See and Change!: Warum weniger manchmal mehr und neu denken vielfach besser ist. Warum wir alle gewinnen, wenn wir die Zukunft nicht aufs Spiel setzen. Und warum wir Hoffnungen und Visionen brauchen und uns denjenigen entgegenstellen müssen, die hetzen und ausgre...
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Buchvorschau
See and Change! - Leonard Hepermann
Wo sind Mitbestimmung und Demokratie geblieben?
Wie viel Lärm macht eigentlich eine funktionierende Regierung, wie viel eine funktionierende und lebendige Demokratie? Die Antworten auf diese Fragen dürften sehr unterschiedlich ausfallen, je nachdem, wen man befragt. Einige würden vielleicht antworten, dass man eine Regierung hören muss, dass man sehen muss, was sich verändert und dass sie ihre Politik erklären muss, die Bürgerinnen und Bürger also die Beobachterrolle einnehmen und überprüfen, ob der Auftrag, den sie bei der letzten Wahl erteilt haben, auch erfüllt wird. Andere würden vielleicht antworten, dass sie von der Politik am liebsten nichts hören wollen, dass es ein gutes Zeichen ist, wenn die Regierung ihren Auftrag ausführt, dabei aber wenig Lärm macht, sodass sich die Bürgerinnen und Bürger gar nicht erst mit der Politik beschäftigen müssen.
Mitbestimmung ist in Europa abhandengekommen
Viele Menschen geben ihre Stimme bei der Wahl ab, interessieren sich aber wenig dafür, was danach mit ihrer Stimme passiert, was für eine Politik die Gewählten machen und ob diese zum eigenen Vorteil ist oder nicht. Aber müssen wir uns nicht gerade in Zeiten großer gesellschaftlicher Herausforderungen dafür interessieren, was vor unserer eigenen Haustür, in Brüssel oder in Berlin passiert? Müssen wir uns nicht gerade in Zeiten des Umbruchs in die Politik einmischen und Mitbestimmung fordern bei Veränderungen und Entscheidungen, die uns selbst betreffen? Muss eine Gesellschaft nicht gerade in diesen Zeiten laut sein, müssen wir nicht diskutieren, streiten und gemeinsam Wege und Lösungen finden? Wir müssen begreifen, dass nicht nur die Berufspolitiker Politik machen, sondern wir alle. Wenn wir uns darüber aufregen, dass die Straßen vor unserer Haustür in einem schlechten Zustand sind, der Bus Sonntags nur einmal in der Stunde fährt oder es nicht genug Lehrer in der örtlichen Schule gibt, ist das dann keine Politik? Politik fängt im Kleinen an, dort wo jeder einfache Veränderungen anstoßen kann. Trotzdem interessieren sich nur wenige Menschen wirklich dafür, was vor Ort, in Deutschland oder in Europa passiert. Wo sind die Stammtische geblieben, die Versammlungen, die Diskussionsrunden?
Es gibt Gründe dafür, warum wir uns nicht mehr interessieren, warum wir uns nicht mehr als Teil der Politik sehen. Die politischen Prozesse sind immer komplexer und undurchsichtiger geworden. Entscheidungen werden auf ganz verschiedenen Ebenen getroffen: auf lokaler Ebene, auf Landesebene, auf Bundesebene und in Europa. Wer soll da noch durchblicken? Hinzu kommt, dass es für viele Menschen lange Zeit ein gutes Zeichen war, nichts von der Politik zu hören, sich nicht beteiligen zu müssen. Demokratie und Politik einmal alle vier Jahre und sonst nicht. Wenn es alle vier Jahre dann Zeit ist, zur Urne zu gehen, machen es viele trotzdem nicht. Entweder, weil man zu bequem ist, oder weil man meint, die eigene Stimme würde nichts verändern.
Junge Menschen bauen einen alternativen politischen Raum
Eine andere Entwicklung, die ich selbst zum Teil miterlebt habe, ist, dass junge Menschen sich von den etablierten Parteien abwenden, entscheiden, dass Parteiarbeit nichts für sie ist, und sich lieber abseits der Politik engagieren. Viele machen sich auf ganz unterschiedliche Weise Gedanken über die Zukunft unserer Gesellschaft: Wie wollen wir in zehn oder zwanzig Jahren zusammenleben? Wie können wir eine angemessene Antwort auf die Klimakrise finden? Können wir ein neues bürgernahes Europa neben der EU aufbauen? Ist dieses Sich-Abwenden nicht eigentlich schade, wenn man bedenkt, dass Entscheidungen doch immer noch in der Politik getroffen werden? Parteien treten bei Wahlen an, suchen dann nach guten Partnern, um ihre Ideen umzusetzen. Wer etwas verändern will, sollte sich doch in diesen Strukturen engagieren, oder nicht? Was sind die Gründe dafür, dass sich immer mehr junge Menschen von der Politik abwenden und ihre Zukunft nicht in den Parlamenten sehen, sondern eher in Thinktanks oder in den Medien?
Die meisten Positionen in Politik und Verwaltung, aber auch bei vielen anderen relevanten gesellschaftlichen Akteuren werden immer noch von alten weißen Männern besetzt. Diese halten daran fest, weil sie wissen, dass das Verlassen dieser Positionen Veränderung bedeutet, vor der sie sich fürchten oder die sie aus anderen Gründen für nicht wünschenswert halten. So verwundert es nicht, dass das Durchschnittsalter im Bundestag in der 19. Wahlperiode bei 49,4 Jahren liegt.¹ Für junge Menschen ist es schwierig, in der Politik Fuß zu fassen und am Ende auch sehen zu können, wie der eigene Beitrag Veränderung bewirkt. Dazu tragen vor allem diejenigen bei, die seit Jahrzehnten auf ihren Positionen festkleben. Es wundert kaum, dass sich die Dinge nicht in dem Tempo verändern, das aktuell angebracht wäre. Beim Klimawandel etwa, oder bei der Reaktion auf den Abgasbetrug, oder bei der Suche nach einer Antwort auf die Ideen und Vorschläge des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. All das blieb aus, war viel zu schwach, zu blass, zu emotionslos, lieblos oder zu leise.
Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel, denn es gibt in den Ministerien und Parlamenten durchaus Menschen und auch Parteien, die junge Menschen zu Wort kommen lassen und sagen: »Ich will die Menschen kennen, für die ich Politik mache.« Aber viel zu häufig gibt es nicht die Möglichkeit des Austausches, viel zu häufig bleiben Türen für junge Leute verschlossen, oder es bleibt bei einem netten Gespräch, das am Ende sowieso nichts verändern wird.
Deshalb arbeiten viele junge Menschen abseits der Parlamente an konkreten Lösungen für drängende Probleme wie den Klimawandel. Viele von ihnen können sich keine Zukunft in den Parlamenten vorstellen, weil sie enttäuscht wurden von denjenigen, die ihre Plätze nicht räumen wollen und die gute Ideen und Lösungsvorschläge ablehnen, oder erst gar nicht zuhören, wenn junge Menschen etwas zu berichten haben. Diese Haltung ist auch der Grund für das oft angesprochene vermeintliche politische Desinteresse bei der jungen Generation. Schaut man genauer hin, gibt es dieses politische Desinteresse bei vielen jungen Menschen gar nicht, sie diskutieren aktuelle politische Themen, die sie selbst betreffen, demonstrieren gegen die Klimakrise, gegen Zensur im Internet und für Seenotrettung, unterschreiben Petitionen und nutzen die Sozialen Medien als Kanal für politische Berichterstattung und den politischen Diskurs. Junge Menschen sind nicht unpolitisch, nur anders politisch. Viele wollten gerne mit Verantwortlichen aus der Politik zusammenarbeiten, sich einmischen, haben Briefe und E-Mails geschrieben, haben Politikerinnen und Politiker getroffen, sich Gedanken gemacht, um am Ende festzustellen, dass sich doch nichts ändert, dass all dieses Engagement verpufft und man Veränderung vor allem auf anderen Wegen anstoßen kann.
Es macht einen traurig, wenn man erlebt, dass der politische Einfluss gering ist, dass man selbst Veränderungen eher anstoßen kann, indem man alternative Wege geht, z.B. gesellschaftliche Trends zu nachhaltigem Verhalten setzt oder nicht nachhaltiges Verhalten nicht akzeptiert. Es macht einen erst recht traurig, wenn einem dann auch noch von denjenigen, die wichtige gesellschaftliche Positionen seit Jahrzehnten besetzen, vorgeworfen wird, man sei unpolitisch und desinteressiert. Aber diese Leute haben die Rechnung vielleicht ohne meine Generation gemacht, ohne das Durchhaltevermögen, ohne die Hoffnung, den Mut und die Leidenschaft, mit der wir kämpfen. Die Beharrlichkeit, mit der manch einer sein Amt oder sein Mandat verteidigt und Veränderung aufzuhalten versucht, ist bemerkenswert und hat eine Reaktion bei der jungen Generation provoziert. Politik geht nicht nur diejenigen an, die ein politisches Amt innehaben, sondern alle. Die junge Generation ist politisch, mutig und vor allem laut. Es bleibt abzuwarten, wie lange die älteren Generationen an ihren Positionen festhalten werden, bis sie merken, dass es Zeit für einen Wechsel ist, dass es Zeit für Veränderung, Zeit für junge Menschen mit politischen Ideen und Visionen ist. An solchen mangelt es in der Politik grundsätzlich, war sie doch lange genug darauf fokussiert, den Status quo zu konservieren. So lange, bis der Status quo nicht mehr funktioniert. Und dieser Zeitpunkt ist jetzt gekommen.
Indem man neben dem politischen Raum, den unsere Parlamente bilden und die für junge Menschen wenig durchlässig sind, eine weitere Arena der politischen Auseinandersetzung, der Entwicklung neuer politischer Ideen und Visionen errichtet, fordert man die eigentliche Politik heraus, selbst schneller zu werden, Veränderung anzustoßen oder mehr zu tun, wie man es im Verlauf der Fridays-for-Future-Bewegung eindrücklich sehen konnte. Veränderung sollte viel häufiger von unten kommen, die Politik in unseren Parlamenten sollte ein Ohr für die Bedürfnisse der Bevölkerung haben, Menschen an Entscheidungen beteiligen und nicht versuchen, junge Menschen in politischen Prozessen zu verdrängen und zu behindern. Ändert sich nichts, wird man die Resultate relativ schnell an den Wahlergebnissen ablesen können. Bei den deutschen Ergebnissen der Europawahl 2019 konnte man bereits ein deutlich unterschiedliches Abstimmungsverhalten bei jungen Menschen erkennen. Sie stellten andere Themen in den Vordergrund und wählten andere Parteien als der Durchschnitt. Obwohl die CDU insgesamt 22,6 Prozent der Stimmen erhielt, lag der Anteil der Wählerinnen und Wähler zwischen 18 und 24 Jahren, die ihr Kreuzchen dort machten, nur bei 8,8 Prozent. Andersherum erhielten die Grünen insgesamt 20,5 Prozent der Stimmen, die zu 34,9 Prozent von Wählern zwischen 18 und 24 Jahren stammten.² Junge Menschen gehören in die Politik, in die Parlamente und in die Parteien.
Viele Menschen wenden sich von der Demokratie ab, sprechen über »die da oben«, rufen Sprüche wie »Merkel muss weg« oder »Wir sind das Volk«. Es sind Menschen, die vom demokratischen Prozess enttäuscht wurden, die sich schlecht oder gar nicht vertreten fühlen, die sich mit Problemen konfrontiert sehen, bei denen ihnen keiner hilft. Das Traurige ist, dass diese Einstellung in vielen Fällen nicht unbegründet ist, weil sie in vernachlässigten Regionen leben, weil große Unternehmen und Verbände viel mehr Einfluss haben, oder weil es Regionen gibt, die viel mehr vom Kuchen abbekommen, obwohl die Probleme dort vielleicht gar nicht so groß sind und diese Regionen ohnehin florieren. Ivan Krastev beschreibt das in seinem Buch Europadämmerung mit einem treffenden Satz: »Während im Habsburgerreich die Massen von der Demokratie entzückt waren, sind sie in der EU heute davon enttäuscht. Die allgemeine Stimmung lässt sich heute in einem Satz zusammenfassen: ›Einer der Gründe, warum viele Menschen der Demokratie mit Skepsis begegnen, liegt darin, dass sie damit recht haben.‹«³
Mitbestimmung auf lokaler Ebene
Wir brauchen mehr Mitbestimmung im demokratischen Prozess in ganz Europa. Europa muss zu einem Ort der Menschen, der Bürgerinnen und Bürger werden. Das heißt nicht, dass alle mit ihren Anliegen unbedingt nach Brüssel oder Straßburg rennen müssen, sondern dass wir eine europäische Demokratie einfach anders strukturieren und organisieren müssen. Warum kann der politische Diskurs nicht hauptsächlich auf regionaler und lokaler Ebene stattfinden? Warum sollen Städte und Regionen nicht in der Lage sein, zu entscheiden, welche Kriterien die besten sind für die Förderung der Landwirtschaft, ob sie ihre Wasserversorgung, Häfen oder Krankenhäuser privatisieren wollen oder nicht, und welche Klimaschutzmaßnahmen auf lokaler und regionaler Ebene umsetzbar sind und welche nicht? Und alle Kompetenzen, die von einer Stadt und Region nicht geleistet werden können, würden dann auf die nächsthöhere Organisationsebene abgetreten werden, vielleicht das neue Europa?
Und wie sollte die Mitbestimmung auf lokaler und regionaler Ebene aussehen? In Form von lokalen Allianzen, mit allen Akteuren aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, mit Institutionen, Verbänden und der Zivilgesellschaft. Das scheitert im Moment oft noch daran, dass man auf lokaler Ebene nicht den Handlungsspielraum besitzt, Entscheidungen zu treffen, oder dass man die Sorge hat, dass sich der Entscheidungsprozess durch die Beteiligung der Bevölkerung und anderer lokaler und regionaler Akteure im Zweifel verzögern und verlangsamen könnte. Immer noch werden Entscheidungen viel zu häufig von oben nach unten durchgereicht, sodass die lokale Ebene nur die umsetzende Gewalt darstellt, nicht jedoch selbst und eigenmächtig Entscheidungen treffen kann. Bei dieser Praxis ist keine Mitbestimmung im Prozess vorgesehen. Das ist nicht mehr zeitgemäß, vielmehr sollten Entscheidungen unten, in der Bevölkerung, getroffen werden und anschließend sollte zwischen den Städten und Regionen ausgetauscht werden, was gut funktioniert und was nicht. Politik sollte nicht nur den Anspruch haben, dass Bürgerinnen und Bürger sich gut vertreten fühlen, sondern dass sie bei Entscheidungen mit einbezogen werden. Die Zeiten, in denen man einfach nur alle vier Jahre wählen ging und bis zur nächsten Wahl am liebsten nichts von der Politik hörte, sind eindeutig vorbei.
Dass Mitbestimmung und Bürgerbeteiligung absolut notwendig sind und sich Großobjekte ohne diese nicht sinnvoll realisieren lassen, ist nicht erst seit Stuttgart 21 und dem Berliner Flughafen bekannt. Politik muss bedeuten, dass in der Gesellschaft breit diskutiert wird, wie man zusammenleben möchte, welche Entscheidungen notwendig sind, und wie man diese Gesellschaft zukunftsfähig und fit für