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Machtkampf am Bosporus
Machtkampf am Bosporus
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eBook683 Seiten9 Stunden

Machtkampf am Bosporus

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Über dieses E-Book

Istanbul im 18. Jahrhundert. Das friedliche Zusammenleben im Stadtviertel Galata scheint unerschütterlich. Hier wachsen Said und Betim gemeinsam auf wie Brüder – doch Welten trennen sie: Der erste ist ein Freund des jungen Prinzen Selim, der zweite ein Spielball des intriganten Köse Musa, Stellvertreter des Großwesirs. Was der eine mit rechtschaffenden Mitteln erlangt, erzwingt der andere mit List und Gewalt.
Als Unruhen die Stadt am Bosporus erschüttern und die Feinde des Sultans nach der Macht greifen, finden sich die Rivalen Said und Betim auf verschiedenen Seiten wieder ...
Das große Epos "Machtkampf am Bosporus" erzählt von der Zeit der Janitscharenaufstände im Osmanischen Reich, von Gemeinschaft und Glauben, Verschwörungen und Ränkespielen, Blut und Rache – und den schicksalhaften Verbindungen der Generationen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum9. Jan. 2017
ISBN9783738098839
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    Buchvorschau

    Machtkampf am Bosporus - Said Gül

    Prolog

    Machtkampf am Bosporus

    Seit den frühen Morgenstunden herrschte im Topkapi-Palast hektisches Treiben. Alles deutete darauf hin, dass der Sultan am heutigen Tage einer hochrangigen Persönlichkeit eine Audienz gewähren würde. Der frühherbstlichen Kühle zum Trotz erhitzte das aufgeregte Hin und Her die Gemüter des Oberhofmeisters und der Hofdiener, die seinem Befehl unterstanden. Der Thronsaal, der nur für die Empfänge höchster Staatsbeamter geöffnet wurde, musste hergerichtet und dem besonderen Anlass entsprechend geschmückt werden.

    Erwartet wurde ein Mann, der in den vergangenen Monaten immer mehr Einfluss auf die Geschicke des Reiches genommen hatte und irgendwann so mächtig geworden war, dass der Sultan seine Autorität zähneknirschend anerkennen musste. Er hatte begonnen, Forderungen zu stellen: hohe Posten im Osmanischen Reich für sich selbst und seine Getreuen, eine angemessene Entlohnung und zahlreiche Sonderrechte. Und er hatte darauf gedrängt, im Sultanspalast empfangen zu werden. Dem Sultan war keine andere Wahl geblieben, als seinem Wunsch stattzugeben. In Absprache mit einigen wenigen vertrauenswürdigen Wesiren hatte er den anmaßenden Emporkömmling und zwei seiner Weggefährten zu einer Unterredung eingeladen.

    In dem offiziellen Einladungsschreiben hatte der Sultan ihnen reicheren Lohn in Aussicht gestellt, als sie je zu hoffen gewagt hätten: dem Emporkömmling selbst die Ernennung zum Oberbefehlshaber der Seestreitkräfte, und seinen beiden Mitstreitern die Ämter des Gospodars von Moldawien und des Janitscharen-Aghas. Kein Wunder also, dass sie die Einladung des Regenten liebend gern angenommen hatten.

    Als der umschmeichelte Gast eintraf und sah, in welch prunkvollem Gewand sich der Palast präsentierte, lösten sich seine letzten Zweifel in Luft auf. Voller Vorfreude und Zuversicht ließ er alle Vorsicht fahren und befahl den Wächtern, ihn und seine beiden Begleiter unverzüglich zum Thronsaal zu bringen.

    Dort angekommen, teilte man ihnen jedoch mit, dass der Sultan seine Pläne kurzfristig geändert habe. Plötzlich hieß es, dass er sie doch nicht im Diwan in Anwesenheit der Wesire empfangen werde, sondern in einem viel kleineren Raum, nämlich in dem überaus bescheidenen, etwas abseits gelegenen Beschneidungssaal.

    Das hatte sich der Gast anders vorgestellt. Unter Protest und wütenden Verwünschungen folgte er den Hofbeamten zu dem Saal. Und dort platzte ihm dann endgültig der Kragen. Zwei Leibwächter des Sultans wagten es tatsächlich, seinen beiden Begleitern den Zutritt zu verwehren. Erbost fuhr er sie an:

    „Ich bin nicht gekommen, um mich vom Fußvolk des Sultans herumkommandieren zu lassen. Erst verweigert man mir einen angemessen Auftritt vor der Ratsversammlung, und jetzt hindert man meine Begleiter daran, diesen gottverdammten Beschneidungsraum zu betreten. Ich verlange sofort eine Erklärung!"

    „Euer Ehren, setzte einer der Leibwächter mit fast unhörbarer Stimme an, „niemand hegt die Absicht, Euch zu verärgern. Aber wir haben die Anweisung vom Großwesir, Euch einzeln hineinzubitten, damit der Sultan Euch der Reihe nach Eurem jeweiligen Rang entsprechend empfangen kann.

    Unbeeindruckt von diesem törichten Geschwätz pochte der Gast auf eine würdigere Behandlung und begann, den Leibwächtern zu drohen. Schließlich gelang es seinen Begleitern, ihn ein wenig zu beruhigen. Sie versicherten ihm, dass es ihnen nichts ausmache, im Korridor auf ihn zu warten, und so stürmte er zornentbrannt, einen Wortschwall von Verwünschungen ausstoßend allein in den Saal.

    Verwundert registrierte er, dass ihn in dem Raum nichts als gähnende Leere erwartete. Ohne lange zu überlegen, rief er nach dem Sultan:

    „Verschont mich mit Euren Scherzen, Eminenz. Wenn Ihr beabsichtigt, Katz und Maus zu spielen, seid Ihr bei mir an der falschen Adresse. Ich verlange, auf der Stelle von Euch empfangen zu werden. Übergebt mir mein neues Amt, wie Ihr es versprochen habt!"

    Doch anstelle des Sultans trat plötzlich ein Offizier hinter dem Vorhang hervor, der den Saal von einer Kammer trennte, und zog einen aus Damaszener Stahl gefertigten Säbel aus der Scheide.

    Abschätzig und mit Verachtung in der Stimme fragte der Gast ihn:

    „Wer bist du? Und wo ist der Sultan?"

    „Nicht der Sultan, sondern dein Todesengel ist gekommen, Frevler."

    „In welchem Ton redest du hier mit mir, du Unwürdiger?"

    Plötzlich fiel dem Gast ein, wen er da vor sich hatte: einen Offizier, der ihm in letzter Zeit schon häufiger Steine in den Weg gelegt hatte. Er musste wohl oder übel mit diesem Bastard fertig werden. Also zog auch er sein Jatagan-Schwert und streckte es seinem Widersacher entgegen.

    Sie kämpften, bis ihre Kräfte nachließen, dann verschnauften sie kurz. Anschließend setzte der Offizier einen weiteren Hieb, der zunächst abgewehrt wurde. Kurz darauf jedoch fand er eine Lücke in der Abwehr seines Gegners. Ehe dieser noch reagieren konnte, riss der Offizier seinen Säbel nach oben, ließ ihn mit aller Kraft niederfahren und schlug dem Gast so den rechten Unterarm ab.

    Der Arm des Getroffenen flog mitsamt seinem Schwert unkontrolliert durch den Raum und fiel mit lautem Scheppern zu Boden. Entsetzt griff er sich mit der linken Hand an den Stumpf seines rechten Oberarms. Sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz, und sein Schrei erfüllte den Raum, bevor er den Offizier stammelnd anflehte, innezuhalten.

    „Winsele nicht um Gnade, du Bastard!, ignorierte der Offizier sein Flehen und wies mit dem Säbel auf die rote Lache, die inzwischen den Perserteppich tränkte. „Mögest du in diesem Blutbad verrecken. Nenn mir einen Grund, warum ich dir verzeihen sollte! Nur einen einzigen Grund!

    „Zumindest einen Grund kann ich vorbringen, mein Offizier, stotterte der Gast nun auf Knien. „Ich habe den Großwesir getötet und das Volk dadurch von seiner Schreckensregierung befreit. Ist das nicht Grund genug, mir zu verzeihen?

    „Der Großwesir ist einer Intrige zum Opfer gefallen und konnte dem Druck nicht mehr standhalten. Um das Volk nicht länger zu spalten, nahm er seinen Hut. Anschließend hast du ihn bestialisch ermordet. Wenn du das eine Wohltat nennst, will ich dir eine nennen, die die deine hundertfach übertrifft: Ich werde die Welt von dir befreien." Er holte weit aus, wirbelte mit dem Säbel durch die Luft und trennte den Kopf des Gastes vom Rumpf. Aller Lebensgeister beraubt, sackte dessen Körper schlaff zu Boden.

    Der verzweifelte letzte Schrei des Gastes drang bis auf den Korridor hinaus und blieb auch seinen beiden Begleitern nicht verborgen. In ohnmächtiger Wut stürmten sie in den Saal, ohne dass die Leibwächter es hätten verhindern können. Als sie den abgeschlagenen Kopf ihres Anführers und seine blutüberströmte Leiche entdeckten, erstarrten sie einen Moment lang. Dann zückten sie ihre Schwerter, um sich an seinem Mörder zu rächen.

    Sekunden später fiel von hinten ein Schatten auf die beiden. Instinktiv drehten sie sich um und sahen dem Kommandanten der königlichen Schutztruppe in die Augen. Der Offizier nahm sich den einen von ihnen vor, der Kommandant den anderen, und gemeinsam bereiteten sie ihnen ein ähnliches Ende, wie auch ihrem Freund beschieden war.

    Als der Offizier und der Kommandant zum Sultan eilten, um ihm von der Beförderung des Gastes und seiner Begleiter ins Jenseits zu berichten, ließen sie drei Leichen, drei Köpfe und einen Arm, der sich noch immer an einem Schwert festkrallte, auf dem Fußboden des Beschneidungsraumes zurück. Sodann zeichnete der Sultan beide mit hohen Rängen aus und ernannte den Offizier zum neuen Oberhaupt des Janitscharenkorps, dem Janitscharen-Agha, bevor er sie zu einem Abendessen in den Rewan-Pavillon einlud.

    Während die Pagen den Geladenen das reichhaltige Mahl servierten, erhob sich der Herrscher von seinem Platz, ging zum Fenster des Pavillons hinüber und ließ seinen Blick über die Meerenge des Bosporus schweifen. Was hat diese Stadt in den letzten Monaten alles erdulden müssen?, dachte er bei sich. Und was wäre wohl erst aus ihr geworden, wenn es den nun toten Männern tatsächlich gelungen wäre, die Macht an sich zu reißen? Mit ihrer Hinrichtung hatte er ein klares Zeichen gesetzt und seine Macht gestärkt. Seinen Gästen noch immer den Rücken zuwendend, reckte er seine Hände in die Höhe, holte tief Luft und bedankte sich bei Gott und den beiden Getreuen, die seinen Plan in die Tat umgesetzt hatten.

    „Endlich", seufzte er erleichtert.

    Teil I (1766 bis 1774)

    Kapitel 1

    Istanbul, 1766

    Afife eilte zu ihrer Schwägerin Nadire, um die letzten Vorbereitungen abzuschließen. Ihr sechsjähriger Sohn Said wurde an diesem sonnigen Augusttag zusammen mit seinem gleichaltrigen Cousin Mersed eingeschult. Bei der traditionellen Zeremonie, für die beide Familien gemeinsam aufkamen, sollten sich die Gäste vergnügen. Die im Zenit stehende Sonne übergoss die Pflastersteine der Gassen mit feurigem Schein, und die Häuser in den engen Gassen spendeten den Passanten nur wenig Schatten.

    Afife und die anderen Nachbarsfrauen versammelten sich bei Nadire und füllten Schultüten für die Kinder mit Süßigkeiten und Sesamringen. Währenddessen empfing Saids Vater Ibrahim die männlichen Gäste in der geräumigen Mittelhalle im Obergeschoss seines Konaks, einem dreistöckigen Herrenhaus in der Moschee-Gasse.

    Seine achtjährige Tochter Destegül servierte ihnen Kaffee, und auch Merseds Vater, Ibrahims zwei Jahre jüngerer Bruder Adil Bey, der im Sultanspalast als Dolmetscher arbeitete, gesellte sich in ihren Kreis. Auf gemütlichen, mit Brokat bedeckten Diwanen unterhielten sie sich über die beiden Kinder. Angeführt wurde die Gästeschar von Salih Hodscha, dem Imam der Moschee am Marktplatz. Ihm oblag ab dem heutigen Tag die Verantwortung, den Jungen in den kommenden Jahren eine solide Grundbildung angedeihen zu lassen. Eine große Ehre.

    Durch die offenen Fenster waren die Gesänge und Lieder der Kinder zu vernehmen, die draußen einen Festzug abhielten. Ausgelassen luden sie ihre Eltern dazu ein, doch endlich auch auf die Straße zu kommen. Salih Hodscha unterbrach seine Ausführungen und stieg, gefolgt von Ibrahim und Adil Bey, die Treppen des Konaks hinunter. Sie sperrten die Haustür auf und sahen zu, wie sich die Kinder ihnen langsam näherten.

    Zur gleichen Zeit traten die verschleierten Frauen aus dem Konak von Adil Bey heraus und reihten sich auf der gegenüberliegenden Seite der Gasse auf. Den Mittelpunkt des Festzugs bildeten Said und Mersed, die auf Pferden thronten. Flankiert von den anderen Kindern, winkten sie den Schaulustigen zu. Afife und Nadire verteilten die vorbereiteten Schultüten aus großen Körben an die Kinder, bis Salih Hodscha die Gesänge mit einem Handzeichen zum Schweigen brachte. An Said und Mersed gewandt, verkündete er:

    „Meine Lieben, von Gesängen und Geschenken begleitet werdet ihr heute eingeschult. Damit beginnt für euch ein neuer Lebensabschnitt. Möge Gott euch die Kraft und den Willen geben, fleißige und erfolgreiche Menschen zu werden. Euren Eltern und all denen, die tatkräftig zum Gelingen dieses Festtages beigetragen haben, möchte ich meinen Dank aussprechen. Gehen wir nun in die Moschee, um gemeinsam einige erste Worte zu lesen. Eure Mitschüler werden eure Koranpulte und Sitzkissen dorthin tragen."

    Mit Hilfe ihrer Väter saßen Said und Mersed von ihren Pferden ab und folgten Salih Hodscha zur Ali-Efendi-Moschee. Sie war die erste Moschee an diesem Ufer des Goldenen Hornes, die nach der Eroberung der Stadt durch die Osmanen eingeweiht worden war. Aus diesem Grunde zierte ihr Eingangsportal ein Schild mit der Zahl 1453. Stifter der Moschee war Ali Efendi gewesen, der Gebetsrufer von Sultan Mehmed dem Eroberer.

    Er hatte die kleine Moschee mit einem Minarett, einem Brunnen und einem Stiftungsgebäude nebenan bauen lassen, nachdem ihm das Gelände vom Sultan zugesprochen worden war. Die Wände des großzügigen Gebetsraums der Ali-Efendi-Moschee waren mit blauen Fayencen aus Iznik ausgekleidet, und die Holzdecke war mit feinen Gravuren verziert. Anders als viele andere Moscheen spannte sich hier jedoch keine Kuppel über die Köpfe der Gläubigen. Nach dem Lehrer und den beiden Jungen ließen sich auch einige Männer und viele weitere Kinder im Gebetsraum nieder und bildeten einen großen Sitzkreis.

    Salih Hodscha setzte sich in die Gebetsnische aus Marmor, ließ die Pulte vor seinen beiden neuen Schülern aufstellen und forderte sie auf, Platz zu nehmen. Also setzten sich die Jungen auf die Sitzkissen und hörten ihrem zukünftigen Lehrer gespannt zu. Salih Hodscha bat sie zu wiederholen, was er sagte, und begann mit der arabischen Anrufungsformel, der Basmala. Die Kinder sprachen sie ihm nach.

    Dann hielt Salih Hodscha eine kurze Predigt in ruhigem, väterlichem Tonfall und beendete sie mit einem Segensspruch. Zum Abschluss küssten die beiden Jungen seine rechte Hand. Zusammen mit den anderen Kindern verließen sie die Moschee wieder und strömten nach draußen auf den Marktplatz.

    Auf dem von der Moschee, dem Stiftungsgebäude, einem Kaffehaus und verschiedenen Läden umsäumten Marktplatz trafen sich die Bewohner des Viertels tagtäglich, in guten wie in schlechten Zeiten. Mitten auf dem Platz ragten drei große Platanen in den Himmel, die an Markttagen und bei Festen reichlich Schatten spendeten. An Tagen wie diesem pflegten die Ladenbesitzer ihre Fensterfronten und den ganzen Platz großzügig zu schmücken. Sie und die anderen festlich gekleideten Anwesenden konnten es kaum erwarten, Said und Mersed zu gratulieren.

    Gegenüber vom Eingang der Moschee befand sich das Kaffehaus von Sami, der vor seiner Stube ein Podest aus Holz mit einer geschnitzten Sitzfläche errichtet hatte, von dem aus die Jungen das bunte Treiben bestaunen konnten. Die humorvollen Erzählungen und schelmischen Vorträge der Geschichtenerzähler, der Meddahs, die die unterschiedlichsten Menschentypen karikierten, fehlten an solchen Festtagen ebenso wenig wie ein Schattentheater, das Karagöz.

    Said und Mersed lachten über die Scherze und die Mimik des Meddah, obwohl sie die sozialkritischen Anspielungen nur zum Teil verstanden, und applaudierten ihnen nicht weniger enthusiastisch als der Rest des Publikums.

    Schnell entdeckte Said seine Mutter und seine Schwester, die mit Nadire und ihrer Tochter Dilruba auf Schemeln vor dem Stiftungsgebäude neben der Moschee hockten. Sie unterhielten sich angeregt und teilten ihre Freude. Dilruba, Merseds kleine Schwester, war erst drei Jahre alt, von sonnigem Gemüt und äußerst redselig. Said hatte sofort den Eindruck, als würde sie auch dieses Gespräch zwischen den Müttern dominieren und den Ton angeben.

    „Sie ist unsere kleine, süße Hexe. Bei uns tanzt in letzter Zeit alles nach ihrer Pfeife", sagte Mersed. Said antwortete ihm mit einem Lächeln und wandte sich wieder den Aufführungen zu.

    Als die Darbietungen gegen Abend endeten, gingen Ibrahim und Adil Bey zu Said und Mersed, übergaben ihnen zwei Akçe-Silbermünzen und beglückwünschten beide zu dem heutigen Tag. Die Nachbarn taten es ihnen nach, und in kürzester Zeit wimmelte es vor dem hölzernen Podest von Menschen.

    Unterdessen hatten sich zwei bewaffnete Unteroffiziere des Janitscharenkorps, Tschausch genannt, unter die Menschenmenge gemischt. Said erkannte sie an ihren kegelförmigen Filzkappen, den roten Gewändern und gelben Stiefeln. An Markttagen patrouillierten hier Ordnungshüter, um Streitigkeiten beizulegen. Aber an Festtagen war es ungewöhnlich, Janitscharen zu sehen. Zudem wirkten sie nicht unbedingt freundlich. Said gab Mersed einen Stups mit dem Ellbogen und deutete auf die beiden Soldaten. Auch Mersed beschlich ein ungutes Gefühl.

    Und tatsächlich: Unversehens zog einer der beiden sein Jatagan-Schwert aus der Scheide an seinem Gürtel und reckte es unter lautem Gebrüll in die Höhe. Man merkte ihm an, dass er betrunken und offensichtlich nur hier war, um Ärger zu stiften. Said konnte es sich nicht erklären. Wieso sollte sich ein Ordnungshüter an einem friedlichen Tag unter friedliche Menschen mischen und die Ordnung stören? Der Sultan konnte diese Soldaten doch wohl kaum damit beauftragt haben, seine Untertanen zu töten.

    Während sich die Feiernden damit begnügten, den beiden feindselige Blicke zuzuwerfen, sah sich Ibrahim zum Handeln gezwungen. Er stürzte auf den krakeelenden Soldaten zu und versuchte die Hand zu fassen zu bekommen, mit der er sein Schwert hielt. Doch der andere trat dazwischen und versetzte ihm einen Hieb gegen die Brust. Ibrahim taumelte rückwärts und fiel auf den Rücken.

    Afife stieß einen entrüsteten Schrei heraus und wollte sich einen Weg durch die Menge bahnen, um ihrem Mann Beistand zu leisten. Nadire konnte ihre Schwägerin nur mit größter Anstrengung zurückhalten. Die übrigen Versammelten hingegen ließen ihrem Zorn freien Lauf. Äußerst aufgebracht über diesen Vorfall, wären sie auf die beiden losgegangen, wenn nicht in letzter Sekunde Halil Agha, Saids Großvater, eingegriffen hätte.

    Der Janitscharen-Agha im Ruhestand drückte die Menge zur Seite und packte die beiden Unruhestifter am Kragen. Obwohl er die Sechzig schon lange überschritten hatte, besaß er noch immer einen durchtrainierten Körper. Außerdem hatte er kraft seines Amtes als Agha Erfahrung im Umgang mit Betrunkenen und Unruhestiftern. Unter lauten Anfeuerungsrufen der Menge ließ er sich nicht lange bitten und versetzte den beiden Tschauschs kurz nacheinander so heftige Backpfeifen, dass sie völlig überrumpelt der Länge nach hinschlugen.

    Nachdem sie sich wieder aufgerappelt hatten, begriffen sie, dass sie sich besser aus dem Staub machen sollten. Doch der Raki, der Anisschnaps, dem sie zuvor offensichtlich reichlich zugesprochen hatten, zeigte Wirkung. Nach wenigen Schritten schon geriet der eine der beiden ins Taumeln. Verzweifelt klammerte er sich an den Oberarm des anderen und brachte dadurch auch ihn aus dem Gleichgewicht. Wie zwei zentnerschwere Mehlsäcke fielen sie zu Boden.

    Stavros, der dreijährige Sohn der Griechen Lisias und Daphne, reagierte als Erster. Er nutzte die Gunst der Stunde und verpasste den Gestürzten einige Fußtritte in den Hintern. Die Leute johlten vor Vergnügen. Tief beschämt suchten die beiden Unruhestifter das Weite. Lisias schloss seinen Sohn lachend in die Arme. Dann wandte er sich an seinen gleichaltrigen Nachbarn Ibrahim, den er schon von Kindesbeinen an kannte. Zusammen hatten sie die Nachbarschaft damals mit ähnlichen Frechheiten zum Lachen gebracht wie heute sein Sohn.

    „Ich hoffe, dass mein Sohn deine Rückenschmerzen etwas lindern konnte. Diese Aufmüpfigkeit hat er von mir geerbt. Tut es noch weh?"

    „Nein, ich kapituliere doch nicht vor so einem kleinen Schubs und schon gar nicht vor diesen Gestalten", entgegnete Ibrahim.

    Said rannte zu seinem Vater, schmiegte sich an dessen rechtes Bein und schaute zu ihm auf. Ibrahim streichelte ihm über das Haar, beugte sich zu ihm herunter und küsste ihn auf beide Wangen. Auch Afife und Destegül kamen angelaufen und erkundigten sich besorgt nach seinem Zustand. Dann verabschiedeten sie gemeinsam ihre Gäste. Der kleine Stavros winkte Said zum Abschied aus den Armen seines Vaters zu.

    Kurz darauf forderte Halil Agha die jungen und kräftigen Nachbarn mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete, dazu auf, den Festplatz aufzuräumen. Und so waren die Ladenbesitzer ebenso wie die Schulkinder im Nu wieder mit ganz anderen Dingen beschäftigt.

    Said und Mersed schlugen mit ihren Eltern und Geschwistern den Heimweg ein. Und als Ibrahim seinen Bruder Adil Bey einlud, den angebrochenen Abend gemeinsam zu verbringen, nahmen er und seine Familie diese Einladung gerne an. Zusammen marschierten sie zum Konak von Ibrahim, in dessen Obergeschoss auch Großvater Halil Agha wohnte.

    Ein riesiges hölzernes Tor mit zwei massigen Flügeln trennte den Konak von der Gasse. Im Alltag blieben sie jedoch fast immer verschlossen; die Bewohner des Hauses benutzten lediglich eine in den rechten Flügel eingelassene schmale Tür, um ein- und auszugehen. Durch den überdachten Hof betraten sie das Herrenhaus und stiegen die Treppe zur großen Mittelhalle hinauf. Halil Agha setzte sich ans Fenster. Diese Flanke des Konaks besaß einen Erker, auch Dschumba genannt, der fünf Fuß in die Gasse hinausragte.

    Halil Agha hieß Said zu seiner Linken und sein anderes Enkelkind Mersed zu seiner Rechten Platz zu nehmen, und auch Destegül, Dilruba und Hayrunnisa, Merseds Schwester, suchten seine Nähe. Er liebte seine Enkelkinder und sonnte sich in der Wärme, die sie ihm, ihrem Großvater, gegenüber ausstrahlten. Nadire setzte frischen Kaffee auf, dessen Zubereitung jedoch ein wenig Zeit beanspruchte.

    Währenddessen unterhielten sich die Väter und der Großvater über den heutigen Tag. Ibrahim und Adil Bey hatten es sich gegenüber vom Kamin an der rechten Wand gemütlich gemacht. Freudige Erwartung machte sich breit. Denn Halil Agha wusste zu jedem Anlass eine spannende Geschichte zu erzählen, und das würde er bestimmt auch gleich wieder tun. Doch Said kam ihm zuvor und fragte ihn nach den zwei Unruhestiftern auf dem Marktplatz. Schließlich war der Großvater selbst Janitscharen-Agha gewesen und sollte diese Leute daher eigentlich gut kennen.

    „Was wollten die beiden Soldaten von unserer friedvollen Versammlung? Warum mussten sie sich so unbeliebt machen, obwohl wir ihnen doch immer mit Respekt begegnen. Sind alle Soldaten so schlimm oder nur diese beiden? Und wieso waren sie angetrunken, obwohl sie doch den gleichen Glauben haben wie wir?"

    Halil Agha sortierte zunächst kurz seine Gedanken. Dann antwortete er:

    „Es ist schon lange her. Ich war gerade 20 Jahre alt und vom Zögling zum Janitscharen befördert worden, da drückte mir mein Agha einen Säbel in die Hand und befahl mir, auf Patrouille zu gehen. Damals verging kein Tag, an dem sich nicht ein Überfall auf unschuldige Passanten ereignete. Handwerker und Verkäufer klagten über schlecht laufende Geschäfte, Staatsbedienstete wurden bedroht, und junge Frauen fürchteten um ihre Jungfräulichkeit.

    Auch der Kadi, der Richter, wusste sich nicht weiterzuhelfen und bat den Sultan um mehr militärische Unterstützung. Hinter dem Galata-Turm gab es eine Schänke, die von einem kleinwüchsigen Wirt betrieben wurde. Sie war bekannt dafür, dass sich dort Gesindel und Gauner trafen. Zusammen mit einem anderen Janitscharen sollte ich sie kontrollieren, also gingen wir hin.

    An Weinfässern, die als Tisch dienten, saßen einige Männer und tranken Raki. Sie unterhielten sich lauthals, aber alles schien friedlich. Wir fragten den Wirt, ob es an diesem Tag schon Probleme gegeben hätte. Der griechische Akzent verriet uns seine Herkunft. Er verneinte und nahm weitere Bestellungen auf, die ihm seine Gäste entgegenbellten.

    Offensichtlich begegnete er uns Soldaten nicht gerade mit Wohlwollen, jedenfalls zollte er uns trotz unserer Uniform keinerlei Respekt. Und wer wollte es ihm verdenken, da er in diesem Milieu wahrscheinlich nur mit solchen Soldaten zu tun hatte, die ihn in seiner Meinung bestärkten. Denn auf einmal stürmten zwei Janitscharen gefolgt von zwei Komplizen in Zivil brüllend und marodierend in die Schänke und stießen alle, die ihnen im Weg standen, rücksichtslos zur Seite. Halbvolle Gläser zerschellten am Boden, aber niemand brachte einen Ton heraus. Keiner wollte sich mit den Störenfrieden anlegen. Auch der Wirt duckte sich hinter seinen Tresen, obwohl die vier Eindringlinge es gar nicht auf ihn abgesehen hatten.

    Vielmehr knöpften sie sich scheinbar wahllos einige Gäste vor und schlugen auf sie ein. Uns bemerkten sie jedoch zunächst nicht. Als der eine von ihnen einen weiteren Faustschlag anbringen wollte, trat ich entschlossen dazwischen und schleuderte ihn in die Ecke. Sodann entbrannte ein heftiger Kampf, an dessen Ende mein Freund und ich den Sieg davontrugen. Die vier Schläger verließen panikartig die Schänke, ohne sich auch nur noch einmal umzublicken."

    „Ähnlich wie heute", unterbrach ihn Mersed.

    „Aber warum werden Soldaten handgreiflich, wenn ihnen doch niemand etwas getan hat oder tun will?", hakte Said noch einmal nach.

    „Jeder hat seine eigenen Beweggründe, mein Sohn, aber nicht jeder Grund ist zu rechtfertigen", fuhr sein Großvater fort. „Den Janitscharen ging es damals nicht gut. Aufgrund der schlechten Finanzen konnten die Sultane nicht mehr wie früher alle drei Monate einen Sold zahlen. Aber ein großes Reich braucht Soldaten, die einen angemessenen Lohn bekommen; schließlich müssen sie ja auch von etwas leben.

    Allerdings war der ausbleibende Lohn nicht der einzige Grund für ihr übles Benehmen. Die ersten Janitscharen hatten noch nicht einmal heiraten und ein ziviles Leben führen dürfen wie wir. Sie waren die Leibwächter der Sultane gewesen und hatten einzig und allein für das Wohlergehen ihrer Herren gelebt, gewissermaßen als Söldner auf Lebenszeit. Mit der Zeit erhielten sie dann viele Rechte und Privilegien zugesprochen, die andere nicht besaßen. Nun führten sie nicht nur ein ziviles Leben, sondern betrieben sogar Geschäfte."

    „Obwohl sie nach wie vor vom Sultan bezahlt wurden? Aber das ist doch ungerecht", mischte sich Mersed ein.

    „Ja, aber so kam es nun einmal. Mit der Zeit entlockten sie ihren Herren immer mehr Zugeständnisse, bis sie dem Sultan schließlich sogar Befehle erteilen konnten und ihn zwangen, alles zu tun, was sie wünschten. Wenn gewöhnliche Untertanen gegen das Gesetz verstoßen, sorgen die Regenten mit Hilfe ihrer Soldaten für Ordnung, aber wenn die Janitscharen gegen das Gesetz verstoßen, wer soll sie dann bestrafen? Dann gibt es nur eines: Chaos. So mussten viele Sultane notgedrungen abdanken. Einige verloren deshalb sogar ihr Leben. Schrecklich zu hören, aber das ist eine Tatsache. Die Unruhen sind seitdem nicht mehr abgeebbt."

    Als Halil Agha an seinem Kaffee nippte, bemerkte er, dass er kalt geworden war.

    Wenig später bedankte sich Adil Bey bei seinem Bruder Ibrahim für die Gastfreundschaft und küsste seinem Vater respektvoll die Hand. Dann bedeutete er den Seinen, dass es Zeit war, nach Hause zu gehen.

    Nachdem sich ihre Gäste verabschiedet hatten, holte Afife die Bettbezüge aus einer Luke an der Wand hervor und richtete sie auf dem Boden her. Said legte sich gleich hin. Der Tag war schön, aber auch sehr anstrengend gewesen. Bevor er einschlief, dachte er noch einmal über die Worte seines Großvaters nach.

    Einerseits waren die Janitscharen die Hüter des Rechts. Andererseits aber missbrauchten sie ihre Macht, um die Sultane zu erpressen, ja sogar zu töten. Offenbar waren sie nicht zu zügeln. Und plötzlich reifte in ihm ein Entschluss. Er würde selbst ein Janitschar werden. Aber nicht einer wie die Störenfriede von heute oder die Schläger von damals in der Schänke. Nein, er wollte es anders machen. Sein Vorbild war und blieb eine Person: sein Großvater.

    Kapitel 2

    Argos Orestiko, Südalbanien

    In Begleitung des Provinzgouverneurs, eines Schreibers und einiger Soldaten bereiste der Yayabaschi die Dörfer am Südufer des Kastoria-Sees und am Oberlauf des Flusses Aliakmonas. Der höhere Offizier der Osmanen suchte nach geeigneten Knaben für die Sultanstruppen, die dann nach Istanbul entsandt werden und dort eine gründliche Ausbildung von Körper und Geist erhalten sollten. Bei diesem Unterfangen hatte er die strengen Vorschriften der Knabenlese zu befolgen und durfte nur christliche Kinder rekrutieren. Einzelkinder, Muslime, Türken, Vollwaise und Kinder ohne rechtmäßigen Leumund waren tabu.

    Am heutigen Tag gehörte auch der orthodoxe Priester des Bezirks Orestiko zum Gefolge des Yayabaschi. Unter seinem rechten Arm klemmte das Taufregister, mit dem er bei Bedarf schnell nachweisen konnte, dass die ausgewählten Kinder auch tatsächlich Christen waren. Denn nicht selten kam es vor, dass eigentlich von der Knabenlese ausgeschlossene Familien gefälschte Papiere vorlegten, um ihren Kindern eine vielversprechende Karriere zu ermöglichen.

    Der Priester führte den Beamten und seine Begleiter zu der Familie, deren ältesten Sohn der Yayabaschi bei einem früheren Besuch bereits ausgewählt hatte. Sie klopften an die ausgediente Tür einer von Olivenbäumen umrankten Holzstube. Dort, am Rande der Ortschaft nahe dem Fluss, lebte die alte Jetmira mit ihrem Sohn und ihren drei kleinen Enkelkindern in ärmlichen Verhältnissen.

    Der Verkauf ihrer Oliven auf dem Wochenmarkt sicherte ihnen wenigstens einen bescheidenen Unterhalt. Vor einem Jahr hatten die Kinder bei einer Schießerei im Dorf ihre Mutter verloren. Zwei rivalisierende Gruppen waren aufeinander losgegangen, und eine verirrte Kugel hatte die Frau tödlich verletzt.

    Kreischend öffnete sich die Tür, und auf der Schwelle stand die alte Dame in ihrer traditionellen Tracht, einem langen, weißen Hemd, darüber ein Filzmantel und eine Futa genannte Schürze. Während ihre Kleider noch einen relativ gepflegten Eindruck hinterließen, verrieten die Opanken an ihren Füßen, dass dies schon seit längerer Zeit ihr einziges Schuhwerk war. Hinter ihr tauchte ein Mann Mitte Dreißig auf. Er trug eine Dollama, den langen Filzmantel der albanischen Bauern, dazu Gamaschen und eine Schärpe.

    Trotz seiner jungen Jahre war sein Gesicht mit tiefen Furchen durchsetzt, die im Zusammenspiel mit seinem ergrauten Haar von dem harten Schicksal erzählten, das ihn in den vergangenen Jahren ereilt hatte. Er wirkte fast genauso alt wie seine Mutter, die neben ihm stand. Sofort rief er seinen ältesten Sohn zu sich und stellte ihn dem Beamten vor. Der Yayabaschi fragte den Jungen:

    „Wie heißt du mein Junge?"

    „Betim."

    „Dem Taufregister nach zu urteilen, bist du schon acht Jahre alt und damit alt genug für eine Rekrutierung."

    Zweifelnd wanderte sein Blick zum Vater des Kindes, und er fügte in ernsterem Tonfall hinzu:

    „Aber auch wenn du erst sieben wärest, hätten wir dich mitgenommen. Denn einem neuen Erlass zufolge spielt das Alter ab jetzt keine Rolle mehr. Das Reich braucht dringend vertrauenswürdige und treue Soldaten, die bereit sind zu kämpfen, anstatt sich in erster Linie Gedanken um ihre persönlichen Rechte zu machen. Dazu wollen wir dich erziehen."

    Damit spielte er auf die schwierige Lage an, in der sich das militärische System befand. Seit längerem schon führten viele einfache Soldaten und besonders die Janitscharen ein eher ziviles als militärisches Leben, was aus der einstmaligen Elitetruppe eine Horde von Müßiggängern zu machen drohte.

    Betims Vater war wegen der anstehenden Trennung von seinem Erstgeborenen so tief berührt, dass er seine Tränen nicht verbergen konnte. Andererseits jedoch stolzierte er seit Tagen schon mit geschwellter Brust durch die Gegend, weil seinem Sohn eine beneidenswerte Karriere im Sultanspalast winkte -die Chance auf einen Aufstieg in die höchsten zivilen und militärischen Ränge im Reich. Wie würden ihn die Nachbarn dann wohl behandeln? Auf jeden Fall mit mehr Ehrerbietung als bisher.

    Nie wieder würde ihn der Lehnsherr mit seinen berittenen Sipahis so demütigen können wie neulich auf dem Wochenmarkt, als er ihm eine Geldstrafe aufgebrummt hatte, nur weil ihm seine salzigen Oliven nicht schmeckten. Angeblich hatte sich irgendein Kunde beschwert. Damit wäre dann Schluss. Schon bald wäre er kein unbedeutender Bauer mehr, sondern der stolze Vater eines hohen Offiziers. Hinzu kam noch die Befreiung von der Steuerlast.

    Ein tiefer Seufzer seiner Mutter riss ihn aus seinen Träumen. Jetmira wischte sich ihre Tränen ab und küsste Betim auf beide Wangen.

    Der Schreiber notierte sich die Namen des Knaben, des Vaters und des Dorfes und überreichte dem Vater im Gegenzug den Namen einer Kontaktperson im Sultanspalast, von der die Familie später erfahren sollte, welcher türkischen Familie ihr Sohn anvertraut worden war. Denn die christlichen Knaben wurden nach einer Feier im Palast in Bauernfamilien in Anatolien gegeben, die ihnen die Sitten, die Gebräuche und die Kultur des Osmanischen Reichs nahebringen sollten. Während ihres Aufenthalts bei diesen Familien schlossen die Knaben ihre Schulbildung ab. Anschließend kamen sie wieder unter die Fittiche der Hohen Pforte, die sie speziell für den Staatsdienst ausbildete.

    Betim umarmte seine Großmutter, seinen Vater und seine Geschwister, machte auf dem Absatz kehrt und folgte dem Yayabaschi. Hin und wieder drehte er sich um und warf tränenüberströmt letzte Blicke auf die Zurückgelassenen, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden waren.

    Der vollbärtige, adleräugige Yayabaschi war ein ernster Mann. Er trug ein grünes Gewand aus Samt mit Pelzbesatz und weiten Scheinärmeln. An seinem Turban steckten einige Reiherfedern. Von seinem hohen Rang kündeten einzig seine roten Lederstiefel. Er befahl den drei Soldaten, die ihn begleiteten, alle rekrutierten Knaben kurz vor Sonnenuntergang an ihrem Militärstützpunkt zu versammeln. Damit meinte er das Zeltlager, das sie am Nordufer des Kastoria-Sees aufgeschlagen hatten.

    Ein Dutzend Knaben waren bereits dort eingetroffen, und am Nachmittag stieß auch Betim zu ihnen. Am Abend lauschten sogar insgesamt fünf Dutzend Frischlinge, akkurat aufgestellt in Dreierreihen, der Ansprache des Yayabaschi.

    „Knaben, ab heute gehört ihr dem Osmanischen Reich. Vor euch liegt eine lange Reise, die euch zuerst nach Istanbul und danach für einige Jahre in eine Ziehfamilie nach Anatolien führen wird. Anschließend könnt ihr dann im Sultanspalast zeigen, was ihr gelernt habt, um entweder in die Palastschule Enderun oder in die Armee aufgenommen zu werden. Die Palastschule bildet ihre Schüler für eine Arbeit in der Verwaltung aus. Ihre Absolventen können Gouverneur oder Hofbeamter werden, und wenn es das Schicksal gut mit ihnen meint, sogar Großwesir. Die körperlich Robusten unter euch hingegen haben beste Chancen auf eine Ausbildung in der Armee. Auch sie können später in hohe Ränge aufsteigen."

    Der Beamte wollte den Knaben, die ihre Elternhäuser verlassen mussten, zum einen die Angst nehmen und Mut zu machen. Zum anderen wollte er ihnen aber auch nicht den Eindruck vermitteln, dass ihnen gute Posten ganz ohne Anstrengung zufallen würden.

    Nach diesen aufmunternden Worten träumte nun auch Betim selbst, wie schon am Mittag sein Vater, von einem steilen Aufstieg und von dem Respekt, den ihm die Menschen dann zollen würden. Hatte er das Zeug dazu, gar Großwesir zu werden und den Sultan in allen Belangen zu beraten? Und wie weit könnte er es bringen, wenn er als Soldat aufgenommen würde? Natürlich würde sich das erst im Laufe der nächsten Jahre zeigen. Zumindest aber würde er alles tun, um seine Vorgesetzten mit Disziplin und Eifer zu überzeugen.

    Als Betim im Lager angekommen war, war es ihm noch nicht aufgefallen; jetzt aber registrierte er verwundert, dass er der kleinste und schwächlichste der Jungen war. Alle anderen waren mindestens einen Kopf größer als er. Nach der Ansprache des Yayabaschi verteilten die Aufseher des Lagers jeweils fünf Knaben auf ein Zelt und befahlen ihnen, sogleich zu schlafen, weil man schon in der Morgendämmerung aufbrechen würde.

    Betim legte sich auf den Rücken und schaute zum Zeltdach auf. Er stellte sich vor, welches Leben er ab jetzt führen würde und fiel dabei langsam in Schlaf. Im Traum entfuhren seinen Lippen unverständliche Wortfetzen. Einmal glaubte sein linker Bettnachbar, ein eingebildeter Wuschelkopf aus dem nächstgelegenen Dorf, das Wort Großwesir verstanden zu haben. Er sprach Betim darauf an, doch dieser brummelte nur kurz, drehte sich zur anderen Seite und schlief sofort wieder ein.

    In aller Frühe weckten die Lageraufseher die Knaben, und gemeinsam bereiteten sie die Kutschen für die Abreise vor. Dann ertönte der Schrei des Yayabaschi zum Aufbruch, und schon wälzten sich die Räder im Takt mit den Schritten der Pferde in Richtung Hauptstadt.

    Betim und fünf weitere Kinder saßen in einer Kutsche, darunter auch der Wuschelkopf. Er war eine Nervensäge und bereitete Betim schlechte Laune. Wie sollte er diesen Mistkerl die ganze Zeit ertragen? Betim wusste nicht einmal, wie viele Tage die Reise dauern würde. Das hatte der Yayabaschi gestern nicht gesagt, und fragen wollte er auch nicht; denn er befürchtete, dass die anderen ihn für schwach halten und hänseln würden, zumal er der Kleinste war und sich kaum hätte wehren können.

    Nach dem Tod seiner Mutter hatte er seinen Vater sagen hören, der Streit im Dorf habe sich daran entzündet, dass ein elfjähriger Junge mit wuscheligen Haaren aus dem Nachbardorf jemanden verleumdet hatte. War sein Weggefährte also der Auslöser des Handgemenges, bei dem seine unschuldige Mutter getötet worden war? Falls ja, würde er es bitter bereuen!

    Aber nicht jetzt. Noch war er nicht stark genug, seine Mutter zu rächen, und außerdem musste er ganz sicher gehen, dass der Junge tatsächlich schuld war. Also verschob er die Angelegenheit auf einen späteren Zeitpunkt und verdrängte sie aus seinen Gedanken. Durch die Luken der Kutsche sah er die dichten Bäume des steinernen Waldes von Nostimo vorüberziehen. Mit dem Gezwitscher der Vögel erwachte der neue Tag allmählich zum Leben.

    ***

    Einen Monat später erreichte der Kutschenzug nach beschwerlicher Reise Istanbul. Betim bewunderte die imposanten hohen Türme der Minarette der Blauen Moschee und staunte über die riesigen Menschenmassen. Straßenverkäufer, die ihre Waren feilboten, das Geklapper der Hufe auf den gepflasterten Gassen, herumtollende Kinder und die Rufe der Muezzins zum Mittagsgebet bildeten zusammen ein vielstimmiges Orchester.

    Es war Spätsommer und die Sonne stand im Zenit. Die Jungen waren erschöpft von den Strapazen der Reise, und bevor sie den Sultanspalast betraten, brauchten sie dringend eine Erfrischung. Also geleitete man sie quer über den Sultanahmet-Platz zum angrenzenden Haseki-Hamam, das die berühmte Roxelane, die Frau von Sultan Suleiman dem Prächtigen, gestiftet hatte.

    Mit einem Tuch, das als Lendenschurz diente, bekleidet, legte sich Betim für eine Weile auf die angenehm temperierte marmorne Liegefläche in der Mitte des Dampfbades. Anschließend übergoss er sich an einem der Waschbecken an der Seite des Raumes mit heißem Wasser und schrubbte sich mit einem Baumwollsack und Seife gründlich ab. Gern hätte er sich noch einmal auf die runde Platte gelegt und sich dann eine Ewigkeit nicht mehr von der Stelle gerührt, doch heute war der Tag, an dem sein neues Leben im Sultanspalast beginnen würde. Und schon hallte der unmissverständliche Befehl des Yayabaschi durch die Gewölbe. Laut und deutlich forderte er seine Truppe zum Gehen auf.

    Inzwischen hatte sich Betim längst daran gewöhnt, herumkommandiert zu werden, und er machte sich keine Illusionen. Auch in seiner Ausbildung, vielleicht sogar sein ganzes Leben lang würde sich daran nichts ändern. Doch sein Vater hatte ihm eingeschärft, dass dies eben der Lauf der Dinge sei. Der Obrigkeit musste Gehorsam geleistet werden. Sein armer Vater wäre nie auf die Idee gekommen, sich ihr zu widersetzen, auch wenn das Leben noch so gnadenlos sein konnte. Aber irgendwann würde Betim die Chance bekommen, selbst Kommandos zu erteilen. Und bestimmt wäre er dann ein barmherziger Befehlshaber.

    Erneut bestiegen die Jungen ihre Kutschen, die sie zum Topkapi Palast, dem Sultanspalast gleich hinter dem Sultanahmet-Platz, bringen sollten. Vor ihnen öffnete sich das Großherrliche Tor, das aus Marmor gefertigte Bab-i Humayun, der Haupteingang des Palastes. Selbst das Tor der prunkvollen orthodoxen Kirche in Betims Dorf war nicht annähernd so reich verziert wie dieses. Ehrfurchtsvoll blickte er auf die ineinander fließenden arabischen Schriftzüge über dem Portal, die er nicht entziffern konnte.

    Im angrenzenden ersten Hof empfing sie der Hofmeister mit einem freundlichen Lächeln. Er war von kleiner Statur, sprühte jedoch förmlich vor Energie und schenkte seinen neuen Gästen volle Aufmerksamkeit. Auch der Sultan schätzte ihn sehr und schickte ihn ganz bewusst vor, damit der erste Eindruck seiner Gäste positiv ausfiel. Der Hofmeister salutierte vor dem Yayabaschi und dessen Schreiber, die als Erste aus der Kutsche gestiegen waren. Betim wartete ungeduldig darauf, dass man auch sie herausrief.

    Dann mussten sich die Jungen erneut in Dreierreihen aufstellen und abzählen lassen. Diese Zählungenhatten sie schon vom ersten Tag an durchgeführt, weil die Beamten fürchteten, dass sich andere Jungen, die nicht ausgewählt worden waren, auf Geheiß ihrer Eltern nachträglich einschlichen. Betim gefiel diese Prozedur nicht, er fühlte sich wie ein Schaf in einer Herde.

    Danach geleitete der Hofmeister die Jungen in den zweiten Hof, damit sie in der Palastküche ein ordentliches Mahl zu sich nahmen. Es gab Fleischbälle auf Bulgur, eine kleine Schüssel Pflaumenkompott und einen Laib Gerstenbrot. Nachdem sie ihren Hunger gestillt hatten, folgten sie dem Hofmeister in einen großen Saal mit aufwendigen blauen Fayencen und dunkelbraunen Holzverzierungen an der Decke.

    In der Mitte des Raumes stand ein hochaufragender, thronartiger Stuhl, auf dem ein Mann saß, der großes Selbstbewusstsein, aber Hochmut und Verachtung ausstrahlte. Betim schätzte ihn auf Anfang Dreißig. Obwohl selbst also noch sehr jung, war er von betagten, vollbärtigen Männern und mehreren Wachen umgeben. Ohne ersichtlichen Anlass warf er den Neuankömmlingen feindselige Blicke zu und fuhr den Hofmeister an:

    „Sind sie das?"

    Auf den Boden starrend und die Hände vor dem Bauch gefaltet, bejahte der Hofmeister. Da erhob sich der Mann von seinem Stuhl und ging auf die Jungen zu. Er näherte sich einigen von ihnen, und auch Betim umkreiste er und musterte ihn kalt. Seine erniedrigenden, gefühllosen Blicke brachten Betim ins Schwitzen. Alles in ihm zog sich zusammen. Was würde nun passieren?

    Plötzlich verlor der Mann das Interesse an den Jungen und schickte sie einen nach dem anderen hinaus. Doch als Betim ebenfalls den Saal verlassen wollte, befahl ihm der Mann über einen Dolmetscher, stehenzubleiben und sich umzudrehen. Schweißgebadet und verängstigt gehorchte Betim und schaute zögernd zu ihm auf. Erneut musterte ihn der Mann, diesmal jedoch genauer von Kopf bis Fuß. Dann gab er einige Worte von sich, die der Dolmetscher Betim umgehend übersetzte.

    „Wie heißt du, Junge?"

    „Betim, mein Herr."

    „Betim, aha. Du hast so verteufelt betrügerische Augen, Betim. Das gefällt mir. Aus dir kann viel werden. Wie dir ja wahrscheinlich bereits mitgeteilt wurde, werde ich dich in eine türkische Familie schicken, in der du die Sitten und Gebräuche dieses Landes kennenlernen sollst. Beschneiden lassen musst du dich erst einmal nicht, denn Knabenlese bedeutet nicht Zwangskonvertierung.

    Du hast Glück und wirst nicht, wie die meisten anderen Jungen, nach Anatolien zu einer Bauernfamilie geschickt, sondern kommst in eine Familie hier in der Hauptstadt, die dich als Zögling aufnehmen wird. Wenn du reif genug bist, werde ich dich in den Palast zurückrufen lassen, jedenfalls wenn ich dann noch lebe. Es wird nämlich viele Jahre dauern."

    Dieser letzte Satz erleichterte Betim, weil er diesen Mann, der solchen Schrecken verbreitete, am liebsten nie wieder sehen wollte. Und außerdem: Was sollte diese Bemerkung zu seinen angeblich betrügerischen Augen? Sein ganzes Dorf wusste doch, dass Betim ein treuherziger, liebenswerter Junge war.

    Der Mann gab ihm einen Klaps in den Nacken, lächelte ihm verschlagen zu und bedeutete ihm auf diese Weise abzutreten. Erst auf dem Hof fühlte Betim allmählich wieder Boden unter den Füßen. Er fragte den Hofmeister, der auf der Türschwelle neben den Wachen auf ihn gewartet hatte, wie der Mann hieß und warum er so barsch mit seinen Gästen umsprang. Doch dieser entgegnete nur knapp: „Jeder von uns hat seine Eigenschaften, Junge, so auch Köse Musa", und verfiel dann in Schweigen.

    Betim hätte gern mehr über den Mann erfahren, aber der Hofmeister fürchtete sich anscheinend ebenfalls vor ihm und wollte sein Wissen nicht preisgeben. Warum sollte er auch einem Fremden seine Geheimnisse enthüllen, noch dazu einem Achtjährigen?

    Der Hofmeister brachte ihn zu der Kutsche im ersten Hof zurück und half ihm beim Einsteigen. Dann wies er den Kutscher an, Betim in Galata am Konak eines Gelehrten namens Ibrahim abzusetzen, der an der Medrese gegenüber vom Goldenen Horn lehrte, die zur Stiftung der Süleymaniye-Moschee gehörte. Der Mann sei in dem Viertel wohlbekannt. Mit einem lauten Knall seiner Peitsche verabschiedete sich der Kutscher von dem Hofmeister, und unter störrischem Wiehern setzten sich die Pferde in Bewegung.

    Aus dem Großherrlichen Tor heraus ging es die gepflasterte Gasse hinunter zum Hafen am Goldenen Horn. Dort lagen einige kleine Boote vertäut, die neben einzelnen Passanten auch ganze Kutschen ans gegenüberliegende Ufer von Karaköy beförderten.

    In Karaköy trieb der Kutscher sein Gefährt durch die engen Gassen, bis sie schließlich den Marktplatz von Galata erreichten. Dort fragte er den Besitzer der Verkaufswerkstatt neben dem Kaffehaus von Sami nach dem Gelehrten, und Hüseyin schickte ihm seinen Lehrling mit.

    Der Kutscher folgte ihm langsam, stoppte wenig später vor Ibrahims Haus und betätigte den schweren Türklopfer am rechten Flügel des Tores. Damit signalisierte er den Bewohnern, dass ein Mann vor der Tür stand und dass dementsprechend auch ein Mann die Tür aufmachen sollte. Denn die Frauen des Hauses sollten sich keinem fremden Besucher unverschleiert zeigen. Neben diesem schweren Türklopfer hing ein weiterer kleinerer Klopfer, der einen helleren Ton erzeugte. Er war für die weiblichen Gäste gedacht.

    Es war Said, der ihnen öffnete. An diesem Nachmittag war er früher aus der Schule gekommen, weil sich Salih Hodscha eine Erkältung zugezogen hatte und das Bett hütete. Der Mülasim, ein Vertreter des Hodschas, hatte die ersten Stunden übernommen und die Kinder gegen Mittag nach Hause entlassen. Sicherheitshalber fragte der Kutscher ihn nochmals nach dem Besitzer des Konaks, dann ließ er Betim samt seinem spärlichen Gepäck aussteigen. Als der Kutscher seine Pferde schon wieder die Peitsche schmecken ließ, begrüßten sich Betim und Said mit einer scheuen Geste. Schnell stellten sie fest, dass es ein großes Problem gab. Betim verstand kein Türkisch und Said kein Albanisch.

    Kurze Zeit später kam auch Afife herunter, um zu sehen, wer da gekommen war. Als sie Said dort mit einem fremden Jungen stehen sah, begriff sie schnell, dass er das angekündigte Ziehkind sein musste. Doch auch sie hatte ihre liebe Mühe und Not, mit ihm zu kommunizieren. Gemeinsam stiegen sie die Treppe ins Obergeschoss hinauf, und die Jungen nahmen auf dem Diwan Platz. Afife brachte den beiden Plätzchen, die sie gestern gebacken hatte, und Himbeersaft dazu. Gegen Abend versammelte sich die ganze Familie. Nun begrüßten auch Halil Agha und Ibrahim ihren jungen Gast. Glücklicherweise hatte Halil Agha früher öfter mit albanisch-stämmigen Janitscharen zu tun gehabt und dabei einige Wörter und Wendungen aus ihrer Sprache aufgeschnappt.

    Ibrahim wiederum sprach fließend Arabisch und unterhielt sich gelegentlich mit bosnischen Danischmends, die kurz vor einem Medrese-Abschluss standen. Dabei hatte auch er ein paar Brocken Albanisch gelernt.

    Es wurde ein langer Abend, weil alle viele Fragen an Betim hatten. Schließlich würde er von nun an einige Jahre bei ihnen wohnen. Als sie gegen Mitternacht zu Bett gingen, äußerte Betim den Wunsch, in Saids Zimmer zu schlafen. Betim hatte ihn auf Anhieb sehr gemocht.

    Am nächsten Morgen entschuldigte sich Said bei Betim dafür, dass er ihn nun allein lassen musste, versicherte seinem neuen Freund aber, ihm nach der Schule das ganze Viertel zu zeigen: die Moschee, die Läden und die Menschen. Für Said war es eine große Herausforderung, sich ohne viele Worte zu unterhalten. Aber das tat seiner Begeisterung keinen Abbruch. Er zweifelte keine Sekunde daran, dass sie sich auch weiterhin gut verstehen würden.

    Kapitel 3

    Hohe Pforte

    Begleitet von einer tiefen Verbeugung und wohlfeilen Worten, übergab der in osmanische Beamtentracht gekleidete persische Abgesandte Köse Musa ein versiegeltes Schreiben von seinem Auftraggeber, dem persischen Schah Karim Khan. Dann drehte er sich um und verließ ohne weitere Erklärung den Raum. Misstrauisch studierte Köse Musa die Schriftrolle, die er in Händen hielt. Er brach das Siegel auf und las:

    Musa, mein ergebener Freund. In dem Moment, in dem Ihr diese Zeilen überfliegt, sprechen gerade zwei Kinder in Eurem Palast vor und bitten um Aufnahme. Die beiden kommen von mir, und sie geben sich als Geschwister aus, obwohl sie sich noch gar nicht kannten, als sie von hier aufbrachen. Der Junge heißt eigentlich Farhad und das Mädchen Parwin. Weil ihre richtigen Namen aber zu Persisch klingen würden - wenn Ihr versteht, was ich meine - habe ich sie Kamil und Kamile genannt. Eure Sprache beherrschen sie schon von Kindesbeinen an. Nun sollen sie so ausgebildet werden, dass sie später einmal die Interessen meines Landes verfechten können. Es wäre mir lieb, wenn Ihr ihnen ermöglicht, in hohe Ränge aufzusteigen und zu zuverlässigen Informanten zu werden. Wem, wenn nicht Euch, könnte ich in dieser delikaten Angelegenheit vertrauen? Schließlich verfolgen wir doch beide dasselbe Ziel: den Untergang der Osmanen. Wir werden ihnen von innen wie von außen die Luft abschnüren. Von außen unterstützt uns übrigens auch die russische Kaiserin Katharina nach Kräften. Also, nehmt Euch der beiden Kinder an, und weist sie ein.

    Auf gute Zusammenarbeit,

    Karim Khan, Wakil der Zand-Dynastie und Herrscher über den Orient.

    Auch wenn die Perser die meisten Schlachten gegen die Osmanen verloren hatten, fühlten sie sich ihnen seit Jahrhunderten überlegen. Alle militärische und politische Macht lag bei den Osmanen. Trotzdem ließen es sich die Perser nicht nehmen, immer wieder Intrigen zu spinnen, um ihnen zumindest auf diesem Wege zu schaden. Und Köse Musa war für diese Art von Intrigen empfänglich. Ihn verband schon seit längerer Zeit eine Kollaboration mit dem Schah, von der er persönlich zu profitieren hoffte.

    Beide waren bestrebt, das Reich aufrechtzuerhalten. Während es jedoch Köse Musa darum ging, seine eigene Herrschaft an die Stelle der osmanischen Dynastie zu setzen, versuchte der Schah die Schia, zweitgrößte Konfession im Islam, zu verbreiten und somit das sunnitische Reich mit diesem Gedankengut zu unterwandern. Jedoch war das Osmanische Reich sehr groß.

    Köse Musa Pascha und einige ähnlich denkende Staatsmänner im Reich reichten nicht aus, um unter anderem die Ziele Teherans zu verwirklichen. Daher bedurfte es vieler Informanten, die heimlich im Palast erzogen wurden, um später entsprechend eingesetzt zu werden. Farhad und Parwin waren zwei von Hunderten solchen Kindern.

    Ohne weitere Zeit zu verlieren, ließ er nach den beiden Kindern rufen. Kurze Zeit später führte sein persönlicher Leibdiener sie herein. Köse Musa hieß seine kleinen Gäste willkommen und breitete die Arme aus, so als wolle er sie umarmen. Ganz entgegen seinen sonstigen Gepflogenheiten rang er sich ein Lächeln ab und bat sie, auf dem Diwan ihm gegenüber Platz zu nehmen. Der Junge erwiderte seinen Gruß und setzte an, sich vorzustellen: „Ich bin Kamil, und das ist meine Schwester Kamile. Wir kommen, um..."Doch sofort fiel ihm Köse Musa ins Wort und zeigte sein wahres Gesicht. Denn es war ihm unerträglich, wenn Untergebene, und seien es Kinder, unaufgefordert zu ihm sprachen.

    „Ich weiß, ich weiß. Du brauchst mir nicht zu verschweigen, dass ihr eigentlich Farhad und Parwin heißt. Karim Khan, mein gütiger Freund, hat mir den Grund eures

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