Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die Datenwaffe: Ein Wirtschaftskrimi in der IT-Branche
Die Datenwaffe: Ein Wirtschaftskrimi in der IT-Branche
Die Datenwaffe: Ein Wirtschaftskrimi in der IT-Branche
eBook528 Seiten6 Stunden

Die Datenwaffe: Ein Wirtschaftskrimi in der IT-Branche

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Die zwei jungen Schweizer Kai und Philipp entwickeln eine Software, die vollkommen neue und enorm wertvolle Daten von Smartphone-Nutzern generiert. Diese Daten haben einerseits das Potenzial, die gesamte Online-Branche auf den Kopf zu stellen, andererseits sind sie so beschaffen, dass sie in den falschen Händen zu einer gefährlichen Waffe werden. Die revolutionären technischen Möglichkeiten sowie die Aussicht auf fette Gewinne ziehen das Interesse der Internet-Giganten, der Cybercrime-Szene aber auch der Datenschützer auf sich. Mehr und mehr geraten Kai und Philipp zwischen die Fronten unberechenbarer Mächte.
Ganz plötzlich spielen die beiden Freunde in ein und derselben Liga mit großen, aber auch äußerst gefährlichen Namen und Organisationen. Der Programm-Quellcode wird zu Kapital, Bürde und Gefahr in einem.
Und dann gibt es da noch Simona, die ganz andere Wertmaßstäbe hat als Philipp, der sich heillos in sie verliebt hat. Ihre leidenschaftliche Beziehung wird auf eine harte Bewährungsprobe gestellt.
Ein Konflikt um Liebe, Moral und Geld entbrennt. Werden Kai und Philipp die richtige Entscheidung treffen? Können sie im Kampf gegen Gier und Macht in einer dunklen Welt bestehen?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum3. Juli 2017
ISBN9783743924437
Die Datenwaffe: Ein Wirtschaftskrimi in der IT-Branche

Ähnlich wie Die Datenwaffe

Ähnliche E-Books

Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Die Datenwaffe

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die Datenwaffe - Patrick Mosberger

    Kapitel 1: Simona

    Im Oktober dieses Jahres fanden Wahlen statt. Tausende Selbstdarsteller und bekennende Volksversteher präsentierten sich im vermeintlich besten Licht in unzähligen Wahlveranstaltungen in den Schweizer Städten. Es gab kleine Menschen mit kleingeistigen Anliegen und große Denker, die mit bedeutenden Mienen wahrlich Gescheites von sich gaben. Ich saß in einem Straßencafé, in dessen unmittelbaren Nähe sich eine Partei auf einer improvisierten Bühne um Wählerstimmen bemühte. Es war die Rede von Zuwanderung und dessen Bedeutung für die Schweiz. Die Partei war dafür.

    Ein paar Dutzend Menschen versammelten sich vor der kleinen Bühne und ein leicht untersetzter Politikanwärter gab seine Meinung zum Besten. Er wolle dafür sorgen, dass die Schweiz ein weltoffenes Land bleibe. Er werde denen in Bern beweisen, dass die Schweiz keine Insel sei, meinte er mit lauter Stimme und erhobenem Zeigefinger. Nach jeder seiner Parolen gab er dem Publikum die Chance, ihm zu applaudieren. Mit wichtiger Miene blickte er in die Runde und versuchte, so etwas wie Stimmung zu erzeugen. Die Zuhörer wechselten. Es kamen neue dazu; die hielten kurz inne und gingen wieder weiter. Nur wenige blieben einige Minuten stehen und zu diesen gehörte eine junge Frau mit schulterlangen, blonden Haaren.

    Fast regungslos stand sie da und lauschte den Parolen des Untersetzten. Sie klatschte nie, aber ihre Mimik änderte sich laufend, so dass es nicht schwer war, ihre Zustimmung oder Ablehnung zum jeweils Gesagten zu erkennen. Viel bemerkenswerter aber war der Umstand, dass die Frau kaum ein paar Sekunden lang allein dastand. Es gesellten sich immerzu neue Menschen an ihre Seite. Fast schien es, als zöge sie eine Art magische Kraft zu ihr hin. Sie standen dann vielleicht einen halben Meter von ihr entfernt, hielten inne, hörten kurz zu und verschwanden wieder. Kaum war ein Platz in ihrer Nähe frei geworden, wurde dieser sogleich wieder von einem neuen Zuhörer eingenommen. Es war nicht so, dass da Platzmangel herrschte, keineswegs. Es gab mehr als genug andere Möglichkeiten, sich vor der Bühne zu platzieren.

    Ich hatte längst meine Zeitung gesenkt und war der seltsamen Szenerie mit großem Interesse gefolgt. Der leicht Dickliche auf der Bühne hatte inzwischen einem Kollegen Platz gemacht. Die Stimmlage änderte sich, die Botschaften ähnelten sich.

    Die blonde Frau blieb noch eine Weile stehen und ging dann langsam weiter. Sie trug schwarze Lederschuhe mit flachen Absätzen, blaue Jeans, eine etwas zu große rote Jacke und eine ziemlich voluminöse schwarze Handtasche, wie es sie wohl in jedem Warenhaus zu kaufen gab. Die Frau war alles andere als eine auffällige Person, zwar war sie durchaus attraktiv, von schlanker Statur, jedoch auf keine Art irgendwie optisch markant. So gab es keinen erkennbaren Grund, wieso sich wildfremde Menschen gerne in ihre Nähe begaben.

    Ich legte Geld auf den Tisch, faltete meine Zeitung und ging ihr nach. Einige hundert Meter weiter blieb sie stehen und betrachtete die Auslage in einem Schaufenster. Es war nicht zu erkennen, was da ihre Aufmerksamkeit erregte, aber es vergingen kaum ein paar Sekunden, bis sich weitere Menschen neben sie stellten und ebenfalls in das Schaufenster blickten. Nach kurzer Zeit drehte sich die Frau um und ging weiter, worauf auch die anderen sich nach und nach wieder von der Auslage entfernten. Das gleiche Schauspiel wiederholte sich noch ein, zwei Mal, bis ich sie in einem Buchladen verschwinden sah. Einen Moment lang zögerte ich, dann entschloss ich mich, ihr zu folgen. Im Laden interessierte sie sich für eine autobiografische Neuerscheinung eines bekannten deutschen Politikers. Sie nahm ein Buch vom riesigen Stapel und las den Klappentext. Ich tat es ihr gleich, allerdings schnappte ich mir wahllos ein Buch von einem anderen Stapel. Es handelte sich um ein Kochbuch, was mir ausreichend unauffällig erschien. Neben ihr standen alsbald weitere Menschen, die sich für das Lebenswerk des Alt-Politikers zu interessieren schienen. Sie hatte inzwischen in der Mitte des Buches eine Seite aufgeschlagen und las einige Zeilen. Das war meine Chance. Ich näherte mich der kleinen Menschenansammlung, stellte mich genau neben die Frau und sprach sie an.

    „Hat der alte Mann etwas zu sagen?"

    Sie hob den Kopf und sah mir direkt in die Augen. Der Blick war sehr bestimmt, hatte etwas absolut Reines und gleichzeitig unerklärbar Vertrautes. Ich spürte, wie mein Puls hochging, wie mein Mund austrocknete und wie ich mit jeder Sekunde mehr bereute, dass ich sie angesprochen hatte. Sie legte das Buch zurück auf den Stapel und wandte sich mir zu.

    „Ja, das hat er."

    Sprachs und drehte sich von mir weg. Mein Herz raste und vermutlich hatte meine Gesichtsfarbe etwas von Tomate. Hastig legte auch ich mein Exemplar zurück und folgte ihr.

    „Hören Sie!", rief ich ihr nach.

    Sie drehte sich unerwartet rasch um und blickte mir wieder direkt in die Augen.

    „Ja?", meinte sie freundlich.

    „Ich, ähh, meine, ähh, ich möchte ..."

    Sie lächelte kurz und schickte sich schon an weiterzugehen, als ich stammelte: „Ich habe einen Job für Sie."

    Ihr Blick veränderte sich, sie schien nicht so recht zu wissen, wie sie darauf reagieren sollte. Keine zwei Sekunden später lachte sie mich an.

    „Danke, ich habe schon einen Job."

    Mit diesen Worten drehte sie sich abermals von mir weg und ließ mich in der Buchhandlung zurück.

    Als ich zu Hause angekommen war, rief ich Kai an.

    „Kai, ich habe sie gefunden. Sie ist perfekt."

    Wen hast du gefunden und für was ist sie perfekt?", wollte Kai wissen.

    „Ich habe dir doch erzählt, dass wir für MOM noch eine Person brauchen. Ich habe sie gefunden!"

    Am anderen Ende des Telefons blieb es ruhig. Eine ganze Weile lang sagte niemand von uns etwas, dann meinte Kai: „Wer ist sie und was hat sie bisher gemacht?"

    „Keine Ahnung, ich weiß weder ihren Namen noch sonst irgendwas von ihr. Noch während ich die Worte aussprach, merkte ich, wie dumm und naiv sich diese anhören mussten. Rasch fuhr ich fort: „Sie hat eine phantastische Aura, eine unglaubliche Anziehungskraft, sie scheint so rein und natürlich und sie wird MOM zum Durchbruch verhelfen. Glaube mir, sie ist die Richtige!

    Kai lachte mich aus: „Und woher kennst du sie? Aus der Kirche, wo sie den Armen hilft?"

    „Nein, aber hör mir zu."

    Ich erzählte ihm die Geschichte, wie sie sich am Nachmittag zugetragen hatte, und Kai unterbrach mich nur, um gelegentlich eine Frage zu stellen. Wir redeten eine ganze Weile miteinander und ich versprach, die Frau zu finden und sie beim nächsten Mal für unsere Sache zu gewinnen. Nach dem Telefonat setzte ich mich an den Computer und blieb dort einige Stunden. Meine Motivation war nun noch größer. Ich wusste, dass wir an etwas ganz Großem dran waren.

    Es vergingen mehrere Wochen, in denen Kai und ich MOM weiterentwickelten. Während er die mathematischen und technischen Berechnungen vorantrieb, kümmerte ich mich um die eher organisatorischen Belange. Wir kamen gut voran, aber wir wussten auch, dass wir da eine Software entwickelten, die nicht einfach zu verkaufen sein würde. Wir hatten es bisher vermieden, andere Leute ins Boot zu holen; unsere Idee schien uns einerseits zu gut, um anderen davon zu erzählen, bevor wir sicher waren, dass sie nicht kopiert werden konnte, andererseits wussten wir sehr wohl um die Brisanz des Projekts. Allerdings hatten wir einige Leute, die uns unterstützten, ohne konkret zu wissen, worum es ging.

    Da war zum einen Raul, ein Programmierer in Barcelona, den wir noch nie in echt gesehen hatten. Wir verkehrten über Skype, über Chat oder per Telefon, aber er blieb stets in Spanien, während wir in Zürich arbeiteten. Raul war ein grob geschätzt vierundzwanzigjähriger Student, der sich bestens mit den meisten Handy-Betriebssystemen auskannte. Egal ob Apples iOS, Prideos oder Windows Mobile – er kannte sich damit aus. Raul wurde von uns bezahlt für Leistungen, die er wohl auch gratis gemacht hätte. Wir hatten uns in einem Forum kennengelernt, als er einem Applikationsentwickler erklärte, was dieser da alles für „rubbish programmiert hatte. In Rauls Augen waren die meisten Programme „rubbish; er benutzte dieses Wort mehr als jedes andere.

    Der Spanier war unglaublich schnell, wenn es darum ging, unseren Quellcode innerhalb der gängigen Betriebssysteme zu testen und Fehler zu eliminieren. Ich schickte ihm selbstverständlich nicht den ganzen MOM-Quellcode, sondern stets nur Fragmente. Er brauchte nie länger als ein paar Stunden, um mir diese zurückzuschicken, mit Korrekturen hier und da, Verbesserungen oder Hinweisen. Ich bezahlte ihn ohne Vertrag und ohne Tarifliste, je nachdem, wie wertvoll mir seine Arbeit erschien. Einmal überwies ich Raul achthundert Euro, worauf er sich bedankte, als hätte ich ihm ein Auto geschenkt. Ab jenem Zeitpunkt war er fast rund um die Uhr online. Da er sonst keiner mir bekannten bezahlten Arbeit nachging, hatte ich Rauls Support für vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche.

    Dann war da noch Sergei, der irgendwo in Moskau lebte. Sergei machte im Internet Dinge, die wohl in die Kategorie „illegal" gehörten. Ich wollte nie wissen, was er da genau trieb, aber er hatte Kenntnisse, die für uns von größtem Wert waren. Sergei und ich hatten uns erstmals bei einem Kongress in London zum Thema Cyberkriminalität getroffen.

    Wir saßen nebeneinander in einem großen Saal und lauschten den Worten eines renommierten Sicherheitsspezialisten. Schnell kamen wir ins Gespräch und ich erkannte schon bald, dass er auf der „anderen Seite" wirkte. Er machte auch nicht wirklich ein Geheimnis daraus, aber der Umstand, dass er sich offenbar seriös informierte und derartige Kongresse besuchte, machte großen Eindruck auf mich.

    Er gab mir eine selbstgemachte Visitenkarte, auf der nur eine kryptische Skype-Adresse und der Name „Sergei" standen. Ich bot ihm meine Karte an, aber er würdigte sie noch nicht einmal eines Blickes. Er meinte nur, er bräuchte sie nicht, denn ich würde ihn kontaktieren. Wir verabschiedeten uns höflich, und seither bin ich Sergei nie mehr gegenübergestanden. Aber er sollte Recht behalten: Es vergingen nur wenige Wochen, bis ich ihn kontaktierte.

    Ich wusste eigentlich nichts über ihn, aber er half mir in einigen heiklen Angelegenheiten. Immer wenn ich das Gefühl hatte, mich zu sehr vom legalen Weg entfernen zu müssen, war er mein Mann. Er nahm die Aufträge entgegen und führte sie aus. Wir hatten nie über Bezahlung gesprochen; er hatte nie danach gefragt. Ich wünschte mir, wir hätten das geregelt, aber irgendwie war es wohl nun zu spät dafür.

    Der letzte Mann in unserer speziellen „Familie" war Felix. Er arbeitete als Game-Designer in einem kleinen Start-up-Unternehmen in Zürich. Felix hatte die Gabe, Dinge so einfach und so reduziert auf das Wesentliche zu gestalten, dass auch Puristen kaum etwas auszusetzen hatten. Da gab es nur wenige Farben, die man hätte verurteilen können, da gab es keine Schnörkel und keine überflüssigen Ecken und Kanten. Felix verband Funktion und Form auf das Perfekteste, aber Felix wusste leider auch um den Wert seiner Fähigkeiten. Er erhielt seine Aufträge von Kai, und das lief immer so ab, dass er einen Preis nannte, den Kai nicht zahlen wollte. Sie einigten sich nach einem schier endlosen Chatverkehr auf einen Betrag, wonach Felix dann endlich seine Arbeit aufnahm. Er brauchte in der Regel nicht allzu lange zur Fertigstellung, was Kai im Nachhinein noch viel mehr in Rage brachte, weil ihm so bewusst wurde, dass er wieder viel zu viel bezahlt hatte.

    Felix trafen wir gelegentlich zu einem Meinungsaustausch; er war achtundzwanzig Jahre alt, groß und eher schlaksig. Er trug Kleidung, die so gar nicht zu seiner minimalistischen Arbeit passen wollten, und er lebte in einer Wohngemeinschaft mit mehreren Frauen.

    Es war inzwischen Winter geworden. Meine Erinnerung an die Begegnung mit der Frau aus der Buchhandlung war hellwach, gleichzeitig war sie fast schon so etwas wie ein Mythos geworden. Längst glaubte ich nicht mehr an ein Wiedersehen. Ich besuchte diese Buchhandlung fast jeden Samstag in der Hoffnung, die blonde Frau dort anzutreffen – vergeblich. Wahlveranstaltungen gab es längst keine mehr, der leicht Untersetzte hatte es tatsächlich geschafft, genügend Wählerstimmen zu bekommen. Er residierte nun in Bern im Parlament, wo er versuchte, sich seiner Wahlversprechen zu erinnern.

    Und dann, an einem kalten, regnerischen Tag, vollkommen unerwartet, sollte ich sie doch wiedersehen. Ich betrat ein Restaurant in Zürichs Altstadt, legte meinen Mantel ab, stellte den Schirm in den dafür vorgesehenen Ständer und wandte mich in den Raum. Es waren nur wenige Leute im Lokal, und an einem der Tische saß – sie.

    Sie trug die blonden Haare ein wenig anders, aber nichtsdestotrotz erkannte ich sie sofort. Mit gesenktem Kopf saß sie vor einem Buch, neben ihr standen eine Flasche Wasser und ein halbvolles Glas. Ich setzte mich an einen Tisch in der Nähe und bestellte mir einen Kaffee. Nachdem mir dieser gebracht worden war, nahm ich all meinen Mut zusammen und sprach sie an.

    „Hat Schröder nun wirklich etwas zu sagen?"

    Sie hob den Kopf und sah zu mir hinüber. Den Blick genau in die Augen kannte ich schon, aber die Wirkung war wieder unerwartet.

    „Er ist ein kluger Mann", antwortete sie herausfordernd.

    „Ja, das muss er wohl sein. Bundeskanzler ist auch nicht gerade ein einfacher Job."

    Sie lächelte und musterte mich gleichzeitig.

    „Erinnern Sie sich an mich? Wir haben uns schon mal getroffen. In der Buchhandlung am Bellevue-Platz."

    „Ja, ich erinnere mich an Sie. Möchten Sie sich nicht zu mir setzen?", fragte sie freundlich.

    Ich brauchte keine fünf Sekunden, um den Tisch zu wechseln.

    „Philipp", sagte ich und streckte ihr die Hand entgegen.

    Sie zögerte kurz, nahm sie dann und erwiderte: „Simona."

    Es herrschte eine eigenartige Stimmung zwischen uns beiden, irgendwie angespannt und doch sehr vertraut. Wenn ich sonst mit anderen Leuten an einem Tisch saß, hatte ich oft das Gefühl des Nicht-Dazugehörens, nicht aber bei ihr. Es war mir nicht klar, ob es an diesen unglaublich blauen Augen lag oder an der Ruhe, die sie ausstrahlte. Auf jeden Fall umgab sie eine Aura, die bewirkte, dass man sich in ihrer Gesellschaft sofort wohlfühlte.

    „Na ja, Gerhard Schröder ist sicher ein interessanter Mann, aber muss man sein Buch wirklich lesen?", gab ich zum Besten.

    Sie sah mich mit ruhigem Blick an und fragte mit klarer Stimme: „Was ist das für ein Job, den Sie für mich haben?"

    Kapitel 2: Das Agreement

    Ich erzählte Simona von unserem Projekt, nannte ihr die Namen der anderen – Kai und Raul, nur Sergei ließ ich geflissentlich aus, das schien mir zu dem Zeitpunkt noch zu heikel – und erläuterte ihre jeweiligen Aufgaben. Ich erklärte ihr, was MOM dereinst werden sollte, welche Idee dahintersteckte und was die große Herausforderung war. Und ich versuchte, ihr zu veranschaulichen, was ihre Funktion dabei sein sollte. Sie hörte mir aufmerksam zu. Wir bestellten noch mehr Wasser und sprachen wenig über Software und viel über Ethik und Moral. Keiner von uns blickte auf die Uhr, aber es mussten bereits Stunden vergangen sein. Schließlich stand Simona auf und ging wortlos zum Kellner. Sie bezahlte und kam an meinen Tisch zurück, blieb aber stehen.

    „Ich überlege es mir, ich rufe dich an. Gibst du mir deine Nummer?"

    Hastig suchte ich in meinen Taschen nach einer Visitenkarte. „Natürlich, wenn man einmal eine Karte braucht ..."

    „Sag mir nur deine Nummer, das ist alles, was ich brauche."

    "Ich nannte ihr meine Handynummer und sie verabschiedete sich.

    „Sie heißt Simona", berichtete ich Kai am nächsten Tag.

    „Sie ist schätzungsweise fünfundzwanzig und arbeitet bei der Stadtverwaltung."

    „Bei der Stadt? Kai hob Stimme und Augenbrauen. „Sie hat nichts mit Marketing oder IT am Hut?

    „Ähh, nicht direkt."

    „Aha. Und indirekt?"

    „Nun, entgegnete ich, „sie ist studierte Physikerin und eine Art Botschafterin.

    „Eine Botschafterin?"

    „Sie arbeitet beim Amt für Umweltschutz und treibt dort die Verwendung grüner Energie voran."

    „Grüne Energie?"

    „Ja genau, das ist eine gute Sache, da versucht man, Strom aus Atomkraftwerken zu ..."

    Kai unterbrach mich jäh: „Ich weiß, was grüne Energie ist! Bist du völlig durch den Wind? Wir können uns keine Person leisten, die keinen blassen Schimmer von dem hat, was wir hier machen!"

    „Du unterschätzt sie. Sie versteht sehr wohl, was wir hier machen, sie ..."

    Wieder unterbrach mich Kai, dieses Mal mit lauterer Stimme: „Du hast ihr von MOM erzählt?!"

    „Nur ein wenig. Sie ist sauber, ich bin mir da ganz sicher."

    Kai war wütend und schrie, er sei enttäuscht von mir, ich sei leichtfertig und leichtgläubig und ich gefährde das ganze Projekt. Meine Versuche, ihn zu beruhigen, waren von wenig Erfolg gekrönt, ganz im Gegenteil.

    „Du musst sie treffen!", rief ich dazwischen.

    Kai hielt in seiner Schimpftirade inne und blickte mich an.

    „Ja, das muss ich in der Tat. Ich werde ihr sagen müssen, dass das alles nur ein Missverständnis sei, und ich werde mich bei ihr für dich entschuldigen."

    „Ja, tu das, erwiderte ich. „Aber ich verlange von dir, dass du es ihr persönlich sagst. Schau ihr in die Augen, wenn du sie loswerden willst.

    Kai zögerte kurz, willigte dann aber ein.

    „Das werde ich wohl müssen, nach all dem, was du ihr erzählt hast. Ich möchte mich versichern, dass sie dichthält. Hast du ihre Nummer?"

    „Nein, sie wird mich anrufen. Ganz bestimmt." Kai verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf.

    Wir saßen noch eine Weile zusammen, besprachen dies und das und einigten uns über die nächsten Schritte. MOM war beinahe fertig, ein erster Prototyp lief sehr erfolgversprechend.

    Es vergingen drei Tage, bis endlich der erlösende Anruf kam. Simonas Stimme klang durch das Telefon ungewohnt, aber sie hatte die gleiche Wirkung auf mich, als stünde sie neben mir.

    „Hallo Simona, schön von dir zu hören!"

    „Philipp, ich mache den Job, aber es gibt eine Bedingung."

    „Die da wäre?"

    „Ich möchte die Ergebnisse für Non-Profit-Unternehmen nutzen können. Und ich werde nichts dafür zahlen. Ich nutze die Software und die gesammelten Daten so, wie ich das für richtig halte. Nur für Projekte, die ich auswähle, ganz allein. So viel ich will, so lange ich will. Ihr könnt die Daten verkaufen an wen ihr wollt, das ist euer Ding. Aber ich habe Zugang dazu, jederzeit."

    Ich überlegte einige Sekunden und antwortete: „Das scheint annehmbar, aber keine staatlichen Projekte, nur NGOs. Und du musst Kai überzeugen."

    Nun war sie es, die nachdenken musste.

    „Was ist?, hakte ich nach. „Was überlegst du?

    „Wer von euch beiden ist eigentlich der Boss? Kai oder du, Philipp?"

    „Wir sind gleichwertige Partner, wir entscheiden gemeinsam, was uns wichtig ist."

    „Gut, dann möchte ich Kai sowieso treffen. Wann?"

    „Wir sind immer donnerstagabends im Restaurant Viadukt bei der Josefswiese. Da kannst du uns beide treffen."

    „Okay, ich komme diesen Donnerstag hin, 19 Uhr?"

    „In Ordnung, wir werden da sein."

    Wir legten auf und ich informierte Kai via Skype, dass uns Simona im Viadukt treffen wollte. Er willigte murrend ein.

    Am Mittwoch rief mich mein Bankberater an.

    „Guten Tag, Herr Wieland, tönte es gar freundlich von der anderen Seite. „Wie geht es voran mit Ihrem Projekt?

    „Es geht voran."

    „Das freut uns! Wie Sie wissen, ist uns sehr daran gelegen, dass das Vorhaben ein Erfolg wird."

    „Ja, ich freue mich auch."

    „Nun, Herr Wieland, gemäß unserem Businessplan müssten ja ab Januar die ersten Umsätze kommen. Konnten Sie denn schon Kunden für Ihre Software gewinnen?"

    „Nein, noch nicht, aber wir stehen kurz vor der Fertigstellung."

    „Oh, das ist ja wunderbar, hallte es aus dem Hörer. „Dann wird es die App ja demnächst zu kaufen geben, oder?

    „Ja, vermutlich."

    „Wie heißt sie denn eigentlich?"

    „Wer?"

    „Na, die App."

    „Ah ja, sie heißt ..." Ich zögerte einen Moment, weil mir nichts in den Sinn kam, was halbwegs plausibel klingen mochte. „Camme, die App wird wohl Cam-me heißen", log ich.

    „Das klingt sonderbar, aber Sie sind ja der Fachmann, Herr Wieland. Käm-mi, das tönt irgendwie schweizerisch."

    „Ist ja auch schweizerisch."

    „Nun gut, Herr Wieland, dann werde ich Sie mal wieder arbeiten lassen. Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie Hilfe brauchen. Sie wissen ja, unsere Bank sorgt sich um Ihr Wohl."

    „Jaja, das werde ich. Einen schönen Tag noch, Herr ..."

    „Nadeski, Herr Wieland, mein Name ist Nadeski, Petr Nadeski."

    Ich legte auf und öffnete meinen E-Banking-Account. Wenn dieser Schleimer anrief, musste das ja einen Grund haben. Schnell wurde mir klar, was die Ursache war. Der Kontostand war in den letzten Wochen bedrohlich ins Negative abgerutscht. Die Anschaffung der zwei Server für Kais Simulationsberechnungen hatte ein tiefes Loch in die Kasse gerissen. Wir mussten irgendwoher Geld auftreiben, sonst würde MOM eine Illusion bleiben.

    „Kai, wir brauchen Geld!", sagte ich in mein Headset.

    Kai am anderen Ende lachte. „Ja, ich weiß, das ist ja nichts Neues."

    „Nein, diesmal ist es ernst. Wir haben keine 4.000 Franken Kreditlimite mehr."

    Kais Stimme wurde ernster. „Ja, das ist in der Tat nicht mehr viel. Und MOM ist noch lange nicht fertig."

    „Wie steht es mit Cam-me?"

    „Womit?"

    „Ich habe dem Banker eine kleine Notlüge aufgetischt. Wir werden demnächst eine App in den Verkauf bringen, die Camme heißt."

    „Ach, machen wir das? Und was kann diese App?"

    „Keine Ahnung. Vielleicht kannst du ja die Kamerabilder auswerten und die Pupillenbewegungen verfolgen. Daraus lässt sich doch bestimmt was zaubern."

    Ich spürte förmlich, wie Kai überlegte.

    „Hmm, gib mir einige Tage. Raul, Felix und ich werden das Ding schon schaukeln. Cam-me sagst du? Wie kommst du nur auf diesen beschissenen Namen?"

    Am Donnerstagmorgen rief ich Sven Noermenn an. Er arbeitete bei Razzle in Zürichs Entwicklungszentrum. Razzle war weltweit die innovativste und bei Weitem einflussreichste Internet-Firma. Sie hatte die Zeichen der Zeit rechtzeitig erkannt und war vor rund zehn Jahren fast über Nacht entstanden. Seither wuchs die von Solomon Preston geführte Firma aus dem Silicon Valley in rasendem Tempo. Basis des Erfolgs war eine Internet-Suchmaschine, die sich zum Standard in der ganzen Welt gemausert hatte. Finanziert mit den unglaublichen Werbeeinnahmen aus dieser Suchmaschine hatte man auch ein erfolgreiches Betriebssystem, „Prideos" für Smartphones, entwickelt, das sich in den letzten Jahren vor allem in den neuen Industrieländern immer weiter verbreitet hatte. Razzle konnte sich somit die größten Marktanteile sichern, und mittlerweile kam an dem Internet-Giganten und dessen Chef Preston niemand aus der Branche mehr vorbei. Es schien, als würde die erfolgsverwöhnte Firma schlicht alles zu Gold machen.

    „Hallo Sven, how’s Razzle doing?", rief ich locker in mein Phone.

    „Philipp?! Hi, nice to hear from you. Wir können nicht klagen. Es läuft ganz gut."

    Sven und ich, wir hatten uns bereits während des Studiums kennengelernt. Er war eine echte Rakete in Sachen Softwareentwicklung, und soviel ich wusste, hatte er es bei Razzle schon zu einem gut dotierten Posten gebracht.

    „Hör zu, Sven, ich bin da an was ganz Großem. Du kennst doch noch Kai Helstroem aus dem Studium. Er und ich, wir haben einen Code entwickelt, der für Razzle von großem Nutzen sein könnte."

    „Was für einen Code? Was kann das Teil?", wollte Sven wissen.

    „Das kann und will ich dir so auf die Schnelle nicht erklären, schon gar nicht, während ihr fleißigen Datensammler alles mitschneidet. Ich telefoniere mit Prideos, du weißt ja ..."

    Sven lachte laut ins Telefon. „Philipp, wo denkst du hin! Also gut, was willst du von mir? Soll ich dich mit Raju Kandroharan zusammenbringen? Er ist unser Entwicklungsleiter für die nächste Prideos-Version in Europa."

    „Hat er was zu sagen bei euch? Ich meine, ist er eine große oder eine kleine Nummer?"

    „Raju?", rief Sven überrascht. „Du kennst Raju nicht? Er ist the one hier, ein Monument der Razzle-Geschichte, ein Titan! Er ist schon seit Jahren hier, er ist ..."

    „Schon gut, schon gut, unterbrach ich ihn. „Bring mich zusammen mit Raju. Er wird es nicht bereuen.

    „Okay, ich schau, was ich machen kann. Aber Philipp, wenn du mich hier verschaukelst, dann ..."

    „Sven, ich garantiere dir, dass Raju Freude an unserem Code haben wird."

    „Gut, ich melde mich."

    „Danke, hast was gut bei mir."

    Dann kam der Donnerstagabend. Ich saß schon um 18:30 Uhr im Restaurant Viadukt. Um 18:55 Uhr traf Kai ein; er trug ein weißes Hemd zu seinen üblichen Jeans.

    „Wow, Kai. Weißes Hemd! Gehst du nachher noch auf eine Hochzeit oder so?", spottete ich.

    Kai murmelte irgendetwas Unverständliches und setzte sich zu mir. „Wo ist deine Simona?", fragte er sichtlich angespannt.

    „Die wird schon kommen, ganz sicher. Komm, lass uns eine Flasche Wein bestellen."

    „Haben wir denn noch Geld für Wein?", entgegnete Kai missmutig.

    „Der geht auf mich, heute ist ein Tag zum Feiern. Du wirst schon sehen."

    Wir beugten uns gemeinsam über die Weinkarte und diskutierten über die eine oder andere mögliche Wahl. Als wir wieder hochsahen, erblickten wir beide gleichzeitig Simona, wie sie sich unserem Tisch näherte.

    Ich konnte meine Freude kaum beherrschen; meine Mundwinkel zog es unweigerlich nach oben. Ich sah kurz rüber zu Kai und bemerkte, wie er Simona anstarrte. Sein Blick schweifte nicht über ihren Körper, so wie er das bei anderen Frauen zu tun pflegte. Nein, er schaute ihr unentwegt in die Augen, und sie erwiderte seinen Blick, ohne zu blinzeln, ohne wegzusehen. Das ganze Spiel dauerte nur einen kurzen Moment, aber ich wusste nur zu gut, was Kai da gerade passierte.

    Simona begrüßte zunächst mich und reichte dann Kai die Hand. „Du musst Kai sein. Ich bin Simona."

    Mit einem eleganten Schwung entledigte sie sich ihrer roten Jacke und schon saß sie am Tisch. Kai hatte noch kein Wort gesagt, als sie mit einem Lächeln im Gesicht auf die Weinkarte deutete. „Ich bevorzuge einen spanischen. Da gibt es noch Weine, die ihr Geld wert sind."

    „Ja, schloss ich mich an. „Nehmen wir einen Spanier. Einen Rioja oder so.

    Kai hatte sich inzwischen wieder einigermaßen gefangen und meinte trocken: „Jaja, einen Rioja. Soll mir recht sein."

    „Philipp hat mir viel über dich erzählt, begann Simona. „Er hält viel von dir.

    „So, tut er das."

    „Ja, er denkt, dass MOM nur dank dir zu einem Erfolg werden wird."

    „Soso."

    „Ach, komm jetzt, mach es mir nicht so schwer, Kai. Ich beiße nicht, ich will euch helfen."

    Wie willst du uns denn helfen? Hast du Erfahrung in der Softwareentwicklung?", erwiderte Kai.

    „Nein."

    „Hast du Ahnung davon, wie man eine Software verkaufen kann?"

    „Nein."

    „Hast du ..."

    Sie unterbrach ihn lachend. „Wird das hier ein Verhör? Ich weiß nicht genau, wie ich euch bei eurem Vorhaben helfen kann, aber Philipp hier ist der Meinung, ihr bräuchtet mich. Wenn du deinem Kollegen vertraust, dann werde ich euch sicher helfen können. Wenn du ihm nicht vertraust, und damit auch mir nicht, dann stehe ich jetzt auf und werde alles vergessen, was ich weiß. Ehrenwort."

    Einen Moment lang herrschte Stille.

    „Bleib sitzen", brummte Kai.

    Ich atmete tief durch. Es war gekommen, wie ich es vermutet hatte: Simonas entwaffnende Art verfehlte auch bei Kai ihre Wirkung nicht.

    „Dann also den Rioja!", rief ich freudig und schlug die Weinkarte zu.

    Kapitel 3: Der Köder

    Am darauffolgenden Samstag trafen wir drei uns in meiner Wohnung, um uns auf das Meeting mit Raju, dem Entwicklungsleiter von Razzle, vorzubereiten. Ich schlug vor, ihm nicht nur die Idee von MOM, sondern auch erste Anwendungsmöglichkeiten vorzustellen. Kai wollte auf keinen Fall so weit gehen, solange wir diesen Raju nicht einschätzen konnten. Kais Absicht war es, nur eine vage Vision zu verkaufen, eine Idee, bei deren Realisierung uns Razzle unterstützen sollte.

    Simona hörte unserer Diskussion aufmerksam zu, beteiligte sich aber nicht daran. Einig waren wir uns einzig darin, dass wir aufzeigen mussten, welchen Nutzen MOM bot, denn ein großer Fisch würde nun mal nur bei einem großen Köder anbeißen. Wir stellten also ein paar Präsentationsfolien zusammen und gaben uns Mühe, diese professionell aussehen zu lassen.

    „Wir bräuchten dringend jemanden wie Felix hier", bemerkte ich angesichts einer eher unglücklich gestalteten Seite.

    „Er würde die Präsentation in null Komma nix auf Vordermann bringen!", bestätigte Kai und warf dabei einen Seitenblick auf Simona, die sich auch bei diesem Thema bislang sehr zurückgehalten hatte.

    „Ja, Wink verstanden, sagte sie schmunzelnd und schnappte sich den Laptop. „Geht ihr zwei mal raus, holt euch ein Bier oder macht sonst was, was ihr Männer so tut. Lasst mich eine Stunde allein, dann sehe ich mal, was ich tun kann mit diesem Werk hier.

    Das ließen wir uns nicht zweimal sagen, schnappten unsere Winterjacken und waren aus der Tür. Wir beschlossen, dass die Idee mit dem Bier gar nicht so schlecht war.

    Nach einer guten Stunde kehrten wir bester Stimmung in meine Wohnung zurück. Von Simona fehlte jede Spur.

    „Verdammt, ich hab’s gewusst!, brüllte Kai. „Sie hat MOM geklaut! Das war alles eine saublöde Idee. Wie konnten wir nur …

    In diesem Moment rammte mir jemand die Wohnungstür in den Rücken. Simona stand vor uns.

    „Uii, sorry, das tut mir leid. Habe ich dir sehr wehgetan?", fragte sie besorgt.

    „Äh, nein, grummelte ich und rieb meinen Rücken. „Wo warst du?

    „Ich war kurz unten, um die Parkscheibe an meinem Auto zu verstellen."

    Ich warf Kai einen raschen Blick zu. Der sah zwar noch immer erschrocken aus, aber seine Miene hellte sich deutlich auf, als er den Laptop auf dem Tisch sah.

    „Zeig mal her, was du gemacht hast", forderte er Simona auf und unterbrach so den unangenehmen Moment.

    Simona führte uns durch die veränderte Präsentation. Sie hatte überall Dinge gelöscht, Details weggelassen und vereinfacht. Das Layout hatte sie ersetzt durch eines, das irgendwie recht „weiblich" daherkam.

    „Das ist weniger hart, weniger technisch", meinte sie.

    „Ja, spottete Kai, „damit könntest du auch einen Wäschetrockner verkaufen, was ihm prompt einen Boxhieb gegen die Schulter einbrachte.

    „Hört her, ihr zwei Techies, erklärte sie, „ihr verkauft keine Software, ihr verkauft keine Technologie, sondern ihr verkauft eine Vision, einen flüchtigen Blick in eine Welt, die bisher unsichtbar war. Es braucht keine technischen Details, es braucht nur eine Sekunde lang den Blick durch ein bisher verschlossenes Fenster. Gehen wir davon aus, dass dieser Raju ein waches Vorstellungsvermögen hat. Erklären wir ihm nicht die Technik, zeigen wir ihm stattdessen die Dinge, die er nicht zu träumen wagt. Er muss den Köder nicht schlucken, er muss nur daran riechen. Das reicht für das erste Treffen, nur riechen …

    Kai und ich waren skeptisch. „Und, wollen wir ihm zeigen, was wir schon haben?", fragte Kai.

    „Unbedingt!, erwiderte Simona. „Aber nur andeuten. Fünf Minuten, keine Details. Gefühle, aber keine Technik. Lasst ihm seine Interpretation; er darf nicht alles sehen.

    Ich konnte dieser Frau ohnehin nichts abschlagen, und so war ich einverstanden.

    „Okay, aber lasst uns noch kurz die Regie durchgehen: Wer sagt was, wer startet und so weiter."

    Die beiden anderen waren einverstanden und wir beendeten den Tag mit beschwingten Diskussionen und gemischten Gefühlen.

    Am Montag rief mich Sven an. „Du kannst Raju morgen treffen", sagte er nicht ohne Stolz.

    „Wie hast du das denn so schnell hingekriegt, wollte ich wissen. „Na ja, er kann eben priorisieren. Er weiß halt, dass es cool wird, wenn ich dahinterstehe, erwiderte Sven lachend.

    „Komm morgen um elf Uhr zu uns in die Turbinenstraße."

    „Danke, Sven, ich werde mich eines Tages revanchieren."

    „Yeah, Philipp, alles cool. Mach nur keinen Scheiß bei Raju. Ich hänge da mit drin, vergiss das nicht. Mach mir keine Schande!"

    „Werde ich nicht, versprochen."

    Ich holte mir sofort meine Kollegen an den Schirm: „Macht euch parat, wir sind morgen um elf Uhr bei Razzle!"

    Die beiden schwiegen einen Moment, um die Situation zu erfassen. Kai meldete sich zuerst: „Morgen? Aber ich muss noch meinen Anzug bei meiner Mutter abholen, ich muss noch zum Friseur und ich …"

    „Vergiss es, unterbrach ihn Simona. „Komm einfach pünktlich; deine Frisur wird Raju egal sein.

    Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen und ergänzte: „Ja, Kai, deine Frisur sitzt."

    Kai strich sich über seine zwei Millimeter Haarpracht und wurde rot.

    „Also, wir treffen uns um 10:30 Uhr bei mir, dann nehmen wir von hier aus die Straßenbahn. Wir werden rechtzeitig da sein und unterwegs können wir nochmals kurz die Dramaturgie durchgehen", schlug ich vor.

    „Ist gut, meinte Simona. „Lieb auch von dir, dass du meine Agenda schon geprüft hast. Du erinnerst dich vielleicht: Ich habe noch einen anderen Job.

    „Tut mir leid, entgegnete ich. „Das hatte ich total vergessen. Kannst du denn kommen?

    „Ja. Ich habe genügend Überstunden und mein Chef ist da ziemlich locker."

    Wir verabschiedeten uns mit dem Versprechen, pünktlich zu sein. Ich verwendete den restlichen Tag dazu, MOM auf meinem Handy nochmals in allen Einstellungen zu testen.

    Wenn das nur gut geht, dachte ich mir. Was ist, wenn Raju die Sache nicht versteht? Und was erst, wenn er sie richtig versteht …

    Am Dienstagmorgen wachte ich früh auf – sehr früh. Ich machte mir einen Kaffee und wartete, bis es hell wurde. Als Kai bei mir eintraf, hatte ich schon drei Tassen intus und war supernervös. Kai ging es ähnlich; er hatte seinen Laptop zu Hause liegen lassen und musste noch einmal zurückrennen. Jetzt sah er aus, als wäre er gerade einen Marathon gelaufen. Wir blickten alle naselang auf die Uhr und mutmaßten schon, dass Simona wohl doch nicht von der Arbeit loskam.

    Dann war sie da. Und wie! Sie trug ein schwarzes Business-Kostüm, elegante Schuhe und einen Mantel, den sie locker über dem Arm trug. Ihre Haare hatte sie hochgesteckt und sie war dezent geschminkt. Kai und ich sahen sie eine gefühlte Ewigkeit an, bis einer von uns die Fassung wiederfand.

    „Du siehst umwerfend aus", konstatierte ich mit großer Bewunderung. Kai nickte zustimmend, ohne den Blick von ihr abwenden zu können.

    „Nun aber los!, sagte Simona. „Die Straßenbahn geht in ein paar Minuten.

    Wir packten unsere Sachen und liefen zur Haltestelle. Kurz vor elf Uhr standen wir vor dem Razzle-Gebäude. Sven erwartete uns beim Eingang.

    „Ihr müsst euch registrieren. Ich rufe gleich Raju an; er wird euch dann in den Vorführraum bringen."

    Wir gehorchten schweigend und warteten nach der Registrierung im Foyer. Einige riesige Monitore wiesen auf die neuesten Razzle-Produkte hin. Ehrfurcht machte sich breit.

    Dann kam Raju. Er war groß, schlank, indischer Abstammung, Ende dreißig. „Ich bin Raju. Er streckte uns einem nach dem anderen die Hand entgegen, zuerst Simona, dann uns. „Kommt rein, meinte er freundlich.

    Sven verabschiedete sich mit gerecktem Daumen und wir betraten die heiligen Hallen.

    „Macht bitte keine Fotos, bat uns Raju. „Wir versuchen hier, so einiges Neues auf den Markt zu bringen. Da wollen wir den Kunden die Überraschung doch nicht verderben.

    Wir nickten schweigend und folgten ihm durch die verschiedenen Räume. Überall saßen junge Leute; man hörte Sprachen aus aller Welt, vorwiegend aber Englisch. Raju führte uns in eine Art Kinosaal; es gab darin bestimmt dreißig Sessel, alle vollkommen unterschiedlich. Es gab rote Wangensessel, schwarze Ledersofas, braun gemusterte Stühle et cetera. Alle waren wie im Kino aufsteigend platziert, um von überall her beste Sicht auf einen gigantischen Monitor am Ende des Raums zu ermöglichen.

    Raju setzte sich in die vorderste Reihe in einen alten abgewetzten Sessel und schlug die Beine übereinander.

    „Na, dann legt mal los. Aber bevor ihr startet, erzählt mir etwas über euch."

    „Ich heiße Philipp Wieland, bin siebenundzwanzig Jahre alt. Ich habe zusammen mit Kai hier an der ETH einen Master in Informatik gemacht. Und nach einigen kleineren Arbeitseinsätzen habe ich mich ausgeklinkt und seither an der Entwicklung von MOM gearbeitet."

    Raju nickte kurz und wandte sich Kai zu.

    „Mein Name ist Kai Helstroem, auch siebenundzwanzig Jahre alt und, wie Philipp schon erwähnt hat, ein Studienkollege. Ich jobbe nebenher in einer kleinen IT-Firma, wo ich mich auf mobile Betriebssysteme spezialisiert habe. Ist aber mehr so ein Hobby; den größten Teil meiner Zeit widme auch ich unserem Baby, MOM."

    „Danke, und wie heißen Sie?" Damit

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1