Chemiepark: Anekdoten, Geschichten und Betrachtungen aus einem Chemiker-(Er-)Leben
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Über dieses E-Book
Dieses Buch ist sowohl für Leute vom Fach, als auch Nichtfachleute geeignet.
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Chemiepark - Günter Lattermann
Günter Lattermann
Chemiepark
Anekdoten, Geschichten und Betrachtungen aus einem Chemiker-(Er-)Leben
1. Aufl. 2020
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Günter Lattermann
Hochschule für Technik und Wirtschaft HTW Berlin, Berlin, Deutschland
ISBN 978-3-662-62173-8e-ISBN 978-3-662-62174-5
https://doi.org/10.1007/978-3-662-62174-5
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Planung/Lektorat: Désirée Claus
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Zum Geleit
Die Anekdoten, bisher nicht (αν) preisgegeben (εκδοτος), jetzt sind sie also da. Sie charakterisieren eine ganz bestimmte Teilwelt, nämlich die des Chemiestudenten in den 1960er/1970er Jahren, exemplarisch die des Autors, seiner Herkunft, seiner breiten jugendlichen Interessen (Geschichte, Archäologie, Restaurierung von Antiquitäten) und seines Weges zur Chemie und in der Chemie, zunächst an der Universität in Mainz, dann an der Universität in Bayreuth. Es folgt die Zeit seiner wissenschaftlichen Aktivität in Bayreuth, seiner vielfältigen internationalen Kooperationen und seiner Besuche wissenschaftlicher Konferenzen. In all den Geschichten wird deutlich, wie sehr der Autor mit der Chemie emotional verbunden ist, ja sie „liebt". Aber, besonders in Teil II, zeigt sich ein zweites wesentliches Anliegen des Autors, angedeutet durch ein Kapitel über Multitalente; Chemiker sind oft nicht nur Chemiker, sondern gleichzeitig Musiker, Komponisten oder Schriftsteller, also in den beiden vermeintlich getrennten Kulturen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften ebenfalls zu Hause. Auch der Autor gehört zu dieser Gruppe der Chemiker; er ist Schriftsteller (manchmal auch Dichter), Psychologe (wenn er seine Erinnerungsleistung reflektiert) und Historiker (wenn er sich besonders der Geschichte der Kunststoffe oder besser der historischen polymeren Werkstoffe mit großen Emotionen widmet). Und es liegt ihm daran, das Image des Chemikers und – angesichts des Paradoxons, dass einerseits Plastikverpackungen unsere Weltmeere vermüllen und andererseits zahlreiche Innovationen erst durch moderne Hochleistungspolymere möglich sind – auch das Image der Chemie ins richtige Licht zu rücken.
Der „Chemiepark" ist ein weiter Bogenschlag von der amüsanten und menschlichen Seite der Chemie und der Chemiker bis hin zu den polymeren oder hochmolekularen Werkstoffen, die unser Zeitalter wesentlich bestimmen, und zwar sowohl im guten – Innovationen steuernd – als auch im schlechten – mangelnde Aufbereitung der Kunststoffabfälle – Sinne. Insofern wird es Chemiker zum Schmunzeln und Nachdenken bringen, Nichtchemikern aber einen neuen Blick auf die Chemie und Chemiker eröffnen.
Hartwig Höcker
Vorwort
Vor dem Zusammenfügen der verschiedenen Abschnitte aus meinem Chemiker-Leben, Chemiker-Erleben bzw. Chemie-Erleben soll zunächst das Bauprinzip kurz beleuchtet werden, über was, in welcher Form und weshalb berichtet wird.
Teil I
In Teil I reihen sich Anekdoten und Geschichten wie bunte Klinker in einer alten Hauswand vom Fundament bis zum Dach auf. Die Abfolge ist somit zeitlich geordnet.
Im Fundament und zwischen die Anekdoten und Geschichten sind einige Autorenbezogen-persönliche Abläufe oder Ereignisse wie Feldsteine eingemauert, als strukturelle Grundlage, zur spezifischen Markierung, in stützender Funktion, oder aber als erläuternde Ergänzung. Sie sind über das gesamte Mauerwerk verteilt wie Netzpunkte in einem Geflecht.
Anekdoten¹ erzählen von Persönlichkeiten, Geschichten können auch von Sachen handeln. Seit den alten Griechen wurden sie ursprünglich als Klatsch- und Tratschgeschichten über mehr oder weniger liebe Mitmenschen mündlich weitergereicht.² Wenn das Erzählte genug ‚hergab‘, d. h. nicht nach und nach im Vergessen der Belanglosigkeit landete, wurde es dann irgendwann einmal aufgeschrieben. Oftmals auch, um eben diesem Vergessen nicht ausgeliefert zu sein – eine sich selbst erfüllen sollende Aktion. Diesem Prinzip liegt auch das hier folgende Anekdotengebäude zugrunde.
Erwähnt werden Personen vorwiegend nur als ‚Anekdotenträger‘, die vielfach in den verschiedenen zeitlichen Abschnitten des ‚Bauwerks‘ auftauchen können. Die erste Erwähnung ist im Text meistens mit einem kurzen Datensatz als Fußnote verbunden und bei eigenem Erleben jeweils fett geschrieben.
Ansonsten gilt nach Mark Twain: „Für eine Anekdote [evtl. auch Geschichte] braucht man drei Dinge: eine Pointe, einen Erzähler und Menschlichkeit". ³
Um das Erste und Dritte soll sich bemüht werden, den zweiten Punkt muss folgerichtig der Autor selbst übernehmen. Dadurch könnte allerdings der Eindruck entstehen, die Anekdoten seien um seinen eigenen Werdegang herumgebaut. Letzterer ist allerdings doch sehr viel umfangreicher und komplexer als hier manchmal schlaglichtartig beleuchtet. Es wurde beileibe nicht das gesamte Mauerwerk beschrieben, sondern nur die markantesten Ziegelsteine hervorgehoben. Für ihre Auswahl und Lage ist, außer den Marc-Twainschen-Kriterien, zudem immer auch die zeitliche Situation mit den jeweiligen typischen Umständen bedeutsam.
Das Resultat ist in jedem Fall authentisch, nicht sonderlich geschönt, manchmal – analog dem Irfan Bildbearbeitungsprogramm mittels contrast, bzw. gamma correction und wo angebracht in der Schärfe (sharpen) – ein wenig, jedoch immer sehr behutsam, nachjustiert, keinesfalls übertrieben oder gar verfälscht (‚Anglerlatein‘). Alles ist selbst erlebt und zwar so prägend, dass es – durch gelegentlich mündliches Erzählen – präsent blieb oder beim Niederschreiben wiederauftauchte, beziehungsweise durch gewisse Techniken (s. ‚Klartraum‘, Teil II) präzise ausgegraben werden konnte.
Neben dem persönlich wahrgenommenen, menschlichen Funkeln in den Facetten manchmal eher nüchtern reflektierender, in verschiedenen Situationen jedoch bunt aufblitzender Daseinsformen von Chemikern, soll sich aber auch ein geschichtstypisches Bild der Einbettung in die jeweilige Zeit widerspiegeln. In diesem Sinne ist jeder ‚Anekdotenträger‘ Zeitzeuge und wohlpositionierter Baustein der Konstruktion.
Bezüglich anderer Personen werden wirklich ernste, dramatische Vorkommnisse in den verschiedenen Abschnitten nicht berichtet. Natürlich hat alles mindestens zwei Seiten und nach Dürrenmatt sind „das Tragische und das Komische […] so hauchdünn getrennt, […] nicht sachlich unterschieden, sondern rein im Bewußtsein, rein psychologisch". ⁴ Aber in der vorliegenden Sammlung soll die janusköpfige Verbindung von Komödie und Tragödie nur ganz selten durchscheinen.
Insgesamt entsteht somit keine bloße Anhäufung von allzu harmlosen Anekdoten und Geschichten (s. auch Teil II, Betrachtungen), sondern Stein für Stein ein sorgfältig errichtetes Gebäude – keine historio- oder gar hagiographische Hauptvilla mit ihren offiziellen, zumindest teilweise bekannten Räumlichkeiten und Möblierungen, sondern eher das rückwärtig im Park (‚Chemiepark‘) gelegene Gartenhaus, in dem neben Geschäftlichem häufig auch allerhand Angenehmes, Köstliches, Charaktervolles, Charakterisierendes und auch Nachdenkliches abläuft.
Teil II
Handelt es sich in Teil I um Anekdoten und Geschichten aus dem ‚Gartenhaus‘ meines Chemiker-(Er-)Lebens, so enthält Teil II Betrachtungen über die vermeintlichen 'Zwei Kulturen' von Geistes- und Naturwissenschaften, Imageprobleme von Chemie, Chemiker*innen und Kunststoffen/Plastik, deren mögliche Bewältigung (Rationalität und Emotion), die gegenwärtige Plastikverpackungsmüllproblematik und schließlich in diesem Zusammenhang auch über die Beschäftigung mit der Geschichte polymerer Materialien (Kunststoffgeschichte).
Diesen Teil kann man sich als eher nüchternen Zweckbau vorstellen, weniger in farbenfrohem Klinker als in einfachem, strukturiertem Fachwerk errichtet. Er stellt quasi ein funktionales Werkstatt- oder Ateliergebäude mit Diskussionsräumen dar, das sich nicht weit entfernt auf demselben Gelände befindet.
Beide – Gartenhaus und Werkstattgebäude, zwischen denen wohlgemerkt eine vielfältig berankte Pergola als Verbindungsgang besteht – sind Bestandteile meines ge- und erlebten ‚Chemieparks‘.
Hinweise
Was immer tatsachengemäß über die ‘Anekdotenträger’ berichtet wird, geht nie über die Öffentlichkeits- oder Sozialsphäre hinaus. Der Privatbereich bleibt ausgeschlossen.
Fast stets ist das Erzählte in warmherziger, immer in freundlicher und respektvoller oder ehrender Weise gemeint und soll so aufgefasst werden.
Es können dabei meistens keine Wertungen der persönlichen, fachlichen oder gar chemiegeschichtlichen Stellung von Erwähnten oder Nichterwähnten abgeleitet werden. Das wäre nicht der Sinn des Erlebten und Erzählten.
Falls vorhandene chemische Fachausdrücke den Nicht-Chemiker zu überfordern drohen: Sie sind für den Gehalt bzw. Inhalt der Anekdoten und Geschichten in Teil I und der Betrachtungen in Teil II eigentlich nicht wichtig (oder sollten es wenigstens nicht sein).
Insgesamt sind bei allgemein personenbezogenen Hauptwörtern (z. B. ‚Student‘) selbstverständlich immer die genderneutralen, substantivierten Tätigkeiten (‚Studierende‘) oder die Bezeichnungen mit Gendersternchen (‚Student*innen‘) gemeint,⁵ aber nicht ausgeschrieben, da dies für die geschilderten Zeiten eher anachronistisch wäre.
Günter Lattermann
Danksagung
Mein herzlicher Dank gilt:
Hartwig Höcker für sein Geleitwort, seine wertvollen Hinweise und einige Erinnerungspräzisierungen.
Oskar Nuyken für seine hilfreichen Hinweise und Korrekturen.
Beate Manske ⁶ für ihr geduldiges Durchlesen des Manuskripts hinsichtlich seiner Wirkung auf Nicht-Naturwissenschaftler.
Inhaltsverzeichnis
Teil I Anekdoten, Geschichten
Einleitung 3
Mainz, 1962–1971 13
Mainz, 1971–1974 43
1974–1978 57
Bayreuth, 1978–2008 65
Mitarbeiter, Gäste, Kooperationen 97
Vorträge, Konferenzen 111
Teil II Betrachtungen
Studienzeit, Nachtrag 149
Vielbegabte, Multitalente, ‚Scanner‘ 153
Der ewige Chemiker? 165
Erinnerungsarbeit 167
Imageprobleme 173
Geschichte 181
Schluss 193
Fußnoten
1
Heinz Grothe, Anekdote, J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1971, S. 5 ff.
2
Anekdote, URL: https://wortwuchs.net/anekdote
3
Matthias Nöllke, Anekdoten, Geschichten, Metaphern – für Führungskräfte, Haufe Verlag, Freiburg etc. 2002, S. 22–29.
4
Manfred Eisenbeis, Friedrich Dürrenmatt – Die Physiker, 4. Auflage, Klett Lerntraining, Stuttgart 2016, S. 75
5
Die Gleichstellungsbeauftragte der Universität zu Köln Anette Gäckle, ÜberzeuGENDEReSprache – Leitfaden für eine Geschlechterspezifische und inklusive Sprache. URL: https://www.tu-berlin.de/fileadmin/a70100710_gleichstellung/Diversity_Allgemeines/KFG-Leitfaden_geschlechtersensible_Sprache.pdf
6
Beate Manske M.A., Leiterin der Wilhelm-Wagenfeld-Stiftung, Bremen: 1993–2014.
Teil IAnekdoten, Geschichten
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020
G. LattermannChemieparkhttps://doi.org/10.1007/978-3-662-62174-5_1
Einleitung
Günter Lattermann¹
(1)
Hochschule für Technik und Wirtschaft HTW Berlin, Berlin, Deutschland
Günter Lattermann
Email: guenter.lattermann@uni-bayreuth.de
In der Einleitung beschreibt der Autor zwei frühe Erlebnisbereiche ab 1952, welche die Grundlage für seine Interessen und schließlich auch das zweifache Fundament dieses Buches bilden – Geschichte und Chemie. Zunächst faszinierte die vergangene Welt vor allem der Römer am Rhein, von denen sich Zeugnisse in den Sammlungen des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz befanden oder aber selbst ausgebuddelt wurden. Der Spaß am Entdecken dehnte sich dann durch eigenes, manchmal ‚knalliges‘ Experimentieren in die Welt der Chemie aus. Obwohl diese – genauer die Polymerchemie – sich dann als berufliches Standbein entwickelte, tastete das Spielbein des Autors weiterhin in verschiedenen Ecken von Geschichte herum, bis schließlich schließlich beide Gliedmaßen auf einer gemeinsamen Plattform – Historische Polymere Materialien – zu stehen kamen.
Frühgeschichte
Mein Elternhaus stand ab 1952 in Mainz, da war es für mich naheliegend, nach dem Abitur 1962 ein Studium an der Johannes-Gutenberg-Universität ins Auge zu fassen.
Doch welches?
Mit 11 Jahren – 1954 – wusste ich, dass ich entweder Archäologe oder Chemiker werden wollte.
Das hatte folgende Gründe.
Museum
Ab Frühjahr 1953 war ich Schüler des Gymnasiums am Kurfürstlichen Schloss in Mainz. Dieses lag (und liegt noch heute¹) namensgerecht gegenüber diesem Gebäude, in dem sich unter anderem das renommierte Römisch-Germanische Zentralmuseum [1] befand.
Nach der Schule, besonders wenn wir nur fünf Stunden Unterricht hatten, fuhr ich oft – zum großen Leidwesen meiner Mutter – nicht direkt nach Hause, sondern ging mehrmals in der Woche ins gegenüberliegende Museum.
Die Funde aus alten Römer- und Germanenzeiten übten eine starke Anziehungskraft auf mich aus. Die seltsamen Vasen, Schalen, Waffen, Figuren und Reliefs aus den verschiedenen Zeiten faszinierten mich. Selbst die damals etwas verstaubten Vitrinen, die knarrenden Parkett-Fußböden und den ganz eigenen, irgendwie noch antiken Geruch kannte ich nicht von zu Hause.
Alles führte mich in eine andere Welt.
Einer der Wärter, der wohl bauchrednerische Fähigkeiten hatte, brachte mich öfter zum mystischen Schaudern, wenn er zwei Finger in die Lochaugen einer geschnitzten Schlange auf dem schwarzen Deckel eines frühgeschichtlichen Holzsarges legte und dann den Toten darin mit hohler Stimme zu mir sprechen ließ.
Nach einiger Zeit kannte ich alle Exponate und Wärter und diese kannten mich. Vermutlich trug ich damals zu einer beachtlichen Erhöhung der Besucherfrequenz des Hauses bei.
Im folgenden Jahr hatte ich meine zwei frühen Schlüsselerlebnisse.
Hobbygräber
In unserem Wohnviertel, ca. 600 m von meinem Elternhaus entfernt, wurden Gärten aufgelassen und später mit Privathäusern bebaut.