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KAFKANIEN: Warum man Josef L. wegen einer unerforschten Krankheit wie einen Staatsfeind behandelte
KAFKANIEN: Warum man Josef L. wegen einer unerforschten Krankheit wie einen Staatsfeind behandelte
KAFKANIEN: Warum man Josef L. wegen einer unerforschten Krankheit wie einen Staatsfeind behandelte
eBook1.144 Seiten16 Stunden

KAFKANIEN: Warum man Josef L. wegen einer unerforschten Krankheit wie einen Staatsfeind behandelte

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Über dieses E-Book

KAFKANIEN ist ein Krimi in dem niemand stirbt, sieht man vom Glauben des Protagonisten an Politik, Medizin und Rechtsstaat ab. Erzählt werden die Erlebnisse des Josef L., dessen Karriere und Existenz, sein glückliches und aktives Leben, zunehmend zerrinnen, bis ihn der unerklärliche Leistungseinbruch auf allen Ebenen in die Hände von Ärzten treibt. Diese finden bei keiner Untersuchung eine Ursache für seine unzähligen Symptome und stempeln Josef daher als psychisch erkrankt ab. Er beginnt selbst zu recherchieren und findet sehr schnell eine logische Erklärung. Doch nun beginnt erst recht eine Odyssee durch einen Ärztedschungel, der sich als ratlos, oft überheblich und schließlich als mangelhaft ausgebildet herausstellt. Dazu zieht ihn die Erwerbsunfähigkeit immer tiefer in den Strudel von Politik und Behörden. Einsprüche werden praktischerweise gleich selbst abgelehnt, Protokolle schlampig manipuliert, Gutachten mit Fantasiediagnosen gefüllt, Befunde verschwinden reihenweise, sogar vor Gericht wird gelogen, wofür aber kein Minister, keine Kammer und keine Anwaltschaft verantwortlich sein wollen.

Für Josef stellen sich nun Fragen. Warum kennt sich kein Arzt mit seiner Krankheit aus? Wieso dürfen staatliche Psychiater ungestraft ins Blaue lügen? Warum stimmt praktisch nichts, was die schwarzen Schafe unter den Staatsangestellten behaupten? Trägt der Oberarzt der Versicherung vielleicht nicht zufällig den gleichen Familiennamen wie ein hoher Politfunktionär? Warum beschäftigt der Staat einen Anhänger einer staatsfeindlichen Organisation? Wieso entstammt dieser ausgerechnet einer Familie mit NS-Vergangenheit, die ein Kinderfolterheim betrieb, mit dem man Josefs Vater drohte, wenn es in seinem Kinderheim noch nicht gewalttätig genug zuging? Wer hatte diese infamen Verleumdungen beauftragt? Warum ist es in unserem Land zweifellos besser, ein Täter denn ein Opfer zu sein? Und was hat das alles mit der Steuerflucht großer Konzerne zu tun?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum10. Juni 2021
ISBN9783347305281
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    Buchvorschau

    KAFKANIEN - Harald Christian

    Kapitel 1: Burn-Out

    Am darauffolgenden Freitag ging Josef in dieser Angelegenheit zu einem ersten Besuch bei seiner Hausärztin. Typisch Mann, kannte er Arztbesuche nur, wenn er ein oder zwei Mal pro Jahr ein paar Tage Krankenstand brauchte, um eine Verkühlung auszukurieren. Für diesen Zweck tat seine Hausärztin ihre Dienste sehr gut, denn richtig erkrankt war, und fühlte sich, Josef sein ganzes Leben nicht. Frau Dr. Ganser schien die Ernsthaftigkeit seiner Worte, mit denen er sie diesmal begrüßte, daher nicht zu erkennen.

    „Mit mir ist irgend Etwas, sagte Josef. „Ich bin zusehends zerfahren und unkonzentriert.

    Dr. Ganser war eine robuste, kleine Person, die immer viel Zuversicht auszustrahlen versuchte. So behielt sie ihr breites Lächeln aus der Begrüßung bei, als ihr Josef von seiner seltsamen Vereinsamung und Irritation unter Menschen erzählte und von der unerklärlichen Erregbarkeit, der Unkonzentriertheit, sowie dem deshalb kürzlich selbstverschuldeten, kleinen Autounfall. Dr. Ganser diagnostizierte umgehend.

    „Wissen Sie, was Sie haben? Sie haben eine vorübergehende Belastungsstörung."

    Folgerichtig verwies sie Josef zu einer psychologischen Untersuchung und schwenkte auch gleich mit einer Visitenkarte eines Psychologen. Dr. Polensky beschrieb sie als sehr renommiert, ja dass sie ihn sogar persönlich kenne und in seinem Wochenendhaus auch bereits zum Essen eingeladen war. Dr. Ganser stellte Josef eine Bestätigung aus, ein, einer Überweisung sehr ähnliches Formular, was sie mit ein wenig Unsicherheit begründete, „ich glaube, Psychologen brauchen da etwas Anderes." Sehr oft schien sie nicht, Patienten zu Psychologen zu überweisen.

    Aus ihrer Hausapotheke verkaufte sie ihm gegen die vorübergehende Belastungsstörung auch gleich ein passendes Medikament namens Cipralex, das er fortan einmal täglich zu nehmen habe.

    Ein wenig zuversichtlicher verließ Josef die Arztpraxis, vereinbarte gleich am nächsten Arbeitstag einen Termin bei Dr. Polensky, nahm regelmäßig das verschriebene Medikament und arbeitete weiter, wie gewohnt. Das bedeutete, er fuhr mit seinem Firmenwagen weiterhin weit über tausend Kilometer pro Woche, erlitt unerklärliche, quälende Unsicherheitsgefühle unter seinen Kollegen im Büro und versuchte seine Unkonzentriertheit so gut es ihm nur möglich war, zu überspielen. Noch öfter überwältigte ihn auf diesen langen Autofahrten die Müdigkeit, so dass er einen Autobahnparkplatz zu tiefem Schlaf aufsuchen musste, aus dem er dann immer schweißgebadet aufwachte. Josef konnte kaum mehr länger als zwei Stunden ohne Pause, in der er auf seinem umgelegten Autositz eine Stunde schlief, am Stück fahren. Vielleicht aber, war dieses noch weiter gesteigerte Schlafbedürfnis, inzwischen auch nur dem von Dr. Ganser verschriebenen Psychopharmaka geschuldet? Auswirkungen auf seinen höchst beunruhigen Zustand hatte das Medikament jedenfalls keine. Auch nicht auf die von Schweißausbrüchen begleiteten Hilfeschreianfälle in der Küche oder der Garage, die er nun regelmäßig, selbst schon bei kleinen Hausarbeiten, bekam.

    In Gesprächen mit seinen Kunden war es ihm schon einige Jahre zusehends schwerer gefallen, professionell zu bleiben. Viele seiner Ansprechpartner kannte er über Jahrzehnte, mit einigen hatte er ein mehr freundschaftlich als geschäftliches Verhältnis, jetzt aber konnte Josef das Erzählen seiner privaten Belastungen gar nicht mehr zurückhalten. Es schien, als würde das, einem gesunden Menschen anerzogene, psychische Schutzschild zusehends rissig, einer zerschlissenen Regenplane gleich, deren Material aufgrund der Altersschwäche zunehmend mehr Feuchtigkeit durchlässt. Auch diese Gespräche wurden mehr und mehr zu Hilfeschreien, an Freunde, die ihm nicht helfen konnten, zur Lösung eines Problems, das nur schwer fassbar war, mit einer Ursache, die niemand erkannte.

    Und dann kam der Tag, an dem das Schicksal ein Rauschen und ein Pfeifen in Josefs Kopf einschaltete.

    Zwölf Tage nach dem ersten Besuch bei Dr. Ganser war Josef wieder bereits einige Stunden auf der Autobahn unterwegs, als er sich plötzlich unter einem Wasserfall stehend glaubte. Es begann bei heiterem Himmel, während er, eigentlich völlig entspannt, seinem Ziel entgegenrollte. Und es kam aus ebenso heiterem Himmel.

    „Schschsch, Iiiihhh", kreischte es im Kopf, als ob dem Wasserfall auch noch ein Umspannwerk angeschlossen wäre, oder ein Nachbar eine Kreissäge eingeschalten hätte. Es kam von einem Moment auf den anderen und wollte sich auch nicht mehr ausschalten lassen.

    Dazu spürte er im Inneren seines rechten Ohrs einen Schmerz, einer Mittelohrentzündung gleich. Josef war davon so heftig getroffen, dass er das Gefühl hatte, den Schmerz im Ohr richtig hören zu können. Unmittelbar verglich er dieses Stechen mit seinen Erinnerungen an die Nachwirkungen eines rund zehn Jahre zuvor absolvierten Schnuppertauchkurses im bakterienverseuchten Pool einer tunesischen Hotelanlage. Auch dachte er an die Qualen, die Kinder mit Mitterohrentzündung erleiden, und noch dazu weit häufiger daran erkranken als Erwachsene. Ein Entzündungsherd in der Mitte des Ohrs strahlt auf einen anliegenden Knoten vieler zentraler Nervenstränge aus, daher fühlen sich diese Schmerzen so intensiv an, ist eine Mittelohrentzündung zurecht gefürchtet.

    Josef hatte noch eine gute Stunde Fahrt bis zu seinem Hotel vor sich. Eigentlich sollte er direkt zu einem vereinbarten Termin mit einem gut befreundeten Kunden fahren, der aber Verständnis zeigte, als ihm Josef absagte. In dieser quälenden Stunde bis zum Hotel, bekam er zusehends Angst. Angst davor, die kleine Kreuzfahrt, die er mit Agnes in weniger als einer Woche unternehmen wollte, nicht wird antreten können. Angst davor, ein Krankenhaus mit so vielen fremden Menschen aufsuchen zu müssen, und Angst vor den immer wieder auftretenden Schmerzen im rechten Ohr.

    Nachts lag er im dunklen Hotelzimmer und hörte dem Pfeifen im Ohr und dem Rauschen im Kopf zu. Die Schmerzen waren etwas abgeklungen. Aber das Pfeifen beunruhigte Josef sehr, auch wenn er sich eine lebenslange Konsequenz noch gar nicht vorstellen konnte. Erst spät schlief er, trotz des Wasserfalls in seinem Kopf, endlich ein. Am Morgen galt der erste Gedanke wieder dem elektrischen Zirpen und dem Rauschen im Kopf. Zwar etwas milder als am Vorabend, aber es war noch immer da.

    Ganz wie gewohnt, bereitete er sich auf seinen Arbeitstag vor. Doch als sich im Frühstücksraum des Hotels auch die Ohrenschmerzen, mit gleicher Intensität wie tags zuvor, wieder zum Rauschen dazugesellten, rief er alle für diesen Tag geplanten Kunden an, um die Besuchstermine abzusagen. Der letzte Anruf galt Tom, einem Kollegen aus der Gegend zu dem er ein besonders gutes Verhältnis hatte, um ihn zu fragen, welches Krankenhaus, möglichst nahe dem Ort seines Hotels gelegen, er empfehlen könne.

    „Kurz vor der Landeshauptstadt gibt es ein ganz neues Krankenhaus. Auch ist der Weg für Dich kürzer als in die Stadt", riet ihm Tom.

    Schon die Suche nach dem Spital, einer Parkmöglichkeit, dem Haupteingang und der Anmeldung, war für Josef erniedrigend. Seltsam verwirrt, verfuhr und verlief er sich schon seit einiger Zeit ständig. Besonders in fremder Umgebung fühlte er sich ungewohnt orientierungslos, obwohl er ein Leben lang stolz auf seinen besonderen Orientierungssinn sein konnte. Das Gefühl der Enttäuschung, dass es in diesem Spital keine Abteilung gab, an die er sich mit seinen Ohrenschmerzen wenden konnte, fuhr ihm im wörtlichen Sinn in Mark und Bein. Es kribbelte am ganzen Körper, so als wäre er an eine Stromleitung angeschlossen.

    Josef blieb der Weg in die Stadt also nicht erspart, wieder nur mit großer Mühe fand er sich in den Straßen und am Gelände des Landeskrankenhauses zurecht. An diesem sonnigen Jännertag saß er schon eine gute Stunde im Wartesaal der HNO-Ambulanz, als er endlich aufgerufen wurde.

    Eine junge Ärztin empfing ihn in einem hellen, überraschend großen, an eine Schulklasse erinnernden, Behandlungsraum. Sie besah sich seine Ohren durch einen Metalltrichter und schickte ihn gleich zu einem Akustiktest weiter. Eine, so sympathisch wie akkurat agierende, medizinisch-technische Assistentin setzte Josef in eine schalldichte Kabine und spielte ihm verschiedene Frequenzen und Klopfgeräusche in unterschiedlichen Lautstärken über Kopfhörer ein. Josef erinnerte sich, eine solche Situation hatte er schon einmal erlebt, vor über dreißig Jahren, bei der Stellungskommission des Bundesheers. Die Auswertung ergab eine leichte Hörminderung des rechten Ohrs, das Rauschen im Kopf könne aber mit keinem Test gemessen werden. Und gegen die Schmerzen in Ohr und Hals verschrieb man ein Cortison beinhaltendes Medikament. Die junge Ärztin verabschiedete Josef mit einem guten Rat.

    „Sie sollten drei Monate in Krankenstand gehen, sonst geht der Tinnitus nie mehr weg." Tinnitus, diesen Begriff kannte er gut. Sein Vater, Jahrzehnte unter schweren Rückenschmerzen und noch mehr leidend, hatte diesen Begriff oft erwähnt, doch zum ersten Mal wurde er nun bei Josef diagnostiziert.

    Selbstverständlich war an einen längeren Krankenstand nicht zu denken. Josef drohte zwar nicht direkt seine Anstellung zu verlieren, doch drehte sich die Schraube, mit der Kosten gesenkt und Aktienkurse angehoben werden sollen, seit den neunziger Jahren zunehmend schneller. Die costcutting-Seuche, hatte längst auch die payrolls der Konzerne infiziert. Ein fire by excel, wie es Gabriele ausdrückte, erzeugt bei jedem Mitarbeiter unvermeidbar ein in die Grundfesten der Psyche dringendes Unsicherheitsgefühl, die vielzitierte Existenzangst. Und Hypotheken, so wie sie Josef für sein Haus regelmäßig abzuzahlen hatte, potenzieren diese Unsicherheit noch. Er begann genau abzuwägen, wie weit er die Schmerzen zu ertragen bereit sei, um seinen Job nicht durch Krankenstand zu verlieren.

    Am Ende dieser Arbeitswoche fand die psychologische Untersuchung durch Dr. Polensky statt. Überpünktlich erschien Josef in der Praxis des Psychologen, im zweiten Stock eines Wiener Gründerzeithauses, und wähnte sich unversehens in einem mittelalterlichen Schloss. Das Wartezimmer dominierte eine mit Helm, Harnisch und Lanze überkomplette Ritterrüstung und auch das Mobiliar in den überhohen Räumen verstärkte den Eindruck, mehr in einer Burg als in einem Zinshaus zu sein. Ins Behandlungszimmer gebeten, erblickte Josef sofort eine stolze Bibliothek und ein deutlich veraltetes Computermodell auf dem mit Unterlagen überquellenden Schreibtisch. Und stolz wird Dr. Polensky wohl auch auf sein Bild am Titelblatt des amerikanischen Fachblattes Psychology Today sein, das er gerahmt in einem Regalfach präsentierte und damit unmissverständlich seine fachlichen Qualitäten bezeugte. Noch etwas drängte sich Josef auf, das Wort Chinchilla, für die Farbe von Dr. Polenskys Bürstenhaarschnitt.

    Josef hatte ein gutes Gefühl. Sein Gesprächspartner begann, ihm einige psychologische Standardtest vorzulegen, darunter auch den offenbar unvermeidlichen Rohrschach-Test, bei dem, wie oft fälschlich angenommen, der Patient nicht bloß auf seine Interpretation der teilweise farbigen Tintenklekse, sondern auch auf die im Zusammenhang mit dem Test stehenden Äußerungen und Aktionen hin beobachtet wird. Während Josef danach einige Fragebögen ausfüllte, die sich zu seiner Überraschung nicht wesentlich von den viel belächelten Psychotests in diversen Wochenendbeilagen von Tageszeitungen unterschieden, begab sich Dr. Polensky in ein Hinterzimmer. Josef war längst fertig, als der Psychologe zurückkam und ihn in ein Gespräch verwickelte. Er klagte über seinen Karriereknick, an dem ihm weniger die finanziellen Einbußen belasteten als der Verlust der beruflichen Gestaltungsmöglichkeiten, das Kribbeln der Herausforderung die richtigen Entscheidungen treffen zu müssen und das wohlige Gefühl, im Führen der Untergebenen ein guter Mensch zu sein. Und allem voran, litt Josef durch den Karriereknick unter dem Verlust des Gewichts seiner Worte bei seinen Mitmenschen. Den Aussagen eines Chefs wird Gehör und Glaube geschenkt, ein Vertreter, wie es Josef seit einiger Zeit nun war, wird von der Gesellschaft gleich mehrere Ebenen tiefer kategorisiert, in der Schublade mit der Aufschrift, Achtung, unglaubwürdig! Behauptungen eines Chefs, der bewiesen hat, es im Leben zu Etwas gebracht zu haben und Verantwortung tragen zu können, so das Klischee, müssen daher auch richtig sein, die eines Vertreters doch wohl nur dem Ziel, etwas verkaufen zu wollen geschuldet und daher von der Gesellschaft mit Skepsis betrachtet.

    Nachdem Dr. Polensky noch einige Minuten der wertvollen Untersuchungszeit selbst von seinen Wüstenabenteuern in Jugendtagen erzählte, empfahl er Josef mit den Worten, „das bekommen wir schon wieder hin", eine Psychotherapie bei ihm zu machen. Doch einen von der Krankenversicherung bezahlten Therapieplatz könne er erst in zehn Monaten anbieten. Das von Dr. Ganser ausgestellte Bestätigungsformular stellte sich als das falsche heraus, Dr. Polensky wollte seinen Befund aber erst ausstellen, nachdem Josef das richtige Formular nachgebracht habe. Josef erwähnte seine anstehende Kreuzfahrt und erklärte dem Psychologen, dass er daher erst in zwei Wochen die richtige Überweisung bringen könne.

    So fuhr er mit einem guten Gefühl nach Hause, um für die kommende Reise zu packen, doch fiel vorerst, durch die Anstrengungen der Untersuchung besonders tief erschöpft, in einen mehrstündigen Schlaf auf seinem Sofa. Die Kreissäge im Kopf begleitete ihn nun bereits den fünften Tag, und wie schon in seiner ersten Nacht mit Rauschen und Pfeifen im Kopf, bemerkte er ebenso eine kleine Milderung nach dem Schlaf und ein wieder Anschwellen sobald er sich aufsetzte und erste Schritte machte. Das Holen des Reisegepäcks aus der Abstellkammer im Keller, das Strecken nach den Urlaubsaccessoires in den obersten Kastenfächern, das oftmalige Bücken, um seine Kleidung in die geöffneten Koffer auf dem Teppich zu legen, und unzählige Male Stiegen steigen in seinem Reihenhaus, ließen ihn zunehmend erregen, so dass schon eine kleine Widrigkeit reichte, um wieder einmal einen seiner seltsam verzweifelten Redeschwallanfälle auszulösen. Mit dunkelrotem Kopf, aus den Poren spritzendem, stark säuerlich riechendem Schweiß, stand Josef in der Nacht vor dem Abflug zu der so sehnlich erwarteten Nilkreuzfahrt in seiner Küche, schrie und spuckte sich die Seele aus dem Leib, nach Hilfe zur Bewältigung eines Zustands, der er nicht einmal selbst richtig fassen konnte.

    Josef war auf Reisen immer wohler als zuhause. Schon vor der mittlerweile bereits einige Jahre kontinuierlich verstärkenden Menschenscheu, fühlte er sich als Fremder im eigenen Land. Zu Beginn seines Lebens war er ein Ausgegrenzter, weil er, als einziges Kind seines Lebensraums, von den Eltern dazu angehalten wurde, nicht Dialekt zu sprechen, mit Selbstgenähtem gekleidet wurde, schon früh eine Brille trug und dazu noch etwas pummelig war. Der erwachsene Josef interessierte sich für Jazz, hörte im Radio nur den Kultursender und las großformatige Zeitungen. In einer Zeit, in der der gesellschaftliche Wandel zur Abgrenzung, von Meinungsmachern aller Art propagiert wird, verstärken sich auch die Grenzen innerhalb einer heterogenen Gemeinschaft, eine Minderheit mutiert scheibchenweise vom bunten Fleck zum angepatzten Ausgegrenzten. Josef hatte sich zu den Themen Religion, Politik, Geschichte und so weiter, aus den Zusammenhängen eine eigenständige Meinung gebildet, dies unterschied ihn von der Mehrheit, dies grenzte ihn im eigenen Land aus.

    So fühlte er sich keiner Gesellschaft als deren typischer Vertreter angehörig, ob im eigenen Staat oder einem anderen. Seine Mitbürger im eigenen Land irritierte so ein scheinbar Zugehöriger, und doch Außenstehender. Auf Reisen war aber dieser Status des Fremdseins klar definiert, er war ein nicht hier Ansässiger, und als solcher beinahe überall auf der Welt willkommen.

    Schon am Flughafen von Kairo lebte er auf. Für den Fremden war die Fremde eine Heimat, in der er nun angekommen war. Schon mit den ersten Menschen, die ihm bei der Passkontrolle und dem anschließenden kurzen Inlandsflug begegneten, fühlte er sich auf Augenhöhe. Als er gegen Mitternacht, während der mehrstündigen Busreise zum Liegeplatz ihres Kreuzfahrtschiffes, die Sitte der ägyptischen Autofahrer beobachtete, alleine auf dunklen Landstraßen ohne Licht zu fahren, und erst knapp vor dem Entgegenkommenden dann mit Fernlicht diesen zur herzlichen Begrüßung zu blenden, zeichnete dies ein breites Lächeln in sein Gesicht und erzeugte eine glückliche Wärme in seinem ganzen Körper. Josef liebte fremde Sitten in fremden Ländern. Bis er sich an den Anblick der an den allgegenwärtigen Checkpoints stehenden, immer vollkommen schwarz gekleideten und doch nicht richtig uniformierten, Männer mit umgehängter Maschinenpistole gewöhnte, dauerte es allerdings einige Tage.

    Agnes und Josef fuhren auf einem der klassischen Nilkreuzfahrtschiffe, deren Größe an die Breite der Schleusen und die Höhe den wenigen Brücken über den Nil angepasst und daher einheitlich war, stromaufwärts, von einem am Flussufer liegenden Tempel zum nächsten. Josef hatte in diesen Tagen Glücksgefühle in der Tiefe seiner Persönlichkeit, er hatte die gleiche Aufgabe, ein klares Ziel wie auch dreißig Jahre zuvor während seiner Saharareise, nämlich so weit wie möglich Richtung Süden zu kommen. Er spürte seit langem wieder diesen, für seine Person stimmigsten Sinn des Lebens.

    Schmerz produziert der Körper als Alarmsignal. Man bemerkt ihn nur, wenn man ihn soeben hat und vergisst ihn, zum Überleben unverzichtbar, sofort nach dem Abklingen. So dauerte es bis Josef bewusst wurde, dass ihn die Ohrenschmerzen schon einige Tage verschont hatten. Ebenso konnte er das Rauschen tagsüber teilweise aus seinem Bewusstsein verdrängen, doch nur um dann nachts im Bett umso heftiger vom Fortissimo des Orchesters im Kopf gequält zu werden. Der Leistungseinbruch, die Ermüdbarkeit, die Konzentrationsschwäche und die niedere Reizbarkeitsschwelle begleiteten sein Leben aber auch auf dieser Urlaubreise, sie ließen sich mit keiner Anstrengung ignorieren. Ebenso verunsicherte ihn seine emotionale Labilität weiterhin. Wenn sie gemeinsam das Schiff für einen Ausflug zu einem der vielen mächtigen Tempel entlang des Nils verließen, fühlte er sich an Agnes Seite beinahe so selbstbewusst und persönlichkeitsstark wie in seinen guten Jahren. Alleingelassen, dämmerte jedoch immer öfter die Erinnerung an eine Verunsicherung, die ein Kindergartenkind während einer Gardinenpredigt empfindet.

    Da die Touristenströme in die nordafrikanischen Länder nach dem Zusammenbruch des Arabischen Frühlings, der nicht anders als beispielsweise der Prager Frühling, nur mit einem Abgleiten in eine noch restriktivere Militärdiktatur als zuvor endete, praktisch vollends versiegt waren, genossen Josef und Agnes die tausende Jahre alten Kulturstätten entlang des Nil als Privatvorstellung. Tausende waren vor dem großen Einbruch auch die Besucher, die einander täglich durch die einschüchternd monumentalen Tempel, wie den des Pharao Ramses II und seiner Hauptfrau Nefertari in Abu Simbel, ganz im Süden Ägyptens, beinahe an der Grenze zum Sudan gelegen, durchströmten. Josef und Agnes aber standen ganz allein vor den riesigen steinernen Kolossen des Tempeleingangs als sie um sieben Uhr Früh den Sonnenaufgang über dem östlichen Nilufer erleben durften und sich, angesichts Josefs unverändert besorgniserregendem Gesundheitszustand, in zärtlicher Umarmung Trost spendeten.

    Vor den Unruhen und vereinzelten Bombenattentaten fuhren rund vierhundert Kreuzfahrtschiffe, die so notwendigen Devisen bringenden, Touristen den Nil entlang. Im Jahr als Josef und Agnes reisten, waren es nur noch dreizehn. Ebenso verwaist wie alle touristischen Stätten war daher auch das religiöse Zentrum des alten Ägypten, die Tempelstadt Karnak am Rande von Theben, der Stadt, die nach der Eroberung furch die Araber im siebenten Jahrhundert von diesen, angesichts der überwältigenden Pracht, in Luxor, dem Ursprung des Wortes Luxus, umbenannt wurde. Nur dem allgegenwärtigen Bakschisch konnten sie es verdanken, dass die berühmte nächtliche Lightshow, deren rund dreitausend Sitz- und Stehplätze früher nur bei rechtzeitiger Buchung noch zu bekommen waren, für ihre vierzehnköpfige Gruppe überhaupt aufgeführt wurde. So konnte Josef die gespenstische Leere unter den unvorstellbar mächtigen Säulen zu, bei normalem Besucherstrom unmöglicher, längerer Betrachtung nutzen. Und dabei fielen ihm einige Hieroglyphen auf, die weit tiefer als üblich in den Sandstein gemeißelt waren.

    Ihr wissenschaftlicher Führer durch diese Woche, ein Professor für Ägyptologie aus Berlin, erklärte Josef, „dies sind Inschriften, in denen der neue Herrscher den Namen seines Vorgängers ausmeißeln und durch den eigenen ersetzen ließ, um die Ruhmestaten als die seinen auszugeben. Und damit dies nicht auch seine Nachfolger ebenso machen können, wurde der neue Pharaonenname gleich zentimetertief eingemeißelt." Der Nachweis der psychologischen Erkenntnis, dass der Schelm so ist, wie er denkt, ist also mitnichten neu. Josef konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken, musste er doch unmittelbar an Herrn Hoffmann denken, der Kameras im Büro installieren ließ, um seine Mitarbeiter zu kontrollieren, ständig Verdächtigungen aussprach und doch selbst für seine kreativen Berechnungen, und auch dafür bekannt war, in neun von zehn Fällen glatt nicht die Wahrheit zu sagen. Wer rundum seine Mitmenschen des Betrugs verdächtigt, wird wohl einen guten Grund dazu haben, das gilt nicht nur für Hoffmann.

    Die letzte Station auf ihrer Reise war das Tal der Könige. Mit einem Bus überquerten Sie das Nilufer, besichtigten die Memnon-Kolosse, und Josef kaufte sich am Fuße des Hatschepsut-Tempels einen Schal, praktisch direkt vom Webstuhl einer Berberfamilie. Er trug schon seit einiger Zeit ständig einen Schal, ganz eng um den Hals gewickelt. Josef war immer schon Moden seiner Zeit ein kleines Stück voraus. So trug er als erster einen Dreitagebart oder gestreifte Krawatten, immer ein wenig bevor es, wie ein geheimes Zeichen, auch von vielen anderen Männern getragen wurde. So war es auch mit Schals, und es fiel daher nicht weiter auf, dass Josef neuerdings auch im Sommer instinktiv das Bedürfnis hatte, seinen Hals zu schützen.

    Über das Tal der Könige hatte Josef schon als Kind einige Bücher gelesen, allen voran die Biografie Howard Carters, des Entdeckers des Grabes von Tut-Ench-Amun. Er hatte daher eine einigermaßen genaue Vorstellung des Tals, doch als er sich nun diesen lange gehegten Kindheitstraum tatsächlich erfüllte und persönlich am Eingang zu den Königsgräbern stand, überwältigten ihn die Gefühle in einem bisher nicht gekannten Ausmaß. Die innere Rührung war auf eine bislang noch nie erfahrene Weise intensiv, dass er ein von heftigem Weinen begleitetes, lautes Schluchzen, vor den Augen aller seiner Reisebegleiter, nicht mehr halten konnte. Josef war eben allen seinen Emotionen, den guten und den bösen, nicht mehr Herr.

    Noch tief von den Eindrücken dieser Reise inspiriert, stieg er am ersten Tag nach dem Urlaub wieder in sein Auto, um die gewohnte Tour zu seinen Kunden anzutreten und nach kurzer Zeit wieder den stechenden Schmerz im rechten Ohr zu verspüren. Dass Josef bereits nach wenigen Kilometern Autofahrt endlos lange gähnen musste, seine Ohren verschlagen waren als wäre er eine Bergstraße hinaufgefahren, das Rauschen eines Bachs in seinem Kopf zum Wasserfall eines Flusses angestiegen und er seine Probleme verzweifelt mit vielen kleinen Spucke-Tröpfchen an die Windschutzscheibe herausschrie, war nun schon Regel geworden. Noch am selben Abend besuchte er Dr. Ganser, erzählte von diesen Zuständen und verlangte das korrekte Überweisungsformular für Dr. Polensky, um es diesem zu schicken. Bis Josef das dafür notwendige Kuvert zuhause gefunden, eine Briefmarke gekauft und einen der heute nur mehr spärlich vorhandenen Briefkästen entdeckt hatte, brauchte es allerdings zehn Tage.

    Inzwischen hatte Josef die erste Packung des Psychopharmakas aufgebraucht und bei Dr. Ganser eine zweite gekauft. Beinahe wäre Josef zum Gehen aufgestanden, da fiel ihm ein, Dr. Ganser auch von seiner schmerzhaften Hand zu erzählen. Dieses Problem war, unter all den anderen, bisher untergegangen. Ohne ein einziges Wort zu verlieren, drehte sie sich ihrem Computer zu und nach nur wenigen Augenblicken, mit einem Überweisungsschein zu einer Orthopädin in der Hand, zu Josef zurück.

    Dr. Polensky hatte während des Auslandsaufenthalts ein recht unfreundlich gehaltenes Mail geschickt, in dem er Josef aufforderte, das richtige Formular zu bringen, da er sonst den Befund nicht wird ausstellen können. Dass Josef deutlich angekündigt hatte, für eine Woche außer Landes zu sein, hatte dieser offenbar vergessen. Nach Polenskys Unfreundlichkeit, hatte Josef daher keine Lust mehr, wie geplant die empfohlene Psychotherapie bei ihm zu machen und begann im Internet nach Ersatz in einem möglichst nahe gelegen Ort zu suchen. Josef vereinbarte einen Termin, irrte wieder einmal beängstigend orientierungslos durch eine Kleinstadt und landete im Hinterhof einer schäbigen Autowerkstätte.

    Über eine gespenstisch knarrende Treppe gelangte Josef in einen Vorraum, in dem zwei antik wirkende Orientteppiche ausgebreitet waren. Als er im Behandlungszimmer weitere Teppiche erblickte, sprach er die ältere, auffallend farblos wirkende Therapeutin darauf an, bekam von dieser aber keinerlei Reaktion. Die für Therapiesitzungen üblichen fünfzig Minuten lang, erzählte er von seiner unerklärbaren Erregtheit, der psychischen Labilität, der Unsicherheit im Kontakt mit seinen Mitmenschen und vergaß auch nicht, Karriereknick und die einhunderttausend Euro Verlust durch den Fremdwährungskredit zu erwähnen.

    Schnell begann sich Josef zu wundern, dass diese fünfzig Minuten so ganz anders verliefen als bei seiner ersten Begegnung mit einem Psychologen vor einem Monat. Anstelle eines Dialogs, so wie Dr. Polensky, praktizierte diese Therapeutin eine Art Verhör, bei der sie in ihrem abgewetzten Ohrensessel durchgehend schwieg und ihn, wie ein Raubvogel seine Beute, von einem höhergelegenen Punkt goutierte. Josef, der es in seinem Beruf gewohnt war, Gespräche zu leiten, empfand diese Situation als aggressiven Akt, sprach die Therapeutin mehrmals direkt an, um sie in das Gespräch einzubinden, und scheiterte damit bei jedem Versuch. „Die fünfzig Minuten sind um, ich bekomme achtzig Euro von ihnen, eine Rechnung gibts nach der dritten Stunde", war der einzige Satz der Therapeutin, an den sich Josef im Anschluss erinnern konnte. Dass es nicht einmal zu einer zweiten Sitzung kommen wird, stand schon fest als er, über die wieder beängstigend knarrende Treppe, von dieser Therapie flüchtete.

    Am darauffolgenden Tag räumte er seine Garage auf. Sie war erst drei Jahre zuvor errichtet worden und als Teil eines Anbaus sehr geschmackvoll gelungen. Josef hatte vom ersten Skizzen-Strich bis zum Verlegen des letzten Pflastersteins dieses Projekt vollkommen allein realisiert, hatte dabei zwei Lkw-Ladungen Ziegel, Schotter, Zement und Sicherheitstechnik innerhalb eines Jahres verarbeitet, und fühlte sich danach stolz und ausgelaugt. Darum hatte er auch die ersten Jahre danach Fahrrädern, Skiern, Werkzeug und Sonstigem, nie einen richtigen Platz gegeben und wollte das an diesem Tag endlich erledigen. All das Bücken, Heben, Drehen, Strecken, ließen ihn Stück für Stück tiefer in graue Gedanken versinken. Die allgegenwärtigen Schicksalsschläge hämmerten nicht nur im Kopf, vielmehr in seinem ganzen Körper, bis sich dieser zu einem Betonblock verspannt hatte. Zusehends bekam er ein rotes Gesicht, musste seinen ungewöhnlich säuerlichen Schweiß riechen und schrie nun die Verzweiflung aus seinem Körper in die Welt hinaus.

    So dauerte es nicht lange bis die ersten Nachbarn bei Josef standen und sich sorgten, was ihm denn passiert sei. Einer davon war sogar Arzt. Zwar kannten sie einander nur von kurzen Partygesprächen, aber es war genug Sympathie zwischen Ihnen, dass sich Josef seinem Rat anvertraute und sich von ihm ins Haus begleiten ließ. Dr. Sepp Bayermüller war als Anästhesist prädestiniert dazu, Patienten ruhig zu stellen, folgerichtig holte er sehr bald ein kleines braunes Fläschchen aus seiner Hosentasche und tropfte in ein Glas etwas klare Flüssigkeit, die er Psychopax nannte. Josef hatte um Ärzte und Medikamente gerne einen Bogen gemacht, von einem solchen Mittel noch nie gehört, und musste über den so vielsagenden Namen nun doch heftig schmunzeln. Trotz der geradezu körperlichen Verzweiflung in ihm, hatte er seinen Humor nicht verloren. Das entspannte ihn endlich ein Stück und das Medikament tat ebenso sehr bald seine verheißende Wirkung.

    Josef fiel ohnehin bereits nach jeder noch so kleinen Erledigung in einen zumindest einstündigen Tiefschlaf, da hätte es des Psychopax gar nicht bedurft, um ihn nun von der Dämmerung bis zum Morgengrauen schlafen zu lassen.

    Er schämte sich. Schämte sich vor seiner Frau, seinem Kind und seinen Nachbarn für diese entwürdigende Entgleisung des Vortags. Und, hatte er sich schon seit bald zwei Jahren kontinuierlich aus der Gesellschaft dieser Nachbarn zurückgezogen, da selbst Smalltalks schon seltsame körperliche Reaktionen auslösten, kam nun ein realer Grund dazu, Begegnungen mit Nachbarn noch mehr zu scheuen.

    Josef setzte sich zum nächst möglichen Ordinationstermin gleich um halb acht Uhr morgens ins Wartezimmer von Frau Dr. Ganser, um die nicht enden wollende Schlange der auf eine Blutabnahme wartenden Patienten vor dem Behandlungszimmer zu beobachten. Es war sein vierter Besuch im Zusammenhang mit seinem seltsamen Zustand, bei jedem hatte er zumindest eine Stunde warten müssen und so war es auch diesmal. Gegen neun Uhr wurde Josef endlich aufgerufen. Als er vom Sessel aufstand wurde ihm schwindlig und sein Magen krampfte auf bislang noch nicht erlebte, schmerzhafte Weise.

    Während er das Behandlungszimmer betrat, schien die Sonne durch die Südseitenfenster. Ebenso strahlte Dr. Ganser wie immer, als sie die berühmte Arztbegrüßung, „wie gehts?", aussprach und so lichteten sich die dunklen Wolken über Josefs Gemütslage ein wenig. Ansatzlos berichtete er vom eben Erlebten, dass die Ohrenschmerzen vor allem beim Autofahren unverändert unerträglich sind, der Tinnitus im Ohr nach Ruhephasen zwar etwas abschwillt aber seit nun einem Monat nie ganz verschwunden war, und ebenso beim Autofahren, die Ohren wie auf einer Bergstraße verschlagen und ihn dabei unerklärliche Verzweiflung überfällt, die er dann alleine so aggressiv herausschreit, dass die Windschutzscheibe anschließend von innen mit feinen Tröpfen verklebt ist.

    Inzwischen war Dr. Polenskys Befund gekommen. Die immer noch breit lächelnde Ärztin überreichte ihm diesen mit den Worten, „wie ich mir dachte, alles nur psychisch bei Ihnen." In der Zusammenfassung standen die Worte, F32.11 mittelgradige depressive Episode mit somatischem Syndrom; erregbar, unbeherrscht, angespannt, überfordert, emotional labil, ängstlich, gehemmt, unsicher, kontaktscheu; Z73.0 Burn-out-Syndrom. Empfehlung: Psychotherapie, medizinische Therapie. Was sollte ein Psychologe auch Anderes diagnostizieren als eine psychologische Erkrankung?

    Josef wollte versuchen, dem Rat der Ärztin an der HNO-Ambulanz folgend, die unerträglichen Ohrenschmerzen durch eine Ruhephase endlich loszuwerden. Dr. Ganser stellte eine Bescheinigung für einen Krankenstand aus und empfahl ihm beim Verlassen, die Tinnitus-Ambulanz am Zentralkrankenhaus aufzusuchen.

    Zuhause gab er sofort diese seltsamen Buchstaben-Zahlen-Kombinationen in die Suchmaschine ein und lernte, dass es sich dabei um sogenannte ICD-10 Codes, die International Classification of Diseases in der zehnten Version, eine Liste in der alle bekannten Krankheiten erfasst sind, handelte. Sein Burn-Out hatte also sogar eine Nummer, ICD-10: Z73.0.

    Bevor Josef das erste Mal im Leben die zwei Türme eines der besten Krankenhäuser der Welt aufsuchen wird, die für ihn aus der Perspektive eines Flugzeugpassagiers wie das Würfelpaar eines Backgammon-Spieles wirkten, hatte er noch einen Termin bei seinem angestammten Zahnarzt. Beim vorletzten Besuch schon, meinte Dr. Ganser, Josef solle sein Kiefergelenk röntgen lassen, Tinnitus könne auch durch Fehlstellungen des Kiefers ausgelöst werden. So saß Josef am folgenden Tag zwischen Armen wie die einer Riesenkrake, an denen die Strahlenkanonen eines hypermodernen Röntgenapparates befestigt waren, während ihm die Assistentin abwechselnd kleine Fotoplatten in den Mund schob.

    Tatsächlich hatte sich Josef wenige Monate zuvor durch einen kleinen Stein in einem Brot, ein Stück des letzten Backenzahns ausgebrochen. Er hatte sich an die Supermarktzentrale gewandt, diese ihn jedoch an den Brotlieferanten, und der wieder an seine Versicherung weitergereicht. Diese wollte das corpus delicti sehen, Josef hatte aber das Steinchen sofort ausgespuckt und fortgespült, um nicht noch andere Zähne zu gefährden. An eine Versicherungsleistung denkt im ersten Schreck wohl kein Mensch mit guten Absichten. So sandte er damals ein großes Polsterkuvert mit den Röntgenaufnahmen, der Arztrechnung über beinahe tausend Euro und einen kleinen Stein aus seinem Garten an die angegebene Adresse, um nach Wochen, in denen er nichts gehört hatte, bei der Versicherung telefonisch nachzufragen. Nach Erklärung der Sachlage, bat der Sachbearbeiter um Geduld, um nach langen Minuten in der Warteschleife, deutlich verunsichert, zu erklären, dass alle eingehende Post in der Einlaufstelle gescannt und hausintern dann nur mehr elektronisch weitergeleitet wird, wobei der in einem kleinen Säckchen verpackte Stein im Kuvert offenbar übersehen und entsorgt wurde. „Aber wir glauben Ihnen und werden den gesamten Betrag an Sie überweisen." Es war das einzige Mal in Josefs Leben, dass sich eine Versicherung nicht mit fadenscheinigen Argumenten von einer Leistung entschlagen hatte, ausgerechnet als sich Josef einmal selbst nicht so genau an die Wahrheit hielt, da ja das kleine eingesandte Steinchen, nicht tatsächlich das war, wofür er es ausgab.

    Der Zahnarzt sah sich die Röntgenbilder an. „Ceeeleeeste Aidaaa, wie immer summte er ein Liedchen, diesmal die Arie aus der Verdi-Oper, während er ordentlich mit einem Finger Josefs Kiefer in der gesamten Mundhöhle abtastete. Mit den Bildern in der Hand meinte er, „Ihr Kiefer ist in Ordnung, das kann nicht der Grund für Ihre Ohrenschmerzen sein. Vollkommen ausschließen wollte Josef diese Möglichkeit für sich selbst vorerst aber nicht, litt er doch nach der äußerst verpatzten Behandlung des ausgebrochenen Zahns in einem Wiener Institut, seit Monaten bereits unter unangenehmen Verspannungen rund um die neue Backenzahnkrone, ganz nahe des schmerzhaften rechten Ohrs. Dass diese Krone nun doch von einer Versicherung bezahlt wurde, war da kein Trost.

    Zwei Tage später irrte er wieder einmal um ein Spital herum, suchte eine Parkmöglichkeit und den Eingang. War es Josef im Bezirkskrankenhaus bereits schwergefallen, Orientierung zu finden, so verwandelte ihn die Autofahrt nach Wien und die Suche nach einer Trafik, um Wiener Parkscheine zu besorgen, noch mehr zu einem hilfesuchenden Umherirrenden als er es je zuvor erlebt hatte. Jeder einzelne der vielen Patienten, Studenten, Personal, der ihm am Weg durch die Parkanlage des Zentralkrankenhauses begegnete, verunsicherte ihn noch mehr. Er hatte das Gefühl, jede Pore, durch die der säuerliche Schweiß nach außen drang, einzeln zu spüren, mit einem Geruch, der ihn an sehr alte Menschen erinnerte. Der Anstieg über die Rampe und die klassizistische Prunkstiege zwischen den alten Institutsgebäuden, zu den beiden Türmen aus Stahl und Glas, bereitete ihm mit jeder Stufe zunehmend auch mehr körperliche Mühe, bis er sogar eine Pause machen musste.

    Endlich stand er vor einer langen Wand aus Glastüren, öffnete vollkommen erschöpft eine davon nur mit großer Mühe und fand sich in einem weitläufigen Stiegenhaus wieder. Außer einigen Getränkeautomaten und den überdimensionalen Orientierungstafeln zu den Universitätshörsälen, konnte er nichts sehen, das an ein Spital erinnerte. Josef war den Tränen nahe. Wieso gelang ihm nichts mehr? Warum war er plötzlich so hilflos geworden? Was er machte, misslang, welche Entscheidung er traf, es die war die falsche. Seine Persönlichkeit hatte jegliches Gleichgewicht verloren. Er fühlte sich wie ein kleines Kind, das in einem Einkaufszentrum seinen Eltern verloren gegangen war.

    Als Josef am Ende eines langen Korridors in eine Halle mit einem Evidenzbüro, einer Bäckerei, einer Bankfiliale und einigen weiteren Geschäften kam, erkannte er endlich, dass er den Spitalskomplex zielsicher an dessen Rückseite betreten hatte. Man verwies ihn per Lift in eines der oberen Stockwerke des durch rote Schilder gekennzeichneten Turms, wo er am Schalter der HNO-Ambulanz, längst um jeden klaren Gedanken beraubt, sein Körper steif wie ein Brett, verunsichert als hätte er eine Prüfung zu bestehen, die Dame hinter der Glaswand nach der Tinnitus-Ambulanz fragte. Die Teilnahmslosigkeit, mit der sie Josef, „die gibt’s schon seit Jahren nicht mehr, nicht einmal direkt ins Gesicht sagte, war beleidigend. Ein gesunder Josef hätte in dieser Situation die Stimme gesenkt, dieser Person ein freundliches Gesicht gemacht und mit einem Satz wie, „dann werden Sie mir als angelernte Fachkraft doch sicher sagen können, wohin ich mich anstelle wenden darf, einen schnippischen Konter geboten. Josef war aber nicht mehr gesund, vielmehr fühlte er sich vor diesem Schalter wie einst vor seiner Kindergartentante, wenn es galt eine Untat zu gestehen. Da war kein Schutzschild mehr, keine einst so souveräne Persönlichkeit. Schon die kleinste Feindlichkeit fuhr ihm durch den Körper, so als würde er in eine Steckdose greifen. Der in einem normalen Alltag unserer Gesellschaft, und da vor allem im Osten Österreichs übliche, und mit dem verharmlosenden Begriff grantig bezeichnete Umgangston, mag einem Gesunden als morbide Form von Humor erscheinen, einem Menschen mit der psychischen Stabilität eines Schneekristalls in der Frühlingssonne, zog er die Beine vom Boden weg.

    So fand sich Josef im Wartesaal der HNO-Ambulanz des Zentralkrankenhauses wieder. Instinktiv presste er mit dem Zeigefinder der rechten Hand die kleine knorpelige Hautfalte, die den äußeren Gehörgang zur Wange hin trennt, auf das Ohrloch. Denn inzwischen hatte er die Erfahrung gemacht, dem hellen, spitzen Schmerz, auf diese Weise etwas entgegensetzen zu können. Während dazu noch ein Schwarm Hummeln zum Tagwerk in seinem Kopf ausflog und sein Kehlkopf wie von einer zu eng gebundenen Krawatte eingeschnürt war, beobachtete er mit Tunnelblick die vielen anderen wartenden Patienten.

    Ein demoskopischer Querschnitt der Wiener Außenbezirke bot sich ihm dar, einige ältere Ehepaare, zumeist vertieft in eine der knallbunten Gratiszeitungen, deren Nominalwert zugleich den journalistischen Wert angibt, wenige Junge, mit martialischem Auftritt, vermutlich niederem Bildungsniveau und offenkundig Tagesfreizeit, sowie viele Kinder, begleitet von Müttern deren Mehrzahl nicht körperbewusst sportlich lebt, was sie in ihren von der Religion vorgeschriebenen Stoffmengen, nicht ohne einer gewissen Komik, inmitten Ihrer Kinderschar, wie übergroße Figuren eines Mensch-ärgere-Dich-nicht Spiels aussehen ließ. Josef wurde von Sentimentalität übermannt, hatte er sich doch erst vor wenigen Wochen unter den Ägyptern so wohl gefühlt.

    Das Sitzen war ihm eine Qual. Die Menge der Eindrücke ließ sein Schutzschild ermüden, mehr und mehr drückte er sich in den gelben Plastiksessel, um einen größeren Abstand zu den anderen Wartenden zu bekommen. Dabei begann er in Gedanken seine Schmerzen, Punkt für Punkt aufzuzählen und erkannte, dass er noch nichts gegen die zunehmenden Schmerzen, die Schwellung und dem Taubheitsgefühl in seiner linken Hand unternommen hatte.

    Josef wollte nur noch nach Hause auf sein Sofa flüchten, während er zusehen musste, wie sich der Saal zu leeren begann. Nicht wenige Patienten waren schon aufgerufen und von einer der Türen zu den Behandlungsräumen verschluckt worden, obwohl sie kürzer warteten als er selbst. Doch natürlich goutierte Josef die von einer Mehrzahl der Ärzte gepflegte Praxis, Kindern die Wartezeit zu verkürzen und sie außerhalb der Reihe ihres Ankommens, bevorzugt zu behandeln. So kam es, dass Josef nun schon einiges über Mittag nur mehr mit Pensionisten und Sozialbedürftigen im nun fast leeren Wartesaal saß, als endlich sein Name krächzend aus dem Lautsprecher kam.

    Die Wände und die vielen Raumteiler des Behandlungsraums, durch den man ihn in eine kleine Kabine ganz ans Ende führte, waren gänzlich in knalligem Orangegelb gehalten. Von den Eindrücken verwirrt, setzte man ihn auf einen Drehschemel und zog einen, natürlich im Einheitsorangegelb gehaltenen, Vorhang zu. Wie in Watte gepackt, empfand er seinen Kopf. Ihm war schwindelig und wieder krampfte sich der Magen mit leichten Schmerzen zusammen. Nach einigen qualvoll einsamen Minuten standen dann endlich ein Arzt und drei Studenten in der engen Kabine vor ihm. Der Arzt stellte sich vor und fragte, „es stört Sie doch nicht, dass mir einige Studenten zusehen?" Warum sollte es ihn denn stören? Eine der beiden jungen Damen trug ein eng gebundenes Kopftuch und ließ durch ihr Namensschild vermuten, dass sie aus Ägypten kam. Josef fühlte sich sofort mit ihr verbunden. Er schilderte von den Ohren- und Halsschmerzen, den Geräuschen in seinem Kopf, dem leichten dauerhaften Schwindelgefühl und der Erschöpfung. Er hatte schon bemerkt, dass ihm zur Beschreibung seiner Zustände das medizinische Vokabular fehlte, ihm fielen daher jetzt auch nur zwei Begriffe seiner Branche ein, überhitzter Prozessor und memory overflow. Wieder setzte man ihm Kopfhörer auf, besah sich das Innere seines Ohres mit Trichter und Taschenlampe, den Rachen, indem man einen Holzspatel samt zweier Finger in seinen Mund stopfte und kam nach rund zwanzig Minuten zum Schluss, dass es sich bei der Ursache für den Schmerz, nur um eine Entzündung handeln könne. So entließen ihn der Arzt und die Studenten mit einem handgeschriebenen Zettel, auf dem gleich fünf Medikamente angeführt waren. Den Anweisungen, wie diese einzunehmen wären, konnte er nicht mehr folgen. Er wollte doch schon längst nur noch nach Hause.

    Josef war bereits eine Woche krankgemeldet. Einzig die Schmerzen im Ohr, die zwar immer wieder kurz und heftig aufblitzten, doch zumeist erst durch körperliche Arbeit oder längeres Autofahren ausgelöst wurden, waren weniger geworden, sein Zustand hatte sich aber sonst in keiner Weise gebessert. Er erzählte Dr. Ganser, nicht ohne zuvor beinahe zwei Stunden demütig in ihrem Warteraum verbringen zu müssen, dass es die Tinnitus-Ambulanz am Zentralkrankenhaus zu der sie ihn geschickt hatte, gar nicht mehr gab und er daher in der normalen HNO-Abteilung gelandet war. Und er erwähnte auch noch einmal seine schmerzhaft geschwollene Hand.

    „Wir müssen Ihren Kopf und Ihre Halswirbelsäule untersuchen lassen. Ich stelle Ihnen eine Überweisung für ein MRT aus, mit der müssen Sie zur Krankenversicherung, das müssen die erst bestätigen. Für Fälle wie Ihren hat die Krankenversicherung einen Case Manager, rufen Sie den an." Mit diesen Worten drückte Sie Josef eine Visitenkarte in die Hand, worauf er lesen konnte, Österreichische Krankenversicherung, Alfred Holzbauer, Case Manager, sowie Telefonnummer und Adresse in einer vierzig Kilometer entfernten Provinzhauptstadt. Case Manager, so einen zeitgemäßen Begriff aus seiner Arbeitswelt, in der man nur mehr Meetings im Office hatte, um dort Forecasts zum Rollout mit Deadline zu besprechen, hatte Josef im Zusammenhang mit einem Staatsunternehmen nicht erwartet. Das roch gar nicht mehr nach dem Beamtenmief, den er sich vorstellte. Er hatte, wie alle Menschen, eben auch seine Vorurteile und schmunzelte nun über sich selbst, wie seine leichte Überheblichkeit, immer alles richtig einschätzen zu können, immer zu glauben, nur er wisse wie der Hase läuft, ertappt wurde. Josef liebte menschliche Fehler, sie bieten die Chance Verzeihen zu lernen und darüber zu lächeln, und sie holen hochnäsige Überflieger aus ihren Wolken, er wollte sich da selbst gar nicht ausnehmen. Positiv überraschen ließ er sich gerne, und ein wenig hellten diese Gedanken auch seine Stimmung auf.

    „Hier haben Sie ein Antragformular für eine Psycho-Reha. Füllen Sie das aus, das können Sie dann auch gleich dem Case Manager übergeben." Josef begann noch mehr Hoffnung zu schöpfen, für einen Augenblick fühlte er sich als Patient ernst genommen und bestens versorgt.

    „Und jetzt schauen Sie, dass Sie rauskommen", war allerdings nicht gerade die Art Verabschiedung, die sich ein leidender Patient von seiner Hausärztin erwartete.

    Zuhause klemmte er sich ans Telefon, rief Gabriele im Büro an, um ihr zu sagen, dass der Krankenstand nicht viel an seinem Zustand gebessert hatte und er daher in der kommenden Woche wieder auf Achse sein werde. Josef fürchtete um seinen Arbeitsplatz. Und da sich bislang keine Besserung eingestellt hatte, erwartete er diese auch nicht in nächster Zeit, da konnte er auch gleich wieder mit den Schmerzen arbeiten gehen. Endlich rief er auch in der Ordination eines Internisten an, wohin ihn Dr. Ganser zu einem Belastungs-EKG schon bei der vorletzten Sitzung überwiesen hatte. Und er rief Herrn Holzbauer an, der aber erst im dritten Anlauf erreichbar, also offenbar vielbeschäftigt war, doch bekam gleich für den übernächsten Tag einen Termin. Auf der von Dr. Ganser mitgegebenen Liste suchte Josef ein möglichst ohne Stadtverkehr zu erreichendes Röntgeninstitut aus, um sich, auch wenn er noch keine Genehmigung hatte, schon einmal anzumelden und wurde in seinem Tatendrang jäh gebremst, als ihm bloß Termine in zwei Monaten angeboten wurden. Für Josef konnte es so etwas nicht geben, das spornte seinen Kampfgeist an. Er wählte die Nummer des nächsten Instituts in der Liste, nur um wieder hören zu müssen, dass das Untersuchungsgerät frühestens in zwei Monaten verfügbar sei.

    Alfred Holzbauer saß hinter einem Glasschreibtisch in einem sonst zeitgemäß leergeräumten Büro. Kein Regal mit verstaubten Ordnern, keine Kästchen mit banalen Devotionalien, störten die Würde dieses historischen Gewölbes, dessen gekalkte Deckenbögen erst durch die Leere des Raumes ihre ehrfürchtige Wirkung richtig verströmten. Josef fühlte sich von Herrn Holzbauer, ja von der Krankenversicherung insgesamt, sehr ernst genommen. Allein, einen Case Manager zugewiesen bekommen zu haben, hatte ihn ja schon beeindruckt. So erzählte er von seinen vielen Beschwerden und den Zukunftsängsten, da er bei einem drohenden Jobverlust auch riskierte, seine Hypothek nicht weiter bezahlen zu können. Herr Holzbauer regierte spontan.

    „Auch wenn die Konsequenzen der erst kürzlich in Kraft getretenen Änderungen der Regeln zur Erlangung von Invalidenrente noch nicht abschätzbar sind, für Sie, als vor dem Stichtag Geborenen, gelten noch die alten Bestimmungen. Sie werden um Invalidenrente ansuchen müssen."

    Die Überraschung ließ Josef auf seinem Sessel leicht zurückneigen, an Frührente hatte er noch keinen einzigen Gedanken verloren, er wollte doch nur einfach sein Leben von früher weiterführen. Schon, dass der Case Manager von sich aus sofort dieses Thema ansprach, irritierte ihn nachhaltig. War er doch gekommen, um seine chefarztpflichtige Magnetresonanztomografie bewilligen zu lassen und seinen Antrag auf Rehabilitation abzugeben. So reichte Josef die beiden Formulare über den Tisch und sprach dabei auch gleich das Problem der langen Wartezeiten auf MRT-Untersuchungen an. Sofort stempelte und unterschrieb der Case Manager die MRT-Bestätigung gleich selbst und empfahl Josef beim Verabschieden, ein ihm persönlich bekanntes Institut, „sagen Sie, Sie kommen von mir, dann bekommen Sie schneller einen Termin."

    So war es tatsächlich. Auf den Namen des Case Managers berufend, wurden aus zwei Monaten nur mehr zwei Wochen und Josef lag an einem Freitagnachmittag, nachdem er nun wieder arbeiten ging, das erste Mal in seinem Leben auf jener Pritsche, mit der man Patienten in den Schlund des Magnetresonanztomographen einschiebt. Die Röntgenassistentin hatte ihn vor den lauten Klopfgeräuschen gewarnt und Ohrstöpsel angeboten. Eine Mischung aus falscher Bescheidenheit und Josefs ewigem inneren Kampf um die Grenzlinie zwischen Hilfe annehmen können und übermütiger Tapferkeit, ließ ihn diese aber ablehnen. Die Prozedur war erträglich, diese halbe Stunde zwar langweilig, aber er ließ seine Gedanken um die physikalischen Grundlagen dieser Technologie streifen und vertrieb sich die weitere Zeit, indem er versuchte die unterschiedlichen Brummtöne und Klopfgeräusche zu Rhythmen in seinem Kopf zu verbinden.

    Obwohl Josef all diese Stunden in den Ordinationen gegenüber seiner Firma als Arztbesuche verantworten konnte, und sich langsam zu sorgen begann, ob er die für dieses Monat geplanten Geschäftstermine wird einhalten können, hatte er wegen der vielen ausgefallenen Arbeitsstunden ein Stück schlechtes Gewissen gegenüber seiner Firma, und Dankbarkeit für die außergewöhnliche Flexibilität, die ihm seine berufliche Position erlaubte.

    Zwei Arbeitswochen auf Tour vergingen in höchstem Maß unkonzentriert, vergesslich, ständig leicht verwirrt und mit Ohrenschmerzen, die ihn beim Autofahren, in Verhandlungen, internen Meetings, sowie den administrativen Büroarbeiten begleiteten. Kaum konnte er sich nun Daten neu eingeführter Produkte, vereinbarte Vertriebskonditionen oder besprochene Zusatzvereinbarungen merken. Was immer seine Stärke war, gelang jetzt gar nicht mehr. Josef funktionierte längst nur noch in einem schwachen Notprogramm.

    Er besuchte Dr. Ganser, um das Ergebnis der MRT-Untersuchung zu besprechen. „Der von Ihnen empfohlene Case Manager konnte tatsächlich die Wartezeit auf den MRT-Termin verkürzen, hier habe ich bereits den Befund, begrüßte Josef die Ärztin und überreichte ihr mehrere Blatt Papier. Dr. Ganser nahm diese an sich und las sie quer. Währenddessen sagte Josef beiläufig, leise und selbst ein wenig ungläubig, „und Herr Holzbauer meinte auch, ich soll um Invalidenrente ansuchen. Selbstverständlich mit breitem Lächeln verkündete sie, „na, in Rente brauchen Sie nicht zu gehen. Mit Ihrem Herz ist wahrscheinlich auch alles in Ordnung. Allerdings hat das MRT-Institut nur Aufnahmen vom Kleinhirnbrückenwinkel gemacht, ich wollte aber auch Ihre Halswirbelsäule sehen. Die haben meinen Überweisungsschein nicht richtig gelesen."

    Damit schickte sie Josef erneut ans Telefon, um wieder einen Termin für eine MRT-Untersuchung zu bekommen. Zu seiner Erleichterung akzeptierte die Dame am Apparat des Institutes noch die chefärztliche Bestätigung für die ersten Aufnahmen, sie konnte ihm aber nur einen Termin an einem Samstagvormittag in vier Wochen anbieten, „es tut mir leid, früher haben wir wirklich nichts frei."

    Immer öfter kamen die stechenden Ohrenschmerzen während der langen Autofahrten zu Josefs Kundenterminen. Abends konnte er sich, nun schon seit über einem Jahr, nur mehr auf seine Schutzburg, das große Wohnzimmersofa mit dem englischen Blumenmuster, zurückziehen. Ebenso regelmäßig wie die quälenden Symptome bei normalen Alltagsbelastungen auftraten, klangen diese Schmerzen, die Lautstärke des Gebirgsbachrauschens im Kopf, die irritierende Verunsicherung beim Kontakt zu Mitmenschen, gepaart mit einer ins Mark gehenden Existenzangst, auf dem Sofa dann auf ein etwas weniger unerträgliches Maß wieder ab. Nach einer halben Stunde, zur Seite gedreht, mit angezogenen Knien, den Kopf auf ein Polster gelegt, das genau die Höhe der Schulterbreite ausfüllte, war Josef soweit entspannt, dass er einige klare Gedanken finden konnte.

    Einer davon galt dem Schmerz in der linken Hand, der sich von Ring- und kleinem Finger entlang der äußeren Seite des Unterarms bis zum Ellbogen zog. Schon beim zweiten Besuch Dr. Gansers hatte er diesen erwähnt und auch einen Überweisungsschein, sowie die Adresse einer Orthopädin bekommen, aber Josef wurde in den vergangenen beiden Monaten so sehr von den Ohrenschmerzen und seiner Erschöpfung dominiert, dass er der Taubheit und Schwellung der linken Hand nur wenig Beachtung einräumte. Der Überweisungsschein für die Orthopädin begann im Ablage-Kistchen unter den später hinzugekommenen Befunden, Antragsscheinen, Visitenkarten und Infobroschüren, langsam nach unten zu wandern.

    Auch eine Linderung der Schmerzen konnte keines der bisher verschriebenen Medikamente bewirken und so fuhr er am nächsten Morgen wieder in die HNO-Ambulanz des Zentralkrankenhauses. Zwar nahm er diesmal den gleichen, langen Weg von der Rückseite, doch belastete ihn die inzwischen etwas vertraute Umgebung bei weitem nicht mehr so wie zuvor. Diesmal verwechselte er noch die beiden Türme, fand sich dann aber doch in der schon bekannten, knallgelben Wartehalle. Vielleicht war es der frühen Stunde zu verdanken, dass auch weniger Patienten anwesend waren, jedenfalls wurde er diesmal sehr bald aufgerufen. Es war eine andere Kabine, in die man ihn diesmal führte und auch der Arzt, in Begleitung einer, die gesamte Untersuchung sprachlos bleibenden Jungärztin, war ein anderer. Aufs Neue musste er von seinen Ohrenschmerzen, dem Gefühl einer Halsentzündung, dem Tinnitus und so weiter, berichten. Doch anstelle des erhofften beruhigenden Zuspruchs, fühlte sich Josef von der Reaktion des Arztes nur herzlos attackiert. „Wir sind hier an der Ambulanz für Arme da, für Sie ist der niedergelassene Facharzt zuständig." Josef blieb daraufhin bis zum Ende der Untersuchung stumm, sein Körper steif, als seien ihm alle Muskeln eingefroren. Er war nur mehr froh, das Krankenhaus mit einer Reihe von Rezepten für ein neues Schmerzmittel, einem weiteren Antibiotika, sowie auch gleich einem magenschonenden Mittel gegen die zu erwartenden Nebenwirkungen dieser Medikamente, endlich verlassen zu können.

    Josef hatte bald zehn verschiedene Arzneien verschrieben bekommen, er nahm sie alle ein, exakt wie von den Ärzten empfohlen, doch weder das Psychopharmaka, noch die Antibiotika, hatten auch nur die geringste positive Wirkung. Mit der Ausnahme vielleicht, dass ein von Dr. Ganser empfohlenes Mittel gegen Reisekrankheit, die Schwindelgefühle möglicherweise wirklich etwas dämpfen konnte. Vielmehr bemerkte er durch beinahe jedes Medikament, nur eine weitere Destabilisierung der Kontrollierbarkeit seines Verhaltens, jedoch ist generell die Wirksamkeit von Medikamenten bei psychischen Symptomen schwer einzuschätzen. Josef kannte seine Krankheit ja selbst nicht genau, ständig bemerkte er neue Beschwerden, wie Schwindel oder Magenkrämpfe, dagegen traten andere seltener auf, so dass er sie bei Arztbesuchen zu erwähnen vergaß. Vor allem die Müdigkeit, die sofortige Erschöpfung schon bei kleinsten Arbeiten, ließ sich schwer mit einem Normalzustand vergleichen. Als er die Beipacktexte der verschriebenen Medikamente las, fand er bei praktisch jedem, den Hinweis auf eine mögliche Ermüdung, Schlafstörungen und das Abraten von Autofahrten aufgrund der eingeschränkten Reaktionsfähigkeit.

    Zu genau den Beschwerden, die Josef schon hatte, kamen durch die Medikamente also noch einmal die gleichen dazu. Josef war hilflos verwirrt von diesem Mix aus seinem ganz offenbar über der Norm emotionalen Verhalten, ständig neu und überraschend auftretenden Beschwerden, und nun auch noch unberechenbaren Nebenwirkungen von Medikamenten, die an seinem eigentlichen Übel nichts besserten. Und er fragte sich, wie er für seine Firma tausende Kilometer pro Monat im Auto bewältigen sollte, wenn er weiter alle von den Ärzten verordneten Medikamente wie vorgeschrieben einnahm, wenn doch in den Beipacktexten von fast jedem dieser Mittel von Autofahrten dringend abgeraten wird.

    Zusehends litt er an Verwirrungen seines Geruchssinns. Es war nicht nur so, dass ihm schon vor dem Geruch seines eigenen säuerlichen Schweißes, der ihm nun regelmäßig während jedes Schlafs und der immer häufigeren Verzweiflungsausbrüche in Bächen vom Körper rann und ihn an den Geruch von Menschen in den letzten Zügen ihres Lebens erinnerte, ekelte. Schrittweise verstand Josef, dass er neuerdings besser, viel intensiver riechen konnte als früher. Zum Glück betraf dies nicht nur unangenehme Gerüche, wie den, nasser Hunde oder ungewaschener Menschen, sondern auch gute. Beispielsweise konnte Josef plötzlich die Gerüche einzelner Gewürze in Speisen treffsicher erkennen, oder beim Spazieren im Wald, Erdbeeren schon von Weitem riechen. Er war darüber selbst sehr verwundert und er bildete sich das sicher nicht ein. Denn die erschnüffelten Walderdbeeren schmeckten anschließend wunderbar.

    In dieser Woche war Josef bei seinem Büromeeting unkonzentrierter als jemals zuvor. Schon auf der Fahrt durch den üblichen Freitagmorgenstau flimmerte es ihm vor den Augen. Aus einem Selbstgespräch über seine immer gleichen Sorgen mit dem Fremdwährungskredit und vielen weiteren, objektiv betrachtet eigentlich harmlosen Problemen, wurde ein Selbstgeschrei. In der stehenden Kolonne hämmerte er mit der Faust aufs Lenkrad, brüllte sich seine Verzweiflung aus dem Leib und verteile wieder einmal Tröpfchen an der Innenseite der Windschutzscheibe. Sein Hemd war an der Brust nass vom sauren Angstschweiß, seine Ohren verschlagen als wäre er soeben am Fuscher-Törl der Großglockner-Hochalpenstraße angekommen und die Hummeln in seinem Kopf schienen Erntedank zu feiern. Er kämpfte mit dem Gedanken Gabriele anzurufen, sich krank zu melden, nur um sich so schnell wie möglich wieder auf seinem Sofa in Sicherheit bringen zu können.

    Doch Josef hielt durch, auf der Agenda war die Planung des in Kürze stattfindenden jährlichen Kick-Off-Meetings in Hamburg, wofür alle Kollegen extra angereist waren, er musste einfach diesen Tag und diese Reise nach Hamburg noch schaffen. Schon die Begrüßung seiner Kollegen war schwierig, der Wasserfall im Kopf rauschte so laut, dass er einzelne Worte des üblichen Smalltalks nicht verstehen konnte. Stück für Stück verlor er die Zusammenhänge, klinkte sich aus den Gesprächen aus, entfernte sich auch körperlich von seiner Gruppe, bis er endgültig abseits stand, durch seine verschlagenen Ohren die Gespräche nur noch wie durch einen Tunnel hörte, gefangen in einem Wattebausch aus Rauschen, Ohrenschmerz und Fluchtgedanken. Die Ohnmacht gegen diesen Zustand, die Ratlosigkeit über die Ursache, und die Einsamkeit, die dadurch entstand, dass niemand seiner Mitmenschen dies wahrnehmen und mit adäquatem Umgang reagieren konnte, lähmte seinen Körper und sein Denken.

    „Wie geht es Dir?", Tom war während einer Pause im Meetingraum zu ihm herübergekommen. Sie sahen sich meist nur im Abstand von einigen Monaten und doch war Tom sein vertrautester Kollege. Josef musste sich seine Belastung von der Seele sprechen, wollte sich jemandem erklären, der die berufliche Situation selbst erlebt und noch nicht Abstand gesucht hat, vor einem Josef der nicht mehr er selbst war. So zog er den psychologischen Befund von Dr. Polensky aus seinem Pilotenkoffer, legte ihn vor Tom auf einen der Stehtische und deutete mit dem Finger auf die Zusammenfassung, wo das Wort Z73.0 Burn-Out stand. „Schau mal, was da steht." Seinem Satz lag eine, für Josefs Kollegen gut verständliche, tiefere Bedeutung inne. War doch Josef selbst erst in die Firma aufgenommen worden, um einen Mitarbeiter zu entlasten, der wegen Burn-Out für mehrere Monate ausgefallen war. Tom las wortlos die Diagnose und sah Josef dann nur mehr vielsagend und unverändert wortlos an.

    Direkt vom Büro fuhr Josef zu Dr. Ganser. Er berichtete von dem Arzt am ZKH, der ihn nur widerwillig untersuchte, ebenfalls eine Hals- und Ohrenentzündung diagnostizierte und ihn nun zu einem niedergelassen HNO-Arzt weiterverwies. Dr. Ganser wandte sich ihrem, auf einem Beistelltisch stehenden Computer zu, begann zu tippen und nahm bald zwei Blätter Papier aus dem Drucker. Sie drehte sich zu Josef zurück, beugte ihren Oberkörper leicht vor, zog die Augenbrauen in die Höhe, senkte ihre Stimme und sah ihn mit stechendem Blick an.

    „Das ist eine Überweisung zum HNO-Arzt. Und dann möchte ich noch, dass Sie sich von einem Psychiater untersuchen lassen."

    Worte fand Josef in diesem Augenblick keine, er zog nur die Augenbrauen hoch, neigte seinen Kopf leicht nach vor, drehte ihn dann zur Seite und fixierte Dr. Ganser für einige Sekunden stumm aus den Augenwinkeln. Eine Geste, die deutlich seine Skepsis und einen tiefen Widerstand ausdrücken sollte.

    Doch Josefs Reaktion war viel mehr als der natürliche Reflex jedes Menschen, dem indirekt eine Geisteskrankheit vorgeworfen wird. Er fühlte allein schon durch den Verdacht, er hätte seinen Geist nicht mehr im Griff, er wäre einer dieser hilflosen Männer um die Fünfzig, denen das Leben entglitten und daher auf der Baumgartner Höhe gelandet waren, einen Angriff auf seine Person. Bis zu diesem Augenblick betrachte er Dr. Ganser, so wie jeden Arzt, als gleichwertigen Partner, dem er sich in schwierigen Zeiten rückhaltlos anvertrauen kann. Er glaubte sich bis zu diesem Moment auch von einem Arzt als solcher Partner gesehen zu werden und hatte daher immer ungehemmt jedes Symptom, auch die so besorgniserregenden Irritationen seiner Gefühlswelt, möglichst exakt geschildert, der Arzt sollte ja im Sinn einer wissenschaftlichen Denkweise, möglichst viele Grundlagen für seine Arbeit bekommen. Josef akzeptierte schon, dass genau in diesem wissenschaftlichen Sinn, kein Erklärungsmodell, also auch nicht das einer psychiatrischen Erkrankung, ausgeschlossen werden durfte. Doch er empfand allein den nun über ihm schwebenden Verdacht ein Irrer zu sein, als Vertrauensverlust durch Dr. Ganser. Seine Ansicht von der gleichwertigen Partnerschaft zwischen Patienten und Arzt, hatte den ersten Riss bekommen.

    Die nun aufkommende beklemmende Angst vor der über ihm hängenden Stigmatisierung, fußte jedoch nicht allein in seinen Erlebnissen als Zivildiener am psychiatrischen Krankenhaus Baumgartner Höhe, vor inzwischen dreißig Jahren.

    Es war nur wenige Tage her, da hatte ihm sein Vater einen Brief des Opferschutzverbands Weißer Ring gezeigt. Darin wird Konrad mitgeteilt, dass eine Historikerkommission Vorgänge an genau jenem psychiatrischen Krankenhaus, das damals noch „Am Spiegelgrund" genannt wurde, aus der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur und der jungen zweiten Republik untersuchte, und der Name Konrad L. als Opfer in den Krankenakten aufschien. Oft hatte Josefs Vater von seiner Zeit im Kinderheim Hohe Warte erzählt, so oft und in verklärter Erinnerung, dass sich Josef noch immer an den Spitznamen eines dieser Erzieher, McDuffer, erinnern konnte. Doch außer diesem Aufenthalt im Erziehungsheim hatte Vater Konrad nie etwas aus seiner Kindheit erzählt. Durch diesen Brief des Opferschutzverbands aber brach der bislang zum Selbstschutz erbaute Damm und aus Josefs Vater quoll die Erinnerung hervor, und jetzt, im hohen Alter, erzählte Konrad endlich die ganze, ungeschönte Geschichte seiner Kindheit.

    An diesem Sonntagnachmittag hörte Josef mit zunehmendem Entsetzen von einem Kind, dessen Vater kurz nach Konrads Geburt im Krieg gefallen war. Josef hörte von einer Mutter, die am Verlust ihres Mannes zerbrochen war, der von den Behörden des nationalsozialistischen Regimes der zweijährige Konrad deshalb weggenommen und in das Kloster Hinterbrühl gebracht wurde. Josef hörte von der Klosterschwester Gerti, an die und ihren Holzprügel, sich der inzwischen schon vierjährige Konrad noch immer erinnerte. Nach dem Kriegsende wurde Josefs Vater dann in das Erziehungsheim Hohe Warte gebracht, von welchem heute fast alle Akten verschwunden sind. Dass dort aber ein noch viel schlimmeres Gewaltregime über die Schutzbefohlenen herrschte, ist unter Historikern heute unbestritten. Und nur wenige Monate zuvor beschäftigte sich auch das österreichische Parlament, sowie Künstler in der Ausstellung Krieg gegen Kinder, mit der Aufarbeitung der physischen und psychischen Gewalttaten an den Schwächsten in den Jahrzehnten des Bestehens der Erziehungsanstalt Hohe Warte in der Villa Andrasy, im Wiener Nobelbezirk Döbling.

    Und nun kam Vater Konrad in seiner Erzählung zu dem Ereignis in seiner Kindheit, das den Anlass zu dem Brief des Weißen Rings gab.

    „Ich war bereits vier Jahre auf der Hohen Warte, es war knapp vor meinem achten Geburtstag, da brachte man mich auf die Steinhofgründe. In den Akten steht, dass ich am Pavillon Fünfzehn von einem Dr. Heinrich Gross und im alten ZKH von einem Dr. Hans Hoff mit Malaria-Bakterien geimpft wurde."

    Josef wurde starr. Einen Großteil der Zeit seines Zivildienstes hatte er ausgerechnet an diesem Pavillon XV verbracht, wo in den Jahren des Nationalsozialismus hunderte Kinder mittels Giftspritzen von Ärzten und Schwestern ermordet wurden. An den Räumlichkeiten dieses Jahrhundertwende-Gebäudes konnte sich in den sechsunddreißig Jahren zwischen der Höllenreise des Vaters und dem Zivildienst des Sohnes nicht viel geändert haben. Josef konnte sich daher ein gutes Bild malen, von einer vergitterten Burg im Backsteinstil, von panischen Kindern in Todesangst, und hochangesehenen und gleichzeitigem einem Allmachts-Wahn verfallenen Psychiatern, die in ihren weißen Arztkitteln, wie durch Ritterrüstungen vor jedem Verdacht der Unredlichkeit geschützt, ihren menschenverachtenden Perversionen freien Lauf ließen. Der von Vater Konrad angesprochene Dr. Heinrich Gross, war für seine Beteiligung am Euthanasieprogramm der NS-Zeit wegen Totschlags Ende der siebziger Jahre bereits schuldig gesprochen worden, dieses Delikt aber verjährt. Eine Anklage wegen nicht verjährbaren Mordes zog sich so viele Jahre hin, bis Dr. Gross altersbedingt nicht mehr verhandlungsfähig war. Zwar war Dr. Gross mit Kriegsende für drei Jahre in einem amerikanischen Kriegsgefangenenlager interniert. Doch er starb, ohne auch nur einen einzigen Tag in einem österreichischen Gefängnis verbracht zu haben, am Beginn des neuen Jahrtausends in Hollabrunn.

    „An den Dr. Gross kann ich mich noch gut erinnern. Vater Konrad war inzwischen zunehmend erregt geworden. „Er hat meinen Kopf in seinem angewinkelten rechten Arm eingeklemmt, dann nach hinten ausgeholt, und durch das schnelle Öffnen des Arms, hat er mich mit dem Oberarm nach vor beschleunigt und gegen die gegenüberliegende Wand geschleudert. Das hat er öfter getan und ich bin mir sicher, dass mein späteres Rückenleiden von damals stammt.

    Die Vergehen in den Jahren der frühen zweiten Republik, wie das an Vater Konrad, kamen jedoch nie vor Gericht. Während der jahrzehntelangen Diskussion um die Schuldhaftigkeit von Dr. Gross, argumentierte man wiederholt, „der Gott sei bei uns der österreichischen Psychiatrie, Dr. Julius Wagner-Jauregg habe doch 1927 für die Malaria-Therapie von Schizophrenie-Patienten sogar den Nobelpreis bekommen", auch wenn diese medizinische Weisheit längst überholt war. Die Arbeit der Historikerkommission bewirkte einen Beschluss des Parlaments, die noch lebenden Opfer sollten durch Einmalzahlungen entschädigt und in Kürze eine kleine Zusatzpension erhalten. Dies Vater Konrad mitzuteilen, war der Inhalt des Briefs des Opferschutzverbands.

    Noch voll der Eindrücke aus den Erzählungen seines Vaters, stand Josef wenige Tage danach mit der Überweisung zur psychiatrischen Untersuchung in der Hand, am Schmiedeeisentor zum Vorgarten einer sehr gepflegten kleinen Gründerzeitvilla mit mehreren Praxen und drückte die Klingel zur Ordination der von Dr. Ganser empfohlenen Psychiaterin Dr. Deutsch. Es war ein früher Morgen eines Tages, der ein erstes Frühlingsgefühl aufkommen lassen sollte. Die Luft noch stechend kalt, doch die Kraft der Sonne so stark zu spüren, wie in diesem Jahr bislang noch nicht. Sie erwärmte sein Gesicht und sein Gemüt als Josef im Vorgarten einige Minuten bis zum Beginn der Ordinationszeiten wartete. Es war ein normaler Arbeitstag, Josef trug den üblichen Business-Cassual-Stil, den er sich angewöhnt hatte, seit er nicht mehr als Chef Anzug und Krawatte tragen musste. Er hatte Kundentermine vereinbart, den Besuch bei der Psychiaterin wollte er davor erledigen. Fünfzehn Minuten vor Ordinationsbeginn wurde ihm das Haustor geöffnet und nach Ausfüllen des Datenblattes bat ihn die Sprechstundenhilfe im Wartezimmer Platz zu nehmen. Da er als der erste Patient allein im ganzen Haus war, verkürzte er sich die Zeit indem er leise im Zimmer umherging und die historischen Stiche an der Wand betrachtete. Den Klingelton seines Telefons hatte er bereits abgedreht, doch machte sich ein Anruf durch Vibrieren bemerkbar. Eigentlich rechnete er damit, jeden Augenblick aufgerufen zu werden, und wenn am Display nicht der Name eines seiner besonders pflegebedürftigen Kunden gestanden wäre, hätte er wahrscheinlich später zurückgerufen. Aber Josef konnte seine Hilfsbereitschaft nicht unterdrücken, konnte diesem frühmorgentlichen,

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