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Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie: Band 2: Designs und Verfahren
Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie: Band 2: Designs und Verfahren
Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie: Band 2: Designs und Verfahren
eBook1.790 Seiten18 Stunden

Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie: Band 2: Designs und Verfahren

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Über dieses E-Book

Qualitative Forschung und ihre Methoden sind ein wichtiger Zugang im Rahmen psychologischer Erkenntnissuche. Während qualitative Herangehensweisen in benachbarten Wissenschaftsfeldern zum Standardrepertoire gehören, ist diese Tradition in der Psychologie über Jahrzehnte vernachlässigt worden. Die Erstauflage aus dem Jahr 2010 hat eine Wende eingeleitet. Die Neuauflage mit 70 Beiträgen erscheint in zwei Bänden und steht für die Etablierung und Weiterentwicklung einer qualitativen Psychologie. 

In Band II werden relevante Designs, Erhebungs- und Auswertungsverfahren vorgestellt. Damit leistet das Handbuch eine übersichtliche und systematische Aufbereitung für die Forschungspraxis.


SpracheDeutsch
HerausgeberSpringer
Erscheinungsdatum2. Juli 2020
ISBN9783658268879
Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie: Band 2: Designs und Verfahren

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    Buchvorschau

    Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie - Günter Mey

    Teil IMethodologische Ziellinien und Designs qualitativ-psychologischer Studien

    © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020

    G. Mey, K. Mruck (Hrsg.)Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologiehttps://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_18

    Qualitative Forschungsdesigns

    Philipp Mayring¹  

    (1)

    Institut für Psychologie, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Klagenfurt, Österreich

    Philipp Mayring

    Email: philipp.mayring@aau.at

    1 Zur Notwendigkeit genauer Untersuchungsplanung in der qualitativ orientierten Forschung

    2 Ein globales Untersuchungsdesign für qualitativ (und quantitativ) orientierte Forschung

    3 Differenzierung konkreter qualitativ orientierter Forschungsdesigns

    4 Ausblick: Stand und Perspektiven

    Literatur

    Zusammenfassung

    Der Beitrag weist auf die Bedeutung genauer Untersuchungsplanung auch für qualitativ orientierte Forschungsansätze hin. Zunächst wird ein allgemeines Untersuchungsdesign für qualitative (und auch quantitative) Forschung aufgestellt, und die einzelnen Prozessschritte werden erläutert. Positionen, wonach quantitative und qualitative Forschung sich hier prinzipiell unterscheiden, werden zurückgewiesen. Dann wird auf vier Grunddesigns (exploratives, deskriptives, zusammenhangsanalytisches und kausalanalytisches Design) für qualitativ orientierte Forschung eingegangen.

    Schlüsselwörter

    ExplorationDeskriptionForschungsdesignMixed MethodsGütekriterien

    1 Zur Notwendigkeit genauer Untersuchungsplanung in der qualitativ orientierten Forschung

    Ein verbreitetes Missverständnis aktueller Methodendebatten besteht darin, dass qualitativ orientierte Ansätze keine festen methodischen Regeln kennen, frei gestaltbar sind, völlig offen gehalten werden sollten. Dies führt dann oft zur Kritik an qualitativer Forschung als beliebig, zu wenig methodisch kontrolliert, gar unwissenschaftlich. Zwar wird das „Prinzip der Offenheit" (Hoffmann-Riem 1980; Flick 1991) immer wieder im qualitativen Kontext hervorgehoben. Gemeint ist aber damit meist die Ablehnung einer Verpflichtung zu exakter Hypothesenformulierung vorab, die gerade für explorative Studien in vielen Fällen gar nicht möglich wäre bzw. den Blick einseitig auf bestimmte Aspekte beschränken würde. Solche explorativen Studien kennen aber doch auch methodische Regeln bzw. Ablaufpläne (zumindest „Faustregeln" wie im Falle der Grounded-Theory-Methodologie, Mey und Mruck 2011; Strauss 1991). Auch wird Offenheit als Prinzip im Zusammenhang mit Fragebögen und Interviews gebraucht, dies bedeutet jedoch nicht Beliebigkeit: Offene Fragebögen müssen textanalytisch ausgewertet werden, was methodischer Kontrolle bedarf; offene Interviews lassen den Interviewenden nach festen Regeln Spielräume für Nachfragen, Vertiefungen, Umformulierungen, um die Validität zu erhöhen. Offenheit in qualitativ orientierter Forschung bedeutet an der einen oder anderen Stelle Freiräume, um auf Besonderheiten des Gegenstandes eingehen zu können; solche spezifischen Anpassungen müssen aber ihrerseits kontrolliert werden (Zirkularität des Forschungsprozesses, s. Abschn. 2).

    Hier wird insbesondere aus zwei Gründen der Standpunkt vertreten, dass qualitativ orientierte Untersuchungsanlagen einer ebenso genauen Untersuchungsplanung bedürfen wie quantitative Forschung:

    Zum einen wird das Verfahren durchsichtiger und nachvollziehbarer, wenn man sich an einen Untersuchungsplan hält. Die Diskussion um Gütekriterien qualitativer Forschung (Steinke 1999)¹ hat gezeigt, dass intersubjektive Nachvollziehbarkeit zu den Kernkriterien qualitativer Forschung gehört. Die Ausarbeitung eines Forschungsdesigns im Voraus und das Umsetzen der Ablaufschritte des festgelegten Designs ermöglichen eine besonders gute Durchschaubarkeit des Forschungsprozesses.

    Wenn der Untersuchungsplan vorab festgelegt und nicht nur ad hoc konstruiert wird, sondern man sich an eingeführten Designs orientiert, so bedeutet dies auch ein Zurückgreifen auf Erfahrungen mit bewährter Methodik. Auch für qualitativ orientierte Projekte gibt es einen methodischen Diskurs, der Elemente und Verfahrensschritte als zentral, sogar unverzichtbar einschätzt. Werden hier unbegründet Auslassungen oder Verzerrungen vorgenommen, kann dies ebenso wie in quantitativer Forschung als methodischer Fehler kritisiert werden.

    Nur wenn qualitative Forschung es schafft, sich an bewährte Untersuchungspläne anzulehnen, diese weiterzuentwickeln und zu begründen, wird sie auch im Kontext einer quantitativ-naturwissenschaftlichen Wissenschaftsszene ernst genommen werden. Unter Design wird dabei die Untersuchungsanlage, die Logik der Studie, die Art und Weise, wie die wissenschaftliche Fragestellung angegangen wird, verstanden. Innerhalb des Forschungsdesigns sind dann konkrete Methoden der Erhebung, Aufbereitung und Auswertung eingebettet und gesondert begründet.

    Das soll jedoch nicht heißen, das Arbeiten mit bewährten Untersuchungsplänen sei nur ein strategisches Vorgehen, um Veröffentlichungsmöglichkeiten oder Drittmittelprojekte zu erhalten. Ich möchte dies im Folgenden auf zwei Ebenen begründen, auf der Ebene eines allgemeinen Untersuchungsplanes für qualitativ orientierte Forschung und auf der Ebene spezifischer qualitativ orientierter Forschungsdesigns.

    Auch Uwe Flick (2009) legt in seiner Kompilierung qualitativer und quantitativer Forschung für beide eine Vorab-Bestimmung des Forschungsdesigns zu Grunde. „Ziel der Festlegung eines Forschungsdesigns ist einerseits, einen Beitrag zur Lösung der Forschungsfrage zu leisten, andererseits Kontrolle über das Verfahren zu leisten" (Flick 2009, S. 77). Im Folgenden unterscheidet er aber dann zwischen qualitativen (nicht standardisierten) und quantitativen (standardisierten) Forschungsdesigns und nennt Fallstudien, Vergleichsstudien, retrospektive Studien, Momentaufnahmen und Längsschnittstudien als nicht standardisierte Designs. Dies greift meiner Meinung nach zu kurz, da ohne Berücksichtigung etwa von qualitativen Zusammenhangs- oder Kausalanalysen qualitativ orientierte Forschung sich selbst limitiert (s. dazu Abschn. 2).

    Der Standpunkt einer dezidierten Planung bereits zu Beginn einer Studie ist unter qualitativ orientierten Forscher/innen nicht unumstritten (Mayring 2007). Im Rahmen konstruktivistischer Ansätze sollen wissenschaftliche Vorgehensweisen, Techniken oder Verfahren oft konkret am Gegenstand, im Verlauf der Studie, ad hoc entwickelt werden: „If the researcher needs to invent, or piece together, new tools or techniques, he or she will do so. Choices regarding which interpretive practices to employ are not necessarily made in advance (Denzin und Lincoln 2005, S. 4). Die von Denzin und Lincoln vorgeschlagene Zusammenstellung der Verfahrensweisen erfolgt jedoch nicht ausschließlich, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, aus pragmatischen Gründen, also aus der Überlegung, ob die einzelnen Untersuchungsschritte angemessen, praktikabel und ertragreich sind, sondern auch aus ästhetischen Gründen, also ob die rekonstruierten Ergebnisse (Repräsentationen) ein für Lesende anregendes Ganzes bieten können: „These interpretive practices involve aesthetic issues, aesthetics of representation that goes beyond the pragmatic or the practical (Denzin und Lincoln 2005, S. 4). Norman Denzin und Yvonna Lincoln gebrauchen hier dezidiert das Bild von Forschung als Filmmontage oder Jazzinterpretation (siehe zu performativer Forschung auch Roberts 2008). Ein solches Forschungsverständnis würde mir jedoch zu weit gehen. Ich möchte darauf beharren, dass Forschung geplant, im Ablauf genau beschrieben, argumentativ belegt und systematisch durchgeführt wird. Solche Kriterien auch an qualitative Forschung anzulegen, bietet ihr die Chance, als gleichwertig von der gesamten Scientific Community in der Psychologie ernst genommen zu werden.

    In ihrer Rekonstruktion der Geschichte der qualitativen Forschung in den Sozialwissenschaften stellen Denzin und Lincoln (2005) eine Blütezeit in den 70er-, 80er- und 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts fest. Dies hat allerdings eine Gegenbewegung in den USA (in Europa wenig repliziert) auf den Plan gerufen, die qualitative Forschung massiv kritisierte. Andrew Ross (1996) spricht hier von science wars. Auf der einen Seite wurde quantitativ-naturwissenschaftliches Denken prinzipiell infrage gestellt. Ross nennt die Werturteilsdebatte, den Nachweis des Einflusses von Erkenntnisinteressen auf die Forschung, die Kritik feministischer Wissenschaft, den Einfluss der Wirtschaft auf die Forschung sowie die Kritik eines überzogenen Objektivitätsanspruchs. Auch Bammé (2004) spricht von einer Demontage der Naturwissenschaften. Betrugsfälle, Schlampereien, Naturwissenschaft als „Show" und Medienspektakel hätten ebenso wie Schwächen des angeblich harten Peer-Review-Verfahrens zur Beurteilung der Wissenschaftlichkeit zu einer Entwertung akademischer Wissenschaft (science) geführt und ein postakademisches Wissenschaftsverständnis (Ziman 2002) entstehen lassen. Auf der anderen Seite wurde auf Wissenschaftsstandards beharrt, von zu „weicher" Methodik der qualitativen Forschung gesprochen und der Weg zu staatlichen Drittmitteln in der Forschungsförderung versperrt.

    In der Auflösung dieser science wars wurden zwei Wege begangen: zum einen die Entwicklung von Ansätzen einer mixed methodology, die qualitative und quantitative Analyseschritte verbindet (s. Abschn. 4); zum anderen die Suche nach allgemeinen, qualitative und quantitative Forschung umfassenden Wissenschaftsstandards, nach einem gemeinsamen Forschungsdesign. An diese Bemühungen soll hier angeknüpft werden.

    2 Ein globales Untersuchungsdesign für qualitativ (und quantitativ) orientierte Forschung

    Bereits 1994 haben die Politologen King, Keohane und Verba herausgearbeitet, dass auch qualitative Forschung einen einheitlichen methodologischen Ansatz benötige. Qualitative und quantitative Forschung seien zwei unterschiedliche Wissenschaftsstile, sie folgten aber einer gleichen Logik der Schlussfolgerung; die Unterschiede seien „methodological and substantively unimportant" (King et al. 1994, S. 4). Ziel seien beschreibende oder erklärende Schlussfolgerungen auf empirischer Basis, um Theorie weiterzuentwickeln. Dieser Standpunkt wurde heftig diskutiert (Brady und Collier 2004). In der amerikanischen erziehungswissenschaftlichen Forschung, in der die qualitativ orientierten Ansätze besonders stark waren, aber nicht völlige Anerkennung erreichten, bemühte sich das National Research Council (2002) um die Entwicklung eines Minimaldesigns, das auch für qualitative Forschung gelten kann. Ein Expert/innenkomitee legte einen Ablaufplan systematischer Schritte im Forschungsprozess fest, der auf ein solches allgemeines Design zielt (National Research Council 2002):

    1.

    Stelle bedeutsame Forschungsfragen, die empirisch beantwortbar sind!

    2.

    Knüpfe an die einschlägige Theorie, den Forschungsstand an!

    3.

    Setze Methoden ein, die eine direkte Untersuchung der Forschungsfrage erlauben!

    4.

    Verbinde die Forschungsschritte in einer expliziten und kohärenten logischen Folge!

    5.

    Repliziere und generalisiere über verschiedene Studien hinweg!

    6.

    Veröffentliche die Studie, um professionelle Überprüfung und Kritik zu ermöglichen!

    Das Komitee geht dabei davon aus, dass es verschiedene Forschungstypen gibt (nicht nur experimentelle Designs), die dieses Kriterien erfüllen können.

    Auch Flick (2002) stellt ein ähnliches allgemeines Forschungsdesign auf, auch wenn er die quantitativ orientierte Forschungslogik zunächst als linear kritisiert (Abb. 1).

    ../images/278110_2_De_18_Chapter/278110_2_De_18_Fig1_HTML.png

    Abb. 1

    Quantitatives und qualitatives Forschungsdesign (Flick 2002, S. 73)

    Hier einen Gegensatz zu konstruieren, greift aber meiner Meinung nach zu kurz. Natürlich will auch quantitative Forschung Theoriebildung aus dem Material weiterbringen im Sinne der Erweiterung des Forschungsstandes. Insofern ist auch quantitativ-naturwissenschaftliche Forschung zirkulär. Der quantitativ-naturwissenschaftlich orientierte Rainer Leonhart (2008) nennt dies den wissenschaftlichen Zirkel (auch wenn ich mit seinen weiteren wissenschaftstheoretischen Grundannahmen nicht immer mitgehen kann).

    Aufseiten der qualitativ orientierten Forscher/innen hat Maxwell (1996) das Forschungsdesign in Begriffen eines Netzwerkes verschiedener Elemente gefasst, die um die zentrale Forschungsfrage angesiedelt sind. Die Interaktivität der Modellelemente entspricht der oben genannten Zirkularität. Er nennt als Designelemente:

    Ziele des Forschungsprogramms (purposes),

    Theoriehintergrund (conceptual context),

    Forschungsfragestellung,

    Methoden und

    Gültigkeit der Ergebnisse.

    Ich möchte versuchen, dies in einem allgemeinen Grunddesign zu veranschaulichen. Dabei knüpfe ich an den zentralen Stationen des Forschungsprozesses an, wie sie in quantitativ orientierter Methodenliteratur postuliert werden, erweitere sie so, dass auch qualitativ orientiere Forschung einbeziehbar ist (in Abb. 2 kursiv) und füge die für qualitative Forschung wichtigen Rückkopplungsschleifen ein (s. auch Mayring 2001).

    ../images/278110_2_De_18_Chapter/278110_2_De_18_Fig2_HTML.png

    Abb. 2

    Allgemeines Grunddesign qualitativer (und quantitativer) Forschung (Mayring 2001, erweitert)

    An zwei Stellen gibt es also Rückkoppelungsschleifen. In der ersten werden die jeweiligen Ergebnisse auf die Fragestellung der Studie, des Projekts, bezogen. Es wird überprüft, inwieweit die Fragen beantwortet wurden. Wenn, wie ich es vorgeschlagen habe (Mayring 2001), die Fragestellung nicht immer in Hypothesenform gefasst sein muss, sondern auch in vageren Vorannahmen zur Thematik der Studie bestehen kann, so wäre diese Rückkoppelungsschleife eine Weiterentwicklung des Vorverständnisses (auch im Sinne des hermeneutischen Zirkels in der Interpretationslehre, s. Fahrenberg 2002), eine Weiterentwicklung der Vorannahmen. Hier sind auch mehrere zirkuläre Durchläufe denkbar. In einer zweiten Rückkoppelungsschleife werden die verallgemeinerten Ergebnisse an den Forschungs- und Theoriestand angebunden, führen zu einer Erweiterung, Modifizierung und in aller Regel zur Formulierung weiterer Forschungsfragen, die in der gleichen Studie oder in nachfolgenden Projekten bearbeitet werden können.

    Im vierten Schritt des Grunddesigns (Abb. 2) steckt ein weiterer Zirkelprozess. Insofern im Forschungsprozess nicht auf standardisierte Instrumente zurückgegriffen wird, sondern eigene Methodenansätze (offener Fragebogen, Interview- oder Beobachtungsleitfaden, Auswertungskategorien) entwickelt werden, müssen sie in Pilotstudien so lange getestet werden, bis sie sich hinreichend bewähren. Gerade „in dieser Zirkularität [liegt] eine Stärke des Ansatzes, da sie – zumindest, wenn sie konsequent angewendet wird – zu einer permanenten Reflexion des gesamten Forschungsvorgehens und seiner Teilschritte im Licht der anderen Schritte zwingt" (Flick 2002, S. 72).

    3 Differenzierung konkreter qualitativ orientierter Forschungsdesigns

    Neben der Aufstellung eines allgemeinen Designs lassen sich weiter spezielle Untersuchungsdesigns für qualitative (und ebenso für quantitative) Forschung differenzieren (Mayring 2015). Auch hier wird wieder der Gedanke verfolgt, dass mit der Festlegung eines speziellen Designs ein verbindlicher Ablaufplan vorab bestimmt wird (auch wenn Modifizierungen oder nicht-lineare Elemente enthalten sein mögen), um die Systematik, den Rekurs auf methodische Vorerfahrungen und die Überprüfbarkeit zu verbessern.

    In der Methodenliteratur werden verschiedene Untersuchungspläne diskutiert. Experiment, Korrelationsstudie, Feldstudie, Evaluationsstudie, Längsschnittstudie, Sekundäranalyse oder (Einzel-)Fallanalyse sind solche Designbezeichnungen: Im Experiment wird versucht, einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen zwei Variablen zu überprüfen, indem eine Variable experimentell variiert wird und die Auswirkungen auf die zweite Variable registriert werden. Im quantitativen Paradigma, besonders in der Psychologie, wird das Experiment als zentralstes Design bezeichnet, aber auch qualitative experimentelle Designs (s. Abschn. 3.4) wurden beschrieben. In der Korrelationsstudie werden zwei Variablen in messbare Größen operationalisiert, an einer Stichprobe Daten dazu erhoben, und der Variablenzusammenhang wird mit statistischen Verfahren errechnet. Auch dieses Design ist eher dem quantitativen Ansatz zuzuordnen, wenn auch Zusammenhangsanalysen nicht nur durch Korrelationen, sondern auch qualitative Vergleichsstudien eruierbar sind (s. Abschn. 3.2). Die Feldstudie will zur Beantwortung ihrer Fragestellung nicht in künstlichen Laborsituationen forschen, sondern in die natürliche Umwelt, die Alltagssituationen von Menschen gehen. Sie ist eher dem qualitativen Paradigma zuzuordnen, wenn auch beispielsweise quantitative Feldexperimente oder Feldbeobachtungsstudien als Design konzipiert wurden. Evaluationsstudien wollen Maßnahmen oder Interventionen (innerhalb der Psychologie beispielsweise Therapieansätze) mit empirischen Forschungsmethoden einschätzen und bewerten (Döring und Bortz 2016), haben aber von Beginn an qualitative und quantitative Ansätze entwickelt. In Längsschnittstudien werden Verläufe mit mehreren Erhebungszeitpunkten der gleichen Personen erhoben, oft quantitativ als Veränderungen von quantitativen Variablenausprägungen, aber auch qualitativ als offene Beschreibung von Veränderungsprozessen. Sekundäranalysen greifen auf vorliegende Daten zurück und werten sie unter veränderter Fragestellung aus; hier zeichnet sich nachdem primär im quantitativen Paradigma darauf rekurriert wurde ab, die Re- und Sekundäranalyse für qualitative Daten fruchtbar zu machen (Witzel et al. 2008). Auch Mixed-Methods-Ansätze sind hier zu nennen, in denen qualitative und quantitative Vorgehensweisen kombiniert und integriert werden können.

    Es zeigt sich also, dass das Design die grundsätzliche Herangehensweise definiert, noch ohne die ganz konkret angewendeten Methoden vorzuschreiben. Zu den einzelnen Designs gibt es zwar mehr oder weniger gut passende Methoden, es bedeutet aber einen eigenen Schritt in der Untersuchungsplanung, die das Design ausfüllenden Methoden zu bestimmen, und hier sind oft unterschiedliche Lösungen möglich. So sind in einem Experiment zur Datenerhebung qualitative Beobachtungsmethoden genauso wie Tests einsetzbar, Material aus einer Feldstudie ist statistisch wie auch interpretativ auswertbar. Im Rahmen eines Forschungsdesigns sind die Phasen der Datenerhebung und Datenauswertung in die Untersuchungslogik und den Studienablauf eingebaut, aber die Art der Methoden ist noch nicht festgelegt. Das Design ist damit den Methoden vorgeordnet. Design ist der grundsätzliche Untersuchungsplan, konkrete Methoden füllen diesen aus. Und beide hängen von der Fragestellung ab, versuchen die Fragestellung umzusetzen in konkretes Forschungsvorgehen.

    Versucht man nun, solche spezifischen Forschungsdesigns näher zu systematisieren, so kommt man zu vier grundsätzlichen Vorgehensweisen in der Verfolgung der wissenschaftlichen Fragestellung: Exploration, Deskription, Zusammenhangsanalyse und Kausalanalyse (Mayring 2007; s. Abb. 3).

    ../images/278110_2_De_18_Chapter/278110_2_De_18_Fig3_HTML.png

    Abb. 3

    Vier spezifische Forschungsdesigns (Mayring 2007)

    Grundgedanke explorativer Studien ist, dass man dem Forschungsgegenstand möglichst nahe kommen will, um zu neuen, differenzierten Fragestellungen und Hypothesen zu gelangen. Deskriptive Studien wollen den Gegenstandsbereich möglichst genau und umfassend beschreiben. Zusammenhangsanalysen greifen einzelne Variablen aus dem Gegenstandsbereich heraus und untersuchen, ob diese Variablen in Verbindung stehen. Kausalanalysen verschärfen diese Fragerichtung, indem sie untersuchen, ob ein Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen Variablen besteht.

    In quantitativ-naturwissenschaftlich orientierter Forschung werden solche Untersuchungspläne gerne in eine Hierarchie gebracht und explorative bzw. deskriptive Studien als Voruntersuchungen bezeichnet. Schon Popper (1935) hat auf einer Trennung des Entdeckungszusammenhangs (vorwissenschaftlich) und des Begründungszusammenhangs (eigentliche Forschung) beharrt. Auch wird auf die Kausalanalyse, speziell das experimentelle Design, immer wieder als „Krone" der Forschung hingewiesen (z. B. Döring und Bortz 2016).

    Demgegenüber wird hier die Meinung vertreten, dass die vier Grunddesigns (Exploration, Deskription, Zusammenhangs- und Kausalanalyse) gleichberechtigte Ansätze der Untersuchungsplanung darstellen (die alle wiederum mit qualitativ orientierten oder auch quantitativ orientierten Ansätzen angehbar sind, s. Mayring 2007). Sie alle verfolgen eine Fragestellung, die je nach Stand der Forschung unterschiedlich präzise oder allgemein formulierbar ist. Ein Design (z. B. explorative Studie) kann die Verfolgung eines zweiten Designs (z. B. Zusammenhangsanalyse) nach sich ziehen oder gar notwendig machen. Da es nicht möglich ist, mit einer Studie einen Fragenkomplex abschließend zu beantworten, sind solche Designkombinationen durchaus die Regel, was aber nicht bedeutet, dass die erste Studie (z. B. die explorative) weniger wissenschaftlich oder prinzipiell defizitär wäre. Ich möchte nun auf die vier Grunddesigns spezieller Untersuchungsplanung eingehen und dabei besonders qualitativ orientierte Ansätze herausarbeiten.

    3.1 Exploratives Design

    Explorative Studien sind zunächst ein typischer Bereich qualitativ orientierter Forschung. Explorative Feldforschung, Grounded-Theory-Methodologie oder explorative Fallanalysen stehen hier im Zentrum. Nicht vergessen werden darf dabei, dass auch quantitative Forschung explorative Ansätze hervorgebracht hat: Die explorative Datenanalyse ist ein Ansatz, der durch nicht hypothesengeleitete, erste offene Analysen den Datensatz näher erfassen will, vor allem um mit grafischer Veranschaulichung der Datenverteilung zu Hypothesen zu gelangen (z. B. Schäfer 2009). Faktorenanalysen können explorativ eingesetzt werden und führen zu Dimensionen (wenn die Faktoren interpretiert werden), die vorher nicht bekannt waren. Und selbstverständlich sind hier auch Pilotstudien für quantitativ orientierte Studien zu nennen (z. B. offene Interviews, um zur Konstruktion eines Fragebogens zu gelangen). In diese Richtung hat auch Barney Glaser (2008) einen Ansatz quantitativer Grounded Theory entwickelt.

    Das zentrale Element explorativer Studien ist, dass der Forschungsstand zum Gegenstand noch so rudimentär ist, dass keine präzisen Fragestellungen, Beschreibungsdimensionen oder Hypothesen formulierbar sind. Dies kann daran liegen, dass der Bereich Neuland darstellt (beispielsweise die Studien zu Obdachlosen, Prostituierten, Wilderern oder Hochadel von Roland Girtler 2001), es kann sich aber auch um ein Gegenstandsgebiet handeln, das dem sozialen Wandel stark unterliegt und somit immer neuer Ansätze bedarf (Beispiel Jugendforschung). Deshalb stellt sich hier die Fragestellung als relativ offen dar, begründet durch Lücken des Forschungsstandes (s. den Startpunkt in Abb. 4).

    ../images/278110_2_De_18_Chapter/278110_2_De_18_Fig4_HTML.png

    Abb. 4

    Ablaufmodell exploratives Design

    Explorative Studien sind in der Regel den Feldstudien zuzuordnen (Lüders 2005; Patry 1982). Dabei ist es wichtig, vorab festzulegen, welcher Praxisbereich sich für die Feldphase eignet bzw. als ergiebig erscheint. Auch muss geklärt werden, wie der Feldzugang für die Wissenschaftler/innen gesichert werden kann. Man wird eine Abmachung mit den Personen im Feld treffen, zu welchen Alltagssituationen Zugang gewährt wird und was die Rolle der Wissenschaftler/innen im Feld ist. Die konkreten Methoden werden in aller Regel teilnehmende Beobachtung und offene Interviewformen sein. Dafür sollten Beobachtungs- bzw. Interviewleitfäden entwickelt und ggf. vorab pilotgetestet werden. Die Feldphase selbst sollte ausführlich und intensiv genug sein, um sich einer Innenperspektive soweit möglich anzunähern. Die Materialien sollten systematisch gesammelt, Feldnotizen und Protokolle angelegt werden (Reichertz 2016). Girtler (2001) schlägt hier das Führen eines Forschungstagebuches vor. Mit diesem Material werden dann in der Regel auf induktivem bzw. abduktivem Wege Auswertungen vorgenommen, Hypothesen und neue Fragestellungen abgeleitet. Abb. 4 fasst das Vorgehen zusammen.

    Hier wird auch wieder der zirkuläre Charakter offensichtlich, da die Ergebnisse der explorativen Studie an den Forschungsstand angebunden werden und zu neuen Durchläufen führen können.

    3.2 Deskriptives Design

    Deskriptive Studien gehören ebenfalls zum typischen Bereich qualitativ orientierter Projekte (deskriptive Feldforschung, Ethnografie, deskriptive Fallanalysen, zum Teil phänomenologische Studien). Aber auch hier finden sich wieder quantitativ orientierte Designformen (Surveyforschung, Fragebogenerhebungen oder standardisierte Interviews an repräsentativen Stichproben).

    Qualitativ orientierte deskriptive Studien orientieren sich dagegen an der offenen Feldforschung, wie sie oben bereits für explorative Designs kurz skizziert wurde. Der entscheidende Unterschied ist, dass für deskriptive Studien Beschreibungsdimensionen bereits vorliegen müssen. Denn eine völlig offene Beschreibung ist nicht möglich. Diese Beschreibungsdimensionen werden in der Regel die Form von (in qualitativ orientierten Studien kategorialen) Variablen annehmen. Hier sind Vorgänge der Operationalisierung, also der Überlegung, wie die Beschreibungsdimensionen methodisch erfassbar sind, abzuwägen. Typisch für qualitativ orientierte deskriptive Studien ist, dass sie multimethodisch vorgehen, den Beschreibungsgegenstand also aus verschiedenen Richtungen anzugehen versuchen. Solche Studien können auch in der Form deskriptiver Einzelfalldarstellungen konzipiert werden. Daraus ergibt sich das Ablaufmodell in Abb. 5.

    ../images/278110_2_De_18_Chapter/278110_2_De_18_Fig5_HTML.png

    Abb. 5

    Ablaufmodell deskriptives Design

    3.3 Zusammenhangsanalysedesign

    Zusammenhangsanalysen in Form von Korrelationsstudien gehören wiederum zu den häufigsten Untersuchungsformen in quantitativ orientierten Bereichen. Solche Studien können jedoch auch qualitativ orientiert angelegt sein. Innerhalb einer Fallstudie werden systematische Einzelfallvergleiche durchgeführt und dabei die Fälle nach einer Gruppierungsvariable ausgewählt (z. B. gute Schüler/innen – schwache Schüler/innen; Stadt – Land). Hier und im Folgenden wird der Variablenbegriff in einem breiten Sinn verwendet, nicht nur auf quantitative Ausprägungen beschränkt (z. B. kategoriale Variablen). Oder es wird innerhalb einer qualitativ orientierten Studie nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden gesucht, und die Unterschiede werden auf eine Variable zurückgeführt, die dann einen Variablenzusammenhang formulieren lässt. Kulturvergleichende Studien wären ein weiteres Beispiel qualitativ orientierter Zusammenhangsanalysen. Längsschnittstudien analysieren den Zusammenhang zur Altersvariablen. Auch dies lässt sich qualitativ orientiert, einzelfallbezogen, darstellen. Für das konkrete Vorgehen einer Zusammenhangsanalyse ist es notwendig, den Zusammenhang in Form von (kategorialen oder quantitativen) Variablen zu benennen und wiederum wie bei den deskriptiven Studien Überlegungen zur Variablenoperationalisierung anzustellen.

    3.4 Kausalanalytisches Design

    Kausalanalysen werden traditionell über das experimentelle Design dem quantitativen Paradigma zugeordnet. Aber vor allem Kleining (1986) hat darauf hingewiesen, dass es auch qualitative Experimente als Forschungsdesign gibt. Hier wird systematisch in ein bestehendes System eingegriffen, und die Veränderungen werden beschrieben. Diese qualitativ-experimentellen Eingriffe können Separationen/Segmentierungen von Gegenstandsaspekten, Kombinationen, Reduktionen, Adjektionen, Substitutionen oder Transformationen umfassen. Auch Einzelfallanalysen lassen sich kausalanalytisch anlegen. Dazu werden auf der Fallbasis Daten zu verschiedenen Zeitpunkten unter „Versuchsbedingungen und „Kontrollbedingungen erhoben (Julius et al. 2000). Biografieanalysen können ebenso Material liefern, das unter Einzelfallbedingungen kausal interpretierbar ist. Aktionsforschung schließlich hat auch das Ziel, neben der Problemlösung generalisierbares Interventionswissen in Bezug auf ähnliche Probleme zu schaffen, und diese gefundenen Interventionsstrategien sind dann kausaler Natur. Kausalanalysen, auch qualitativ orientierte, brauchen die Benennung von Variablen, die Einteilung dieser Variablen in Ursachen- und Folgevariablen (unabhängige Variablen, abhängige Variablen), die Operationalisierung dieser Variablen sowie die Einfügung in ein kausalanalytisches Design.

    Neben diesen vier Grunddesigns sind natürlich noch eine ganze Reihe weiterer Designs aufzuführen (z. B. Dokumentenanalysen, Fallanalysen, Evaluationsstudien), die allerdings jeweils explorativen, deskriptiven, zusammenhangs- oder kausalanalytischen Charakter haben können.

    4 Ausblick: Stand und Perspektiven

    Ich habe in diesem Beitrag versucht, die Bedeutung genauer Untersuchungsplanung für qualitativ orientierte Forschung herauszuarbeiten. Dadurch kann die Vorgehensweise intersubjektiv nachprüfbar werden. Man kann an methodische Vorerfahrungen anknüpfen, da in den eingeführten Forschungsdesigns bewährte Verfahren beschrieben werden, und so den wissenschaftlichen Status der Studie verbessern.

    Ich wollte dies auf zwei Ebenen zeigen: Einmal wurde ein allgemeines Ablaufmodell als Grunddesign formuliert. Hier war es wichtig, den zirkulären Charakter herauszuarbeiten. Zum anderen wurden spezifische qualitativ orientierte Designs unterschieden. Dabei wurden nicht nur typische qualitative Untersuchungspläne wie explorative und deskriptive Studien angeführt, sondern auch qualitative Zusammenhangs- und Kausalanalysen. Es wurde versucht, für diese Studientypen Ablaufpläne vorzustellen, die dadurch wieder den Designcharakter verdeutlichen.

    Natürlich ist es auch möglich, solche Designs im Sinne einer Designtriangulation (Flick 2004) oder mixed methodology (Mayring et al. 2007; Tashakkori und Teddlie 2003) zu kombinieren oder zu integrieren. Dabei ist durchaus ein linearer Aufbau, von explorativen über deskriptiven hin zu zusammenhangsanalytischen und kausalanalytischen Studien denkbar; aber auch Querverbindungen sind möglich.

    Die große Gefahr, die ich sehe, ist, dass sich qualitative Ansätze auf ganz offenes, exploratives Vorgehen beschränken, auch wenn auf diesem Gebiet immer wieder besondere Leistungen zu verzeichnen sind. Mit einer solchen Beschränkung wäre qualitativ arbeitende Wissenschaft aber immer angewiesen auf nachfolgende Überprüfung. Nur wenn durch genaue Untersuchungsplanung gezeigt werden kann, dass auch Zusammenhangsanalysen und Kausalanalysen qualitativ methodisch angegangen werden können, können solche Ansätze auch in Bereichen Berücksichtigung finden, in denen bisher quantitatives Forschen die Regel war, und das gilt für einen Großteil der Psychologie.

    Literatur

    Bammé, A. (2004). Science wars. Von der akademischen zur postakademischen Wissenschaft. Frankfurt a. M.: Campus.

    Brady, H. E., & Collier, D. (Hrsg.). (2004). Rethinking social inquiry. Diverse tools, shared standards. Lanham: Rowman & Littlefield.

    Denzin, N. K., & Lincoln, Y. S. (Hrsg.). (2005). Introduction. In The Sage handbook of qualitative research (3. Aufl., S. 1–32). Thousand Oaks: Sage.

    Döring, N., & Bortz, J. (2016). Forschungsmethoden und Evaluation in den Sozial- und Humanwissenschaften (5. Aufl.). Berlin: Springer.Crossref

    Fahrenberg, J. (2002). Psychologische Interpretation. Bern: Huber.

    Flick, U. (1991). Stationen des qualitativen Forschungsprozesses. In U. Flick, E. von Kardorff, H. Keupp, L. von Rosenstiel & S. Wolff (Hrsg.), Handbuch qualitative Sozialforschung (S. 148–176). München: Psychologie Verlags Union.

    Flick, U. (2002). Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung (6. Aufl.). Reinbek: Rowohlt.

    Flick, U. (2004). Triangulation. Eine Einführung. Wiesbaden: VS.Crossref

    Flick, U. (2009). Sozialforschung. Methoden und Anwendungen. Ein Überblick für die BA-Studiengänge. Reinbek: Rowohlt.

    Girtler, R. (2001). Methoden der Feldforschung (4. Aufl.). Stuttgart: UTB.

    Glaser, B. (2008). Doing quantitative grounded theory. Mill Valley: Sociology Press.

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    Fußnoten

    1

    Siehe hierzu auch die Debatte zu „Qualitätsstandards qualitativer Sozialforschung" in der Zeitschrift Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research, http://​www.​qualitative-research.​net/​index.​php/​fqs/​pages/​view/​quality.

    © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020

    G. Mey, K. Mruck (Hrsg.)Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologiehttps://doi.org/10.1007/978-3-658-26887-9_19

    Fallauswahl

    Margrit Schreier¹  

    (1)

    Psychology and Methods, Jacobs University Bremen, Bremen, Deutschland

    Margrit Schreier

    Email: m.schreier@jacobs-university.de

    1 Einleitung

    2 Grundannahmen der Fallauswahl in der qualitativen Forschung

    3 Verfahren der Fallauswahl in der qualitativen Forschung

    4 Ausblick: Stand und Perspektiven

    Literatur

    Zusammenfassung

    Gerade angesichts der meist kleinen Fallzahlen in der qualitativ-psychologischen Forschung ist eine reflektierte und bewusste Stichprobenziehung bzw. Fallauswahl hier von besonderer Bedeutung. Im Gegensatz zur quantitativen Forschung wird dabei meist keine empirisch-statistische Verallgemeinerung auf ein Kollektiv angestrebt, sondern eine differenzierte Beschreibung weniger Fälle. In dem vorliegenden Beitrag werden zunächst die unterschiedlichen Grundannahmen genauer dargestellt, die der Stichprobenziehung in der quantitativen und in der qualitativen Forschungstradition zugrunde liegen, um so zu einem besseren Verständnis der Forschungslogik bei der bewussten Stichprobenziehung zu gelangen. Uneinigkeit besteht in der qualitativen Forschung allerdings hinsichtlich der Frage, inwiefern die Stichprobengröße von Bedeutung ist, wie groß die Stichprobe im Rahmen verschiedener qualitativer Forschungsansätze jeweils sein sollte und inwieweit eine Vorab-Festlegung einer konkreten Stichprobengröße sinnvoll ist. Die unterschiedlichen Positionen zu diesen Fragen werden kurz zusammengefasst. Daran schließt sich ein Überblick zu Strategien der bewussten Fallauswahl an. Einzelne, in der Forschungspraxis besonders relevante Strategien wie die theoretische Stichprobenziehung, der qualitative Stichprobenplan und die Auswahl bestimmter Arten von Fällen werden weiterhin an Hand von Untersuchungsbeispielen verdeutlicht. Der Beitrag schließt mit Überlegungen zu Möglichkeiten der Verallgemeinerung in der qualitativen Forschung unter Nutzung von Alternativkonzepten zur empirisch-statistischen Verallgemeinerung, wie beispielsweise die theoretische Verallgemeinerung oder die Übertragbarkeit von Ergebnissen.

    Schlüsselwörter

    FallauswahlBewusste StichprobenziehungAbsichtsvolle StichprobenziehungTheoretische StichprobenziehungSättigung

    1 Einleitung

    Qualitativ-psychologische Forscher/innen finden sich, ebenso wie quantitative Forscher/innen, meist in der Situation, dass es nicht möglich ist, alle relevanten Fälle in die Untersuchung einzubeziehen. Clara und William Stern (1928 [1907]) hätten für ihre Studien zur kindlichen Sprachentwicklung potenziell viele Kinder einbeziehen können – und beschränkten sich doch auf ihre eigenen drei. Murray (1938) hätte für die Entwicklung seiner Persönlichkeitspsychologie ebenfalls Hunderte von Personen untersuchen können, konzentrierte sich aber auf 50 Collegestudent/innen (was für eine qualitative Studie eine recht große Stichprobe darstellt, nicht zuletzt angesichts der Vielzahl der Informationen, die für jede Person erhoben wurden). Auch in gegenwärtigen qualitativ-psychologischen Untersuchungen sind kleine Fallzahlen eher die Regel als die Ausnahme – das ergibt sich schon aus der Zielsetzung, detaillierte und in die Tiefe gehende Analysen der ausgewählten Fälle vorzunehmen: Je mehr Details, desto geringer notwendiger Weise die Anzahl der Fälle (Crouch und McKenzie 2006; Sandelowski 1995).

    Angesichts dessen, dass die Fallzahl in der qualitativen Psychologie also begrenzt ist, könnte vermutet werden, dass diese wenigen Fälle umso sorgfältiger ausgewählt werden, dass dem Thema der Fallauswahl in der methodologischen Literatur somit ein hoher Stellenwert zukommt. Lange Zeit wurde das Thema in den qualitativen Sozialwissenschaften jedoch eher vernachlässigt (Higginbottom 2004; Onwuegbuzie und Leech 2007; Robinson 2014), und es finden sich lediglich verstreute Beiträge (u. a. Marshall 1996; Mason 2017, Kap. 3; Morse 1995; Sandelowski 1995; Tuckett 2004). Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. Das mag daran liegen, dass „Fallauswahl allzu sehr nach „Stichprobenziehung klingt und Assoziationen an quantitative Sozialforschung mit großer Fallzahl und der Zielsetzung statistischer Verallgemeinerung weckt. So liegt möglicherweise der (Fehl-)Schluss nahe, dass Überlegungen zur Entscheidung über einzubeziehende Fälle in der qualitativen Psychologie nicht angebracht sind. In den letzten zehn bis fünfzehn Jahren findet dagegen eine zwar weiterhin verhaltene, aber dennoch zunehmende Auseinandersetzung mit der Thematik statt (etwa zur Frage der optimalen Stichprobengröße: z. B. Baker und Edwards 2012; Trotter 2012). Dies zeigt sich beispielsweise am Erscheinen einer ersten Monografie speziell zu diesem Thema (Emmel 2013), am vermehrten Erscheinen von (Handbuch-)Artikeln (z. B. Akremi 2019; Boehnke et al. 2010; Gentles und Vilches 2017; Rapley 2013; Schreier 2011, 2017) sowie an einer Proliferation von Strategien qualitativer Fallauswahl. So führte Patton in der dritten Ausgabe seines Lehrbuchs zur qualitativen Forschung und Evaluation 14 Strategien bewusster Fallauswahl auf (Patton 2002). In der neuesten Ausgabe von 2015 beschreibt er dagegen 40 Strategien, in Abhängigkeit von der Zielsetzung in acht Gruppen untergliedert (Patton 2015, Kap. 5). Auch im Kontext von Mixed Methods (Creswell 2015) werden qualitative Strategien der bewussten Fallauswahl zunehmend aufgeführt und hinsichtlich ihrer Anwendungsbedingungen diskutiert (z. B. Teddlie und Yu 2007).

    Eine Alternative zum potenziell problematischen Begriff der Stichprobenziehung stellt das Konzept der Fallauswahl dar, das seinen Ursprung in der Fallstudie hat (im Überblick: Stake 1995; Yin 2018). Diese hat in der Psychologie eine lange Tradition, insbesondere in der Psychotherapieforschung: Schon Freud veröffentlichte insgesamt sechs Fallstudien, gefolgt von Adler, Dollard und Miller und vielen anderen (im Überblick: David 2007; Frommer und Langenbach 1998). Auch in der Allgemeinen (vgl. Ebbinghaus’ Selbstversuche zu Lernen und Vergessen: 1992 [1885]), der Entwicklungs- (s. oben das Beispiel der Sterns, ebenso z. B. Piaget 1954, 2003; im Überblick: Mey und Wenglorz 2005), der Persönlichkeits- (s. oben zu Murray), der Forensischen (z. B. Healey und Bronners Lebensberichte von 20 jugendlichen Delinquenten: 1926) und der Politischen Psychologie (vgl. z. B. die sog. Psychobiografik zur Analyse des Zusammenhangs zwischen Lebenslauf von Politiker/innen und Führungsstil: Winter 2003) findet die Fallstudie Anwendung, und in jüngerer Zeit ist Oliver Sacks (z. B. 2009) mit seinen neuropsychologischen Fallstudien über fachwissenschaftliche Kreise hinaus bekannt bzw. populär geworden. Mit diesem Vorgehen steht er zugleich in der Tradition von Lurija und dessen Projekt einer „Romantischen Wissenschaft" (vgl. den Fall des Manns, dessen Welt in Scherben ging: 1991 [1971]; zum Projekt der Romantischen Wissenschaft im Überblick Kölbl 2005).

    In diesem Beitrag werden die Begriffe der (bewussten) Fallauswahl und (bewussten) Stichprobenziehung synonym im Sinne einer Auswahl von Untersuchungseinheiten verwendet. Mit der Rede von der „Stichprobe verbinden sich dabei keine Assoziationen mit der quantitativen Forschungstradition; mit der Verwendung des Begriffs ist also nicht gemeint, dass beispielsweise eine repräsentative Stichprobe angestrebt wird. Zugleich ist der Begriff der Fallauswahl hier aus dem Kontext der Fallstudie herausgelöst. Wenn im Folgenden von „Fallauswahl die Rede ist, ist also beispielsweise nicht impliziert, dass die Untersuchungseinheiten eine bestimmte interne Struktur aufweisen sollten, dass mehrere Verfahren der Datenerhebung zur Anwendung kommen o. ä. (Yin 2018, Kap. 1). In qualitativ-psychologischen Untersuchungen stellen meist Personen die Fälle oder Untersuchungseinheiten dar. Es können aber auch Familien, Gruppen, Organisationen usw. die Untersuchungseinheiten sein (Mey und Wenglorz 2005, Abschn. 2.1).

    Im Folgenden werden zunächst die Grundannahmen der Fallauswahl in der qualitativen Forschung im Vergleich zu den Annahmen und Zielsetzungen der Stichprobenziehung in der quantitativen Forschung beschrieben. In diesem Zusammenhang wird auch auf die Frage nach der optimalen Fallzahl bzw. Stichprobengröße und damit zusammenhängend auf das Kriterium der Sättigung eingegangen. Daran schließen sich Darstellungen einiger ausgewählter Strategien qualitativer Fallauswahl an. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Auswahl der Fälle, nicht auf anderen Aspekten des Vorgehens im Untersuchungsverlauf (wie etwa der Auswahl des Materials für die Auswertung oder die Ergebnisdarstellung), die vereinzelt ebenfalls dem Thema der Stichprobenziehung in der qualitativen Forschung zugeordnet werden (Akremi 2019; Merkens 2005).

    2 Grundannahmen der Fallauswahl in der qualitativen Forschung

    2.1 Zufallsstichproben und ihre Funktion in der empirischen Sozialforschung

    In der quantitativen Sozialforschung geht es häufig darum, die Verteilung eines Merkmals in der Grundgesamtheit zu ermitteln. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn untersucht wird, bei wie vielen Jugendlichen sich rechtsextreme Denkweisen finden oder welche Stimmenanteile auf die verschiedenen Parteien entfallen würden, wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre. Dabei werden die jeweils relevanten Merkmale für eine Stichprobe von Personen erhoben, und von der Verteilung des Merkmals in der Stichprobe wird auf seine Verteilung in der Grundgesamtheit geschlossen; dies wird auch als statistische Verallgemeinerung bezeichnet (im Überblick Dieckmann 2007, Kap. IX).

    Wie gut eine solche Verallgemeinerung „funktioniert", hängt ganz wesentlich davon ab, wie gut die Stichprobe die Grundgesamtheit abbildet. Um die Repräsentativität der Stichprobe sicherzustellen, wird in der quantitativen Sozialforschung meist mit sog. probabilistischen Verfahren der Stichprobenziehung bzw. mit Zufallsstichproben gearbeitet. Diese sind darüber definiert, dass jedes Element aus der Grundgesamtheit dieselbe (und von 0 verschiedene) Wahrscheinlichkeit hat, in die Stichprobe aufgenommen zu werden. Eine solche Stichprobe wird realisiert, indem aus der Grundgesamtheit nach einem Zufallsprinzip die erforderliche Anzahl von Untersuchungseinheiten ausgewählt wird.

    Untersuchungen aus der qualitativen Sozialforschung, die nicht mit Zufallsstichproben arbeiten, werden häufig kritisiert, weil sie nicht repräsentativ seien und keine Verallgemeinerung erlaubten (zusammenfassend David 2007). Diese Kritik kann zwar angemessen sein; vielfach ist sie es aber nicht, und zwar aus einer Vielzahl von Gründen (Gobo 2006; s. auch Becker 1998, Kap. 3).

    Erstens wird in dieser Kritik unterstellt, dass die Repräsentativität der Stichprobe für eine Grundgesamtheit grundsätzlich anzustreben und Ziel jeder Fallauswahl sein sollte. Das gilt aber keineswegs generell: Repräsentativität ist immer dann wesentlich, wenn von der Verteilung eines Merkmals in der Stichprobe auf die Verteilung dieses Merkmals in der Grundgesamtheit geschlossen werden soll. Es existieren aber durchaus auch andere Zielsetzungen empirischer Untersuchungen, bei denen die Repräsentativität der Stichprobe (zunächst) nicht von Bedeutung ist (s. auch Marshall 1996). Beispielsweise kann das Ziel einer Untersuchung darin bestehen, die verschiedenen Ausprägungen eines Phänomens aufzuzeigen oder ausgewählte Fälle im Detail zu beschreiben (s. Abschn. 3.2; Patton 2015, Kap. 5). Bei Lurijas Studie des Mannes, dessen Welt in Scherben ging, ist beispielsweise nicht die Repräsentativität des Falls das Kriterium, sondern die Besonderheit des Falls, dieses speziellen Menschen und seines Erlebens (eine sog. intrinsische Fallstudie; vgl. Stake 1995, S. 3).

    Zweitens werden bei der Kritik qualitativer Fallauswahl als „nicht repräsentativ" Repräsentativität und Zufallsauswahl quasi in eins gesetzt: Es wird der Eindruck erweckt, als würde ein Zufallsverfahren bei der Stichprobenziehung die Repräsentativität der Stichprobe garantieren, und es wird impliziert, dass eine Zufallsstichprobe das einzige Mittel ist, um zu einer repräsentativen Stichprobe zu gelangen. Beides ist jedoch bei genauerem Hinsehen nicht zutreffend (Gobo 2006): Die Zufallsstichprobe ist ein Mittel, die Repräsentativität ein Ziel, und das eine ist nicht untrennbar mit dem anderen verbunden. Ob ein Zufallsverfahren auch tatsächlich zu einer repräsentativen Stichprobe führt, hängt vielmehr von bestimmten Voraussetzungen ab. So setzt eine echte Zufallsstichprobe voraus, dass die Untersuchungseinheiten aus einer Liste aller Einheiten in der Population ausgewählt werden (aus einer sog. „Urliste"), die aber häufig nicht vorhanden ist und nicht vorhanden sein kann. Wie wollte man beispielsweise eine Urliste aller jugendlichen Straftäter/innen erstellen? Oder aller Personen, die mindestens einmal im Leben eine depressive Phase durchlaufen haben? Außerdem muss die Stichprobe hinreichend groß sein: Es nützt auch die beste Urliste nichts, wenn daraus z. B. lediglich zehn Personen ausgewählt werden; die Wahrscheinlichkeit, dass sich in diesen zehn Personen die Verteilung eines Merkmals in der Grundgesamtheit widerspiegelt, ist ausgesprochen gering. Wird eine repräsentative Stichprobe angestrebt, ist wiederum die Zufallsstichprobe nicht das einzige Mittel zum Zweck. Gobo (2006) weist beispielsweise auf Alltagssituationen hin, in denen – und zwar durchaus berechtigt – ein einziger Fall als repräsentativ angesehen wird und aus ihm Schlüsse über die Grundgesamtheit gezogen werden: etwa beim Kochen von Nudeln. Auch hart gesottene quantitative Sozialwissenschaftler/innen werden in dieser Situation eine Nudel herausfischen und, wenn diese gar ist, sämtliche Nudeln im Topf auf den Tisch bringen. Ein – beliebiger – Fall ist hier in der Tat repräsentativ für die Grundgesamtheit, weil diese Grundgesamtheit homogen ist.

    2.2 Absichtsvolle Stichprobenziehung und Kriterien der Fallauswahl

    In der qualitativen Sozialforschung und der qualitativen Psychologie sind in aller Regel Fragestellungen von Interesse, bei denen es nicht um die Verteilung von Merkmalen und Merkmalsausprägungen in einer Grundgesamtheit geht. Entsprechend spielt die Repräsentativität der Stichprobe für die Grundgesamtheit in der qualitativen Psychologie auch seltener eine Rolle, und probabilistische Verfahren der Stichprobenziehung kommen seltener zur Anwendung. Stattdessen wird mit Verfahren der absichtsvollen bzw. bewussten Stichprobenziehung (im Englischen: purposeful oder purposive sampling) bzw. der Auswahl informationshaltiger Fälle gearbeitet (im Überblick: Flick 2019, Kap. 12; Merkens 2005; Patton 2015, Kap. 5; Ritchie et al. 2014; Schreier 2013). Wie diese Begriffe schon implizieren, erfolgt die Fallauswahl dabei gerade nicht zufällig wie bei der Zufallsstichprobe oder willkürlich wie bei der willkürlichen Stichprobe, sondern gezielt, und zwar so, dass der Erkenntnisgewinn in Bezug auf die Fragestellung möglichst hoch ist. Zu den Verfahren der absichtsvollen Stichprobenziehung zählen unter anderem: theoretische Stichprobenziehung, kriterienorientierte Stichprobenziehung, Fallauswahl auf der Grundlage qualitativer Stichprobenpläne, analytische Induktion, Auswahl extremer, typischer, abweichender, kritischer usw. Fälle, heterogene Stichprobenziehung, homogene Stichprobenziehung, Schneeballverfahren und andere mehr.

    Was allerdings unter einem informationshaltigen Fall zu verstehen ist, an welchen Kriterien sich die absichtsvolle Stichprobenziehung orientieren und welches Verfahren konkret zum Einsatz kommen sollte, hängt jeweils von der Fragestellung und der Zielsetzung der Untersuchung ab. Patton (2015) unterscheidet beispielsweise acht verschiedene Zielsetzungen, denen je unterschiedliche Strategien der absichtsvollen Stichprobenziehung zugeordnet sind (beispielsweise das vertiefte Verstehen eines Einzelfalls, die Erklärung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden, die Beantwortung von Fragen, die sich im Forschungsprozess ergeben haben usw.: Patton 2015, Kap. 5). Im Folgenden werden einige Kriterien bzw. Zielsetzungen herausgegriffen, die in der qualitativen Psychologie von besonderer Bedeutung sind: die analytische bzw. theoretische Verallgemeinerung, das Aufzeigen des Allgemeinen im Individuellen, die Beschreibung eines Einzelfalls sowie das Aufzeigen der verschiedenen Manifestationsformen eines Phänomens.

    Das Kriterium der analytischen Verallgemeinerbarkeit greift bei Untersuchungen, mit denen das Ziel verfolgt wird, eine Theorie zu entwickeln, wie dies in der Tradition der Grounded-Theory-Methodologie oder auch beim qualitativen Experiment der Fall ist. Die Güte der Theorie hängt dabei wesentlich davon ab, in welchem Maß es gelingt, das interessierende Phänomen in all seinen Facetten und Bedingtheiten zu erfassen (s. Abschn. 3.2.1). Im Idealfall sind in der Theorie all jene Faktoren spezifiziert, die mit dem Phänomen in Zusammenhang stehen. Das Kriterium der theoretischen Verallgemeinerbarkeit liegt in erster Linie der theoretischen Stichprobenziehung und der maximalen strukturellen Variation zugrunde (ausführlich Emmel 2013, Kap. 1), aber auch die analytische Induktion und die Untersuchung kontrastierender Fälle lehnen sich an Überlegungen an, die mit dem Kriterium der theoretischen Verallgemeinerbarkeit in Zusammenhang stehen (Patton 2015, Modul 37). Ziel der analytischen Induktion ist es, gezielt Negativfälle auszuwählen, also solche Fälle, die zu einer Theorie im Widerspruch stehen könnten (ähnlich auch die Auswahl kritischer Fälle: im Überblick Kelle und Kluge 2010, Kap. 3). Dieses Verfahren der Stichprobenziehung lässt sich nutzen, um die Grenzen der Anwendbarkeit einer Theorie zu bestimmen oder eine Theorie ggf. noch um zusätzliche Elemente zu erweitern. Während die theoretische Stichprobenziehung eine vergleichsweise große Stichprobe erfordert, beschränkt sich die Analyse kontrastierender Fälle auf wenige, ggf. auch nur auf zwei Untersuchungseinheiten (Ragin 1989, Kap. 3). Diese werden so ausgewählt, dass sie sich in Bezug auf ein interessierendes Merkmal möglichst stark unterscheiden, um so Hinweise auf relevante Bedingungs- und Genesefaktoren zu erhalten.

    Die Überlegung, dass das Allgemeine im Individuellen angelegt ist (Hildenbrand 1995), liegt beispielsweise Fallstudien aus dem Bereich der Allgemeinen Psychologie (vgl. unten die Studien zum Lernen und Vergessen von Ebbinghaus [1885]) sowie der Entwicklungspsychologie zugrunde, wie etwa Piagets Studien zur kognitiven Entwicklung (im Überblick Piaget 2003 [1932]).

    Dieser Grundgedanke des Allgemeinen im Individuellen existiert in zwei Variationen. Gemäß der ersten Variante setzt sich jede konkrete Manifestation eines Phänomens – die Sprachentwicklung eines Kindes, die Entwicklung der Persönlichkeit über den Lebensverlauf, die Empfindung von Einsamkeit usw. – notwendig aus individuellen und aus allgemeinen Anteilen zusammen. Wenn man mehrere konkrete Manifestationen eines Phänomens vergleicht, dann werden durch den Vergleich die allgemeinen, übereinstimmenden Anteile erkennbar, das Allgemeine eines Phänomens kann aus den individuellen Anteilen also quasi „herausdestilliert" werden. Daraus folgt, dass bei der Fallauswahl letztlich keinerlei besondere Richtlinien zu befolgen sind: Das Allgemeine eines Phänomens lässt sich auf jeden Fall identifizieren, unabhängig davon, welche konkreten Manifestationen als Untersuchungseinheiten in die Analyse einbezogen werden. Solche Überlegungen liegen, wenn auch nicht immer in expliziter Form, der Fallauswahl in der Tradition der Phänomenologie (z. B. die Interpretative Phänomenologische Analyse: Smith 2004), der Komparativen Kasuistik nach Jüttemann (2009) oder, aus eher soziologischer Perspektive, der Typenbildung nach Gerhardt (1995) zugrunde (zur Typenbildung im Überblick Kelle und Kluge 2010).

    Die zweite Variante des Grundgedankens, dass das Allgemeine im Individuellen angelegt ist, greift bei Untersuchungsgegenständen, die weitgehend homogen sind, sich nur unwesentlich voneinander unterscheiden, wie dies beispielsweise für Gegenstände der Allgemeinen Psychologie angenommen wird. Bei solchen Untersuchungsgegenständen ist jede Einheit per definitionem für die Grundgesamtheit repräsentativ. Diese Logik der Verallgemeinerung findet sich im Zusammenhang mit qualitativen Ansätzen, die auf die Identifikation und Generalisierung von Strukturen abzielen, wie dies beispielsweise bei der objektiven Hermeneutik (im Überblick: Wernet 2009) oder der Konversationsanalyse (im Überblick: Bergmann 2005) der Fall ist. Auch vor diesem Hintergrund sind bei der Fallauswahl keine besonderen Regeln zu befolgen, da jeder Fall gleichermaßen repräsentativ oder typisch ist. Zugleich erlaubt diese Logik – als eine der wenigen in der qualitativen Sozialforschung – den Schluss von einem Einzelfall auf die Grundgesamtheit, also die Verallgemeinerung im empirisch-statistischen Sinn (ohne dass jedoch Verfahren der Inferenzstatistik zur Anwendung kommen). Auch bei solchen universellen Gegenständen kann es jedoch sinnvoll sein, eine Verallgemeinerung nicht auf einen einzelnen, sondern, gemäß einer Logik der systematischen Replikation, auf mehrere einander ähnliche Fälle zu stützen (Hilliard 1993).

    Sowohl die Logik der theoretischen Verallgemeinerung als auch die Logik des Allgemeinen im Individuellen zielt auf Verallgemeinerungen über die untersuchten Fälle hinaus, sei es im theoretischen oder im empirischen Sinn. Qualitative Untersuchungen können sich jedoch auch darauf beschränken, einen Gegenstand lediglich zu beschreiben. Dabei kann es sich um (Einzel-)Fälle handeln, die aus sich selbst heraus von Interesse sind (die sog. intrinsische Fallstudie: Stake 1995, S. 3); dieser Tradition sind beispielsweise die bereits erwähnten Fallstudien Lurijas zuzuordnen. Beschreibend sind auch solche Untersuchungen, in denen die Fälle mit dem Ziel ausgewählt werden, eine Theorie zu veranschaulichen (die sog. instrumentelle Fallstudie: Stake 1995, S. 3). Freud (1905) wählte beispielsweise den Fall der Dora D. aus, um damit seine Theorie der Übertragung zu illustrieren. Bei solchen Untersuchungen ist eine kriterienorientierte Strategie der Fallauswahl angemessen. Schließlich sind hier auch solche Untersuchungen einzuordnen, die das Ziel haben, ein Phänomen in seiner Bandbreite und in seinen verschiedenen Spielarten aufzuzeigen. Anders als bei quantitativen Studien steht dabei nicht die Häufigkeit der Ausprägungen eines Phänomens im Mittelpunkt, und anders als bei Untersuchungen, die auf theoretische Verallgemeinerbarkeit ausgerichtet sind, geht es auch nicht um die Identifikation von Bedingungsfaktoren, sondern um die Beschreibung der Variationen des Phänomens selbst. Dabei wird in der Regel eine heterogene, auf maximale Variation ausgerichtete Strategie der Fallauswahl realisiert (s. Abschn. 3.2.2).

    2.3 Die Frage der Stichprobengröße: Wie viele Fälle sind genug?

    Zur Frage der angemessenen Fallzahl in der qualitativen Forschung finden sich in der Literatur die unterschiedlichsten Positionen. So argumentieren die einen, dass die Stichprobengröße in der qualitativen Forschung nicht von Bedeutung sei, dass es vielmehr auf die Auswahl von Fällen ankomme, die eine Beantwortung der Fragestellung erlauben (z. B. Crouch und McKenzie 2006; Patton 2015; Schreier 2013). Andere halten dagegen, dass die Fallanzahl auch in der qualitativen Forschung durchaus eine Rolle spiele (z. B. Onwuegbuzie und Leech 2005; Sandelowski 1995). Entsprechend gehen auch die Meinungen darüber auseinander, ob Empfehlungen im Hinblick auf eine optimale Stichprobengröße sinnvoll sind. Einige Autorinnen und Autoren haben entsprechende Empfehlungen vorgelegt (z. B. Dworkin 2012; im Überblick Mason 2010; Guetterman 2015), wobei für Fallstudien und Arbeiten in der phänomenologischen Tradition geringere Stichprobengrößen angesetzt werden als für eine Studie in der Tradition der Grounded-Theory-Methodologie (z. B. Creswell und Poth 2017; Morse 1995). Andere halten dagegen, dass die Festlegung auf eine bestimmte Stichprobengröße vor Untersuchungsbeginn dem Verständnis qualitativer Sozialforschung als emergentem Prozess widerspreche, der eine iterative Vorgehensweise bei der Fallauswahl in Verbindung mit einer sukzessiven Anpassung der Stichprobengröße erfordere (z. B. Mason 2010; Higginbottom 2004; Palinkas et al. 2013). Die Antworten auf die Frage „Wie viele Fälle sind genug? reichen somit von der Angabe konkreter Zahlen bis zu „Es kommt darauf an.

    Worauf kommt es aber an? Baker und Edwards haben 2012 eine Befragung von 14 Expert/innen und fünf „Neulingen zur Frage der optimalen Fallzahl in der qualitativen Forschung durchgeführt, in der eine Vielzahl solcher Einflussfaktoren genannt werden (s. auch Ritchie et al. 2014; zusammenfassend Schreier 2017, Abschn. 3.2.1). So kommt beispielsweise der Breite der Forschungsfrage und der angezielten Verallgemeinerung eine wichtige Rolle zu: So äußert Charmaz in dieser Befragung, dass eher spezifische, „lokal orientierte Forschungsfragen mit einer geringeren Fallzahl auskämen als breiter und analytisch angelegte Fragestellungen. Adler und Adler führen an, dass sich auch die Heterogenität der Grundgesamtheit auf die optimale Fallzahl auswirke, und zwar dahingehend, dass mit der Heterogenität der Grundgesamtheit die optimale Fallzahl zunimmt (s. auch Palinkas et al. 2013). Weiterhin existieren innerhalb der verschiedenen qualitativen Forschungsansätze unterschiedliche Anforderungen an die optimale Fallzahl. So weist Flick außerdem darauf hin, dass neben solchen untersuchungsinternen Faktoren auch externe Faktoren eine Rolle spielen, wie etwa das verfügbare Budget oder der Zeitrahmen.

    Verzichtet man auf eine Vorab-Festlegung einer optimalen Stichprobengröße, dann stellt sich die Frage, wann im Untersuchungsverlauf „genügend" Fälle einbezogen wurden. Bei einer emergenten Entwicklung der optimalen Fallzahl im Untersuchungsverlauf wird meist das Kriterium der Sättigung zugrunde gelegt. Dieses hat seinen Ursprung in der Grounded-Theory-Methodologie im Sinne der theoretischen Sättigung von Kategorien, wurde in der Folge jedoch ausgeweitet zu einem allgemeineren Kriterium der Redundanz von Information (z. B. Bowen 2008; Guest et al. 2006; zum Konzept der theoretischen Sättigung im Überblick Strübing 2019). Nach diesem allgemeineren Sättigungsbegriff können Fallauswahl und Datenerhebung als abgeschlossen gelten, wenn die Einbeziehung weiterer Fälle keine neuen Informationen mehr erbringt. Allerdings wurde die Anwendung des Kriteriums vielfach kritisiert, weil wiederum genaue Kriterien dafür fehlen, wann dies der Fall ist (z. B. Bowen 2008; Francis et al. 2010; O’Reilly und Parker 2012). In einer Untersuchung zum Sättigungsgrad des Kategoriensystems im Rahmen der Auswertung eigener Interviews gelangen Guest et al. (2006) zu dem Schluss, dass dies bereits nach der Analyse von zwölf Interviews der Fall ist, wobei die zentralen Meta-Themen bereits nach der Analyse von sechs Interviews entwickelt wurden. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Francis et al. (2010). Sie schlagen vor, eine Ausgangsstichprobengröße festzulegen, nach der erstmals eine Prüfung des Sättigungsgrades der Auswertung erfolgen soll; diese setzen sie bei N=10 an. Außerdem schlagen sie vor, vorab zu spezifizieren, wie viele neue Fälle zur Prüfung des Sättigungsgrades herangezogen werden sollen; als optimale Anzahl in ihrer eigenen Forschung ergeben sich N=3. Beide Autor/innenteams weisen jedoch darauf hin, dass diese Empfehlungen sich speziell auf Interviewstudien in vergleichsweise homogenen Gegenstandsbereichen beziehen.

    Sättigung erfreut sich zwar in methodologischer Hinsicht großer Beliebtheit als Kriterium für eine emergente Bestimmung der Fallzahl in qualitativen Untersuchungen – es muss jedoch als fraglich gelten, inwieweit es auch in der Forschungspraxis tatsächlich Anwendung findet (McCrae und Purrsell 2016). So konnte Mason (2010) in seiner Analyse der Fallzahl in qualitativen Dissertationen aus fünf verschiedenen methodologischen Traditionen zeigen, dass die Fallzahlen auffallend häufig ein Produkt von fünf darstellten (also beispielsweise 10, 15 oder 20). Dies interpretiert er als Hinweis auf die Vorab-Festlegung einer optimalen Fallzahl. In eine ähnliche Richtung weisen die Befunde von Guetterman (2015) zur Fallzahl in qualitativen Studien in den Erziehungs- und Gesundheitswissenschaften. Die Fallzahlen in den analysierten Studien sind im Schnitt höher als die Empfehlungen für optimale Fallzahlen in der einschlägigen Literatur. Zusammen weisen diese Befunde darauf hin, dass qualitative Forscher/innen hinsichtlich der Fallzahl lieber auf der „sicheren Seite" bleiben und im Zweifelsfalle eher – einer tendenziell quantitativen Forschungslogik folgend? – mehr als weniger Fälle einbeziehen.

    Als Mittelweg zwischen einer emergenten Vorgehensweise einerseits und der Arbeit mit festgelegten Stichprobengrößen, wie sie gegenüber Promotionsausschüssen, Drittmittelgebern usw. häufig erforderlich sind, schlägt Patton (2015, Modul 40) die Arbeit mit minimalen Stichprobengrößen vor. Vorab wird entsprechend eine minimale Fallzahl benannt, die im Untersuchungsverlauf weiter angepasst wird.

    3 Verfahren der Fallauswahl in der qualitativen Forschung

    3.1 Systematisierungen von Verfahren der Fallauswahl

    Im vorausgehenden Abschnitt wurden bereits einige Verfahren der bewussten Stichprobenziehung benannt. Die Vielfalt der verschiedenen Verfahren und Bezeichnungen ist verwirrend – nicht zuletzt, weil einige Bezeichnungen sich auf eine bestimmte Vorgehensweise bei der Fallauswahl beziehen, andere dagegen auf die Art und Weise, wie die Stichprobe zusammengesetzt ist bzw. wie die Fälle innerhalb der Stichprobe sich zueinander verhalten (zu den Verfahren im Überblick: Patton 2015, Kap. 5).

    Unter dem Gesichtspunkt der Vorgehensweise lassen sich flexible und fixe Arten der Fallauswahl unterscheiden (Flick 2019, Kap. 12; Schreier 2013; in anderer Terminologie auch Akremi 2019). Flexible Arten der Fallauswahl zeichnen sich dadurch aus, dass die Kriterien für die Zusammensetzung der Stichprobe erst sukzessive im Untersuchungsverlauf erarbeitet werden (s. auch den vorausgehenden Abschn. 2.3). Hierzu zählen beispielsweise die theoretische Stichprobenziehung (theoretical sampling), die analytische Induktion oder auch das Schneeballverfahren (auch: chain sampling). Beim Schneeballverfahren werden Personen, die das Kriterium für die Aufnahme in die Stichprobe erfüllen, gebeten, weitere Personen zu benennen, die das Kriterium ebenfalls erfüllen. Diese Vorgehensweise eignet sich besonders bei Personenkreisen, zu denen Forschende nur schwer Zugang erhalten. Bei fixen Formen der Stichprobenziehung werden die Kriterien für die Fallauswahl bereits zu Untersuchungsbeginn auf der Grundlage von Vorwissen über den Untersuchungsgegenstand festgelegt. Dazu zählen beispielsweise die Fallauswahl gemäß einem qualitativen Stichprobenplan sowie die Auswahl bestimmter Falltypen (typische, extreme, intensive, kritische usw. Fälle). Diese beiden Vorgehensweisen lassen sich auch derart kombinieren, dass die Fallauswahl zunächst auf der Grundlage vorab spezifizierter Kriterien erfolgt. Wenn sich im Untersuchungsverlauf jedoch andere oder zusätzliche Kriterien als relevant erweisen, wird die Stichprobe entsprechend erweitert oder ein vorab festgelegtes wird durch ein neues Kriterium ersetzt.

    Unter dem Gesichtspunkt der Zusammensetzung ist zwischen homogenen und heterogenen Stichproben zu unterscheiden (Ritchie et al. 2014; Schreier 2011). Homogene Stichproben setzen sich aus gleichartigen Fällen zusammen; sie eignen sich besonders, um ein Phänomen im Detail zu explorieren und zu beschreiben. Homogene Stichproben lassen sich mittels Schneeballverfahren erzielen oder durch Auswahl von Fällen, die einander möglichst ähnlich sein sollten (mehrere typische Fälle, mehrere intensive Fälle usw.). Die Einzelfallstudie lässt sich als Sonderfall der homogenen Stichprobe rekonstruieren, die eben nur aus einem einzigen Fall besteht. Heterogene Stichproben setzen sich entsprechend aus unterschiedlichen Fällen zusammen; sie eignen sich besonders zur Erstellung von Theorien und zur Beschreibung der Variabilität eines Phänomens. Geeignete Verfahren zur Generierung heterogener Stichproben sind unter anderem die theoretische Stichprobenziehung, die Fallauswahl gemäß einem qualitativen Stichprobenplan, die analytische Induktion, die maximale strukturelle Variation oder die Auswahl kontrastierender Fälle.

    Andere gängige Systematisierungen von Strategien qualitativer Fallauswahl orientieren sich an den Zielsetzungen. So unterscheiden Teddlie und Yu (2007) je nach Zielsetzung vier Formen der absichtsvollen Stichprobenziehung; Patton (2015, Kap. 5) unterscheidet acht verschiedene Formen. Diese Klassifikationen sind allerdings insofern nur bedingt weiterführend, als sich nur zwei der Zielsetzungen (Erfassung bestimmter Arten von Fällen und sequenziell-emergentes Sampling) in beiden Typologien wiederfinden.

    3.2 Ausgewählte Verfahren der Fallauswahl in der qualitativen Forschung

    Im Folgenden werden einige besonders einschlägige Verfahren der Fallauswahl genauer beschrieben und anhand von Beispielen erläutert.

    3.2.1 Theoretische Stichprobenziehung

    Das Verfahren der theoretischen Stichprobenziehung bzw. des theoretical sampling wurde im Kontext der Grounded-Theory-Methodologie von Glaser und Strauss (1967) entwickelt. Die gesamte Theorieentwicklung vollzieht sich in einem Prozess des konstanten Vergleichs; entsprechend verläuft auch die Fallauswahl ergebnisoffen: Fälle werden nach dem Kriterium ihrer konzeptuellen Relevanz für die entstehende Theorie ausgewählt, worin diese Relevanz im Einzelnen besteht, zeigt sich jedoch erst im Untersuchungsverlauf (Breuer et al. 2018, Kap. 6.5; Emmel 2013, Kap. 1; Mey und Mruck 2009; Strübing 2019). Die Auswahl erfolgt dabei so, dass die Fälle einander hinsichtlich potenziell relevanter Faktoren teils ähnlich sind, sich teils aber gerade unterscheiden. Die Fallauswahl folgt somit dem Prinzip der Replikation, wobei die Auswahl einander ähnlicher Fälle sich als Form der direkten, die Auswahl unterschiedlicher Fälle als Form der systematischen Replikation rekonstruieren lässt (zur Rolle der Replikation bei der theoretischen Stichprobenziehung s. Glaser und Strauss 2007 [1965], Appendix; zu den Begriffen der direkten und der systematischen Replikation s. Hilliard 1993; Yin 2018, Kap. 2). Die Fallauswahl wird dann abgebrochen, wenn die Einbeziehung neuer Fälle keine weitere Modifikation der Theorie mehr erfordert; die Theorie gilt dann als gesättigt (s. Abschn. 2.3 zum Begriff der theoretischen Sättigung).

    In der Praxis ist ein solches vollständig ergebnisoffenes Verfahren der Minimierung und Maximierung von Kontrasten bei der Fallauswahl jedoch oft nur schwer zu realisieren, weil dies eine vergleichsweise große Stichprobe erfordern würde. In ihrer Untersuchung zur Bedeutung der Geschlechtszugehörigkeit von Therapeutinnen und Therapeuten bei ihrer Tätigkeit realisierten Tölle und Stratkötter (1996) beispielsweise – aus solchen praktischen Erwägungen heraus – eine leicht reduzierte Variante der theoretischen Stichprobenziehung (Stratkötter 1996). Im Untersuchungsverlauf erwiesen sich die folgenden Faktoren als potenziell theoretisch bedeutsam: Alter, Berufserfahrung, Familienstand, institutionelle Bedingtheit der Arbeit und Art der therapeutischen Ausbildung; der Faktor „Geschlecht" ergibt sich aus der Fragestellung. Im Hinblick auf eine Kontrastierung erfolgte die Fallauswahl sukzessive im Untersuchungsverlauf so, dass Personen ausgewählt wurden, die sich hinsichtlich der ersten Gruppe von Faktoren (Alter, Berufserfahrung usw.) möglichst stark voneinander unterschieden. Im Hinblick auf den Vergleich ähnlicher Fälle wurde die Fallauswahl zunächst wie beschrieben für die Gruppe der Therapeuten durchgeführt; anschließend wurden Therapeutinnen so ausgewählt, dass sie den bereits einbezogenen Therapeuten in ihrer Ausprägung auf den verschiedenen Faktoren möglichst vergleichbar waren. Innerhalb der Gruppe der Therapeuten bzw. der Therapeutinnen waren die Fälle somit untereinander verschieden; zwischen den beiden Gruppen waren ein Therapeut und eine Therapeutin einander dagegen maximal ähnlich. Allerdings wurden, eben aus praktischen Erwägungen heraus, nicht alle Faktoren bei der Fallauswahl einbezogen, die sich im Untersuchungsverlauf als potenziell relevant erwiesen. Die Einbeziehung der sexuellen Orientierung der Teilnehmenden hätte beispielsweise eine so umfassende Erweiterung der Stichprobe zur Folge gehabt, dass dieser Faktor nicht berücksichtigt wurde. Diese Entscheidung verdeutlicht auch, dass das Abbruchkriterium bei der theoretischen Stichprobenziehung kein absolutes ist, wie es das Kriterium der theoretischen Sättigung nahe zu legen scheint, sondern ein Kriterium, das im jeweiligen Untersuchungskontext nach praktischen Erwägungen zu handhaben ist.

    3.2.2 Der qualitative Stichprobenplan

    Wie die theoretische Stichprobenziehung ist auch die Fallauswahl auf der Grundlage eines qualitativen Stichprobenplans auf Heterogenität der Stichprobe ausgerichtet: Es soll möglichst viel Variabilität im Gegenstandsbereich erfasst werden (im Überblick: Kelle und Kluge 2010, Kap. 3; Schreier 2011). Während die Fallauswahl bei der theoretischen Stichprobenziehung jedoch flexibel und ergebnisoffen erfolgt, handelt es sich beim qualitativen Stichprobenplan um ein Verfahren der Fallauswahl nach vorher festgelegten Kriterien: In einem ersten Schritt wird (vor Untersuchungsbeginn) bestimmt, welche Faktoren voraussichtlich mit dem interessierenden Phänomen in Zusammenhang stehen, welche Faktoren also zu einer Unterschiedlichkeit im Phänomenbereich beitragen. In einem zweiten Schritt wird entschieden, welche Ausprägungen dieser Faktoren in dem Stichprobenplan berücksichtigt werden sollen. Drittens werden die Faktoren und ihre Ausprägungen in einer Kreuztabelle kombiniert; um den Überblick nicht zu verlieren, empfiehlt es sich, dabei nicht über drei Dimensionen hinauszugehen. Viertens ist zu entscheiden, mit wie vielen Fällen jede Zelle (d. h. jede Kombination von Faktorausprägungen) besetzt werden soll. Da die Anzahl möglicher Faktorkombinationen mit der Anzahl der Faktoren und ihrer Ausprägungen schnell ansteigt, wird man sich in der Praxis häufig auf einen Fall pro Zelle beschränken. Diese Beschränkung verweist auf einen weiteren Unterschied zwischen dem qualitativen Stichprobenplan und der theoretischen Stichprobenziehung: Bei der theoretischen Stichprobenziehung werden gezielt sowohl ähnliche als auch unterschiedliche Fälle einbezogen; der qualitative Stichprobenplan ist dagegen auf die Untersuchung unterschiedlicher Fälle ausgerichtet.

    Das Vorgehen bei der Erstellung eines qualitativen Stichprobenplans soll hier anhand einer eigenen Untersuchung verdeutlicht werden (Schreier et al. 2008): Ziel war es, Entscheidungen und Entscheidungskriterien bei der Verteilung von Mitteln im Gesundheitswesen, der sog. Priorisierung, zu explorieren, wobei eine möglichst große Variabilität von Positionen einbezogen werden sollte. Die Fallauswahl vollzog sich in zwei Schritten.

    In einem ersten Schritt wurden zunächst sechs Stakeholdergruppen ausgewählt, von denen anzunehmen war, dass sie sich hinsichtlich ihrer Interessen bei der Priorisierung medizinischer Leistungen stark unterscheiden: gesunde Personen, erkrankte Personen, Ärztinnen bzw. Ärzte, medizinisches Pflegepersonal, Vertreter/innen der Gesetzlichen Krankenkassen und Politiker/innen.

    In einem zweiten Schritt wurden auf der Grundlage einer Literaturrecherche pro Stakeholdergruppe (je unterschiedliche) Faktoren identifiziert, die sich auf die Ansichten der Personen dieser Gruppe zu Priorisierung im Gesundheitssektor auswirken könnten und anhand ihrer Ausprägungen zu einem qualitativen Stichprobenplan kombiniert (s. Tab. 1; zur Auswahl der Kriterien s. ausführlich Schreier et al. 2008). Für die Stakeholdergruppe der erkrankten Personen waren dies beispielsweise die folgenden Kriterien: Alter (18–30, 31–62, über 62 Jahre), Schwere der Erkrankung (leicht/schwer; Einordnung unter Rücksprache mit Kolleginnen und Kollegen aus der Medizin), höchster erreichter Bildungsstand (ohne Berufsabschluss, mit Berufsausbildung, mit Hochschulausbildung) sowie Herkunft (Ost – neue Bundesländer; West – alte Bundesländer). Das Beispiel verdeutlicht zugleich, dass nicht alle Zellen eines qualitativen Stichprobenplans besetzt sein müssen.

    Tab. 1

    Qualitativer Stichprobenplan für die Stakeholdergruppe „Erkrankte Personen" – Kriterien und Ausprägungen

    aLegende: „W: West, „O: Ost

    Qualitative Stichprobenpläne bieten sich als Verfahren der Fallauswahl an, wenn über den Gegenstand bereits hinreichende Erkenntnisse vorliegen, um eine solche Vorab-Identifikation relevanter Faktoren vornehmen zu können. Falls sich im Untersuchungsverlauf weitere Faktoren als (mindestens) ebenso relevant erweisen, kann der Plan während der Untersuchung auch modifiziert werden (für Beispiele s. Johnson 1991). Das größte Problem bei der praktischen Umsetzung ergibt sich – wie bei allen fixen Verfahren der Fallauswahl – daraus, dass über die Fälle vergleichsweise viel Information verfügbar sein muss, um über deren Einbeziehung entscheiden zu können (Schreier 2011).

    3.2.3 Gezielte Auswahl bestimmter Arten von Fällen

    „Gezielte Auswahl bestimmter Arten von Fällen" ist eine Sammelbezeichnung für die Auswahl von (unter anderem) typischen, kritischen, abweichenden, extremen und anderen Fällen (Patton 2015, Module 31 und 32). Eine solche gezielte Auswahl hat vor allem in der Klinischen Psychologie im weiteren und in der Psychotherapieforschung im engeren Sinn mit ihrem Interesse am „abweichenden Fall" eine lange Tradition (zur Fallstudie in der Psychologie im Überblick: Bromley 1986; in der Klinischen Psychologie und Psychotherapieforschung: Grawe 1988; in der Psychoanalyse: Frommer und Langenbach 1998; in der Biografieforschung: Fisseni 1998); eingangs wurde auch bereits auf die gezielte Fallauswahl bei Freud hingewiesen. Angesichts der Vielzahl von Fallstudien in der (Klinischen) Psychologie können hier nur einige wenige Arten kurz verdeutlicht werden, ohne damit einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.

    Während die Auswahl von typischen, extremen oder abweichenden Fällen häufig im Rahmen einer Einzelfallstudie realisiert wird, werden bei der kriteriengeleiteten Fallauswahl meist mehrere Fälle einbezogen. Die Auswahlkriterien ergeben sich aus dem Untersuchungsgegenstand und sind so vergleichsweise eng gefasst, dass nur wenige Fälle in Frage kommen. In einer multiplen Fallstudie zu psychosozialen Folgen schwerer Kopfverletzungen bei Heranwachsenden von Bergland und Thomas (1991) war das Kriterium beispielsweise durch die Fragestellung vorgegeben. Es wurden zunächst sämtliche Jugendliche mit schweren Kopfverletzungen in einem ausgewählten Zeitraum und Krankenhaus in den USA mit einem Mindestalter von 18 Jahren zum Zeitpunkt der Untersuchungsdurchführung kontaktiert; im nächsten Schritt wurden alle zwölf Jugendlichen und deren Angehörige in die Untersuchung einbezogen, die zu einer Teilnahme bereit waren. Dieses Verfahren der gezielten Fallauswahl ähnelt der theoretischen Stichprobenziehung: Bei beiden Verfahren ist die theoretische Relevanz für die Einbeziehung ausschlaggebend. Bei der theoretischen Stichprobenziehung ergeben sich diese Kriterien jedoch erst im Untersuchungsverlauf, während sie bei der kriteriengeleiteten Fallauswahl vor Untersuchungsbeginn festgelegt werden. Die kriteriengeleitet ausgewählten Fälle bilden eine homogene Stichprobe.

    Grundgedanke der kritischen Fallstudie ist es, einen Fall so auszuwählen, dass die Schlussfolgerungen, die für diesen Fall gelten, dies für andere Fälle umso mehr tun; kritische

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