ihm die Tränen.

    Ob er jetzt verstehe, wie beschissen sie sich fühle, fragte Loretta.

    Er war außerstande, etwas zu erwidern. Seine plötzliche Trauer lähmte seine Stimme. Er zog Loretta an sich und presste die Augen zusammen, die voller Tränen waren und wie Feuer brannten.

    Sie schwiegen lange. Marius war Loretta dankbar dafür.

    Eine Tür knallte, dann polterten Schritte die Treppe hinunter. Das Haus erwachte zum Leben. Das war das Profane an der Situation: Sein Freund Luigi war tot, er hatte würdelos wie ein toter Fisch im Canale gelegen, Loretta weinte sich seinetwegen die Augen aus dem Kopf, und das Leben ging trotzdem weiter, als sei nichts passiert. Nichts hielt es auf.

    Was denn nun werde, fragte Loretta, während sie ihr Tuch krampfhaft an sich presste.

    Marius erklärte es ihr.

    Vom Palazzo Malipiero bis zur Wachstation der Gendarmerie war es nicht weit. Trotz der frühen Stunde hatte sich der Strom der Touristen bereits über die Stadt zu ergießen begonnen. Auf dem Platz vor der Kirche San Zaccaria baute ein Obsthändler seinen Stand auf, und ein Maler brachte seine Staffelei in die richtige Lage. Aus dem Rio del Vin hinter der Kirche wehte eine Brise herüber, die nach Fisch roch. Es würde wieder ein heißer Tag werden.

    Loretta hatte ein mulmiges Gefühl, obwohl sie sich genau zurechtgelegt hatte, was sie sagen wollte, denn sie würde auf sich allein gestellt sein. Marius, der auf der Riva degli Schiavoni auf sie warten wollte, hatte ihr seine Beweggründe erklärt, und sie hatte sie akzeptiert. Notgedrungen, hatte sie betont, damit er sie nicht auch noch allein lasse.

    Schüchtern betrat sie die Wachstation. Am Empfang saß ein bärtiger Mann mittleren Alters in blauer Uniform. Er musterte sie aufmerksam, aber nicht unfreundlich. Was sie denn herführe, fragte er mit dunkler Stimme.

    Sie war so voller Angst, dass sie sicher war, man müsse es ihr ansehen. Außerdem befürchtete sie, viel mehr zu sagen, als gut sein würde, Deshalb kam sie sofort zur Sache. Sie wolle eine Vermisstenanzeige aufgeben, sagte sie.

    Der Mann nickte, griff nach einem Formular und fragte, wen sie denn vermisse.

    Sie hatte befürchtet, in einem Vernehmungszimmer jede Kontrolle über sich zu verlieren. Dass sie gleich hier am Tresen Auskunft geben sollte, war ihr deshalb ganz angenehm. Ihren Freund, Luigi Lorenzo, sagte sie wahrheitsgemäß. Er sei seit gestern spätabends verschwunden. Zuletzt sei er mit ihr am Rio dei Greco in der Nähe der Ponte dell’Accademia gewesen. Dort hätten sich ihre Wege getrennt. Sie blickte zu Boden, bevor sie ergänzte, dass sie sich gestritten hätten.

    Der Carabinieri ließ den Stift sinken. Sie vermisse ihren Freund nicht, stellte er missbilligend fest. Sie wisse nur nicht, wo er abgeblieben sei. Das sei ja wohl ein Unterschied.

    Sie fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Sie wisse, wollte sie herausschreien, dass Luigi tot sei, sie habe ihn schließlich im Rio dei Greco liegen sehen, im dunklen Wasser und mit dem Gesicht nach unten. Aber das konnte sie nicht sagen, sondern musste sich stattdessen mit Allgemeinplätzen begnügen. Sie merkte jetzt, was für ein geradezu unseliger Plan es war, auf diese zweifelhafte Weise das Wissen der Polizei abzuschöpfen.

    Sie vermisse Luigi wirklich, beharrte sie, und es sei ja nun wirklich ganz anders, als er denke. Das fühle sie.

    Soso! Sie fühle es. So wie man Bauchweh fühle oder Kummer.

    Sie funkelte den Carabinieri wütend an. Sein Misstrauen gab ihr Kraft. Es gebe vielleicht eine Leiche mehr in Venedig, sagte sie mit fester Stimme, und er wolle nicht einmal wissen, wen sie vermisse. Das sei unfassbar.

    Der Carabinieri nickte und klatschte mit der flachen Hand auf die Tischplatte. Na dann wolle er mal, sagte er, und es klang, als käme es ihm auf eine Lügengeschichte mehr oder weniger nicht an. Wie denn der Vermisste heiße?

    Sie sagte Luigis Namen. Er hörte sich unwirklich an, fand sie, fast wie der Name eines Fremden. Sie wisse, dass ihm etwas zugestoßen sei, beteuerte sie. Es sei schließlich

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