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Das Gaza Projekt
Das Gaza Projekt
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eBook457 Seiten5 Stunden

Das Gaza Projekt

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Über dieses E-Book

"Im selben Augenblick hörte der achtjährige Abdoul etwas Vertrautes zischen. Er hatte dieses Geräusch schon mehrmals gehört. Nur noch nie von so nahe, so laut und so kurz. Er und sein kleiner Bruder hatten sich noch nicht fertig umgedreht, als sie die Raketen kommen sahen. Dann nahmen sie für lange Zeit gar nichts mehr wahr. Die Explosionen am Strand von Gaza rissen die beiden Brüder auseinander und trennten sie von allem, was sie liebten – für immer. Selbst die Zeit hatte diesen Moment verlassen." --- Naher Osten. Senator und Multimilliardär Reeds verfolgt grosse Pläne. Sein Ziel: die fruchtlosen Friedensgipfel durch einen Erfolg versprechenden Wirtschaftsgipfel zu ersetzen. Als einen Schlüsselfaktor im Israel-Palästina-Konflikt sieht er die Verfügbarkeit von Trinkwasser, weshalb sein internationales Konsortium zusätzlich an der Verbesserung der Meerwasseraufbereitung forscht. Geld und Macht zum Wohl der Menschen statt für die Austragung von Kriegen. Das provoziert jene Kräfte, die von der regionalen Instabilität bisher profitieren konnten. --- In dieser konfliktgeladenen Situation wachsen der aus dem Gazastreifen stammende Abdoul und der Israeli Abarron auf. Während der Palästinenser im Schosse des amerikanischen Konsortiums groß wird, verstrickt sich der junge Abarron in den Fängen der israelischen Armee … --- In ihrem rasenden Lauf nimmt die Weltgeschichte keine Rücksicht auf die Ängste und Hoffnungen, auf die Verzweiflung und den Hass Einzelner. Dennoch stemmen sich ihr drei Menschen mit aller Kraft entgegen: Der Palästinenser Abdoul Raḥim, der Israeli Abarron Preiss und der Amerikaner Charles Reeds. Sie können oder wollen nicht einfach hinnehmen, was vorgegeben scheint. Der Antrieb, die Vorstellungen ihrer jeweiligen Welt zu verwirklichen, verwebt die drei Schicksale untrennbar ineinander.

cyrill-delvin.net
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum30. Okt. 2013
ISBN9783844271041
Das Gaza Projekt
Autor

Cyrill Delvin

Cyrill Delvin, geboren 1963, studierte Philosophie und Biologie. Er lebt und arbeitet in den Schweizer Bergen. Seine Bücher widmen sich aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen. Sei es im arabischen Kulturraum, wo seine ersten beiden Geschichten angesiedelt sind. »Das Gaza-Projekt« und »Die verlorene Legende Afghanistans«; sei es in Westeuropa, wo die Novelle »Schweizer Erinnerungen an die Zukunft« und die zuletzt erschienene Detektivgeschichte »Dusters Katze« spielen. Zur Zeit arbeitet Delvin an einer unkonventionellen Kritik der Moderne, eigenwillig in Form und Inhalt, brandaktuell in jeder Hinsicht …

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    Buchvorschau

    Das Gaza Projekt - Cyrill Delvin

    Inhalt

    Impressum

    Inhalt

    Der Plan

    Teil I - Morgendämmerung

    Zwei Brüder

    Die Flucht

    Ankunft

    Walfänger

    Al Manach

    Jenseits

    Gefangen

    Die Hitzewelle

    Assassine

    Quo vadis

    Salzwasser

    Stella 2

    Prélude

    Atemlos

    Kurswechsel

    Gestrandet

    Fata Morgana

    Teil II - Fünf Jahre später

    Faktor 77

    Eine Medaille

    Lanternulae

    Der Zweite

    Die Serviette

    Schatzsuche

    Protektorat

    Vermächtnis

    Wechselbad

    Mosaik

    Zyklus

    Spiegelbild

    Schwarz-weiß

    Zwei Erben

    Tauchgang

    Teil III - Ṣadafah-a-llha - Die Muschel Allahs

    Farbspektrum

    t minus 7

    Rochade

    Die Begegnung

    Der Falke

    Operation ›Seewolf‹

    Laboratorium

    Flammenmeer

    Wie der Phoenix aus der Asche

    Das Gaza-Projekt

    Thriller

    Cyrill Delvin

    Dies ist eine fiktive Geschichte. Namen, Charaktere, Geschäfte, Organisationen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Vorstellungskraft des Autors oder fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Orten ist rein zufällig.

    Das Gaza-Projekt

    E-Book, erste deutscheAusgabe

    Alle Rechte vorbehalten.

    published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

    Copyright © 2013 Cyrill Delvin

    ISBN 978-3-8442-7104-1

    ›Die Früchte meines Handelns werden demnächst in Athen feilgeboten. Ganz gleich, ob sie erworben werden oder faulend liegen bleiben – sie tragen den Samen zu Neuem bereits in sich. Denn, verantwortlich ist man nicht nur für das, was man tut, sondern auch für das, was man nicht tut!‹

    Senator Charles William Reeds

    Der Plan

    »Es sind Zeiten, in denen die Kinder im Schoße des Krieges geboren werden. Sie werden in den Armen der Gewalt groß. Sie leben ständig am Abgrund. Am Ende sterben sie, bevor der Krieg beendet ist. Es sind solche Zeiten, wo nirgends Hoffnung ist, aber überall Ohnmacht. Wo Hass nicht blind macht, sondern den Weg weist. Solche Zeiten vergehen nie und brechen doch ständig von Neuem an.«

    Charles nahm einen Schluck Wasser aus dem Glas, das vor ihm auf dem opulenten Holztisch stand.

    »Wir sitzen hier zusammen, weil es an der Zeit ist, etwas zu tun. Wir können etwas unternehmen. Wir werden den Lauf der Geschichte verändern. Nicht global, sondern lokal. Dafür an einem Ort, wo es brennt, in Gaza. Gemeinsam, mit viel Ausdauer und etwas Glück, werden wir es in die Geschichtsbücher schaffen. Ich für meinen Teil hätte nichts dagegen.«

    Die Anwesenden kannten den schlanken Fünfzigjährigen inzwischen gut genug, um nichts zu sagen. Überhaupt waren die hochrangigen Gäste heute nicht versammelt, um miteinander zu diskutieren, sondern um einen Entscheid zu fällen. Gemeinsam. Und doch jeder für sich.

    Mit einer wegwerfenden Handbewegung fuhr er fort: »Wie auch immer, wir werden uns heute darüber einigen, dass die IWAC in den Gazastreifen gelangt, ohne in der Öffentlichkeit Aufsehen zu erregen.«

    Rechterhand saß ungerührt der groß gewachsene israelische Ministerpräsident Eizenburg. Links von ihm wirkte der schmächtige Šarīf wie ein kleiner Junge. Vor Kurzem gab er den Posten als Chef der Fatḥ auf, um die palästinensische Brüderpartei zu gründen. Das Ziel, die zerstrittenen palästinischen Parteien zusammenzuführen, setzte ihn enorm unter Druck. Die amerikanische Außenministerin Whiteford rundete den illustren Kreis ab.

    Der Salon war mit edlen Möbeln derart beliebig bestückt, dass ein stilloser, beinahe kitschiger Eindruck entstand, der bestens zum Besitzer passte. Das Herrschaftshaus lag auf dem abseits gelegenen französischen Landsitz Trois-Ruisselets hoch über der Bucht von Marseille im Osten der Stadt. Charles, der einige Zeit amerikanischer Botschafter in Paris gewesen war, hatte das Grundstück vor einigen Jahren erworben und in Stand stellen lassen.

    Mit Vorliebe hielt er die inoffiziellen Treffen in dieser quasineutralen Zone ab. Selbstredend verfügte das Anwesen über einen eigenen Hubschrauber-Landeplatz und war für gewöhnlich durch die französische Polizei bewacht. An diesem Nachmittag war es zusätzlich durch die französischen, amerikanischen und israelischen Geheimdienste gesichert.

    Der Klub, wie er die versammelte Runde gegenüber seinen engsten Vertrauten spöttisch, aber liebevoll bezeichnete, tagte zum dritten Mal. Dank seiner verschiedenen politischen Tätigkeiten hatte Charles über die Jahre hinweg zu allen maßgeblichen politischen Persönlichkeiten und Organisationen enge Beziehungen geknüpft. Dass es ihm gelungen war, die seit Jahrzehnten verfeindeten Lager in einem Raum zusammenzubringen, grenzte an ein Wunder. Dass sich die Politiker darüber hinaus auf eine gemeinsame Haltung für die Pläne des Amerikaners hatten einigen konnten, war ein Wunder.

    Absolute Geheimhaltung war Bedingung und Schlüssel zum Erfolg zugleich. Der Handel war einfach: Jeder Politiker konnte im Erfolgsfall von sich behaupten, die treibende Kraft hinter der Veränderung gewesen zu sein. Umgekehrt musste sich keiner der Gesprächspartner öffentlich exponieren und auf politisch vernichtende Diskussionen einlassen. Allen war der Wille gemeinsam, die Probleme an der levantinischen Küste sachpolitisch zu lösen. Es war seine Aufgabe, die einzelnen Schritte, die am Ende zu einem Frieden im Nahen Osten führen sollten, unspektakulär zu gestalten. Dermaßen unspektakulär, dass sie ohne Aufsehen realisierbar wurden.

    Die Pläne der IWAC reichten jedoch weit über den Vorderen Orient hinaus. Wenn Charles alleine vor dem prächtigen Kamin des Landsitzes saß, kam er deswegen oft ins Grübeln.

    Was gibt mir das Recht, dermaßen in den Weltenlauf einzugreifen? Oder verpflichten mich meine Macht und meine Mittel nicht erst recht dazu, etwas zu tun?

    Wer war Senator Charles William Reeds, dieser sorglos wirkende Amerikaner? Ein naiver Geist, größenwahnsinnig – oder ein Genie? Die Verantwortung, die er sich mit der Umsetzung seiner Ideen auferlegte, lastete schwer auf ihm.

    In Gedanken versunken, begannen die beiden in Löwenpfoten auslaufenden gusseisernen Halter links und rechts vom Feuer einen wilden Tanz aufzuführen. Die Tatzen sprangen hin und her, und mit ihnen die imaginären Löwenköpfe. Im gleichen Maß, wie sich Licht und Schatten des prasselnden Feuers immer wilder gebärdeten, steigerte sich das Schnurren und Knurren der Raubkatzen zum Raum füllenden Tosen. Die verzweifelten Schreie des schwarzen Jungen Johnny mischten sich unter das Gebrüll. Charles hielt sich die Ohren zu. Zum Glück hatte er selten Zeit, vor dem Kaminfeuer in Trois-Ruisselets zu sinnieren.

    »In einem ersten Schritt beginnt die IWAC damit, über das Meer Hilfsgüter nach Gaza zu bringen und unter der Bevölkerung zu verteilen. Wir beschaffen die Lebensmittel und Güter für die medizinische Grundversorgung soweit möglich aus den umliegenden Regionen und beschriften alles neutral. Nicht einmal das Emblem der IWAC wird zu sehen sein. Wir führen Beschaffung, Logistik und Transport bis in Küstennähe durch. Für die Feinverteilung binden wir Leute in Gaza ein. Alle Hilfskräfte, soweit sie nicht Palästinenser sind, werden wiederum aus den Nachbarländern rekrutiert. Mit Ausnahme von Israel.«

    Er schaute zu Eizenburg, der unmerklich nickte. Für diese Zusammenkunft in der Trois-Ruisselets hatte sich Charles besonders hartnäckig einsetzen müssen. Am Ende war die Zusammenkunft nur deshalb möglich geworden, weil bereits im Vorfeld alle Details mit den Parteien einzeln ausgehandelt worden waren. Wortmeldungen waren nicht erwünscht. Erst unter dieser Voraussetzung waren die Machthaber bereit gewesen, an diesem Treffen teilzunehmen. Dass das Klima frostig bleiben würde, war klar. Der Amerikaner war jedoch überzeugt, dass diese Sitzung als Ausdruck einer gemeinsamen Haltung für das Vorwärtskommen der Pläne sehr wichtig war.

    »Israel lockert die Seeblockade für die IWAC. Die Israeli haben natürlich das uneingeschränkte Recht, unsere Schiffe jederzeit zu inspizieren. Umgekehrt treiben sie den Bau der Mauer um den Gazastreifen vorwärts, auch südlich gegen Ägypten. Damit lässt sich die israelische Bevölkerung effektiv schützen. Die Aufgabe der palästinensischen Übergangsregierung ist es, in dem von ihr kontrollierten Gebiet innerparteiliche Grabenkämpfe im Zaum zu halten. Terroristische Aktivitäten gegenüber Israel und innerhalb des Gazastreifens sind um jeden Preis zu unterbinden. Dafür wird Präsident Šarīf alles in seiner Macht Stehende tun.«

    Dieser wollte gerade einwenden: Israel ist eine Besatzungsmacht und die Palästinenser sind keine Terroristen sondern Freiheitskämpfer! Aber Charles ließ ihn nicht soweit kommen: »Der israelische Ministerpräsident kann und will allfällige Vergeltungsmaßnahmen nicht einschränken! Darüber müssen wir uns im Klaren sein.«

    Šarīf schaute einem geschlagenen Hund gleich drein. Der IWAC-Vorsitzende verstand nur zu gut, was im Palästinenser vorging. Unter allen Anwesenden hatte er am wenigsten Macht über das politische Umfeld und die Menschen, die er repräsentierte. Und doch kam seinem Einfluss in dieser kritischen ersten Phase eine Schlüsselrolle zu.

    Mit Israel waren die Verhandlungen in dieser Beziehung einfacher zu führen. Dafür sorgten nicht nur die amerikanische Außenministerin am Tisch, sondern auch die nicht anwesenden hochrangigen Eingeweihten aus Russland und China.

    »Alle in diesem Raum sind davon überzeugt, dass Israel und Palästina nur dann friedlich nebeneinander existieren können, wenn es beiden wirtschaftlich gut geht. Wir glauben an einen Ausgleich der Interessen und nicht an einen Ausgleich der Mächte. Deswegen sitzen wir hier zusammen. Die IWAC ist gewillt, die Grundlagen für einen solchen Ausgleich im Gazastreifen zu schaffen. Wir wollen, dass die Menschen die Zukunft in die eigenen Hände nehmen. Für uns gibt keine militärische Lösung im Nahostkonflikt. So ist es Aufgabe jedes Einzelnen unter uns, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. Im Geheimen, ohne dass die Weltpresse davon erfährt. Offiziell bezieht die IWAC keinerlei Stellung zur Konfliktsituation. Wir unterstützen ein humanitäres Programm zum Wiederaufbau des Gazastreifens wie viele andere nicht staatliche Organisationen auch.«

    Am späten Nachmittag war Trois-Ruisselets wieder im alleinigen Besitz des Hausherrn. Mit den Politikern waren auch die zusätzlichen Sicherheitsleute und die französische Polizei abgezogen. Zwei Gäste jedoch, die nicht an der Besprechung teilgenommen hatten, verblieben im Haus. Françoise, die operative Chefin der IWAC, und Ted, zuständig für die Tätigkeiten im Gazastreifen. Nach dem gemeinsamen Abendessen saßen sie im Kaminzimmer zusammen.

    »Ich kann es immer noch nicht glauben. In zwei Jahren hast du erreicht, wofür andere eine Karriere lang umsonst kämpften«, erhob Françoise das Glas, »auf dich und die IWAC!«

    »Danke, Françoise. Die Verantwortlichen an den Tisch zu kriegen, war nicht einfach, aber ein Kinderspiel im Vergleich zu dem, was uns bevorsteht. Was unsere Arbeit wert ist, zeigt sich dann, wenn wir tatsächlich in Gaza aktiv werden. Die richtigen Herausforderungen stehen uns erst noch bevor.«

    »Etwas Spannung bei der Arbeit kann nicht schaden.«

    »Ja, wir packen den Stier bei den Hörnern. Aber wenn’s brenzlig wird, wird ihn niemand ablenken wie beim Bull Riding in Texas, Ted! Trotz aller Sicherheitsvorkehrungen und Absprachen, der Gazastreifen ist und bleibt ein Pulverfass!«

    »Du kennst mich ja. Mit meinen saloppen Sprüchen will ich nur bei den Frauen punkten.«

    Niemand trat darauf ein.

    »Vorhin hat sich Professor Liu Cheng von der Polytechnischen Universität Peking gemeldet, er nimmt die Stelle als Forschungs- und Entwicklungsleiter an.«

    »Das ist nicht wahr!«, sagte Françoise, »dann haben wir ja schon halb gewonnen.«

    »Haben wir? Er wird nächste Woche zu dir nach Paris kommen und ab Herbst dann die Arbeiten in Zypern aufnehmen.«

    »Wunderbar – du bist ein wahrer Magier.«

    In diesem Moment klopfte es an der Tür und der Privatsekretär trat ein. »Entschuldigen Sie, Sir, ein Anruf vom israelischen Ministerpräsidenten.«

    »Danke, stellen Sie ihn durch, Brad.«

    »Jawohl, Sir.«

    »Liron, wo steckst du? Aha …«

    Die anderen vernahmen nur eine aufgeregte Stimme aus dem Telefonhörer.

    »Ja, aber …« Charles verstummte. »Danke, Liron. Ja, wir bleiben trotzdem auf Kurs. Guten Flug, Liron.«

    Er drehte sich langsam zu den anderen um: »Während unserer Sitzung am Nachmittag haben israelische Kampfflieger Stellungen der Ḥamās an der Küste im Süden des Gazastreifens beschossen. Es war der Vergeltungsschlag für das Selbstmordattentat in Jerusalem vor drei Wochen. Unter den Palästinensern gab es eine beträchtliche Anzahl ziviler Opfer.«

    Die Flammen schienen daraufhin besonders intensiv aus dem Kamin hervorzuzüngeln.

    »Verdammt!«, entfuhr es Ted aus der Tiefe des Fauteuils. »Diesen Berserkern ist nicht zu trauen, auf keiner Seite – sitzen hier und führen irgendeine Show auf. Wenn man nur eine Mauer bauen könnte, die bis hinauf zu Jahwe und Allah reicht! Dann gäbe es auch kein Kampfjet-und-Menschenbomben-Ping-Pong mehr.«

    »Hat Eizenburg davon gewusst? Können wir ihm trauen?«

    »Das eigentliche Problem ist, dass Liron nicht involviert war.«

    »Glaubst du das wirklich?«, fragte Françoise.

    »Ja. Das heißt aber, dass er nicht der Herr im Hause ist, der er sein möchte – oder sein müsste. So oder so, ich muss jetzt ein paar Telefonate machen und Wogen glätten.«

    Zu Ted sagte er: »Wir treffen uns wie vereinbart am Sonntag in Washington mit den Logistikern. Und, Ted, wir werden eine Mauer bauen. Eine Mauer, die man nicht sehen kann. Sie zu durchbrechen, wird Israel am Ende Geld kosten, zu viel Geld.«

    Bevor er aus dem Kaminzimmer eilte, umarmte er Françoise: »Ich habe ja gesagt, dass wir erst am Anfang stehen. Es wird schon werden. Und halte mir Cheng warm, wir brauchen ihn.«

    TEIL I

    Morgendämmerung

    Zwei Brüder

    Abdoul suchte zusammen mit dem jüngeren Bruder Qadim am Strand nach Schwemmgut. Sie taten das immer. So auch an diesem späten Sommernachmittag, den sie mit der ganzen Familie am Meer verbrachten. Im heißen Sand nach Strandgut zu suchen, war nicht nur eine nützliche, sondern eine der wenigen für die Kinder lustigen Abwechslungen. Am meisten Spaß hatten die Brüder beim Rätseln.

    »Komm hierher, Abdoul, da ist eine blaue Kugel. Ich glaube, es ist ein kaputter Schwimmkorken.«

    »Ach was. Das ist ein ausgestopfter Kugelfisch. Hier sieh, da ist sein Maul.«

    »Aber das ist doch ein Haken wie beim Fischernetz von Großvater.«

    »Genau, das ist der Fanghaken – es ist ein gehakter Kugelfisch.«

    »Kann man den essen?«

    »Versuchs doch mal, aber nicht zu fest zubeißen, sonst bist du selber gehakt«, sagte er todernst.

    Qadim verzog daraufhin sein Gesicht zu einer Grimasse und tat, als ob er einen Fischerhaken im Maul hätte und vom Boot nachgezogen würde. Beide lachten. Den blauen Korken steckten sie ein. Für solche Dinge hatte Großvater Amir immer einige gute Ideen bereit.

    Richtig glücklich war Abdoul jedoch erst, wenn er eine schöne Muschel gefunden hatte. Er nahm jedes Mal nur eine, die schönste des Tages, mit nach Hause. Überhaupt behielt er nur die prächtigsten Schalen. Wenn er eine gefunden hatte, die ihm noch besser gefiel, musste dafür die hässlichste wieder weg.

    An diesem Nachmittag hatte er noch keine Muschel gesehen, die es ihm wert erschien, sich zu bücken. Auch das restliche Strandgut ließ mit Ausnahme der blauen Korkkugel zu wünschen übrig. Bis er dann im nassen Sand einen wenige Zentimeter breiten Muschelpanzer entdeckte. Auf den ersten Blick sah die Schale unscheinbar aus, dunkelbraun mit einer gerippten Oberfläche und einer Reihe kleiner Zacken in der Mitte. Alles in allem glich sie dem Rückenpanzer einer kleinen Echse. Es gab keinerlei störende Farbflecken oder Muster, alles war gleichmäßig dunkelbraun. So eine Muschel hatte er noch nie gefunden. Als er sie aufklappte und mit Wasser ausschwenkte, blieb sein Mund vor Staunen offen. Das Innere war mit reinstem Perlmutt ausgelegt. Makelloser und weißer als alles, was er je gesehen hatte.

    Eben wollte er Qadim, der ganz in der Nähe im Sand wühlte, den Fund zeigen, als es sich durch eine absolute Ruhe ankündigte. Für einen Sekundenbruchteil verstummten alle Geräusche. Was das Leben der beiden Brüder für immer verändern sollte, spielte sich in unmittelbarer Nähe ab. Als die Erwachsenen die unheimliche Stille mit lauten Rufen zu verjagen begannen, geschah alles gleichzeitig. Zunächst dachte Abdoul, sein Vater würde ihn und Qadim zurückrufen. Dann vermischten sich das Rufen und Schreien mit dem donnernden Daherbrausen einer israelischen Fliegerstaffel über den Sanddünen.

    Im selben Augenblick hörte er etwas Vertrautes zischen. Er hatte dieses Geräusch schon mehrmals gehört. Nur noch nie von so nahe, so laut und so kurz. Sie hatten sich noch nicht fertig umgedreht, als sie die zwei Raketen sahen. Dann nahmen sie für lange Zeit gar nichts mehr wahr. Die Explosionen rissen die beiden Brüder auseinander und trennten sie von allem, was sie liebten – für immer. Selbst die Zeit hatte diesen Moment verlassen.

    Ihre Familie kam ums Leben. Die Eltern, drei Geschwister, der Großvater, zwei Vettern, drei Basen, ein Onkel und zwei Tanten.

    Das erste, was Abdoul zu hören glaubte, war die sanfte Stimme Amirs: Die schönste aller Muscheln ist deine Eintrittskarte in eine bessere Welt. Du hast sie heute gefunden!

    Der Junge schrie nicht, seine Augen spiegelten das nackte Entsetzen eines zum Wahnsinn gehetzten Tieres. Tränen rollten stumm über seine Wangen. So lag er, bis sich die Zeit eines Besseren besann und verschämt an den Strand zurückkroch.

    Qadim rannte dahin, wo die Granate ein tiefes Loch in sein Herz gesprengt hatte. Menschen torkelten herum. Mit der Zeit hörte Abdoul sie schreien und klagen. Er erhob sich und blieb regungslos stehen. Er ahnte, dass kein Schritt ihn je wieder dorthin zurückbringen würde, wo er eben noch gestanden hatte. Kein Gedanke und keine Liebe würden diese Sekunden je tilgen.

    Der sich setzende Staub klärte seine Sinne. Ein ätzender Gestank stieg seine Nase hoch. Etwas Warmes rann aus der verkrampft zusammengeballten Hand. Die Muschelschalen hatten sich tief in das Fleisch geschnitten. Aber das tat ihm nicht weh. Er trottete zu seinem Bruder, der schreiend am Boden kauerte. Nicht Strandgut, sondern Tod und Schmerz lagen jetzt zerstreut am Meer entlang herum. Die eben untergehende Sonne zog die Schatten des Schreckens unendlich in die Länge. Erst mit dem Einbruch der Nacht wurde das Ufer von seinem Grauen erlöst.

    Abdoul kniete neben Qadim, der heulend das farbige Kopftuch der Mutter in den Händen hielt. Es war unversehrt geblieben und selbst der beißende Geruch von Sprengstoff und verbranntem Fleisch vermochte ihren süßen Duft nicht aus dem Tuch zu verdrängen, niemals. Ohne Worte packte er Qadim am Arm. Für sie gab es hier nichts mehr zu suchen, oder zu finden. Auch die anderen Menschen, die sie kannten, hatten nichts zu geben.

    Ihr Haus, das mehr eine Hütte war, lag außerhalb der Siedlung hinter einer Felsnase in der Nähe des Meeres. Gan Or war ein kleines Dorf zwischen Rafaḥ und Ḫān Yūnis, nur wenige Kilometer von der Grenze zu Ägypten entfernt. Schon ihr Großvater und der Vater des Großvaters waren hier aufgewachsen. Sie alle waren Fischer gewesen und hatten seit je ein kleines Boot am Strand vertäut. Der Vater jedoch fuhr nur noch selten aufs Meer hinaus. Überhaupt konnte niemand mehr sich und seine Familie vom Fischfang alleine ernähren. Die Fische waren längst weggezogen, und so taten es ihnen die Menschen gleich. Nicht ins Meer hinaus, sondern ins Landesinnere zu den großen Zentren oder nach Gaza-Stadt. Um Arbeit zu suchen, gingen sie bis zur großen Mauer, und darüber hinaus.

    Oder sie gingen unter die Erde, in einen der zahlreichen Schmuggel-Tunnel nach Ägypten. Die wenigsten blieben und fanden eine bezahlte Beschäftigung in der Landwirtschaft. Ihr Vater hatte Glück und konnte bei einem Schwager im Olivenhain arbeiten. Alle und überall waren sie auf Hilfe angewiesen, um durchzukommen.

    Abdoul war sich darüber im Klaren, dass sie zu Hause niemanden vorfinden würden. Erst achtjährig wusste er bereits, dass er nichts würde tun können. Was hätte er denn tun sollen? Die Hütte bestand aus einer Küche und einem kleinen Nebenraum, wo die fünf Kinder auf Matten auf dem Boden schliefen. Die Eltern hatten ihre Schlafplätze in der Küche, welche gleichzeitig als Aufenthaltsraum diente. Es war niemand da. Es brannte kein Feuer und kein Topf stand auf dem Herd.

    Der kleine Bruder schluchzte ab und zu. Ohne etwas zu essen, legten sie sich nebeneinander zum Schlafen hin. Aber der Schlaf blieb dieser einsamen Nacht fern. Mit der Zeit verflog bei Abdoul der Schock und er begann leise und bitterlich zu weinen. Bis zum Morgen, der sich durch den Aufruf zum Fadschr in Rafaḥ ankündigte. Wenn der Wind vom Landesinneren her wehte, waren die Rufe des Muezzin zum Gebet mehr zu erahnen als zu hören.

    An die folgende Zeit erinnerte sich der Palästinenserjunge nur verschwommen. Hin- und hergerissen zwischen wachsendem Verantwortungsgefühl dem Bruder gegenüber und Trauer und Wut über den Verlust der Familie konnte er nicht klar denken. Während der Beisetzung, an welcher die ganze Siedlung und halb Rafaḥ und Ḫān Yūnis teilnahmen, glänzte das Meer in der Ferne verheißungsvoll. Aber keine Verheißung wurde erfüllt. Übrig blieben Bilder von trauernden Menschen und wütenden Mengen. Vertreter und Aktivisten der Ḥamās waren ebenfalls präsent, wie immer bei solchen Gelegenheiten. Es wurde lautstark über die Ungerechtigkeit lamentiert und eifrig für die eigene Sache geworben.

    Die offizielle Stellungnahme Israels klang zynisch: Fünf bewaffnete palästinensische Extremisten getötet, die Raketen auf Israel schießen wollten. Die zivilen Opfer sind unvermeidlich, solange die Ḥamās die Bevölkerung als Schutzschild missbraucht.

    Auch die internationale Presse kam an die Beerdigung. Aber niemand und nichts war da, das den Verlust der Brüder hätte erträglicher machen können. Am Ende wusste Abdoul nicht mehr, wo er hingehörte. Es war sich nur sicher, dass er nicht hierbleiben wollte. Hier, an diesem Ort, wo Glück und Unglück Tür an Tür lebten.

    Für Onkel Imad war klar, dass die Waisen nicht bei ihm bleiben konnten. Geld und Essen reichten nicht für alle. Es gab nur einen Ort für die Neffen, die Ibn Marwān Madrasa. Eine traditionsreiche, allerdings von radikalen Islamisten für ihre fanatischen Zwecke entfremdete Koranschule in Gaza. Dorthin wurden alle Kinder und Jugendlichen geschickt, für die niemand mehr aufkommen konnte, oder wollte: Egal ob Knaben oder Mädchen, wir stillen den Hunger der jungen Menschen! Soweit das Versprechen der Gottesanbeter.

    Am Abend vor der Wegfahrt ging Abdoul alleine an den Strand. Da stand er zum ersten Mal wieder, seit die Raketen eingeschlagen waren, und blickte aufs Wasser hinaus. Die Wellen streichelten den Sandstrand und seine Füße, wie wenn nie etwas geschehen wäre oder je geschehen würde. Von allem, was ihm geblieben war, würde er das Meer am meisten vermissen. Er war sich keineswegs sicher, ob die Muschel, die er nun an einer Schnur um den Hals trug, schon als Einladung der Wasserfrauen gelten würde.

    Das soll die schönste Muschel sein? Geh zurück und komm erst wieder, wenn du eine wirklich schöne in den Händen hältst, lachten sie ihn aus. Der Knabe ließ sich auf den nassen Sand nieder und hörte seinen Großvater als wäre es erst gestern gewesen:

    Weißt du, Abdoul, Mohammed sagt, die Fische seien zum Fangen und Essen da. Zum Essen, damit habe ich kein Problem. Nur mit dem Fangen hapert es manchmal. Amir lachte verschmitzt. Ist doch klar, welcher vernünftige Fisch lässt sich schon freiwillig fangen? Er kann ja genauso gut wegschwimmen anstatt ins Netz hinein. Oder glauben die Fische, wenn sie sich freiwillig den Menschen zum Fraß vorwerfen, würden sie von Allah im Paradies belohnt?

    Nein, nein, etwas anderes treibt sie an. Etwas Älteres, Stärkeres und Schöneres. Und ich sage dir auch, was: Die Wasserfrauen. Sie sind unsere wahren Freundinnen. Jede Gabe des Meeres, jeder Fisch und jede Muschel ist ein Geschenk von ihnen. Eines Tages wirst du die schönste Muschel am Strand finden, die es gibt. Schillernd in allen Farben und von unglaublicher Reinheit wird sie dich verzaubern. Sie ist von einer Wasserfrau hingelegt worden, nur für dich. Diese schönste aller Muscheln wird deine Eintrittskarte in eine bessere Welt sein. Eine Welt ohne Kummer und Sorgen.

    Seit der Großvater ihm die Geschichte erzählt hatte, träumte er davon, diese Wasserfrau zu finden. Er verbrachte jede freie Minute damit, nach der einen Muschel zu suchen. Nun saß er also da und hielt die beste aus seiner Sammlung in der Hand. In seinem Inneren spürte er dennoch, dass eine noch schönere auf ihn wartete. Dieses Gefühl stimmte ihn zuversichtlich. Schließlich freute er sich auf die Schule, wo er etwas lernen würde. Zum ersten Mal seit dem Unglück fand er einen ruhigen Schlaf.

    Was er noch nicht wusste, war, dass an dieser Schule nichts gelernt werden konnte. Das Programm war die Einstimmung der Schüler auf einen ohnmächtigen Hass gegen das übermächtige Israel. Eine Schule nicht zum Stillen des Hungers, sondern zum Aushungern der Stille. Das Ziel lag letztlich nach dem Tod und nicht davor. Der Onkel befand, dass das der einzig wahre Weg sei. Als Rache und zur Rettung der Ehre der Familie Ibrahim Raḥim, seines getöteten Bruders.

    »Das Haus werde ich übernehmen, als Lohn dafür, dass ich euch den Platz in der Schule verschafft habe.« In Tat und Wahrheit hatte er es bereits dem Bruder seiner Schwägerin vermietet. Dies bedeutete einen kleinen aber notwendigen Beitrag in die Haushaltskasse.

    »Aber es gehört uns,« bemerkte Abdoul leise.

    »Du, halt die Schnauze! Du kannst froh sein, kümmert sich überhaupt jemand um euch!« Er wusste, dass der Junge Recht hatte. Aber wen interessierte das schon. Es waren noch Kinder und ihm völlig ausgeliefert.

    »Verschwindet, und seid dankbar, dass Allah für euch sorgt!«, damit kehrte er ihnen den Rücken und lief vom Transporter weg.

    Abdoul nahm Qadim bei der Hand und wollte auf die Ladebrücke klettern, als der Fahrer fuchtelnd auf sie zustürzte: »Haut ab, ich nehme kein Lumpenpack mit!«

    Ohne zu wissen, woher er den Mut nahm, schrie Abdoul zurück: »Fahr zur Hölle, räudiger Hund – zuerst nimmst du das Geld und dann – « Weiter kam er nicht. Von der Ohrfeige getroffen fiel er zu Boden.

    Ein Mann auf dem Laster sagte mit tiefer Stimme: »Lass es gut sein, Farouk, sie haben bezahlt und fahren mit.«

    Der Fahrer fluchte vor sich hin und stieg in die Führerkabine ein. Abdoul raffte sich auf und kletterte mit Qadim auf die Brücke.

    »Danke«, sagte er zum Mann, der seinen Blick abwandte. Während der holprigen und staubigen Fahrt hielt Abdoul die ganze Zeit über seine Muschel fest.

    Die Flucht

    Rashid und Kaden hielten Abdoul fest. Ohne eine Miene zu verziehen, boxte ihn Barek mit voller Wucht in den Bauch. Er schnappte nach Luft, Wasser schoss ihm in die Augen. Nicht das erste Mal wurde er von den älteren Schülern geschlagen. Er konnte sich auch durchaus wehren, war kräftig gebaut und kein Angsthase. Aber derart in die Mangel genommen, hatte er keine Chance. Der große Junge schaute ihn stumpf an und holte zum nächsten Schlag aus, diesmal mitten ins Gesicht.

    Abdoul schmeckte das Eisen im Blut, welches von der aufgeplatzten Backe in den Mund rann. Er ließ sich nichts anmerken.

    »Wo hast du die verdammte Muschel versteckt?«, zischte ihn Barek an. »Du bist eine Schande für die ganze Schule! Man sollte dich zusammen mit den Ungläubigen in die Luft sprengen. Du wirst keine Ruhe haben, bis wir deinen Götzen gefunden und zermalmt haben!«

    Sie kannten einander gut genug, um zu wissen, dass es zwecklos war. Lieber würde er sich zu Tode prügeln lassen, als die Muschel herauszurücken. Bis anhin waren die Prügelknaben auch immer von den Lehrern auseinandergetrieben worden. Aber diesmal kam keiner und Barek schlug weiter auf den wehrlosen Jungen ein. Die Geräusche der Stadt nach dem Maghrib drangen gedämpft in den Innenhof der Madrasa. Der Palästinenser biss auf die Zähne, um nicht zu schreien.

    Jemand näherte sich ihnen über den mit Steinen gepflasterten Hof. Im Dämmerlicht erkannte er Qadim zu wenig schnell. Dieser nahm die drei Halbwüchsigen und den am Boden liegenden Bruder erst wahr, als er schon fast durch den Torbogen zum Wohntrakt geschlüpft war. Seinem älteren Bruder helfen zu wollen, war fruchtlos. Qadim vermochte so oder so nichts auszurichten.

    Überhaupt verstand er nicht, weshalb er die Muschel nicht schon längst dem Lehrer gegeben hatte. Dann würden sie ihn in Ruhe lassen. Stattdessen hing er an ihr und versteckte sie, als wäre sie sein Ein und Alles. Dabei war es ja so einfach: Allah und der Prophet Mohammed waren die Einzigen, denen man gehorchen musste. Dies tat man, indem man die im Koran geschriebenen Gesetze befolgte. Und damit war alles gut, oder zumindest besser. Da stand nirgends etwas von Muscheln, für die man einen Ungehorsam in Kauf nehmen musste. Schon gar nicht, wenn selbst die Lehrer forderten, sie wegzuwerfen.

    Abdoul durchzuckte ein Gedanke, vielleicht lassen sie mich zu Tode prügeln? Vielleicht haben die anderen Recht. Vielleicht finde ich den richtigen Weg nie. Dann wird es das wohl gewesen sein.

    Aber noch war es nicht soweit. Barek schnappte sich Qadim. Reflexartig sprang Abdoul auf und stürzte sich auf den älteren Mitschüler. Rashid und Kaden versuchten vergeblich, ihn wieder auf den Boden zu drücken. Der auf einmal Überstarke schlug wie eine Furie um sich. Erst später bemerkte er den Stein, den er in der Hand hielt. Qadim schrie auf und wehrte sich ebenfalls mit Händen und Füßen. Im wilden Handgemenge bemerkten sie auf einmal ein dumpfes Krachen. Es klang, wie wenn ein Tonkrug in einem Sack zerschlagen würde. Alle vier starrten auf Qadim, der regungslos am Boden liegen blieb.

    Bevor Abdoul etwas unternehmen konnte, packte ihn Barek am Hals und höhnte ihm ins Ohr: »Sieh, was du angerichtet hast, Abdoul ibn Ṣadafah. Hurensohn einer Muschel! Das wirst du büßen, darauf kannst du Gift nehmen.«

    Aus dem Gebetsraum waren jetzt Stimmen zu hören. Die Burschen ließen von ihm ab und verschwanden durch den Torbogen. Abdoul kniete neben Qadim nieder und drehte den leblosen Körper zu sich. Etwas Warmes floss über seine Hände. Das Blut seines kleinen Bruders. Besinnungslos hockte er sich nieder und drückte den Kopf sanft an seine Brust. Seine Tränen vermischten sich mit dem Blut zu einem schmierigen Rinnsal.

    Welcher vernünftige Fisch lässt sich schon freiwillig im Netz fangen? Er kann ja genauso gut wegschwimmen statt ins Netz hinein …

    Er wollte die Stimme nicht hören. Weshalb hatte ihm Großvater nicht einfach die Wahrheit gesagt? Wieso hatte er von Wasserfrauen geredet, wenn es doch nur Allah und den Propheten gab? Niemand erschien, um Qadim zu retten. Kein Prophet, kein Allah, keine Wasserfrau, kein Großvater, niemand!

    Zorn stieg in ihm empor. Er begann, alles darin zu tünchen. Diese Madrasa, wo nichts als Hass auf alle anderen gelehrt wurde. Er verfluchte Amir, der ihm nichts als Märchen aufgetischt und Hoffnung auf einen falschen Weg gemacht hatte. Die Mitschüler und die Juden, die nur Verderben und Unglück mit sich brachten. Er hasste sich selber dafür, dass er nichts ausrichten konnte. Er war ja nicht einmal imstande, seinen Bruder zu beschützen.

    Dem Zorn folgte Verzweiflung. Verzweiflung darüber, dass auch Qadim Vaters Ehre nie mehr würde retten können. Es war nun an ihm alleine, das zu tun. Ein Gedanke, der ihn schließlich traurig stimmte. Nicht aus Angst, sondern aus Ohnmacht vor der Aufgabe, die ihm auferlegt war.

    Warum hat mir Großvater denn nicht gesagt, dass es die Wasserfrauen gar nicht gibt? Dass die Fische entweder aus lauter Dummheit oder von Mohammed getrieben ins Netz gehen?

    Wie vermisste er ihn doch! Er würde ihm alles erklären und Mut machen. Aber Großvater war tot. Er musste nun seine Familie rächen. Gerechtigkeit, so wurde ihnen beigebracht, führte über den Glauben ins Paradies. Was aber war gerecht für Qadim? Abdoul wollte helfen, wollte rächen und blieb doch machtlos.

    Nahende Schritte brachten ihn zu Sinnen. Wenn Barek mit seiner Horde zurückkam, war es um

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