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Bruder Brahim: Wege zwischen Welten
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eBook404 Seiten5 Stunden

Bruder Brahim: Wege zwischen Welten

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Über dieses E-Book

Das Leben wird spannend durch Veränderungen! Wie fühlt es sich an, auszubrechen aus dem Alltagskokon? Wer sind wir eigentlich, jenseits aller Labels und Rollen, die die Gesellschaft uns gibt? Ein junger Mann sprengt seine Fesseln und wird zu einem Weltenbummler, verliebt sich und konvertiert dann ausgerechnet zu einer Religion, die mit Veränderungen die größten Probleme hat - dem Islam. Für viele Menschen ein Rätsel und ein Schreckgespenst, lebt er als Brahim den Islam, entwickelt aber seine eigene Praxis und denkt aufgrund seiner Lebenserfahrung offen über Veränderungen nach.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum20. Juni 2018
ISBN9783743936935
Bruder Brahim: Wege zwischen Welten

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    Buchvorschau

    Bruder Brahim - Michael Ibrahim

    1Alte Wege verlassen

    1.1 Das Ende einer heilen Welt

    „Wer bin ich?" – das ist wohl die schwierigste Frage, die man sich stellen kann. Aber ich möchte genau mit dieser Frage anfangen. Als Kind war es irgendwie sehr einfach für mich, hierauf zu antworten. Ich wusste intuitiv, wer ich bin, und wo ich hingehöre und sogar, wo ich herkam. Irgendwo in meinem alten Tagebuch aus der Grundschulzeit liegt ein mit Bleistift verfasstes Zettelchen, auf welches ich als Drittklässler eine Geschichte über mich selbst geschrieben habe, die meine Mutter damals sehr erstaunte. Sie spielt im Himmel und handelt davon, dass ich Angst davor habe, in einem Körper geboren zu werden, der den Gesetzen der Zeit unterliegt, also irgendwann altert und stirbt. Ich erkannte mich also schon damals intuitiv als unsterbliche Seele und wusste, dass ich in einem sterblichen Körper stecke. Nun, ganz so hochgestochen habe ich es damals nicht ausgedrückt, aber man erkennt genau diesen Sinn. Im Anhang des Buches befindet sich auf Seite 319 der Originaltext. Viele Jahre später hielt ich plötzlich ein Buch in den Händen mit dem Titel „Ich komme aus der Sonne" (7) von einem jungen Mann aus Argentinien, der Ähnliches ausdrückte. Nach ein paar Recherchen lernte ich aus dem Internet, dass man uns Indigo-Kinder nennt. Heute denke ich, dass dies nichts Besonderes ist und immer mehr Kinder, die jetzt geboren werden, schon diese Entwicklungsstufe erreicht haben, sich als unsterbliche Seele zu erkennen. Sie verstecken dies im Alltag aber meistens.

    Geboren wurde ich Anfang der siebziger Jahre in einer katholischen Familie, die seit etwa 280 Jahren das gleiche Fleckchen Erde besiedelt und dort bis heute Ackerbau und Weinbau betreibt, in einem Dorf, welches noch vor wenigen Jahrzehnten zu hundert Prozent katholisch war. Somit war es für mich als Kind niemals eine Frage, welcher Religion und Weltanschauung ich folgen wollte. Ich wurde getauft, ging zur Kommunion und zur Firmung und spürte dabei trotz der zunehmenden Kritik von außen und den unzähligen Kirchenaustritten, dass mir meine Gemeinde eine Heimat bot, dass die Gottesdienste mir halfen, mich auf das Wesentliche im Leben zu besinnen, dass die Beichte mir zwar schwer fiel, aber mich wahrhaftig erleichterte. Ich erinnere mich auch, dass der Empfang der Sakramente für mich oft mit tiefen spirituellen Empfindungen verbunden war.

    Unser Pfarrer aus Kroatien legte viel Wert auf Jugendarbeit und fuhr sogar mit uns auf Jugendfreizeiten. Er war ein wahrhaftiger Diener des Herrn, ganz ohne falsche Absichten, wie sie so manche katholischen Priester in der Vergangenheit gezeigt hatten. Das überzeugte mich. Der Glaube, die Gemeinschaft, die Riten - das war für mich alles eins, eben der Katholizismus, meine Religion.

    Ausländerkinder gab es praktisch keine oder sie fielen mir nicht auf. In der vierten Klasse sangen wir ein seltsames Lied, dass uns im Rahmen der Gesundheitserziehung beigebracht wurde. Es richtete sich aber eindeutig gegen Muslime, die viele mit den uns fremden türkischen Gastarbeitern gleichsetzten:

    C-A-F-F-E-E¹, trinkt nicht so viel Caffee! Nichts für Kinder ist der Türkentrank, schwächt die Nerven macht dich schwach und krank, sei doch kein Muselmann, der das nicht lassen kann!

    Natürlich habe ich damals nicht verstanden, dass es mit Gesundheitserziehung nur wenig zu tun hatte sondern zur kulturellen Abgrenzung diente. Es sollte ganz klar die Idee in uns verankert werden, dass wir die überlegene Kultur sind. Aber ein viel überzeugenderes Vorbild war meine Familie, besonders meine Mutter, die ihr Christsein mit aktivem Engagement in der Gemeinde und vielen guten Taten für ihre Mitmenschen zeigte. So engagierte ich mich nach der Kommunion für lange Zeit als Messdiener und pflegte die Gräber der verstorbenen Geistlichen, obwohl mein bester Freund schon nach einem Jahr der Kirche den Rücken zukehrte, weil man in der Gemeinde über seinen kranken Vater herzog. Meine Mutter bestärkte mich immer, dass der Dienst in der Kirche etwas Gutes sei und mich zu einem guten Menschen machen würde, der es sicher irgendwann einmal in der Himmel schaffen sollte. Solche Vorstellungen waren selbst für mich als Jugendlicher noch sehr konkret und motivierten mich, eine Ausbildung zum Lektor zu machen, ja ich konnte mir sogar vorstellen, irgendwann das Amt eines Diakons zu übernehmen. Meine Mutter war sehr stolz auf mich, denn sie hatte wohl alles richtig gemacht. Mein Vater war auch engagiert in der Gemeinde, aber in seiner Haltung eher offen und kritisch gegenüber jedem System mit Dogmen. Doch auch er unterstützte mein Engagement. Selbst nach Abschluss der Schule mit dem Abitur, wo viele Jugendliche aus meinem Jahrgang schon aus der Kirchengemeinde verschwunden oder sogar ganz aus der Kirche ausgetreten waren, ging mein Engagement weiter. Unzählige Male stand ich am Altar. Meine Spezialität waren Beerdigungen, bei denen es nebenher auch immer ein bisschen Taschengeld von den Angehörigen der Verstorbenen gab. Ich hätte die Totenlitanei mittlerweile schon allein halten können, aber damals war es gar nicht notwendig, denn es gab noch genug Seelsorger. Die Lieder, die in unserer Kirche immer gesungen wurden, konnte ich alle schon auswendig. Manchmal hielt ich mit meiner Mutter und anderen Katecheten zusammen Wortgottesdienste und Fürbittgebete.

    Aber nicht nur in der Kirchengemeinde sondern auch im Kindergarten und in der Schule lief alles sehr gut. Ich fühlte mich dort sehr geliebt. Bereits als Winzling im Kindergarten drückte ich mich der Erzieherin oft in ihren großen Busen, was diese offensichtlich auch gerne zuließ. Ich spielte meist mit den Kindern aus der Nachbarschaft und hatte gegen Ende sogar eine erste Sandkastenfreundin namens Uta, mit der ich während der ganzen Grundschulzeit ein Herz und eine Seele war. Sie war gewissermaßen eine sehr junge Vertreterin der durch den Club of Rome (8) aufkeimenden Umweltbewegung, die schließlich die Grünen-Partei hervorbrachte. Durch sie habe ich sehr viele weibliche Gefühle und Verhaltensweisen in mein Wesen integriert und einen engen Bezug zur Natur und zum Umweltschutz gefunden. Untypisch für einen Jungen, spielte ich mit ihr oft draußen am Bach. Wir bestimmten Pflanzengattungen oder suchten nach verletzten Tieren, um diese dann zu pflegen. Obwohl sie ein hübsches Mädchen war und ich sie sehr mochte, hatte ich nie eine körperliche Beziehung zu ihr. Einmal habe ich sie aus lauter Über-schwänglichkeit geküsst, worauf sie mich bat, das in Zukunft zu unterlassen. Trotzdem blieben wir unzertrennliche Freunde.

    In der Schule war ich im ersten Jahr nur am Träumen, anstatt Interesse fürs Lernen zu zeigen. Ich fand es so langweilig, die ganze Zeit im Klassenraum zu sitzen. Daran muss ich heute als Lehrer oft denken. In der Grundschule waren wir noch alle brav und liebten unsere Lehrerin sehr. Schlägereien auf dem Schulhof gab es in meiner Erinnerung keine. Wohl aber einen alten Nazi-Polizisten, der mir bei der Fahrradprüfung mal zeigen musste, dass er der Chef ist und sich mit seinen 100 Kilogramm auf meine Zehspitzen stellte, weil ich 2cm über die weiße Linie auf dem Boden übertrat. Immerhin ließ er mich trotzdem die Prüfung bestehen.

    Als die Grundschulzeit vorbei war, fuhr ich mit dem Bus zwei Dörfer weiter und ging dort auf eine katholische Privatschule, wo mich meine Eltern angemeldet hatte. Tatsächlich musste man für eine erfolgreiche Anmeldung nachweisen können, dass man getauft ist und aktiv in einer Gemeinde engagiert ist. Um den großen Pott an öffentlichen Fördermitteln zu erhalten, nahm man aber auch eine gewisse Quote Ketzer auf, also evangelische und muslimische Kinder, aber meines Wissens keine Atheisten. An dieser Schule gefiel es mir sehr gut und ich schaffte es auf das Gymnasium, aber mit dem Einsetzen der Pubertät flogen nun öfters mal die Fetzen. Ich erinnere mich noch an viele massive Auseinandersetzungen mit den Lehrern, die wir nicht mochten. Diese waren teils so stark, dass zwei Lehrerinnen heulend aus der Klasse rannten. Auch Mobbing unter Schülern passierte fast täglich, nur nannte man es damals noch nicht so. In der 8. und 9. Klasse hatte ich wöchentlich blaue Flecken auf dem Oberarm, weil wir uns gegenseitig in der Pause prügelten. Einmal flog sogar mein geliebter Delsey-Koffer aus dem 3. Stockwerk des Gebäudes in den Schulteich, weil ich soeben einen frechen Spruch gegen einen Mitschüler losgelassen hatte. Es war schwer, sich seinen Platz zu erkämpfen und akzeptiert zu werden, denn die Hackordnung unter den Jungs war auch an einer katholische Schule streng.

    Als ich als Zweitjüngster in die Oberstufe eintrat und immer noch mit Mobbing zu kämpfen hatte, entschloss ich mich kurzerhand Karate zu erlernen. Unser Meister war Sensei Udo, ein junger Sportlehrer, den wir sehr verehrten. Schon nach einem Jahr respektierten mich selbst die Mitschüler, die größer und stärker waren. Ich musste mich nicht einmal im Kampf gegen sie profilieren. Allein meine neue Ausstrahlung als geschulter Karateka genügte, um mir den nötigen Respekt zu verschaffen. So wurde ich sogar zum stellvertretenden Sprecher des Gymnasialzweigs gewählt. Manchmal wurde es auch echt peinlich. Mehrmals überschätzte ich meine neuen Fähigkeiten in Kämpfen und im Zerschlagen von Materialien derart, dass ich entweder nach Kontertechniken des Gegners meterweit durch den Raum flog oder beim Zerschlagen von Ziegelsteinen mehrfache Knochenbrüche erlitt. Einmal verließ ich nach einer Karate-Schulvorführung die Sporthalle mit einem aufgeschlitzen Fuß und zog eine lange Blutspur hinter mir her, ohne es zu merken. Als es mir dann auffiel, erregte ich sofort das Mitleid vieler junger Mütter und ihrer Töchter, was mir gar nicht so unangenehm war.

    Obwohl ich eher eine pazifistische Grundhaltung hatte und kriegerische Handlungen ablehnte, wollte ich trotzdem etwas über den Krieg und seine Regeln lernen, über den mein Großvater Franz mir des Abends so oft Geschichten erzählt hatte. Ich entschloss mich, nicht zu verweigern und nach der Schulzeit zur Bundeswehr zu gehen. Hier lernte ich eine sehr wichtige Lektion, die vielen Jugendlichen heute schlichtweg fehlt: Sich durchbeißen! Als Winzerssohn war ich zwar schon die körperliche Arbeit im Freien gewohnt und hatte bereits einen stattlichen Körperbau, nun aber lernte ich auch unter schwierigen kriegsähnlichen Bedingungen durchzuhalten. Ich glaube, dass heute die Hälfte der Bevölkerung einen Krieg nicht überleben würde, weil sie körperlich und psychisch schlichtweg nicht in der Lage ist, derartige Belastungen durchzustehen. Das tägliche Leben als Soldat war besonders anfänglich sehr hart. Nach jedem Lichtblick folgte wieder eine tiefes Loch. Es fing damit an, dass man mich der Freiheit beraubte und mir zusammen mit einem Saarländer ein rosa Zimmer gab, worauf man uns als schwul brandmarkte. Beim Herumsitzen während des Wachdienstes nahm man mir meine mitgebrachten Mathebücher ab, in denen ich mich während der Nacht weiterlernen wollte, und ersetzte sie durch ebenfalls mitgebrachte Heftchen mit expliziten Nacktfotos. Weil ich ein Winzerssohn war, glaubten alle, dass ich auch viel Alkohol trinken würde, was aber gar nicht der Fall war. Ich schaffte es zum Weinhändler in unserer Einheit aufzusteigen. Doch dies hatte auch dunkle Seiten. Nun weckte man mich nachts, nur weil die alkoholhaltigen Getränke leer waren, und wenn ich nicht aufstehen wollte, wurde ich zeitweise geschlagen oder durch eine Hand unter der Decke sogar sexuell belästigt, bis ich den Spind öffnete und den von zu Hause mitgebrachten Wein herausgab. Aber allmählich verstand ich die Muster und wurde der heimliche Weinlieferant der ganzen Kompanie inklusive der Vorgesetzten und später sogar die Vertrauensperson der Einheit. So konnte ich schließlich nach der Grundausbildung nett mit dem Bataillonskommandeur ein Schwätzchen halten, während die anderen Jungs draußen im Dreck herumrobbten und sich gegenseitig beschimpften.

    „Michael, wie gefällt es dir auf dem Klotzberg bei den Soldaten?, fragte mich mein Onkel aus einem Nachbardorf ein paar Monate später. Ich klagte ihm mein Leid, dass dort alles so profan war und wenig intellektuell und ich meine erste tiefe Krise gerade hinter mir hatte, die folgenden Auslöser hatte: Wir waren mehrere Tage draußen im Biwak in simulierten Kampfhandlungen, während es ununterbrochen regnete. Ich verbrachte die Nächte meist in der Schützengrube und am Tage robbten oder rannten wir durch den Wald, mal mucksmäuschenstill und mal laut schreiend wie Rambo. Man bekam maximal zwei Stunden Schlaf pro Nacht. Ich fror und war gestresst vom rauen Ton der Vorgesetzten und dem Mobbing durch die Kameraden. Ich versuchte mich zurückzuziehen und sammelte Holz für ein kleines Feuer. Nach einem Dutzend missglückten Versuchen, das nasse Holz zu entzünden, rastete ich aus und schrie über den ganzen Truppenübungsplatz in die Nacht hinein: „Verdammte Scheiße!!! Ich habe die Schnauze voll! Spielt euren Scheißkrieg alleine! Ich gehe jetzt nach Hause! Wutentbrannt schmiss ich mein G3, die Braut des Soldaten, in den Dreck und rannte los. Natürlich wurde ich schon nach ein paar Metern von meinen Kameraden gestoppt. Bevor ich mich versah, stand mein Unteroffizier vor mir. „Soldaaaat!!! Stillgestanden! Soll ich Sie erschießen? Sie wollen wohl Fahnenflucht begehen? Ist das Ihr Plan? Ich schaute zu Boden und stammelte: „Nein, Herr Unteroffizier, ich bin einfach nur fertig. Ich friere, bin erkältet, habe kaum geschlafen und kann nicht mehr! Und prompt kam die Antwort, die mich überraschte: „Kanonier! Sie haben Glück, dass wir uns nicht wirklich im Krieg befinden und dies nur eine Übung ist. Sonst hätte ich Sie tatsächlich erschießen müssen, wenn Sie in Richtung Feind gelaufen wären. Ich befehle Ihnen in die Dackelgarage zu gehen und vier Stunden zu schlafen, dann reden wir weiter. Abtreten!" Die Dackelgarage war das Zweimann-Gefechtszelt, von dem jeder Soldat eine halbe Plane in seiner Ausrüstung mit sich trug. Man knöpfte sie zusammen, hob eine 2m lange und 1,80m breite Grube aus und spannte die Plane darüber auf, so dass man gerade so darunter liegen konnte. Ich verkroch mich also und legte mich auf meine Isomatte in den schlammigen Waldboden und betete, dass ich das wohl alles ohne psychischen Schaden überstehen und hoffentlich niemals einen echten Krieg erleben würde.

    Mein Gebet wurde erhört, denn nachdem ich diese Geschichte meinem Onkel erzählt hatte, fragte er mich, ob ich als Betreuer im katholischen Jugendzeltlager mitfahren wolle, wo er noch immer ehrenamtlich tätig war und wo ich wohl als Kind auch schon teilgenommen hatte. Das Tolle an dem Angebot war, dass man dafür Sonderurlaub bei der Bundeswehr beantragen konnte, weil man ja in der Jugendpflege arbeitete. Ich war begeistert. Kurze Zeit später händigte er mir einen gestempelten Brief des Pfarrers aus mit der Bitte, mich freizustellen, da das Lager in diesem Jahr sonst wohl nicht stattfinden könne. Ich war total euphorisiert als ich sonntagsabends mit dem Zug zurück nach Idar-Oberstein fuhr. Auf dem Fußweg hoch zur Klotzbergkaserne hoffte ich, dass mein Antrag angenommen würde, und malte mir aus, wie ich mich fühlen würde, wenn ich tatsächlich zwei Wochen frei bekäme. Doch zunächst wurde ich mit einem Schlag wieder in die bittere Realität zurück katapultiert, denn der Lauf zweier G3-Gewehre war auf mich gerichtet. Ich schluckte und fühlte mich wieder genauso ohnmächtig wie im Biwak kürzlich und wollte am liebsten wegrennen. „Halt, stehen bleiben! riefen die beiden Wachen der Kaserne. Ich stand sofort still. „Hey, was ist denn mit euch los? Ich bin doch ein Kamerad!, schrie ich durch den Zaun. „Tut uns leid! Erhöhte Alarmstufe wegen der Milzbrandattacken letzte Woche und Warnung wegen möglicher terroristischer Anschläge! Truppenausweis zeigen, Klappe halten und nicht bewegen!" Ich tat, wie mir befohlen, und wurde schließlich als clean befunden. Am nächsten Tag genehmigte mein Hauptfeldwebel tatsächlich mein Urlaubsgesuch - das war wie Weihnachten für mich! Ich hätte ihn umarmen können, aber so etwas tut ein Soldat nicht.

    Diese zwei Wochen Sommerzeltlager waren für mich unglaublich wichtig. In alter Soldatenmanier schlief ich in meinem Zelt ohne Luftmatratze direkt auf dem Waldboden, diesmal ganz ohne Regen. Ich kam als Gruppenleiter mit meinen Spielen und Ideen gut bei den Jungs an. Die Mädchen himmelten mich an, weil ich durch das harte Leben bei der Bundeswehr eine sehr stattliche Figur hatte, sportlich und braungebrannt war. Zwei Mädchen fielen mir besonders auf. Sie hießen Andrea und Marina, hatten beide wunderschönes schwarzes langes Haar und sprachen kein Deutsch. Mein Onkel klärte mich auf, dass sie aus Brasilien seien und ihren Urlaub bei der Tante in Deutschland verbringen würden. Ich schien der Einzige zu sein, der ihr Englisch mit stark südamerikanischem Akzent verstand. Ich war also immer zur Stelle, wenn sie Probleme oder Fragen hatten, sei es nur aus Englisch zu erklären, dass das Seltsame auf ihrem Teller gebratene Blutwurst mit Sauerkraut ist oder sei es bei zwischenmenschlichen Problemen zu vermitteln. Die Tatsache, dass ich immer stärkere Gefühle besonders für Andrea hegte, verkomplizierte die Situation natürlich tagtäglich, so dass mein Onkel mich bat, bis zu Ende des Lagers Zurückhaltung zu üben. Am Ende des Lagers war ich sehr traurig bei dem Gedanken, die beiden nie wieder zu sehen. Beim traditionellen Abschlusstreffen auf der Dorfkerb überkam mich tiefe Traurigkeit, bei dem Gedanken, dass ich Andrea vielleicht niemals wiedersehen würde und ihr bisher nicht sagen konnte, wie sehr ich sie mag. Ich suchte sie den ganzen Abend in der sich amüsisierenden Menschenmenge aber fand sie erst in letzter Minute, kurz bevor ich zurück in die Kaserne fahren musste. Wir verabschiedeten uns tief bewegt und tauschten die Postadressen aus, um uns in Zukunft schreiben zu können. Ich ahnte damals nicht annähernd, wie sehr dieser Moment mein Leben verändern sollte. Das Erlebnis Zeltlager insgesamt war für mich so beglückend, dass ich ab jetzt jedes Jahr dabei war, auch ohne Andrea. Ich fand meine Erfüllung darin, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, sowohl als Soldat, wie auch später als Student. In einem Jahr, als ich aufgrund meiner Erfahrung bereits Lagerleiter war, wäre der Abschlussgottesdienst beinahe ausgefallen, weil der Priester krank war und nicht kommen konnte. Kurzerhand übernahm ich seine Rolle. Alle Kinder, Betreuer und Eltern feierten inbrünstig mit mir Gottesdienst in einem großen weißen Zelt mitten im Grünen. Das war eine gute Erfahrung für mich und ich kam mir keineswegs als Betrüger vor, weil ich ja den kirchlichen Segen für dieses Amt nicht hatte.

    Aber zurück zur Bundeswehrzeit: Mein Hauptfeldwebel genehmigte mir sogar im letzten Monat meines Dienstes, an der Soldatenwallfahrt nach Lourdes teilzunehmen. Auch das war für mich ein einzigartiges Erlebnis und hat mir gezeigt, dass es auch unter den Soldaten alle Typen von Persönlichkeiten gibt. Es reisten sogar Atheisten mit, die an der Grotte der hl. Bernadette beteten und das einzigartige Quellwasser tranken. Beim Kreuzweg trug ein Kamerad, der absolut ohne Religion aufgewachsen war, die Kranken über Kilometer und war gerührt von den Gebeten und der meditativen Stimmung. Mein Kumpel Andi und ich freundeten uns mit einem amerikanischen Priester an, mit dem wir viel über Religiöses und über das Leben diskutierten. Nach dem Abschlussgottesdienst in der unterirdischen Basilika, den wir zusammen mit 40.000 Soldaten und Soldatinnen aus aller Welt feierten, sagte er zu uns: „You are good guys! At least one of you should become a priest!" - Einer von uns sollte Priester werden! Aber wohl kein katholischer Priester, denn wir jagten doch beide ständig den Mädels hinterher! Selbst auf der Wallfahrt buhlten wir um die Gunst einer jungen Amerikanerin. Ich fühlte mich aber durchaus bestärkt, in meinem Ziel vielleicht einmal Diakon zu werden oder in irgendeiner Weise von der Existenz Gottes zu zeugen und die hier erlebte Spiritualität weitergeben zu dürfen. Mit dem feierlichen Lied Land of hope and Glory aus Pomp and Circumstance verließen wir Lourdes und so endete in gewisser Weise auch mein Soldatenleben glorreich, denn den Rest habe ich schlicht vergessen.

    Zu Hause ging ich in Wochen danach wieder begeistert in die Messe und träumte von den vielen Begegnungen in Lourdes. Nach einigen Monaten jedoch verblassten diese Erfahrungen und ich langweilte mich wieder während der Gottesdienste. Als ich mir einestags unsere Kirchengebäude genauer anschaute, fielen mir die vielen Heiligenstatuen auf. Sie stellten für mich unerreichbare Vorbilder dar, eine Art Übermenschen, die mit einer ganz besonderen Mission auf diesen schönen Planeten gekommen sind, um der Menschheit Gutes zu tun. Außerdem störte ich mich immer mehr an dem großen gemalten Altarbild, welches ganz oben ein Dreieck mit dem alles sehenden Auge zeigte, darunter dann eine Szene in den Wolken, wo ein alter Mann mit einem Globus in der Hand dasaß und sich mit einem spärlich bekleideten jungen Mann, der ein Kreuz in den Armen trug, unterhielt. Darüber schwebte eine weiße Taube. So fragte ich eines Tages nach einem Sonntagsgottesdienst meinen Opa Franz, ob dieses Bild denn seinen Gottesvorstellungen entspräche: Der Vater, als alter Mann, der die Erde buchstäblich in der Hand hält, der Sohn, der wohl schon weiß, dass er gekreuzigt wird, und der heilige Geist in Form der Taube, die über den beiden schwebt. Ich fand das Bild sehr seltsam und sträubte mich innerlich dagegen. Außerdem fragte ich mich immer, ob Jesus, auch wenn er der Sohn Gottes sei, genauso Lust auf junge Frauen hatte wie ich in diesem Alter. Natürlich empfand ich derartige Fragen als ketzerisch und schmutzig und schämte mich gehörig dafür. Da hatte die katholische Erziehung ganze Arbeit geleistet. Meine Gedanken drehten sich im Kreis. In vielen theologischen Fragen kam ich keinen Schritt weiter, und den Auslegungen, die die Kirche mir anbot, konnte ich teilweise nicht zustimmen. Oft haben wir in der Familie diskutiert, ob Jesus nun wirklich Wunder vollbracht hatte oder ob das alles nur im übertragenen Sinne zu verstehen sei. Da sind auch öfters mal verbal die Fetzen geflogen im Austausch zwischen den Generationen und uns hat es so manchen Sonntag verhagelt.

    1.2 Wissenschaft statt Religion

    Als ich im Alter von 19 Jahren dann anfing, Physik an der Uni zu studieren, begann meine atheistische Phase. Das ist sehr bemerkenswert, denn die Wallfahrt nach Lourdes lag nicht lange zurück und mein Soldaten-Kumpel Andy studierte jetzt auch mit mir zusammen. Nach unserem Wiedersehen in der Einführungswoche und dem Kennenlernen der Studienkollegen stellte ich im anschließenden Mathe-Vorkurs fest, dass ich bei der Bundeswehr anstatt den Heften mit den nackten Mädchen doch wohl besser die Mathebücher gelesen hätte. Alle schienen schlauer zu sein als ich und konnten sich hervorragend konzentrieren. Mir gelang das überhaupt nicht mehr, weil ich keine Übung mehr darin hatte. Ich verzweifelte und wurde depressiv. Die ganze Situation eskalierte Woche für Woche bis ich am ersten Weihnachtstag im Haus meiner Eltern regungslos auf dem Wohnzimmerteppich lag und auf die Spitze des Tannenbaums blickte, die mir unerreichbar schien.

    „Papa, ich glaube ich schaffe das Physik-Studium nicht. Ich kann schon froh sein, wenn ich später mal einen Job als Hausmeister bekommen werde!", sagte ich zu meinem Vater. Der aber verstand, wie ich mich fühlte und redete mir die ganzen Weihnachtsferien gut zu. Irgendwann in den folgenden Monaten, nachdem ich mich bei einer alten Schulfreundin ausgeheult hatte, der es mit ihrem Medizinstudium genauso ging, platze dann der Knoten und mein Gehirn war wieder einsatzbereit. Nun hatte ich mein Selbstvertrauen zurück und war heiß, die Geheimnisse der Physik und der Mathematik zu erlernen. Selbst im Schlaf arbeitete mein Gehirn noch weiter an logischen Rätseln und einige Male bin ich in meiner Studentenbude schlafwandelnd zum Schreibtisch, weil ich dachte, die Weltformel endlich gefunden zu haben. Aber als ich dort ankam, wunderte ich mich immer, wie ich denn dort gerade hingekommen war. Weil ich mich nicht erinnerte, was ich da wollte, ging ich zurück in mein Bett.

    Tagsüber frustrierte es mich immer noch, mit meinen Kumpels, von denen die meisten ein Einser-Abitur hatten, die Übungen zu machen. Diese waren bereits schon mit dem Lösen der Aufgaben beschäftigt, da hatte ich noch nicht einmal die Aufgabenstellung gelesen. Aber ich biss mich durch. Woche für Woche lernte ich viel dazu und steigerte meine kognitigen und logischen Fähigkeiten. Man züchtete mich zu einer rational logisch denkenden Superbrain heran und ich vernachlässigte unbewusst andere wichtige Bereich des Lebens, wie Religion und Partnerschaft. Die Professoren und ihre wissenschaftliche Lehre machten einen großen Eindruck auf mich. Die Bücher enthielten spannende neue Fakten und ich hatte das Gefühl, dass ich nur noch ein paar Jahre studieren müsse, dann würde die Religion für mich ohnehin überflüssig werden, also legte ich sie innerlich bereits ab.

    Wenn ich am Wochenende zu Hause war, ging ich trotzdem noch in die Kirche, war bis zu meinem 25. Lebensjahr Messdiener und sogar noch eine Jahre länger Lektor. Alles andere wäre in meinem Dorf ja einem Rufmord gleichgekommen! Außerdem hätte ich viele in meiner Familie sehr unglücklich gemacht. Dass es später trotzdem so kommen würde und auch nicht zu vermeiden war, wusste ich damals noch nicht. Welch Ironie des Schicksals!

    Doch auch diese Phase hatte viel Gutes: Ich stellte alle Dogmen in Frage und akzeptierte nur das, was für mich logisch, oder besser noch, direkt erfahrbar war, was also definitiv wahr sein musste. Die Mathematik gab mir neue Einblicke in das Konzept der Unendlichkeit. So viele ungelöste Problem gab es in der Mathematik, obwohl sich schon derart viele schlaue Menschen regelrecht die Köpfe zerbrochen hatten. Ich liebte z.B. die Fraktale Geometrie mit ihren bizarren Formen und besonders das überraschende Ergebnis des Chaos-Spiels(9), welches mich immer wieder verblüffte, weil aus all der Zufälligkeit nur aufgrund der Existenz einer festen Regel eine perfekte Ordnung entsteht. Ich sah darin das Wirken eines höheren Gesetzes, das ich aber nicht Gott nannte. Die Physik erhellte mir parallel dazu die Geheimnisse unseres Universums, so dass ich trotz aller Rationalität immer wieder in ehrfürchtiges Staunen versetzt wurde. Mir war damals noch nicht bewusst, dass dieses Staunen aus allem Zweifel heraus etwas ganz Wichtiges und Wunderbares war, nämlich das Tor zu einer echten Spiritualität. Es war der Anfang jener Suche nach Wahrheit, auf die sich jeder Mensch einmal begibt. Es ist nicht nur die Frage: „Wer bin ich? sondern auch: „Wo komme ich her? Was ist dieses Universum in dem wir leben? Hat das Ganze einen Sinn? Folgt es einem Plan?

    Leider erstickte der Alltag meinen Drang zur Sinnsuche. Nach vielen Jahren des Studiums war ich so geprägt vom analytischen Denken und der naturwissenschaftlichen Methodik, dass ich das Wahrnehmen und das Staunen nicht mehr zulassen wollte und jeden logischen Widerspruch im Alltag nur als Ärgernis sah. Probleme waren für mich ein Ansporn, noch kompliziertere Theorien zu entwickeln und für magische oder gar mystische Momente war kein Platz. In unserer verkopften westlichen Welt haben sich schon viele Menschen darin verloren, die gedanklich entworfene Karte mit der Welt selbst zu verwechseln. Sie glauben, wie ich damals, daran, dass es keinen Gott gibt und man stattdessen die Weltformel bald finden wird, mit der man alles ganz logisch und haarklein erklären kann. Dieses Extrem, die sogenannte deterministische Weltsicht, welche Blaise Pascal und Isaak Newton vertraten, ist aus heutiger Sicht klar durch die moderne Physik zu widerlegen. Die Chaostheorie allein macht dem Determinismus schon einen Strich durch die Rechnung, aber letztendlich ist es die Quantentheorie bzw. die Quanteninformationstheorie, die erklärt, dass jeder Determinismus auf der Ebene der Atome und Elementarteilchen völlig absurd ist. Hier gelten Wahrscheinlichkeitsgesetze wie z.B. in (10) und (11) dargelegt.

    1.3 Brasilien und die erste Liebe

    Nach etwa einem Jahr im Studium war ich bereits auf rational denken programmiert und überzeugt, alle Probleme des Lebens rational lösen zu können. Doch an Silvester, als ich gerade dabei war eine Feuerzangenbowle zuzubereiten und dabei fast den Partykeller abfackelte, verliebte ich mich etwas überraschend und absolut heftig in ein Mädchen von meiner Ex-Schule. Sie hieß Yassi und war gerade dabei, ihr Abitur abzulegen. Ich kannte sie flüchtig aus meinem Karateverein, in dem ich nun seit einigen Jahren leidenschaftlich trainierte. Ich war wirklich nicht darauf vorbereitet, denn wie gesagt, meine Welt an der Uni war geprägt durch die Gesetze der Logik, durch Experimente, Formeln, Rechnungen und Analysen - und nun das: Ich war einfach Hals über Kopf innerhalb kürzester Zeit verliebt und nichts war mir wichtiger.

    Wir schrieben uns unzählige Briefe - Emails waren noch nicht für jedermann verfügbar, ganz zu schweigen von Messenger-Diensten! Über die Jahre wurden wir wirklich zu einem Paar, das alle bewunderten, denn wir gingen sehr respektvoll miteinander um und hatten nie ernsthaft Streit. Das mag vielleicht auch daran gelegen

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