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Die Rede von Bildung: Tradition, Praxis, Geltung - Beobachtungen aus der Distanz
Die Rede von Bildung: Tradition, Praxis, Geltung - Beobachtungen aus der Distanz
Die Rede von Bildung: Tradition, Praxis, Geltung - Beobachtungen aus der Distanz
eBook1.515 Seiten16 Stunden

Die Rede von Bildung: Tradition, Praxis, Geltung - Beobachtungen aus der Distanz

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Über dieses E-Book

Bildung gehört zu den zentralen Begriffen der öffentlichen Debatte über die wünschenswerten Zukünfte von Individuen und Gesellschaft, über die Praxis des Bildungswesens und über Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit. Gleichzeitig ist der Begriff mit Erwartungen überlastet und seine theoretische Qualität bestenfalls ungeklärt. Zur Prüfung von Status, Funktion und Geltung des Begriffs rekonstruiert der Band zunächst (I) die Tradition des Bildungsdenkens und die seither argumentativ verengte Praxis der Rede von Bildung. Gegen die Dominanz von Emphase, Skepsis und Kritik wird dann (II) demonstriert, dass und wie Bildung im Lebenslauf und im Bildungssystem möglich wird. Abschließend (III) wird kritisch geprüft, ob sich die Rede von Bildung auch als Bildungstheorie ausweisen kann. Redeform und Lebensform von Bildung haben, so das Fazit, zwar lebensweltliche, aber keine theoretische Geltung.

SpracheDeutsch
HerausgeberJ.B. Metzler
Erscheinungsdatum1. Sept. 2020
ISBN9783476056696
Die Rede von Bildung: Tradition, Praxis, Geltung - Beobachtungen aus der Distanz

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    Buchvorschau

    Die Rede von Bildung - Heinz-Elmar Tenorth

    Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven

    Reihe herausgegeben von

    Johannes Drerup

    Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft und Berufspädagogik, Universität Dortmund, Dortmund, Rheinland-Pfalz, Deutschland

    Franziska Felder

    Zürich, Schweiz

    Veronika Magyar-Haas

    Institut Erziehungswissenschaft, Universität Zürich, Zürich, Schweiz

    Gottfried Schweiger

    Salzburg, Deutschland

    In der Reihe „Kindheit– Bildung – Erziehung: Philosophische Perspektiven" erscheinen Monographien und Sammelbände, die sich mit philosophischen Debatten über Fragen der Kindheit, der Bildung und der Erziehung beschäftigen. Thematisiert werden etwa Problematiken der theoretischen Konzeptualisierung, der Legitimation und Gewährleistung von Erziehung und Bildung in (post-)modernen Gesellschaften genauso wie aktuelle Kontroversen über normativ relevante Unterscheidungen zwischen Kindern und Erwachsenen, über spezifische Güter der Kindheit und über das Verhältnis von Eltern- und Kinderrechten in und außerhalb von liberalen Demokratien. Die Reihe richtet sich an Interessierte aus der Erziehungs- und Bildungsphilosophie, den Childhood Studies, der Philosophie der Kindheit und aus weiteren philosophischen Disziplinen (z.B. Politische Philosophie), die sich mit den genannten Themen- und Problemfeldern beschäftigen.

    In the series „Childhood and Education. Philosophical Perspectives" monographs and edited volumes are published that deal with philosophical debates about childhood and education. Topics include philosophical questions and problems concerning the conceptualization, justification and the practice of education in (post-)modern societies, as well as controversies over normatively relevant distinctions between children and adults, the specific goods of childhood, and the relation between the rights of children and parents in and beyond liberal democracies. The series addresses scholars from the philosophy of education, childhood studies, philosophy of childhood as well as from other philosophical disciplines (e.g. political philosophy), who are interested in the aforementioned topics and issues.

    Weitere Bände in der Reihe http://​www.​springer.​com/​series/​16428

    Heinz-Elmar Tenorth

    Die Rede von Bildung

    Tradition, Praxis, Geltung – Beobachtungen aus der Distanz

    1. Aufl. 2020

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    Heinz-Elmar Tenorth

    Philosophische Fakultät IV, Humboldt Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland

    ISSN 2662-5040e-ISSN 2662-5059

    Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven

    ISBN 978-3-476-05668-9e-ISBN 978-3-476-05669-6

    https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020

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    Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral.

    Einbandabbildung: Lesesaal Grimm-Zentrum, Bibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin. (© Matthias Heyde | Universitätsbibliothek, https://​www.​grimm-zentrum.​hu-berlin.​de/​de/​media_​kontakt_​und_​information/​bilderservice)Einbandabbildung: Lesesaal Grimm-Zentrum, Bibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin. (© Matthias Heyde | Universitätsbibliothek, https://www.grimm-zentrum.hu-berlin.de/de/media_kontakt_und_information/bilderservice)

    Planung/Lektorat: Franziska Remeika

    J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature.

    Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

    Danksagung

    Die Arbeit an diesem Buch begann mit dem Angebot eines Verlages, gemeinsam mit Nicole Welter eine Einführung in die Reflexion von „Bildung" zu schreiben. Persönliche Umstände ganz unterschiedlicher Art, die wir beide erlebten und z. T. auch erlitten, haben die Realisierung dieses Plans verhindert. Nach 2014, als Nicole Welter nicht nur Titel und Stelle, sondern auch eine Fülle neuer und erfreulicher Herausforderungen gefunden hatte, dienstlich wie privat, und ich selbst gesundet war, habe ich die alten Pläne wieder aufgenommen, jetzt allein, auch zuerst ganz ohne Verlagsaussichten. Nicole Welter war so großzügig, mir ihre Vorarbeiten u. a zu Herder und zur Säuglings- und Bindungsforschung für die eigene Darstellung zu überlassen, sogar mit der Erlaubnis, sie auch für meine Schreibversuche auszubeuten. Sie war gleichzeitig so engagiert wie geduldig, im Fortgang meiner Arbeit immer neu produktive Rückmeldungen zu allmählich entstehenden Texten zu geben. Dafür und für kritische Lektüre und geduldiges Zuhören bei der Erläuterung meiner immer weiter auswuchernden Pläne muss ich ihr und zahllosen anderen Kollegen und Freunden sowie den Teilnehmern diverser Colloquien ganz herzlich danken – und natürlich, sie sind für das Endprodukt nicht verantwortlich zu machen. Schon in seiner materialen Gestalt läge es aber auch nicht vor, wenn nicht Bettina Eweleit und die Mitarbeiter der historischen Bildungsforschung mich nicht immer wieder und ohne laute Klage oder Murren bei den Recherchen in Bibliotheken und im Netz unterstützt hätten.

    Die Ermutigung zur Drucklegung in der jetzt vorliegenden Fassung kam von den Herausgebern der Reihe, in denen der Text jetzt erscheinen kann. Sie, zumal Johannes Drerup und seine Mitarbeiter, haben nicht nur eine erste Fassung des gesamten Textes so kritisch wie rasch gelesen, sondern für den Druck auch redigierende und editorische Unterstützung gegeben, ohne die der Band nicht schon zum jetzigen Zeitpunkt hätte erscheinen können. Auch dafür muss ich danken, ja sogar betonen, dass ich es ohne ihre Rückmeldungen wahrscheinlich nicht gewagt hätte, den Band der Öffentlichkeit vorzulegen – und das Schöne am Wissenschaftsbetrieb ist ja, dass die Kritik mit gutem Recht den Autor und seine Argumente zum Thema machen wird, nicht die Entstehungsgeschichte oder das publizistische Umfeld.

    Jeder Autor weiß natürlich, dass die damit verbundene Fiktion der Autorschaft zwar nicht völlig grundlos ist, aber doch immer auch aus den eigenen Schreiberfahrungen heraus nicht völlig bestätigt wird. Zumal Texte wie der vorliegende verbrauchen nicht nur eigene Zeit und Arbeitskraft, sondern auch die Kraft, Geduld und Nerven anderer, vor allem des familiären Feldes, bis hin zu den Enkeln, die den Kontrast von beruflicher Entlastung und intensiven Schreibverpflichtungen problematisieren. Das Unternehmen kam dennoch zu einem glücklichen Ende. Dafür gilt mein größter Dank meiner Frau, die mich auch jetzt noch erträgt, obwohl die Rede von Bildung unseren gemeinsamen Haushalt sehr lange und mehr als alltäglich belastet hat. Ihr gehört deshalb das Buch, ohne sie wäre es nicht möglich gewesen und schon gar nicht fertig geworden.

    Berlin, im Winter 2019/20

    Heinz-Elmar Tenorth

    Inhaltsverzeichnis

    1 Bildung – kann man darüber noch reden?​ Zur Einleitung 1

    1.​1 Die Rede von Bildung – Platzhalter für gesellschaftlich​e Probleme 2

    1.​2 Bildung als Thema eigenständiger Reflexion – Forschung über Bildung 5

    1.​3 Aufwachsen und Leben in Wechselwirkung mit Welt – das Thema von Bildung 12

    1.​4 Die Rede von Bildung – These, Plan und Aufbau dieses Buches 16

    Teil I Bildung in der Moderne – Dimensionen einer Reflexionstradition

    2 Der Begriff in seiner Geschichte – Bildung, Bildungstrieb, Bildsamkeit 33

    3 Bildung und die „Bestimmung des Menschen" 43

    4 „Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber" – Die Geschlechterfrag​e im Bildungsdiskurs 55

    5 Die Form der Bildung:​ Selbstkonstrukti​on in Wechselwirkung mit der Welt, in der Einheit von Prozess und Produkt 67

    6 Ermöglichungsfor​men:​ Bildungswelten, Bildungsgüter, Bildungskanon 79

    7 Exkurs:​ Schulen – das Paradox institutionalisi​erter Selbstbildung 91

    8 Wirkungsweise und Wirkungen bildender Selbstkonstrukti​on – „der Gebildete" 97

    8.​1 … im Theater und in der Poesie 98

    8.​2 … „Das Gewissen geht mit in die Oper!" 101

    8.​3 ….​ „Gelehrte und „Gebildete 104

    8.​4 … in der Praxis der jungen Gebildeten – z.​ B.​ Lessing und Schleiermacher 107

    8.​5 … Gebildet sein 111

    9 Die soziale Funktion:​ „Umgang mit Menschen" 117

    10 … und die politische:​ „Bildung der Nation", Inklusion und Exklusion 125

    11 Die Rede von Bildung im Ursprung – Selbstkonstrukti​on des Menschen in seinen Welten.​ Ein Zwischenergebnis​ 143

    Teil II Die Praxis der Rede von Bildung – Argumente und ihre Spezifikation

    12 Das anthropologische​ Argument – Separierung und Retraditionalisi​erung 163

    12.​1 Bildung, „Bildsamkeit und „Bestimmung – ein Naturkonzept zwischen Selbstorganisati​on und Moralisierung 163

    12.​2 Separierung von den forschenden Humanwissenschaf​ten – Distanz gegenüber der Realität von Bildungsprozesse​n 167

    12.​3 „Persönlichkeit werden, „gebildet sein – Bildungstheoreti​sche Konstrukte von Individualität und Subjektivität 170

    12.​4 Bildungsgüter, Bildungswelten, Kultur, Zivilisation, das „gute Leben" 175

    12.​5 Befreiung in der Zukunft – „Utopien und „Projekte als Praxis von Bildung 184

    13 Bildungswelten:​ Die diskursive Konstruktion disjunkter Welten 191

    13.​1 Bildung in der Gesellschaft – Bildung im Staat:​ „Vergesellschaftu​ng und „Verstaatlichung als Deformation?​ 192

    13.​2 Exkurs:​ Bildung als Dispositiv der Macht und die Struktur der Disziplinargesel​lschaft 197

    13.​3 Bildung und Geist vs.​ Erziehung und Utilitarismus 203

    13.​4 Bildung im Alltag vs.​ Bildung nach ihrem „Wesen" 208

    13.​5 Bildungsphilosop​hie als Kulturkritik und Diagnose von Verfallsformen:​ Halbbildung vs.​ wahre Bildung 215

    14 Versöhnung, Synthese, Selbstbefreiung – Die triadische Konstruktion von Bildungsprozesse​n 223

    14.​1 Die rettende Welt des Spiels und die Versöhnung im schönen Schein:​ Schillers „ästhetische Erziehung" 223

    14.​2 Individuation durch Vergesellschaftu​ng – Hegels Bildungsprogramm​ 230

    14.​3 Marx – Bildung, historische Anthropologie und die Möglichkeit der Emanzipation 237

    15 Fazit:​ Reflexionstradit​ionen von Bildung und die Probleme ihrer Theoretisierung 251

    15.​1 Klassizität – ein Programm der Selbstbegrenzung​ 252

    15.​2 Verengung im Methodenrepertoi​re – Abkoppelung von Erfahrung 253

    15.​3 Problematische Implikationen des tradierten Erbes, Primat der Erwartung des Guten 254

    Teil III Bildung in der Erziehungsgesellschaft

    16 Die Empirie von Bildungsprozesse​n 263

    16.​1 Bildung als Thema der Forschung:​ Differenzen und Kontroversen zwischen Bildungsreflexio​n und Humanwissenschaf​ten 266

    16.​2 Biografien – Lebensläufe – Bildungsgeschich​ten 277

    16.​3 Bildungsprozesse​ und Bildungswelten in ihrer Eigenlogik – Zur Auswahl der Exempel 288

    17 Exempla:​ Der Lebenslauf als Bildungsgang 295

    17.​1 Selbstkonstrukti​on im Ursprung – der kompetente Säugling:​ Bildsamkeit als Naturprämisse 295

    17.​2 Bildung in der Schule oder trotz der Schule?​ – Outcome-orientierte vs.​ bildungstheoreti​sche Analyse 305

    17.​3 Kindheit, Jugend und Medien – die Risiken der Selbsttätigkeit und der pädagogische Kontrollblick 324

    17.​4 Exkurs:​ ‚Neue‘ Medien – Neue Bildung?​ 335

    17.​5 Bildung im Jugendalter – Emanzipation in kultureller Praxis 340

    17.​6 „Wir sind gelebt worden – das „Elend der Welt, Aufstieg durch Bildung?​ 350

    18 Utopien und die Realität – Die Bildungspraxis der Subjekte und die Möglichkeit anderer Welten 363

    Teil IV „Beschulung" – die bildungstheoretische Legitimität öffentlicher Erziehung

    19 Bildung als soziale Tatsache – Das Konstruktions- und Legitimationspro​blem des Bildungssystems 377

    20 „Allgemein" – Adressatenbilder​ und Kanonfragen 385

    20.​1 „Allgemeine Bildung" – das traditionale Kriterium der Bildungsorganisa​tion 385

    20.​2 Inklusion und Bildsamkeit als Systemprämissen 391

    21 „Gerecht" – die Legitimität öffentlicher Bildungsprozesse​ 401

    21.​1 Gerechtigkeit – Bildungsgerechti​gkeit 403

    21.​2 Capability-approach – „Befähigungsgerec​htigkeit" 413

    21.​3 Anerkennungsgere​chtigkeit – die genuin pädagogische Perspektive?​ 417

    21.​4 Dem Lernenden „gerecht werden" – Bildungsgerechti​gkeit im Bildungssystem 421

    22 „Gleich" – Organisation und Praxis im Bildungssystem 429

    22.​1 Gleichheit – gesellschaftlich​e Erwartungen, pädagogische Optionen, bildungstheoreti​sche Kriterien 429

    22.​2 Schulpflicht – Egalität der Teilhabe und Legitimität des Schulzwangs 434

    22.​3 „Garantie des Bildungsminimums​" – das Egalitätsverspre​chen und die Bringeschuld des Bildungssystems 440

    22.​4 Grundbildung – die Kultivierung von Selbstkonstrukti​on in der Einheit und Differenz von Bildungsgängen 449

    23 „Wertvoll" – Bildung als individuelle und gesellschaftlich​e Ressource 461

    23.​1 … als Wert in sich selbst 463

    23.​2 … für Besitz und Status 467

    23.​3 … in Praktiken und Formen der Lebensführung 471

    23.​4 … für die „Bildung der Nation" – Demokratie als Lebensform, Integration durch Bildung 480

    23.​5 … als Wachstumsfaktor und Modernisierungsp​otential 490

    24 Zwischenfazit – wahre Bildung oder Bildung als Ware – ein Reflexionsdilemm​a 501

    Teil V Gibt es eine „Theorie der Bildung"?

    25 Historische Konstanten in der Rede von Bildung 513

    25.​1 Adressaten und Referenzen 513

    25.​2 Argumentationsfo​rmen, -themen, -hypothesen 518

    25.​3 Exkurs:​ Kritik als Argument 524

    25.​4 Elemente einer theoretischen Grundstruktur der Rede von Bildung – Themen, Relationen, Kausalitäten 544

    26 „Theorie der Bildung" – Optionen ihrer Konstruktion 559

    26.​1 Ordnungsversuche​ in pluridisziplinär​er Vielfalt 560

    26.​2 Theorieform 1:​ Pädagogisierung der Bildung, wertthematisch begründet 566

    26.​3 Theorieform 2:​ Bildung als Menschwerdung, interdisziplinär​ betrachtet 576

    27 Funktionale Äquivalente zu Theorien der Bildung 585

    27.​1 Mensch, Welt, Selbst – die Universalität und Offenheit der Thematisierung des Themas 586

    27.​2 „Resonanz" – ein Angebot der Soziologie 595

    27.​3 „Der ganze Mensch" – Humanontogenetik​ 614

    28 Epilog – Bildung:​ Redeform und Lebensform 631

    Literatur 643

    Personenregister​ 693

    © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020

    H.-E. TenorthDie Rede von BildungKindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektivenhttps://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_1

    1. Bildung – kann man darüber noch reden?

    Zur Einleitung

    Heinz-Elmar Tenorth¹  

    (1)

    Philosophische Fakultät IV, Humboldt Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland

    Heinz-Elmar Tenorth

    Email: tenorth@hu-berlin.de

    Bildung ist ein Megathema, nicht erst, seit es Bundespräsident Roman Herzog in seiner berühmten Rede vom 26. April 1997 zu einer der zentralen Aufgaben der Gegenwart erklärte, die angemessen erst behandelt werden können, wenn endlich ein „Ruck durch die Gesellschaft" gegangen sei.¹ Aktuell wie historisch versammelt Bildung, meist in den spannungsreichen Dualen von „Bildung und Erziehung oder „Bildung und Ausbildung zugleich abgrenzend und verknüpfend präsent, aber nicht immer präzise unterschieden, die Diskutanten immer neu dann, wenn die Bedingungen des Aufwachsens der jungen Generation, das von ihr erwartete Verhalten oder die Struktur und die Leistungen des Bildungssystems behandelt werden. Dann bestimmt der Begriff der Bildung den deutschen Diskurs über Gegenwart und Zukunft der Gesellschaft, ja der Menschheit, und zwar in höchst vielfältiger Weise. Gelegentlich wird dabei sogar die Frage thematisiert, wie im Wechsel der Generationen endlich die Vernunft zur bestimmenden Kraft in der gesellschaftlichen Wirklichkeit werden kann.

    Aber die Vernunft ist nur eine Referenz: „Bildung macht reich, das versprach im Sommer 2009 die Einladung zu einer Podiumsdiskussion, die vom Managerkreis der sozialdemokratischen Friedrich-Ebert-Stiftung veranstaltet wurde. Gegen die „Ökonomisierung der Bildung und für eine „zweckfreie Bildung demonstrierten dagegen im Juni 2009 in ihrem „Bildungsstreik mehr als 200.000 Schülerinnen, Schüler und Studierende – und auf keiner Demonstration oder Diskussionsveranstaltung haben sie sich mit der Aussicht auf Reichtum trösten lassen, vielmehr die Kosten der Bildung, vor allem die Studiengebühren, als Mechanismus des Ausschlusses von Bildung verurteilt. Die Ausbreitung von „Bildungsarmut" stellen wiederum Bildungsforscher fest,² und sie bezeichnen damit die Tatsache, dass die Zahl der Schulabsolventen unvermindert hoch bleibt, die nicht über Bildungsabschlüsse verfügen („Zertifikatsarmut) und auch nicht die Kompetenzen erworben haben, erfolgreich eine berufliche Ausbildung aufzunehmen, um sich durch Bildung gegen Arbeitslosigkeit zu sichern („Kompetenzarmut) oder selbstbestimmt an Gesellschaft und Kultur oder auch nur am Arbeitsmarkt teilzunehmen („Marktarmut). In den „Wissensgesellschaften oder gar „Bildungsgesellschaften, in die wir anscheinend eingetreten sind, ist das aber, eine Existenz ohne hinreichende „Bildung, offenbar einem Ausschluss gravierender Art gleichzusetzen. Jedenfalls ist man bei diesem Blick auf massenhafte Bildungsarmut von dem „Aufstieg durch Bildung für alle" weit entfernt, der als Slogan um 1900 erfunden wurde und seit dem Beginn der Bildungsexpansion in den 1960er Jahren bis heute so laut versprochen wird.

    1.1 Die Rede von Bildung – Platzhalter für gesellschaftliche Probleme

    Es ist heute offenbar nicht mehr allein der Zusammenhang von „Bildung und Kultur", gar nur der vermeintlich hohen Kultur, wie traditionell,³ der mit der Rede von Bildung thematisiert wird. Im 20. Jahrhundert kamen andere Verknüpfungen auf, z. B. „Bildung und Wirtschaftswachstum, und heute gibt es nahezu kein Thema, das sich im Kompositum oder in der Attribuierung nicht mit Bildung verbinden lässt⁴: Bildungspolitik, natürlich, Bildungssystem, Bildungsrendite, Bildungsinhalte, Bildungsziele, Bildungskapital, Bildungsgesellschaft, Bildungsgüter, Bildungsforschung, Bildungsökonomie, Bildungsrecht, Bildungsplanung, Bildungsgerechtigkeit, Bildungsgleichheit, sogar die Bildungslüge⁵, Bildungspanik⁶ und den Bildungswahn⁷ findet man. Sucht man in den Attribuierungen gibt es: allgemeine, spezielle, grundlegende, wissenschaftliche, kulturelle, ästhetische, musische, mathematische, naturwissenschaftliche, technische oder berufliche, kaufmännische, gewerbliche oder mediale Bildung. Alle diese Spezialformen – und noch mehr⁸ – werden diskutiert, selbst über „erotische Bildung⁹ wird – so ernsthaft wie ironisch – gehandelt, genauso wie über „Bildung durch Wissenschaft oder „Nahrung als Bildung.¹⁰

    Nicht nur in der Politik, so hat man den Eindruck, wird Bildung, samt Komposita und Attributen, inzwischen als Formel genutzt, um bei beliebigen Problemen – von der Jugendarbeitslosigkeit bis zu Einkommensungleichheit, von offenen Zukunftsfragen bis zum Umgang mit Medien, bei Kriminalität, befürchtetem Werteverfall oder erhofftem Wertewandel, bei Migrationsfolgen und für Integration – ein Heilmittel anzupreisen, von dem man sich Rettung und Hilfe für alle Probleme verspricht.¹¹ „Wie halten wir’s mit der Bildung?, das ist für die Leibniz-Gemeinschaft, eine der großen außeruniversitären Forschungsverbünde, heute „die Gretchenfrage.¹² Man kann angesichts der Allpräsenz der Rede von Bildung verstehen, wenn das „Bildungsgerede¹³ Überdruss erzeugt. Aber man versteht auch, dass ein Autor sogar vermutet, dass der „Bildungsdiskurs historisch „einen, wenn nicht den zentralen Diskurs der Bundesrepublik darstellt, „eine bis heute unverzichtbare autopoetische [sic, nicht autopoietische] Rede der zweiten deutschen Republik. Das klingt überzeugend, zumal er dann doch, und angesichts der deutschen Geschichte und des Holocaust wohl notwendiger Weise, systematisch relativiert, und den Bildungsdiskurs „neben dem Schulddiskurs der politischen Philosophie einen minderen Platz einräumt.¹⁴ Es ist in dieser Allzuständigkeit offenbar dennoch ein „Bildungswunder, das man hier beobachten kann, wie ein soziologischer Beobachter jüngst amüsiert kommentierte.¹⁵ Aber das hat ja Tradition: „Heilung für die Gebrechen aller Sphären kommt freilich nur durch Erziehung", das sagte 1813/1814, mitten in den Befreiungskriegen, schon der Theologe, Philosoph und Bildungsreformer Friedrich D. E. Schleiermacher .¹⁶

    Dem Status des Begriffs, seiner Klarheit und Präzision, hat diese Redeweise nicht gutgetan. Beobachter nennen Bildung ein „deutsches Container-Wort",¹⁷ das alles aufnimmt, aber nichts mehr eindeutig aussagt, ein „catch-word. Die Philosophie, wenn sie es denn je hatte, hat heute jedenfalls kein Monopol auf die Rede von Bildung. Die Wissenschaften insgesamt mischen mit, auch die Öffentlichkeit, die produktiv informierenden Übersichten z. B. zu den Dimensionen des Themas liefern auch eher die Historiker¹⁸ als die Philosophen. „Die höchste und proportionierlichste Bildung aller Kräfte zu einem Ganzen, wie Bildung mit den klassischen philosophischen Texten Wilhelm von Humboldts häufig beschworen wird, die Verbreitung des „Wahren, Schönen und Guten und die „Höherbildung der Menschheit, das kann man vielleicht noch in Festreden hören, aber das ist bei Weitem nicht mehr der einzige Ton, in dem heute über Bildung gesprochen wird. Selbst die Gewerkschaften verknüpfen Bildung mit „Humankapital".

    Diese Vielfalt der Akteure und Redeweisen ist, gegen allen Überdruss kann man das festhalten, gleichzeitig auch verständlich, denn die Praxis der Bildung und ihre Konsequenzen waren und sind genauso wie die Rede über Bildung schon immer mehrdimensional. Die historische Gestalt von Bildung bezeichnete die Tugenden und Leistungen der Subjekte genauso wie die Strukturprinzipien von Bildungssystemen, sogar die Frage, wie die Vernunft in die Gesellschaft kommt, hat hier traditionell ihren Platz. Verkörpert in Zertifikaten hat Bildung gleichzeitig schon immer, jedenfalls seit dem frühen 19. Jahrhundert in Westeuropa, über den sozialen Status mitentschieden und schon im Verhalten der Gebildeten soziale Unterschiede erzeugt und als Distinktionsmerkmal fungiert. Bildung war, bereits in der Aufklärung, auch Leitformel für die Identität einer Nation und bevorzugter Begriff einer Kritik, die immer neu, nicht etwa erst heute, die wahre Bildung von der Halb- und Unbildung unterscheiden wollte. „Bildung ist, man muss es als Ausgangspunkt festhalten, nicht einfach auf den Begriff zu bringen, schon gar nicht nur in einer Bedeutung präsent: Bildung ist ein deutscher Mythos, ist pädagogisches Programm, politische Losung, philosophische Kategorie, Mechanismus gesellschaftlicher Distinktion, Schlüsselwort öffentlicher Debatten, Thema interdisziplinärer Forschung und Ideologie des Bürgertums zugleich. In der semantisch-begrifflichen Diffusität ist der Begriff anscheinend offen für alle Zuschreibungen, man kann hier auch „ein kulturelles Erbe für die Weltgesellschaft¹⁹ sehen. Die Frage liegt deshalb nahe, ob man vor diesem Hintergrund die Rede von Bildung wissenschaftlich, als Thema theoretisch ausweisbarer Reflexion überhaupt noch ernst nehmen kann?

    1.2 Bildung als Thema eigenständiger Reflexion – Forschung über Bildung

    Ein hilfesuchender Blick in die aktuelle Forschung zum Thema Bildung erzeugt allerdings, so jedenfalls der erste Eindruck, selbst eher Irritation als Klarheit. Bildung wird hier, einerseits, als Thema wissenschaftlicher Arbeit der Kontinuität von Kritik zum Trotz und gegen alle wiederkehrenden Letaldiagnosen oder alternativen Angebote, wie z. B. „Kultur"²⁰, reichhaltig und auch nicht allein in der traditionellen Pädagogik oder in der hergebrachten Bildungsphilosophie intensiv gepflegt. „Bildung" ist bis heute ohne Zweifel ein stabiles und viel diskutiertes Thema in zahlreichen Disziplinen. Andererseits, betrachtet man die theoretischen und methodischen Referenzen auch nur einiger zentraler Arbeiten aus dem 21. Jahrhundert, dann kann man schwerlich sagen, dass die einschlägige Forschung ihr Thema immer und nachhaltig auch methodisch sauber, clare et distincte, mit eindeutigen Begriffen, vergleichbaren Methoden, relationierbaren Befunden und anschließbaren Argumenten behandelt hätte. Die Forschung präsentiert sich eher selbst in der verwirrenden Vielfalt, die auch die alltägliche Rede charakterisiert.

    Dabei mag es zum wissenschaftlichen Alltag in den Humanwissenschaften gehören, dass es Forschung über Bildung in großer methodischer Differenz gibt, empirisch und historisch, philosophisch und kritisch, diskursanalytisch oder praxeologisch, quantitativ und qualitativ,²¹ und entsprechend auch in disziplinärer Besonderung sowohl in den Geistes- wie in den Human- und Sozialwissenschaften. Aber es ist doch ungewöhnlich, ja paradox, dass innerhalb der sich selbst als „empirische Bildungsforschung etikettierenden Forschungspraxis bis heute scharfe Kontroversen über die Frage ausgetragen werden, ob der Begriff der Bildung überhaupt sinnvoll als Referenz verwendet werden kann und ob eine (meist philosophisch argumentierende) „Bildungstheorie und die „empirische Bildungsforschung" wirklich über identische oder wenigstens über anschlussfähige Themen arbeiten.²² Kontroversen dieser Art mögen sich noch als disziplinpolitische Machtkämpfe innerhalb der Erziehungswissenschaft auflösen lassen, die Mannigfaltigkeit der Forschungszugänge und die bis heute unreduzierte und vielleicht auch systematisch nicht mehr reduzierbare Vielfalt der Perspektiven auf Bildung in der jüngeren Forschung bleibt bestehen.

    Lässt man einmal die Traditionen der Bildungsphilosophie und ihre Arbeit an den jeweils bevorzugten Klassikern noch ganz außer Acht (obwohl auch hier immer neue Arbeiten²³ zu vermeintlich längst bearbeiteten Autoren ebenso alltäglich sind wie kontinuierliche Differenzen²⁴), dann liegt diese Vielfalt sicherlich an den theoretischen Referenzen, in die „Bildung" übersetzt wird. Bildungsgeschichte hat z. B. innerhalb der historischen Disziplinen und mit dem Handwerk der Historiker, begriffs- wie sozial oder alltagsgeschichtlich, auch in diversen turns, eine eigene Stabilität gewonnen²⁵ und die Bedeutung von Bildung im Lebenslauf wird sowohl system- wie lebensweltbezogen breit analysiert. Die an Foucaultsche Denkfiguren angelehnten jüngeren Untersuchungen zur „Genealogie der Bildung²⁶ allerdings folgen in der Konstruktion ihrer Geschichten anderen Quellen, anderen methodischen Standards und anderen Begriffen, wenn sie die „Ordnung oder „Macht der Bildung²⁷ diskutieren, schon die Anschließbarkeit an die ansonsten erzählten Bildungsgeschichten ist nicht einfach gegeben. Auch wenn innerhalb der Geschichtswissenschaft die „Vergesellschaftung des Menschen²⁸ als Thema historischer Sozialisationsforschung diskutiert wird, sind die manifesten Differenzen in den Quellen und Geltungskriterien von Analysen unübersehbar, die sich bei einem scheinbar eindeutigen Thema auch schon in historiografischer Perspektive zeigen. Vergleicht man z. B. die aktuellen Arbeiten an einer „Historischen Anthropologie, dann ist trotz der gemeinsamen Anspielung auf „historisch bereits das methodische Selbstverständnis höchst different, wenn dieses Thema kulturwissenschaftlich²⁹ oder historiografisch³⁰ bearbeitet wird. Kulturwissenschaftler lehnen eine Gleichsetzung mit der Historiografie nicht selten explizit ab, Historiker halten kaum für methodisch gesicherte historische Forschung, was gelegentlich kulturwissenschaftlich produziert wird. Historiografisch sind auch sonst die Differenzen signifikant. Wenn z. B. die „Bildungsrevolution³¹ um 1800 in der Literaturgeschichte beschrieben wird oder Prozesse der Selbstbildung und historische Praktiken autodidaktischen Lernens³² bei Bildungshistorikern, dann werden ganz andere Quellen genutzt als bei den Jüngern Foucaults . Bildung wird dabei auch in identischen Zeiten oder Räumen anders dargestellt und bereits grundlegend, für die Frage, ob sie möglich oder unmöglich ist, sehr kontrovers beurteilt. Auch die Rolle der Subjekte wird aktuell vielfältig und different beschrieben, aber gelegentlich doch mit der These, die klassische Rede von Bildung habe nur eine andere theoretische Referenz gefunden, sei aber noch immer bei sich selbst.³³ Geht hier die Referenz noch ganz klassisch auf Individualität, wird dort das „Selbst mit seinen „Selbsttechnologien" eingeführt, postmodern und in der selbstsicheren (nur selten aufgestörten³⁴) Gewissheit, nach dem Tod des Subjekts zu leben und zu analysieren. Das Selbst wird dann allerdings nicht mehr in den Dimensionen diskutiert, in denen das Thema aus der Tradition der Ideengeschichte oder der Philosophie vorliegt.³⁵

    Solche mehr als marginalen Differenzen belegen auch die mit den Methoden aktueller Empirie forschenden Disziplinen. Sie bieten weder methodisch noch begrifflich ein einheitliches Bild von Bildung, wie sich vor allem an jüngeren Studien über „Selbst-Bildung zeigt. Diese Forschungen nutzen andere Quellen und Referenzen, wenn sie sich in ihrer Methodik als „praxeologisch verstehen³⁶ oder als „kulturwissenschaftlich" oder wenn sie z. B. im Kontext der Ethnologie argumentieren.³⁷ Aber deutlich unterscheiden sich diese Forschungsarbeiten auch von den zahlreichen biografisch ansetzenden Studien über Bildung, die innerhalb der Erziehungswissenschaft³⁸ oder der Soziologie immer neu vorgelegt werden und dann auch den Begriff der Bildung nutzen, der an anderer Stelle nicht selten völlig gemieden wird.

    So überraschend zumal für bildungsphilosophisch fixierte, traditionell meist kritische Blicke auf Bildung (die auch immer wieder erneuert werden³⁹) die hier dominierende Empirisierung des Themas auch sein mag, es sind zugleich eindeutig differente Welten, die hier gezeichnet werden, nicht zufällig begleitet von Kontroversen, ob wirklich als „Bildung bezeichnet werden kann, was hier beschrieben wird. Aber statt einer methodischen Klärung des Begriffs findet man dann doch wieder nur die kategoriale Differenz von Kritik und Analyse, von historischer und empirischer Beobachtung zum einen oder Debatten der praktischen Philosophie und normative Bilder des Gebildeten zum anderen. Zugleich werden die Milieudifferenzen in der wissenschaftlichen Rede von Bildung wieder signifikant, zwischen der kritischen oder normativen Ambition kritischer Bildungsphilosophie zumal innerhalb der Erziehungswissenschaft und einer beobachtend-analysierenden Perspektive, die sich eher außerhalb der Pädagogik findet⁴⁰ und eigene Bindestrichdisziplinen auch in Psychologie⁴¹ und Soziologie erzeugt hat.⁴² Eine „Renaissance erlebt die Bildungsreflexion aktuell trotz aller Kritik der Empiriker innerhalb der klassischen Erziehungsphilosophie, in den Referenzen aber auf die disziplinäre Binnenkommunikation begrenzt, wenig anschlussfähig an die Debatten außerhalb des eigenen Reviers.⁴³

    Die Erziehungswissenschaft, die angesichts der Vielfalt von Begriffen immer neu und offenbar gern Kontroversen über den wahren Begriff der Bildung austrägt, trägt selbst wenig dazu bei, die Fülle der Referenzen, Thesen und Diagnosen zum Thema Bildung systematisch aufzulösen und ihren eigenen „Grundbegriff, als den sie Bildung immer wieder (wenn auch nicht im Konsens innerhalb der Disziplin) bezeichnet, in seiner begrifflichen Qualität zu demonstrieren. In einem „Handbuch der Erziehungswissenschaft⁴⁴ wird z. B. „Bildung in lockerer Vielfalt präsentiert, als „Theorie der Menschenbildung zunächst, dann aber weniger theoretisch eigenständig als über die Kopula „und in Relation zu vielen allgemeinen Themen dargestellt, und zwar als „Bildung und … Geschichtlichkeit … Vernunft … Entfremdung … Alterität … Leiblichkeit, Körper und Leib und abschließend auch wieder als „Grundbegriff der Erziehungswissenschaft".⁴⁵ Aber es bleibt dem Leser selbst überlassen, in der Vielfalt solcher ja keineswegs harmonisch präsenter oder bereits andernorts hinreichend geklärter Themen und Begriffe⁴⁶ sich selbst ein Verständnis von Bildung im breiten Kontext disparater Referenzen und Angebote zu erarbeiten. Am Ende hat er mehr über die pädagogische und erziehungsphilosophische Wahrnehmung von Vernunft, Entfremdung, Alterität (usw.) gelernt, als das Thema Bildung präzise präsentiert bekommen, oder doch nur gelernt, dass Begriff und Thema der Bildung in der Vielfalt scheinbar nicht reduzierbarer Referenzen leben.

    In dieser Situation wirkt es wie ein mutiger Ordnungsversuch, wenn eine „Theorie der Bildung" vorgelegt wird,⁴⁷ die „Bildung im denkbar weitesten Sinne zum Thema macht und von sich behauptet, als erste das „Grunddokument einer neuen Bildungswissenschaft und die „Grundphänomene von Bildung vorzustellen und „historisch-systematisch zu begründen. Das wird sogar mit dem Anspruch formuliert, den „Weg zu einer allgemeinen Theorie der Menschenbildung zu bahnen, als „natur- und kulturgeschichtliche Theorie der allgemeinen Menschenbildung und zwar „im Horizont des ganzen Wissens über den Menschen. Diese neue Theorie soll alle einschlägigen Begriffe der Humanwissenschaften, von Anthropogenese über Entwicklung und Personalisation, Erkennen-Denken-Handeln, Spracherwerb, Sozialisation und Enkulturation bis zu Ethnizität und Zivilisation sowie Erziehung relationieren und thematisch über den Begriff der „Person integrieren (freilich ohne sich der Schwierigkeit zu stellen, die aus den Debatten z. B. von und mit Foucault und die „Technologien des Selbst entstehen). Irritierend ist es bei so einem umfassenden Anspruch aber doch, dass zeitgleich in einer als „integrative Humanwissenschaft auftretenden Buchreihe (die Wiersing ignoriert) und bei der Konzentration auf dieselben Begriffe und Forschungskontexte nicht der Begriff der „Person die Referenz der Analysen beschreibt, sondern die „Psychogenese der Menschheit.⁴⁸ Es verwundert noch mehr, dass der Begriff der „Bildung in allen dazu bisher erschienenen Bänden überhaupt nicht vorkommt, obwohl auch hier die Themen und Begriffe regieren, die sich andernorts als Referenzen einer Theorie der Bildung finden. Das für die Reihe zentrale Programm⁴⁹ kann sicherlich unschwer in jede Bildungstheorie übersetzt werden, die selbst „im Horizont des ganzen Wissens über den Menschen denkt. Aber ungeklärt ist nicht nur, was eine Bildungstheorie neben dem Beharren auf „Person" und der damit verbundenen Normativität diesem Programm hinzufügt, sondern auch, welcher Begriff diese Integration leistet und ob wirklich das ganze Wissen über den Menschen jeweils integriert wird. In beiden Kontexten schreiben z. B. weder Historiker noch, um ein Beispiel zu geben, Kriminologen, Disziplinen, die man kaum aus den Humanwissenschaften ausgrenzen wird.

    „Bildung, so kann man diesen knappen Blick auf die jüngere Forschung resümieren, ist in der begrifflich einschlägigen Forschung nicht konsensual oder klar bestimmt, sie fungiert auch keineswegs als umfassender Oberbegriff der Humanwissenschaften, wie manche Autoren wünschen, sondern sieht sich vielfältigen Konkurrenzangeboten gegenüber, nicht nur dem Begriff der Kultur. Das zeigt sich selbst bei einem Autor, der die „Bildung der Geisteswissenschaften unter der These beschreibt, dass „Bildung" der übergreifende Referenzbegriff aller Geisteswissenschaften sei. Er belegt dann im Kern aber nur die Nutzung des Begriffs der Bildung im Kontext von Debatten über die Idee der Universität (und tut das noch in den Quellen höchst selektiv).⁵⁰

    1.3 Aufwachsen und Leben in Wechselwirkung mit Welt – das Thema von Bildung

    Schon das Thema, das hier behandelt werden soll, ist also nicht einlinig oder eindimensional gegeben. Eingrenzende Präzisierungen des eigenen Themas sind daher notwendig. Riskiert man eine sicherlich vereinfachende Stilisierung, dann wird, historisch gesehen, im Begriffspaar von „Bildung und Erziehung" in Deutschland (und vergleichbar auch in slawischen Sprachen⁵¹) das Aufwachsen in Gesellschaften thematisiert und zugleich in einer normativ interpretierbaren Differenz codiert, nicht allein als „education, wie im Französischen oder im Englischen. Aber auch dort wird die Differenz zwischen den gesellschaftlich kontrollierten Formen des Aufwachsens und den schönen Bildern der Subjektwerdung natürlich argumentativ ebenfalls markiert, obwohl immer die Übersetzungsprobleme bleiben, und zwar in beide Richtungen⁵²: „Formation und „education" sind auch im Französischen nicht identisch. Auch upgrowing ist im Englischen nicht identisch mit education, und education bedeutet auch nicht einfach und immer nur Erziehung, sondern transportiert gelegentlich durchaus mehr an Erwartungen. Aber man muss offenbar doch von self-cultivation sprechen,⁵³ um bestimmte Konnotationen des deutschen Bildungsbegriffs im Englischen behandeln zu können. Aktuell wird in einem anglophonen Kontext auch explizit auf „the german notion of Bildung Bezug genommen, um wichtige Differenzen für Lernprozesse zu markieren, wie das aktuell z. B. bei der Klärung von „digital literacy geschieht,⁵⁴ die dann allein als „digital bildung" akzeptabel erscheint.

    Das Begriffspaar von Bildung und Erziehung, um ins Deutsche zurückzukehren, hält auch schon fest, dass es nicht allein um Wissen geht, sondern immer auch um Verhalten und Handeln, nicht nur um empirisch beobachtbare Prozesse, sondern auch um Ziele und Programme sowie die Ergebnisse einer Praxis, die den Titel der Bildung beansprucht oder verdient. Der „gebildete Mensch ist das primär gesuchte Objekt, das „Bildungssystem folgt erst dann, bei der Frage, wie man den eigenen Zielen zur Wirklichkeit verhelfen kann. Mit dem Kanon der „Bildungsgüter vertraut, so sagt es die Tradition, zeigt der Gebildete ein Verhalten, das den geltenden Normen und den herrschenden Idealen des guten Lebens zugleich entspricht, erwartbar für andere und an universalen Prinzipien orientiert. „Bildung, das gilt seit der Aufklärung, ist der Zielpunkt der Erziehung. „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht.", liest man bei Kant,⁵⁵ als man begann, die Differenzen in der Erziehung zu markieren und dafür dann bald „Bildung als Ziel- und Differenzbegriff zu Erziehung erfand. Die Erziehung, quasi der Einstieg in den Bildungsprozess, vollzieht sich bei Kant bis zu diesem gewünschten Ergebnis in Stufen, interpretierbar als Prozess der Emanzipation. Dieser Prozess beginnt mit der „physischen Erziehung, der die „Zivilisierung, „Kultivierung und „Moralisierung folgt, verdichtet in der „Bildung, die „Aufklärung und Kultur vereint,⁵⁶ wie man bei einem Zeitgenossen Kants, bei Moses Mendelssohn lesen kann. Dieser Prozess, interpretiert als die Menschwerdung des Menschen, d. h. systematisch als Konstruktion seiner „zweiten Natur⁵⁷ jenseits der ersten, der biologischen Natur, wird im Ursprung der Bildungsreflexion z. T. auch in radikaler Abgrenzung zu Erziehung gedacht, also nicht mehr fremdbestimmt, sondern immer schon selbsttätig, selbstbestimmt, vollzogen von einer Individualität, die Lernanlässe und Bildungsgüter nur als Angebote sieht, die der Einzelne nach seinen Interessen, Bedürfnissen und Möglichkeiten wählt, um seine eigene Vollkommenheit zu befördern. Aufgeklärt und mündig wird der gebildete Mensch dann in Selbstbestimmung und Freiheit entlassen, frei von pädagogischen Erziehungszumutungen, weil er gelernt hat (oder doch hätte lernen sollen), sein Verhalten in der Gesellschaft nach begründungsfähigen Prinzipien, der Vernunft folgend, zu organisieren, als lebenslangen Prozess der Bildung des Selbst in Wechselwirkung mit der Welt.

    Man hört den Ton der Aufklärung und der klassischen idealistischen Philosophie und ist beruhigt. Kant aber, der muss natürlich in Deutschland zum Zeugen werden bei solch großen Fragen, war allerdings schon bewusst, dass Bildung ein Ideal ist, Ideal einer Welt wie der Subjekte, der Gattung wie des Einzelnen, das man nicht mit der Wirklichkeit verwechseln darf. Der einzelne Mensch, so wusste er realistisch, ist „aus krummem Holz geschnitzt, orientiert sich an seinem Vorteil, lügt und betrügt auch, schon um zu überleben. Man muss froh sein, wenn er weiß, woran er sich hätte orientieren sollen, und dass er wenigstens „strebend sich bemüht, so zu werden, wie es das Ideal ausmalt, ohne es alltäglich erreichen zu können. Bildung war also nie Garantie des guten Menschen oder der schönen Welt, bestenfalls eine Prämisse des Verhaltens, als Regulativ des Handelns eher bekannt als befolgt. Auch der „Bildungsbürger war nicht durch sein Verhalten und Handeln moralisch ausgezeichnet (sonst hätten sich z. B. die deutschen Bildungseliten nicht so zahlreich durch den Nationalsozialismus verführen lassen), sondern zuerst sichtbar durch eine gesellschaftlich dominierende kulturelle Praxis, vor allem aber war er durch das Bildungszertifikat zu erkennen. Es ist dann primär das Abitur, das klassische deutsche Trennungs- und Unterscheidungsmedium, das den Bildungsbürger mit dem Besuch des Gymnasiums von anderen gesellschaftlichen Akteuren ebenso unterscheidbar machte wie der Besuch von Theater und Oper, die Lektüre der Klassiker, die Bildungsreise und die eigene kulturelle Praxis, vor allem aber die immerwährende Bereitschaft, zu lernen und sich selbst „zu bilden.

    Lernen gehört also zur Bildung, Lernen und Lernbereitschaft sind die Medien der biografischen Konstruktion, zumal des Gebildeten, schon weil er seinen Lebenslauf kaum anders konstruieren konnte; denn über materiellen Besitz, der ihn gesellschaftlich handlungsfähig gemacht hätte, verfügte er eher nicht. Bildung musste deshalb ins Zertifikat münden, zuerst im Abitur, dann in den weiteren Examina, vorzugsweise den staatlichen Examina, um danach als Arzt oder Jurist, Pfarrer oder Oberlehrer seinen Lebensunterhalt (durchaus kommod) zu verdienen. Bildung war mithin der „Besitz, um ein akademisches Amt oder die anderen, von Zertifikaten abhängigen Tätigkeiten wahrnehmen zu können. Bis heute ordnen Tarifverträge die Bezahlung so, d. h. nach Bildungsstufen, in der Annahme, dass sich in dem schulisch oder in berufsbezogenen Lernprozessen erworbenen Zertifikat die „Leistung verdichtet, die zum Kriterium für differenzierte Bezahlung werden kann und damit zugleich die Legitimation von gesellschaftlicher Ungleichheit liefert.

    Entsprechend stark war und ist in diesem bis heute existierenden System der Zertifizierung und Berechtigung die Stellung des Bildungswesens, in dem man die Zeugnisse erwirbt. Die „Schule der Gebildeten, das Gymnasium in seinem emphatischen Selbstbild, und die Universitäten haben hier ihre wesentliche Funktion, als „zentrale soziale Dirigierungsstelle, wie die mutig generalisierende, aber empirisch nicht so umfassend bestätigte These des Soziologen Helmut Schelsky lautete (andere Faktoren, soziale Herkunft, Macht oder Geld z. B., spielen ganz unabhängig von Schule und Bildung bis heute eine wesentliche Rolle).⁵⁸ Sie vermitteln deshalb auch nicht nur Wissen, generalisieren nicht nur Tugenden des Verhaltens und erziehen den angehenden Staatsbürger, sie verbinden in den Zeugnissen auch innerschulische Lernprozesse mit außerschulischen Effekten – den Zugang in privilegierte Berufe, den Erwerb von sozialem Status, die Einordnung in die Hierarchie von Bezahlung, Beschäftigungssicherheit, sozialer Anerkennung und Distinktion. Man erwirbt nicht nur kulturelles Kapital, sondern auch die Voraussetzungen, um sich ökonomisch und sozial zu platzieren – oben, wenn man in Bildungsprozessen erfolgreich war, oder in der Mitte und unten, wenn man nicht zu den happy few gezählt wird, die sich im Leistungswettbewerb besser als andere behaupten konnten. „Bildung lohnt sich", ist die schlichte Formel der Ökonomen, so vereinfachend wie das bei ihnen dominierende Bild vom Menschen.

    „Zweckfrei, wie man bis heute gelegentlich Bildung stilisiert, war dieses System von Praktiken und Belohnungen, von Indikatoren der Leistung und des Scheiterns deshalb nie. Bereits einer seiner klassischen Vordenker, Wilhelm von Humboldt, hat nicht nur die schönsten Sätze über die Bildung gesagt – dem „Begriff der Menschheit in unsrer Person gebe sie Gestalt –, sondern auch das Abitur mit durchgesetzt und den Zugang zu öffentlichen Ämtern und akademischen Berufen vom Nachweis der individuellen Leistung in Prüfungen unter Wettbewerbsbedingungen abhängig gemacht, und zwar zum Schutz der Gesellschaft und der Durchsetzung des liberal-egalitären Prinzips der Leistung zugleich. Staatliche, später demokratische Elitenbildung sollte über akademische Leistung begründet werden, meritokratisch, wie es dem Liberalen Wilhelm von Humboldt vorschwebte. Und diejenige „Nation", so seine Vorstellung, war modern, politisch gerechtfertigt und leistungsfähig, in der Bildung in Staat und Gesellschaft diese Funktion zwischen Ideal und Besitz entfalten konnte. Aber nicht erst heute, vor dem Hintergrund von PISA-Daten und angesichts der offenkundigen Tatsache, dass Bildungserfolg sich eher durch soziale Herkunft als allein durch Leistung erklärt, sind das strittige Thesen. Als Programm vielleicht allseits anerkannt, hat Bildung in ihrer Realität ganz offenkundig nicht die Gestalt, von der die große Philosophie geträumt hat und die pädagogische Ideologie des Bürgertums sich nährt.

    1.4 Die Rede von Bildung – These, Plan und Aufbau dieses Buches

    Es ist also nicht allein die Heterogenität eines Sprachgebrauchs, die zum Problem wird, sondern auch eine Vielfalt von Themen und begleitenden Theorien, die in der Rede von Bildung simultan präsent sind. Man könnte deshalb durchaus die Frage aufwerfen, ob es überhaupt sinnvoll ist, diese Rede auch weiterhin nach ihrem systematischen Gehalt, in ihrer gesellschaftlichen Funktion und in theoretischer Absicht aufzunehmen und zu diskutieren, oder ob es nicht besser wäre, sie endgültig als Gerede abzulegen. Experten im Revier des Bildungsdenkens, Erziehungstheoretiker zum Beispiel,⁵⁹ haben den vermeintlich notwendigen Abschied vom Bildungsbegriff auch schon mehr als einmal verkündet oder gefordert; und es war immer die Diffusität der Redeweise und ihr theoretisch wie methodisch unpräziser Status, die solchen Abschied begründen sollten. Allerdings, die Ersatzbegriffe, die dann angeboten wurden, haben nicht Karriere gemacht. Die Öffentlichkeit spricht jedenfalls nicht von „Autopoiesis", also systemtheoretisch, wenn sie Bildung in Schulen oder im Lebenslauf behandelt, und auch Lernen⁶⁰ oder Sozialisation sind theorieimmanente Begriffe geblieben. Auch die Pädagogik, die sich eine Zeit lang von Bildung verabschiedet hatte und lieber von Emanzipation redete, kehrte sehr bald erneut, und natürlich in kontroversen Debatten, zum Bildungsbegriff zurück. Die Unterschiede zwischen anerkannter Rede und der als Gerede diskreditierten Thematisierung von Bildung wird zwar immer neu versucht,⁶¹ ohne aber umfassend Anerkennung zu finden.

    Bevor man Abschied nimmt oder gar nur an die Verbesserung der Bildungspraxis denkt, sollte man sich deshalb noch einmal der Dimensionen des Phänomens vergewissern und dafür vor allem und zuerst die Realität der Rede von Bildung in ihrer Praxis beobachten und in ihrer Geltung diskutieren. Das erste Ergebnis dieser Beobachtung ist dann die erstaunliche – und selbst erklärungsbedürftige – Stabilität der Rede von Bildung trotz aller wiederkehrenden Kritik.⁶² Als zweiter Befund ergibt sich, dass diese Karriere zwischen intensiver Nutzung und starker Anerkennung, kritischer Destruktion und völligem Desinteresse nicht allein für die Öffentlichkeit galt und gilt, sondern auch wissenschaftlich, und auch hier nicht allein im Dual von „Bildung und Kultur⁶³ oder nur bei den unverbesserlich bildungsaffinen Pädagogen und in ihrer Bildungsphilosophie und -theorie. Dass man, drittens, in der Karriere des Themas allein einen „semantischen Sonderweg der Deutschen sehen kann, gar ihr „semantisches Gefängnis, dem das Bildungsbürgertum und seine Denker … nicht entkommen, das wird man schon deswegen nicht behaupten können, weil die Nutzung des Begriffs nicht auf „das Bildungsbürgertum und seine Denker beschränkt war und ist und er auch nicht nur als „Deutungsmuster sozial, sondern auch als Begriff theoretisch fungiert. Historisch und auch aktuell erheben zudem Theoretiker Anspruch auf den Begriff, die sich selbst jenseits bürgerlicher Verirrungen als Vertreter „kritischer Theorie verstehen.⁶⁴ Der Begriff macht schließlich in einem theoretisch anspruchsvollen Sinne heute sogar Karriere im englischsprachigen erziehungsphilosophischen Kontext.⁶⁵ Das Thema und die spezifische begriffliche Referenz sind also nicht allein kulturell und national geprägt, sondern durchaus international präsent, wenn auch immer im Bewusstsein der spezifischen deutschen Reflexionstradition.

    Mit anderen Worten, die Rede von Bildung, ihre Themen und Referenzen, ihre Stabilität und ihre fortdauernde Nutzung und Kritik, verlangen gerade wegen der Allpräsenz und trotz aller Widersprüchlichkeit nach einem zweiten Blick, jenseits der dominierenden Urteile und Zuschreibungen, um angemessen verstanden und diskutiert zu werden. Es muss ein Blick aus der Distanz sein, will man die Kontroversen nicht nur fortschreiben oder selbst in den Kontroversen nur Partei werden. Die Schwierigkeiten eines solchen Blicks aus der Distanz sind natürlich unübersehbar.⁶⁶ Die Quellen zur Rede von „Bildung sind nahezu grenzenlos, selbst wenn man sich – wie es im Folgenden geschieht – auf die Beobachtung der Konstruktion und Diskussion des Begriffs seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert beschränkt, auf den Zeitraum also, in dem der seither dominierende, der meist als ‚modern‘ attribuierte, Begriff der Bildung im deutschsprachigen Raum erfunden wurde und seine bis heute folgenreiche Gestalt und Wirkungsgeschichte gewann. Die zeitliche Eingrenzung ist von diesen Indizien aus und vor dem Hintergrund der Forschung noch relativ einfach zu begründen, auch wenn die Zäsur nicht mehr die unbefragte Bedeutung wie zu den Zeiten hat, als man noch von „Moderne im Singular sprechen konnte,⁶⁷ den Übergang als „Sattelzeit⁶⁸ markierte und noch ganz eurozentrisch qualifizierte. Solche Zuschreibungen werden mit der hier gewählten Zäsur nicht verbunden. Der folgende Text argumentiert immanent für „Bildung in ihrer Geschichte und muss – und kann – dann selbst ausweisen, mit welchem Recht für die Zeit um 1800 von einer Zäsur in der Rede von Bildung gesprochen werden kann. Für die weitere Geschichte des Begriffs bis zur Gegenwart wird kontinuierliche Aufmerksamkeit für den Begriff unterstellt, er gilt also nicht nur als Schlüsselbegriff des 19. Jahrhunderts,⁶⁹ sondern ungeachtet seiner frühen Herkunft auch als einer der Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts.⁷⁰ Sein Wandel in dieser langen Zeit und die damit gegebene interne Periodisierung zwischen dem frühen und späten 19., und den weiteren Entwicklungen im 20. Jahrhundert, ist wiederum Thema der Analyse selbst, und dann reicht die Zuordnung zu Jahrhunderten allein nicht mehr aus, wie sich zeigen wird.

    Für die Auswahl der Quellen und Referenzen sowie der als bedeutsam beurteilten Themen und Kontroversen gibt es dagegen, anders als für die zeitliche Eingrenzung, keine gegen theoretische und methodische Einwände immune und auch keine arbeitspragmatisch einfach handhabbare Lösung.

    Die in diesem Band vorgestellten Beobachtungen aus der Distanz suchen den Weg aus dem Dilemma, indem sie den zentralen Befund der aktuellen Diskussion über Bildung selbst zum Ausgangspunkt der Überlegungen und zum systematischen Problem der Analysen machen. Die Beobachtungen und Analysen gehen von dem systematisch diffusen und ungeklärten Status des Begriffs und damit auch von der Frage nach der Legitimität der Qualifizierung dieser Rede als Bildungstheorie aus. Die offenen Fragen der aktuellen Kontroversen und der Streit über Status und theoretische Qualität dieser Rede, das macht sie als Ausgangspunkt so lohnend, werden ja nicht nur von den Kritikern dieser Rede, sondern auch von ihren Protagonisten selbst nicht bestritten – es gibt in der Beanspruchung des Bildungsbegriffs also zumindest diese Konsenszone und schon das verlangt nach Erklärung.

    Die leitende Annahme der folgenden Überlegungen ist dann, dass sich diese Situation und diese Zuschreibungen nur historisch erklären lassen, nicht als Normdissens oder im Ausweichen vor dem wahren Begriff der Bildung. Die Problematik der Rede ist vielmehr als Ergebnis der Dynamik, die der Begriff in seinen unterschiedlichen Kontexten selbst erlebt, forciert durch die eigenen thematischen Referenzen, die ihn für ganz unterschiedliche Akteure attraktiv machen und dafür sorgen, dass sich die Rede von Bildung seit ihrem Ursprung als eine sich selbst anregende Semantik bis heute zu der spezifischen Gestalt entwickelt, die aktuell ihre Qualität und ihr Problem zugleich darstellt. Dabei soll die Karriere des Begriffs nicht allein begriffsgeschichtlich untersucht werden oder gar nur in der immanenten Tradierung als Bildungstheorie und -philosophie in der Klassikerexegese, sondern als Analyse der historischen Semantik in einem spezifischen gesellschaftlichen Kontext. Als spezifisch werden dabei die Öffentlichkeiten und Akteure der Rede von Bildung betrachtet. Sie werden aber nicht auf eine Arena „zwischen Philosophie und Pädagogik" reduziert,⁷¹ wie das jüngst noch einmal geschehen ist. Die Rede von Bildung wird dagegen im Folgenden nicht allein in dieser zweistelligen Relation betrachtet, sondern in einem Reflexionsfeld, das systematisch erweitert wird um die Humanwissenschaften, wie sie sich seit 1800 ebenfalls im deutschsprachigen Kontext (und international) entwickeln, um die Semantik im Bildungssystem, wie sie pädagogisch-professionell und administrativ seit 1800 eigene Gestalt gewinnt, und schließlich um das Publikum, das in der (bildungs-)politischen und allgemeinen Öffentlichkeit präsent ist.

    Die erste dabei zu klärende Frage ist dann, mit welchen – konstanten oder historisch sich entwickelnden – Themen und Argumenten die Rede von Bildung seit dem Ursprung dieses in sich ja höchst heterogene Publikum dauerhaft attrahieren kann. Die Leitfrage in diesem Teil der Analyse lautet: „was bedeutet Bildung im historischen Kontext um und seit 1800 und für wen gewinnen die dabei praktizierten historischen Zuschreibungen ihre Relevanz, Stabilität und dauerhafte Aufmerksamkeit. Angesichts des aktuell problematischen Status des Begriffs ergibt sich unmittelbar die zweite Frage: Welchen systematischen Status haben diese Zuschreibungen im Prozess und wie verändern sie sich, seit sich die Rede im Ursprung als philosophische gegenüber einer früher dominierenden, meist theologischen Rede verselbstständigt hat, während sie aktuell weder unstrittig als ‚Philosophie‘ noch als ‚Theorie‘ anerkannt ist. Die Rede von Bildung soll deshalb nicht nur auf ihr Bedeutungsreservoir hin historisch, sondern auch auf ihren geltungstheoretischen Status hin epistemisch untersucht werden, und zwar in der eigenen Zeitlichkeit, die methodisch und theoretisch analysierbar ist und sich in der Relationierung vor allem zu den Humanwissenschaften auch begründet diskutieren lässt. Die historisch naheliegende Leitfrage dafür heißt „Wie ist Bildung möglich?, konkretisiert in der Frage, ob überhaupt und wenn ja wie, die Möglichkeit – oder Unmöglichkeit – von Bildung im Ursprung und danach reflektiert und letztlich als Aufgabe von Forschung diskutiert wird. Diese Frage stellt die Rede von Bildung auch in den Kontext der Humanwissenschaften, für die ebenfalls um 1800, also in der Ursprungsphase des Bildungsbegriffs, in der eine solche „wie möglich"-Frage ebenso wie die Problematisierung des tradierten Wissens und seine Theoretisierung, Methodisierung und Verwissenschaftlichung ihren Ausgangspunkt nehmen.⁷²

    Die Komposition des Bandes und der Gang der Analysen gewinnen aus diesen Annahmen und Thesen, Leitfragen und Relationen die jetzt vorliegende Gestalt. Dabei muss ich, gegen vielleicht überbordende Erwartungen, vorab zunächst die Grenzen der Argumentation einräumen. Vor allem das forschungspragmatische Problem des Umgangs mit der Uferlosigkeit der relevanten Quellen bleibt letztlich ungelöst, wohl auch unlösbar. Sicherlich, man könnte das Thema und die Fragestellung in den Kreis von Untersuchungen einordnen, die aktuell als „Diskursanalysen" propagiert werden.⁷³ Hier werden Verfahren vorgeschlagen und praktiziert, mit denen zur Analyse großer Bestände an historischer Semantik Text-Corpora konstruiert und z. T. auch statistisch analysiert oder in Varianten des Lesens, zwischen „close und „distant, interpretiert werden können. Es gibt auch Varianten dieser Methodik, die ausdrücklich für die Analyse gesellschaftlicher Schlüsselbegriffe vorgeschlagen werden. Aber diese Verfahren räumen schon jetzt immer auch ein, dass diese Corpora nicht repräsentativ sind, so dass die Analysen dann auch nur Scheinpräzision erzeugen, schon weil sie sich nicht auf eine einzige, sinnvoll zu konstruierende und zu analysierende Grundgesamtheit zurechnen lassen, und zwar schon arbeitspragmatisch nicht. Die vorliegenden Exempla von Diskursanalysen zum Begriff der Bildung belegen das eindeutig. Sie können z. B. seine Rolle für die Geisteswissenschaften zeigen, müssen der Heterogenität der Nutzung aber schon darin Tribut entrichten, als sie die institutionelle und die epistemische Referenz nicht zugleich behandeln.⁷⁴ Andere Arbeiten analysieren Bildung im Kontext politischer Begriffe,⁷⁵ aber ihre thematische Referenz ist dann doch sehr begrenzt, weil die Untersuchung sich auf Schulpolitik konzentriert und z. B. weder die Berufsbildung noch die Debatte über die Hochschulen und Universitäten (und damit z. B. auch nicht „Bildung durch Wissenschaft) oder die Erwachsenenbildung mit einschließt, und schon gar nicht die öffentlich folgenreichen Konstruktionen des „Gebildeten oder das „Bildungsgerede. Die diskursanalytisch gleichzeitig nicht selten in systematischer Absicht mitgelieferten selbstbewussten Abgrenzungen von eher traditionellen Analysemethoden, die zumindest noch als „Dunkelkammer interpretativ-hermeneutischer Kunstlehren⁷⁶ erinnert werden, verlieren deshalb auch viel von ihrem Glanz, wenn man sie an der Praxis von Diskursanalysen auf ihre Implikationen und Ergebnisse hin prüft.

    Für das hier zu diskutierende Thema und die dafür leitenden Analyseabsichten sind die Praktiken der Diskursanalyse also schon deswegen nicht geeignet, weil angesichts der Breite und Tradition der Rede von Bildung zwischen Philosophie und Öffentlichkeit, Politik und Pädagogik, Sozial- und Kulturwissenschaften, Geschichte und empirischer Bildungsforschung in den mehr als zwei Jahrhunderten, die Gegenstand der Beobachtung werden sollen, sich selbst die Konstruktion nicht-repräsentativer Corpora als wenig sinnvoll erweist. Die folgenden Analysen ruhen deshalb in der Quellenauswahl primär auf einem schon länger praktizierten Umgang mit dem Thema⁷⁷ und seinen Quellen sowie auf einer intensiven Kommunikation mit der älteren und jüngeren Sekundärliteratur, die gerade in jüngerer Zeit durchaus produktive neue Anstöße gegeben hat.⁷⁸ Die Analysen bevorzugen auch nicht die statistische Analyse, sondern wählen den Weg der Relektüre der Quellen und der intensiven Auseinandersetzung mit solchen Texten, die als signifikant für systematische, d. h. wiederkehrende und zugleich kontinuierlich als kontrovers und damit als zentral geltende Probleme der Reflexion über Bildung und der Nutzung des Begriffs gelten. Die Rede von Bildung seit der Genese ihres modernen Begriffs wird also, nüchtern betrachtet, als eine sich selbst anregende kritische Masse betrachtet (wie das Luhmann einmal für die historische Semantik formuliert hat), deren distanzierte Beobachtung zur Geltung bringen soll, welche Bedeutung diese Rede theoretisch und politisch, kulturell und pädagogisch hatte und noch haben kann.

    Man darf angesichts solcher methodischen Grenzen auch keine neue Theorie erwarten oder gar die endgültige historische Analyse, allenfalls Beobachtungen, die aus der Distanz traditionelle Formen der Ordnung und überlieferte Praktiken der Rede von Bildung neu befragen. Die Rede von Bildung wird dabei, konzeptionell und systematisch, in den Kontext von generellen Versuchen platziert, „Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit" zu verstehen,⁷⁹ und damit, methodisch gesehen, „die ruinöse Alternative zwischen einer Geistesgeschichte, die die Gesellschaft ausklammert, und einer Sozialgeschichte, die das Denken ausklammert⁸⁰ systematisch zu vermeiden, aber auch die Wirkungsgeschichte von Ideen nicht nur an und in kommunikativen Strukturen, etwa Texten, beantwortbar zu machen. Für diese Frage ist die Idee der „Bildung nicht nur angesichts der Vielfalt der diskursiven Referenzen, in die sie eingebettet ist, ein ausgezeichneter Kandidat, sondern auch wegen der Funktion als Kontingenzformel, die sie in und für die Ausdifferenzierung des Sozialsystems der Bildung gewonnen hat. In dieser Perspektive können die folgenden Analysen auch sehr gut an die Fragestellungen und Methoden der jüngeren historischen Bildungsforschung anschließen⁸¹ und auch deren, die nur nationale Perspektive dezentrierenden Blick auf Ideen und Programme aufnehmen, der sich z. B. in der linguistisch orientierten Analyse u. a. der Reflexion von Bildung schon breit entfaltet hat.⁸²

    Die Analyseabsicht ist deshalb auch im Grunde einerseits bescheiden, nicht mehr als der Versuch einer explorativen Begründung einer neuen Lesart der Rede von Bildung, andererseits aber auch systematisch ambitioniert, in dem Versuch, die thematischen und theoretischen Dimensionen von Bildungsreflexion und -theorie deutlicher zu unterscheiden⁸³ und von das auch die argumentative Praxis und die Möglichkeiten dieser Rede seit ihrem Ursprung und in ihrer weiteren Geschichte deutlicher zu sehen als bisher. Systematisch und methodisch soll deshalb in einem mehrfachen Zugriff und in je spezifischer Methodik die Rede von Bildung in ihren je eigenen, nicht aufeinander reduzierbaren, aber miteinander verschränkten Dimensionen sichtbar gemacht werden.

    In den beiden ersten Teilen I und II, wird die Genese der traditionellen Rede von Bildung und ihre weitere Praxis untersucht, und zwar in zweifacher Hinsicht, nach den Themen, die sie präsentiert, und nach der Praxis, in der sich ihre spezifische Denkform entfaltet. Das heißt im Einzelnen:

    i)

    In einer historischen Rekonstruktion soll die Rede von Bildung, wie sie sich um 1800 in Deutschland entwickelt, in der Gesamtheit der Themen und Dimensionen dargestellt werden, die sie in diese Ursprungsphase aufnimmt, auch um die Fixierung auf wenige klassische Texte aufzubrechen. In dieser Rekonstruktion erweist sich die Ursprungsdebatte über Bildung zwar reflexiv als national wie kulturell zentriert, aber zugleich als vieldimensional und offen auch für die internationale humanwissenschaftliche Diskussion ihrer Zeit. Im Namen von „Bildung" und der historischen Zuschreibungen ihrer Bedeutung, so die resümierende These und das Ergebnis der Rekonstruktion, bestimmen nicht allein Idealbilder des Menschen, sondern umfassende Perspektiven auf Mensch und Welt, auf die Gegenwart und Zukunft von Staat und Nation, Kultur und Gesellschaft die Rede von Bildung, Themen also, die bis heute insgesamt in den Humanwissenschaften behandelt werden.

    ii)

    In einer historisch-epistemischen Analyse werden danach die Denkformen untersucht, in denen im Prozess erörtert wird, „wie Bildung möglich ist". In ihren Leistungen, Fixierungen und Selbstbegrenzungen erweisen sich diese Argumentationen als eine Form des Umgangs mit dem Thema, die sich zunehmend von der beobachtenden Position der Humanwissenschaften, der die Rede anfangs noch zugerechnet werden konnte, zugunsten von Kritik, normativen Konstruktionen und der Immunisierung gegenüber Erfahrung weg entwickelt. Damit wird im Prozess eine Denkform fernab von Forschung erzeugt und stabilisiert, die bis heute für die Rede von Bildung belastend bleibt, v. a. in der expliziten Selbstbegrenzung auf Wunschbilder von Mensch und Welt, auf die Delegitimierung von Bildungswelten und auf den Rückzug in utopische Konstrukte und romantisierendes Versöhnungsdenken.

    Gegen die begrifflichen und argumentativen Selbstblockaden, die mit der Rede von Bildung offenbar zunehmend verbunden sind, gehen die Teile III und IV der Frage nach, ob die systematischen Prämissen des Bildungsdenkens mit der Ausbildung ihrer spezifischen Denkform auch zugleich ihre Bedeutung für die Forschung über den Menschen, für die Realität seiner Bildungsprozesse und für die sozialphilosophische Legitimation gegebener Bildungswelten tatsächlich verloren haben, wie es zumal die kritische Rede von Bildung aktuell nahelegt. Dabei wird im Einzelnen die Gegenthese von der vielfach zwar nur impliziten, systematisch aber unentbehrlichen Bedeutung der klassischen Annahmen über Bildung ebenfalls in zwei methodisch unterscheidbaren Schritten entfaltet:

    iii)

    In einer epistemischen Analyse zentraler, auf die Themen der Bildung bezogener Forschung in den Humanwissenschaften kann belegt werden, dass eine der zentralen thematischen Annahmen der klassischen Bildungstheorie, die Selbstkonstruktion des Menschen in Wechselwirkung mit der Welt, in der humanwissenschaftlichen Forschung so unentbehrlich wie produktiv war und ist – wie sich trotz aller spezialistischen Ausdifferenzierung der Humanwissenschaften auch weiterhin zeigen lässt. Das Ergebnis und die These dieser Analysen ist nämlich, dass die einschlägige Forschung bei einer zu starken Distanz gegenüber den thematischen Implikaten von Bildung, zumal gegenüber ihrem Subjektbegriff, ihr Forschungspotential verliert, in der Orientierung an den zentralen bildungstheoretischen Annahmen dagegen ihr Erkenntnispotential steigern kann. Die Tradition der Rede von Bildung ist also mit ihren leitenden Annahmen als latente Struktur, als basales, der Theoretisierung so zugängliches wie bedürftiges Thema der aktuellen Forschung rekonstruierbar und argumentativ nutzbar, um Erkenntnisfortschritt oder -rückschritt in zentralen Dimensionen der Humanwissenschaften zu erklären.

    iv)

    In einer begründungtheoretischen, praktisch-philosophisch orientierten Argumentation wird danach geprüft, ob die klassischen Kriterien der Gestaltung von (obligatorischen) Bildungssystemen auch aktuell noch normative Geltung gewinnen können, auch gegen eine Kritik, die das gegebene Bildungssystem primär als Verfallsform legitimer Bildungswelten interpretiert. Die leitende These wird hier – anders als im sonstigen Text – nicht mehr allein aus der Distanz der Beobachtung, sondern in dem Versuch einer eigenen Begründung für obligatorische (Grund-)Bildung argumentativ entfaltet. Dabei soll als Ergebnis gezeigt werden, dass sich das inzwischen hoch komplexe System der Bildung für die Selbstkonstruktion der Subjekte nicht etwa als organisierte Form der Entmündigung, sondern als eine der legitimen Bildungswelten verstehen lässt, die mit der Moderne entstehen und als unhintergehbare, aber auch notwendige und produktive Herausforderung in der individuellen und kollektiven Gestaltung von Lebensläufen erfahren werden.

    Das abschließende Teil V nimmt schließlich die Frage auf, ob und wie sich vor diesem Hintergrund historischer Rekonstruktionen, epistemischer Analysen und philosophischer Legitimationsversuche Einheit und Zusammenhang der Rede von Bildung behaupten lassen und ob gar die Frage positiv zu beantworten ist, dass es eine „Theorie der Bildung" gibt.

    v)

    Die grundlegende Frage, ob es für die Vielfalt dieser Redeformen auch Formen der Einheit gibt, gar einen Grad an Systematizität, der sich auch aktuell und jenseits traditioneller Selbstbeschreibungen als Theorie der Bildung mit guten Gründen behaupten kann, wird mit einem dreistufigen Angebot beantwortet: zunächst in der Präsentation von unterscheidbaren Formen der Ordnung des Wissens und der Themen, die international für die Rede von Bildung bereitstehen, aber begrifflich höchst different und meist jenseits von Bildung bezeichnet und systematisiert werden – vom politischen Slogan bis zum forschungsleitenden Analysemodell. „Bildung wird dagegen nur in ganz wenigen Versuchen aktuell und explizit als Leitbegriff einer neuen Theorie gesucht, einerseits im pädagogischen bzw. erziehungswissenschaftlichen Kontext, andererseits interdisziplinär, ohne dass der Begriff eine neue Einheitsform überzeugend begründen kann. Schließlich findet sich das Thema der Bildung – als Problem der Mensch-Welt-Beziehungen – in der Praxis von Forschung und Theoriebildung in funktionalen Äquivalenten, die zwar das Thema behandeln, aber auf den Bildungsbegriff zugunsten anderer Begriffe, z. B. „Resonanz oder im Blick auf den „ganzen Menschen", verzichten. Sie behandeln freilich das Thema, ohne selbst den Schwierigkeiten zumal des normativen Überschwangs, der Konstruktion von Wunschwelten oder der Distanz gegenüber methodisch kontrollierter Forschung systematisch zu entgehen, die in der Tradition der Bildungsargumentation als spezifische Schwäche beobachtbar waren. Thema und Denkform lassen sich auch bei Vermeidung des Begriffs offenbar nicht einfach trennen, weder in ihrem Potential noch in ihren typischen argumentativen Belastungen.

    Das Ergebnis ist selbstverständlich nicht ein Vorschlag, mit dem sich die Heterogenität oder Diffusität der Rede von Bildung auflösen lässt, aber eine Unterscheidung. Die Redeform von Bildung bleibt dabei trotz aller rekonstruktiven und epistemischen Analysen zwar ein Problem, aber ihre Komponenten sind identifizierbar und unterscheidbar, ihr theoretischer Status ist ebenso diskutierbar wie die Kriterien legitimer Argumentation und die typischen Schwächen der Redeform in einem politischen Kontext. In dieser multiplen Referenz liegen die Stärke und die Problematik des Begriffs zugleich. Er kann Themen und Argumente bezeichnen und relationieren, und das ist politisch wie wissenschaftlich aufklärend, wenn die differenten Referenzen bewusst bleiben und transparent gehalten werden. Die Rede von Bildung bleibt dennoch mit dem Risiko behaftet, in emphatischen Formeln die Differenzen zu überspringen und Einheit auch dort stiften zu wollen, wo Differenz und Distanz notwendig sind. Gleichzeitig liegt es wohl an der Bedeutung von Bildung, dass sie solche Emphase immer neu inspiriert, schon weil die Mühen der alltäglichen Konstruktion von Subjektivität damit scheinbar leichter auszuhalten sind. Bildungsphilosophie schließlich bestärkt diese verständliche Flucht in wünschbare Welten durch die immer neue Konstruktion von Utopien, aber diese spezifische Redeform ist an Forschung kontrollierbar, die auf die Möglichkeiten und Grenzen, Implikationen und Folgen der Realisierung derart antizipierter Welten verweist. Damit wird zugleich Bildung als Lebensform sichtbar, als eine Praxis, die Individuen konstruieren, innerhalb der Welten, mit denen sie sich auseinandersetzen, aber auch gegen die Restriktionen, die solchen Welten innewohnen. Realisierbare und utopisch ersehnte Welten werden dabei auch in ihrer Differenz sichtbar, und die historisch präsenten Lebensformen können auf die Frage hin gelesen werden, was Bildung vermag und was man legitimer Weise von der alltäglich notwendigen Selbstkonstruktion der Subjekte erwarten darf. Das ist mehr, als die Kritiker unterstellen, und weniger, als die utopischen Entwürfe erwarten, aber es sind doch eigene Welten mit je spezifischer Legitimität und Dignität, in bildungstheoretischer Reflexion weder zu vereinheitlichen noch zu normieren.

    Fußnoten

    1

    Michael Rutz (Hrsg.): Aufbruch in der Bildungspolitik. Roman Herzogs Reden und 25 Antworten. München 1997; Roman Herzog: Megathema Bildung – vom Reden zum Handeln. Rede des Bundespräsidenten auf dem Deutschen Bildungskongress am 13. April 1999 in Bonn. In: Roman Herzog/Initiativkreis Bildung: Zukunft gewinnen, Bildung erneuern. München 1999, S. 11–23. Aber noch 2012 war er mit den Bildungsreformen seither überhaupt nicht zufrieden, wie ein Interview im Focus am 13.05.2012 belegt: „FOCUS: In Ihrer Amtszeit als Bundespräsident erklärten Sie „Bildung zum „Megathema und stellten dringenden Reformbedarf fest. In den vergangenen Jahren hat sich viel bewegt: Das Abitur wird nahezu flächendeckend nach zwölf Schuljahren abgelegt, es gibt Gemeinschaftsschulen, an denen die Kinder länger zusammen lernen, an den Universitäten ist ein Großteil der Studiengänge auf Bachelor und Master umgestellt. Sind Sie zufrieden mit dieser Entwicklung? Roman Herzog: Ich bin heute der Überzeugung, dass diese ganzen sogenannten Reformen in erster Linie Organisationsspielereien waren, die im überwiegenden Interesse der Lehrer veranstaltet wurden".

    2

    Schon früh und nachdrücklich Jutta Allmendiger: Bildungsarmut – zur Verschränkung von Bildungs- und Sozialpolitik. In: Soziale Welt 50 (1999), H. 1. S. 35–50.

    3

    Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt a. M. 1994.

    4

    Die einschlägige FIS-Datenbank wirft allein für „Bildung" im Januar 2015 insgesamt 65.265 Literaturangaben aus, ohne alle Komposita.

    5

    Darüber klagt Werner Fuld: Die Bildungslüge. Warum wir weniger wissen und mehr verstehen müssen. Berlin 2004 – das ist ein Plädoyer gegen das überlieferte Wissen der abendländischen Kultur bzw. des klassischen schulischen Kanons und für die Fähigkeiten, die mit der Digitalisierung der Gesellschaft vermeintlich notwendig werden.

    6

    Heinz Bude: Bildungspanik – Was unsere Gesellschaft spaltet. München 2011, sowie – dann nicht mehr überraschend – parallel zur Panik die Angst: Heinz Bude: Gesellschaft der Angst. Hamburg 2014.

    7

    Arno Makowsky: Erziehung, ein Kinderspiel. In: Der Tagesspiegel 31.05.2015, S. 7 – der Mitleid mit überforderten Eltern hat, aber weiß: „schuld daran ist der Bildungswahn – und der Anspruch perfekt sein zu wollen". Solche Qualifizierung findet sich schon 1922 bei Leonard Nelson: Vom Bildungswahn – Ein Wort an die proletarische Jugend. (Abdruck in Tenorth 1986, Allgemeine Bildung, S. 48 ff.) in einer Rede an die Jungsozialisten, der damit aber die seiner Meinung nach falsche Annahme tadelt, dass Bildung den politischen Kampf ersetzen könne.

    8

    Das „Lexikon zum öffentlichen Sprachgebrauch" des Instituts für

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