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Unglück: Erinnerungen
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eBook410 Seiten4 Stunden

Unglück: Erinnerungen

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Über dieses E-Book

Als an dem sonnigen Morgen des 3. Juni 1998 ein ICE München verlässt, ist die Welt der Mitarbeiter, der Passagiere und ihrer Familien noch in Ordnung. Anna, eine aufstrebende Ingenieurin erwartet Max, doch sie wird zu einer Katastrophe gerufen. Silvia und Mini suchen ihren Bruder, und ein Professor, der gerne Geschichte schreibt, zieht an den Fäden der Justiz. Alle - grundverschieden - verbindet das Unglück.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum8. Dez. 2017
ISBN9783742761934
Unglück: Erinnerungen

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    Buchvorschau

    Unglück - Iris Wandering

    Inhalt

    Anna und Max sind sehr verschieden, dennoch passen sie gut zusammen. Sie wollen gemeinsam ein neues Leben beginnen. Anna will ihm etwas sagen. Max will sie etwas fragen. – Dann passiert ein Unfall. Ein Zugunfall in Eschede.

    Silvia und Mini erfahren von einem Bahnunfall und machen sich auf die Suche nach Max, ihrem großen Bruder. – Die Geschwister geben sich nichts in ihren Fragen. Mick ist Silvias verlässlichster Freund, und beste Freunde sind manchmal sehr unbequem. – Mick hat so manche passende Antwort. Und dann ist da noch Jan, den Silvia zwar nicht gesucht aber gefunden hat. Schließlich gibt es noch einen Professor, der mit der Justiz spielt, als handele es sich um Marionetten.

    Ausgehend von einer realistischen Situation erzählt Iris Wandering in diesem Roman vom Suchen und Finden. Von Tränen und solchen, die im Halse stecken bleiben. Vom Leben und Tod und einem vielfältigen Dazwischen – von freiwilligen und unfreiwilligen Veränderungen. Silvias Erinnerungen sind wie Puzzlestücke, die sich rund um ein Unglück ergeben können.

    Die Geschichte hat sich so nie ereignet. Da sich aber manche so darstellen, dass es sie wirklich geben könnte – Handlungen als auch Personen – kann es zusammen mit den Zitaten zu zufälligen Übereinstimmungen kommen.

    Ostersonntag, 20. April 2014, Zwischen Küchentisch und Badezimmer

    Psst.

    Silvia, wieso «Psst»?

    Sei nicht so laut. Es ist mitten in der Nacht! Und mach dich nicht so breit.

    Warum denn nicht?

    Dann kann ich meine Gedanken nicht sortieren. Ich will schreiben.

    Ich bin deine Gedanken.

    Na, dich will ich jetzt aber nicht. Ich will die anderen. Also mach dich mal dünne. Warte! Eins noch: Wie schreibt man heute das Wort Katastrophe?

    Mensch Silvia, du hast wirklich seit den Achtzigern keine einzige Rechtschreibreform mitgemacht?

    Nee, wozu denn? Die haben doch immer mal wieder etwas geändert. Also, wie ist das mit der Katastrophe – doch mit f?

    Warum hat´s so lange gedauert, dich hierherzubekommen?

    Halt! Lass mich doch erst einmal aufwachen und der Stift muss auch noch funktionieren. Also, sei nicht so ungeduldig und fang noch mal von vorne an. Danke!

    Okay, okay!

    Jetzt sei nicht eingeschnappt.

    Bin ich nicht. Fang endlich an!

    Ist ja gut! Ist schon schräg genug, wenn mich alle für stumm halten, weil ich sonst nichts sage und noch schräger, wenn die wüssten, mit wem ich rede.

    So schlimm ist es nicht. Ein Außenseiter zu sein ist gar nicht so schlecht, da bekommst du interessante Perspektiven auf das Leben.

    Soso. – Das Notizbuch ist schon fast voll.

    Du hast im Schrank noch mehr davon.

    Stimmt.

    «Es war einmal ein großer Bruder, der ...»

    Nicht so!

    Wie dann?

    So wies war.

    Wie wars denn?

    Echt beschissen. Also los und sei authentisch!

    Mit den vielen Stimmen im Kopf? Das ist authentisch?

    Herzchen! Das sind keine Stimmen, das sind Gedanken!

    Also gut. Lieber Gedanke, sei bitte einfach mal still, damit ich anfangen kann.

    Okay.

    Einige Dinge sind aber so daneben gewesen, die glaubt keiner.

    Das Leben schreibt immer noch die besten Geschichten naja, nicht immer die besten, aber die markantesten auf jeden Fall.

    Ah so. Hm. «Es war einmal ein großer Bruder.»

    Anders! Fang am Anfang an.

    An welchem Anfang? Die Erinnerungen hüpfen hin und her. Halbe, ganze und sich wiederholende Gedanken. Da gibts keine lineare Struktur.

    Nee, nur den «katastrophalen Strukturunwillen», ich weiß, ich hab Adams auch gelesen. Na gut, dann fang eben mit dem großen Briefumschlag an.

    «Das Frühstück ist schon fast beendet ...», sei aber nicht zu still, ja?

    Halt den Rand.

    Selber. Und wie mach ich das mit der Geschichte vom großen Bruder?

    Füg sie einfach ein.

    Einfach?

    Na, dann eben kursiv.

    Was, noch mehr Stimmen?

    Das hatten wir doch gerade, das sind Gedanken oder in deinem Fall eben Erinnerungen.

    Hm.

    Mir ist schlecht.

    Das ist das Osterfeuer!

    Nein, das ist Magen-Darm!

    Echt?

    Ich denke schon – jetzt muss ich spucken.

    Weil das alles zum Kotzen ist? Jan hat dir doch extra für so etwas die papierumwickelten Dinger besorgt!

    Puh, die kriegt ja keiner runter.

    Die sollen auch nicht schmecken das ist Medizin!

    So wie «Böses muss Böses» vertreiben?

    Exakt!

    Kanns endlich losgehen?

    Klar, bin multitasking. Solls formulieren, trotz Grummeln im Bauch und Gurgeln in der Kehle und ´nem Kerl im Kopf, der alles besser weiß.

    Wieso bin ich eigentlich ein Kerl? Hab ich dich nie gefragt.

    War immer schon so.

    Und wieso heiß ich Mick?

    Wegen der Musik.

    Aus den Achtzigern bei Sat.1?

    Jepp.

    Gut!

    Also, wie schreibt man heute diese Bewegung von oben herab?

    Keine Ahnung. Schreib doch einfach einfacher die haben doch gesagt, dass sie es vereinfachen wollen.

    Dann schreibt man jetzt Philosophie mit f und f? Hast du sie noch alle?

    Was ist mit dem Ursprung der Spra –

    das interessiert doch heute keinen mehr und sind auch kürzere SMS.

    Seit wann filosofierst ausgerechnet du per SMS!?

    Ruhe jetzt! Und huste nicht so laut! Du weckst ja das ganze Haus auf.

    Machst du Witze? Wie soll das denn gehen?

    Schreib, dann vergisst du schon den Husten.

    Oder er mich.

    Verrat mir mal was. Wieso Notizbücher?

    Hey, du magst meine analogen Bilder doch! Und solange der Walkman funktioniert ...

    Ja, klar.

    Also, Ruhe! Das macht mich ganz wuschig, ich soll doch authentisch sein.

    Dann musst du aber alles übertragen. Ist das nicht umständlich?

    Nö. Dann kann ich dir noch die eine oder andere Gemeinheit dazu in den Mund legen.

    Ah ja!? Ich dachte, das seien Erinnerungen.

    Sag ich doch! Und jetzt sei still, sonst bist du auch bald eine.

    Nur eines noch: Wähle dein Schlachtfeld mit Bedacht.

    Oktober 1992, Professor Doktor Ades Semesterbeginn

    «Ich bin nicht sonderlich an Geschichte interessiert, ich modelliere sie nur gerne» ist eine der Einleitungen bei seinen Vorlesungen, welche Professor Ade gerne auf diese Weise beginnt und mit einem Lächeln in sein mehr oder seltener auch minder aufmerksam lauschendes Publikum ergänzt.

    Das Lächeln umspielt nur wenig mehr als die Lippen, seine klaren grauen Augen erreicht es dabei nicht ganz. Hochaufgeschossen und für jegliche Dinge aufgeschlossen hatte Herr Professor Ade sein Amt vor einem Jahr an der Hochschule angetreten.

    Er ist ein Mann, der weiß was er will und wer er ist. Er ist jemand, der – im Gegensatz zu vielen anderen Männern – auch weiß was oder vielmehr wer er nicht sein möchte. Der von ihm mit seiner etwas rauen und dennoch melodischen Stimme in Schwingung versetzte Universitätsraum ist etwas älter, klassisch eingerichtet in Holz mit Holz, und eine gute Ausgangslage für vieles. Oft weiß man zu Beginn nicht wie eine Sache ausgehen wird, denkt er, aber man kann einiges dafür tun, um es in die Richtung zu bringen, die man für sinnvoll erachtet – Dinge die sich rechnen lassen. Er mag es, wenn seine Stimme auch ohne Mikrofon nur mit Hilfe der architektonisch gut durchdachten Akustik noch die hinterste Reihe erreicht.

    «Sie werden in diesem Studiengang lernen wie man Dinge lenkt. Aber nur, wenn Sie sich dafür eignen. Sie werden die Geschicke der Staatsorgane wie ein Marionettenspieler in der Hand haben. Nicht, indem Sie sich in der Öffentlichkeit prostituieren, sondern unsichtbar hinter dem grauen Vorhang der Bürokratie im Verborgenen handeln. Bevor die Figuren es bemerken, werden Sie sie bereits bewegt haben. Wenn Sie gut sind, werden Sie Ihre Grenzen erkennen.» Meist hat sein Publikum Mühe, ihm zu folgen. Auch seine leisen Scherze werden leider nicht immer als solche erkannt. Was die Leute im Hörsaal als geistreich unterhaltend empfinden, ist für ihn Alltag, den er mit Freude gestaltet. Vielleicht trifft er den ein oder anderen von ihnen in ein paar Jahren nur in anderem Ambiente wieder. Er hatte schon immer gerne mit Menschen gearbeitet.

    Da ist sie wieder: Die Kraft der Rhetorik! Sie ist sein Mittel der Kommunikation. Eine Möglichkeit, mit Sprache zum Verständnis beizutragen. Nichts anderes tut er. Er macht seinem Publikum wirksam seinen Standpunkt klar. Das war schon bei seinem Vater so, er kennt es gar nicht anders. Er geht den Weg unbeirrt fort, den sein Vater so vorzüglich beschritten hat, genau wie sein Großvater zuvor. Er wäre ein Narr, wenn er die Firma nicht weiterführte. Er will in seinem Leben Verschiedenes erreichen. Seine guten Kontakte tun ihr Übriges. Und so hat er schon früh eine Anerkennung als bester Jungunternehmer erhalten und sich damit seine Sporen verdient. Aber das ist nicht das Ziel, eher nur eine Basis, für seine selbstgewählten Aufgaben.

    Seine Besuche zu Hause gelten weniger der Familie als der Arbeit des Vaters. Beruflich gesehen sein Vorbild, das er zu überragen gedachte. Nicht wie kleine Kinder spielen oder pokern, und dann verzweifelt jammern, wenn sie das Spiel verlieren.

    Überhaupt besteht sein Leben aus Überragendem. Körperlich groß gewachsen, daher auch die Anfertigung der höheren Bergère-Sessel, weil die Originale ihm nicht gerecht werden. Da sind die Fußstapfen des Vaters, die Fürsorge der Mutter und der Neid der Geschwister auf seine klare Vorstellung vom Leben.

    Eines seiner Ziele, dem Herausragenden aus allen übrigen, ist ihm dank Fleiß und Ausdauer geglückt. Aber was heißt geglückt? Er hat es gewählt und erreicht. Mehr fühlt er es, als dass er es wirklich weiß – er verlässt sich in diesem Punkt auch auf seine Sekretärin, Frau Zett, und ihre Quellen – weit geachtet sei er, manches Mal auch gefürchtet, weit gekommen und von allem weit weg, so wie er es immer wollte. Was ihm guttut, ist auch für andere gut. Auch wenn es manchmal etwas einsam um ihn herum ist, so bindet ihn bisher doch nichts an eine Art Stammtisch oder Ähnliches. Er ist lieber mit sich allein, als dass er einsam unter vielen Menschen sich Situationen anpassen muss, die andere ihm vorgeben.

    Etwas mehr Beachtung könnte er seinen eigenen Ideen allerdings schenken, fühlt er. Vielleicht ergibt sich so nach und nach die Möglichkeit, es sich beruflich etwas bequemer machen zu können. Für ihn werden sich die Gelegenheiten bieten. Man ist, was man denkt. Und er ist gut, sehr gut sogar.

    Montag, 22. Dezember 1997, Annas Kostensenkungspotenzial

    Kalt und trübe ist es heute. Daran ändert auch die übermäßige Weihnachtsdekoration in den Straßen nichts. Anna lässt sich im Strom der zu den Büros hastenden Menschen mittreiben.

    Sie mag das Gefühl, Schritt halten zu können. Und auch den Gedanken, trotz aller Gleichförmigkeit fröhlich aus der Menge herauszuschauen. Nicht weit oberhalb ihrer Köpfe hängt das Grau tief über der Stadt. Und da heute ausnahmsweise mal kein Wind weht, scheinen sich die Wolken immer weiter auf die Häuser und Menschen herabzusenken.

    Das stört Anna jedoch nicht, denn sie weiß wie der Lauf der Dinge ist: Nach der dunklen Zeit folgen automatisch die immer heller werdenden Tage. Außerdem setzt sie sich sowieso gerne über Dinge hinweg, die andere zu stören scheinen. Was nicht heißt, dass sie ihre Familie absichtlich kränken will, wenn sie die Feiertage nicht mehr zu Hause verbringt und sich von ihnen absetzt. Es ist viel mehr nur so, dass Anna einen anderen Freiraum braucht als ihre Geschwister. Und mit ihrer guten Laune scheint sie ihrer Familie ohnehin manches Mal auf den Geist zu gehen. Dann trifft sie sich lieber mit Freunden, die ihr sonniges Gemüt mehr zu schätzen wissen.

    Als Anna vor einem Jahr in dieser Abteilung des Konzerns zu arbeiten begann, hatte sie sich intensiv auf den Job vorbereitet. Sie hatte ihre Antennen in viele Richtungen ausgerichtet und ihre diversen Praktika halfen ihr dabei. Mit drei älteren Geschwistern aufgewachsen, hatte sie schon früh gelernt, sich bemerkbar zu machen. Damals waren es geschwisterliche Rangeleien, heute sind es die skeptischen Blicke und Bemerkungen der vorwiegend männlichen Kollegen, gegen die sie sich meist mit einem Lächeln durchsetzt.

    Durch Sport und jede Menge Wassertrinken hat sie es mit Mitte zwanzig endlich geschafft, ihren bis ins Studium hinein deutlich sichtbaren Babyspeck loszuwerden. «Wer dynamisch sein will, sollte auch dynamisch aussehen» hatte einer ihrer Brüder sie oft aufgezogen. Mit ein paar aufhellenden Strähnchen hier und da in ihrem ansonsten eher dunkelblonden Haar verhilft sie ihrem Äußeren zu mehr Glanz. Damit kommt sie gut durch die tristen Tage. Sie mag auch den gelegentlichen Gang ins Sonnenstudio ganz gern. Anna arbeitet hart an sich und genießt die kleinen privaten Erfolge ebenso wie die großen beruflichen, zu denen sie sich Stück für Stück vorarbeitet.

    An ihrer geringen Körpergröße kann sie nichts ändern, allenfalls höhere Absätze tragen. Sie ist eben die Kleinste in der Familie, als hätte es bei ihr nicht mehr gereicht. Genauso wie die Geduld ihres Vaters, die er, wie es Anna scheint, bei seinen drei älteren Kindern bereits aufgebraucht hat. Sie kennt ihn gar nicht anders. Hat sie die Ungeduld von ihm? Das scheint irgendwie paradox zu sein.

    Aber nun ist sie hier und hat einen guten Job, der sie von allen unabhängig und vor allem selbstsicherer macht. Es ist ein gutes Gefühl, zu wissen was man tut und wie die Dinge laufen. Das tägliche Einerlei eines einfachen Verwaltungsjobs hatte sie auch kennengelernt und beschlossen, dass eine solche Einöde ihrer kreativen Ader und damit ihrem Potential auf Dauer nur abträglich sein würde. Ganz zu schweigen von ihrer guten Laune. Also hat sie sich ein anderes Betätigungsfeld als das schlichte Verwalten gesucht und schließlich im Rahmen ihres jetzigen Arbeitsgebietes ihren persönlichen Ablaufplan aufgestellt.

    Annas Augen und Hände beginnen aus Gewohnheit den Monatsbericht wie immer, aber eine Kleinigkeit stört sie. Sie weiß nicht was es ist, dafür ist es auch viel zu leise. Ein undefinierbares Etwas klopft zaghaft in ihr an und erhält eine Abfuhr. Jetzt nicht! Ihre normale Arbeitsweise will sie nicht durch unklare Betrachtungen in Gefahr bringen. Und so beendet sie den Bericht auch fast wie immer, jedoch nicht ganz so leichtgängig wie sonst. Etwas anderes in ihr treibt sie zur Eile an und das ist stärker als dasjenige, das sich nur zaghaft traut, sich verständlich zu machen. Solls halt deutlicher werden oder Ruhe geben. Anna hat Termine einzuhalten, damit alles glatt läuft, denn das Prämiensystem hat so seine Tücken. Aber immerhin kommt sie, wenn sie diesen Bericht klug einsetzt, nicht nur ihrem geliebten Hamburg ein Stück näher, sie kann auch den nächsten Urlaub mit Max erweitern.

    Ihr Rhythmus gibt Anna Sicherheit. Etwas anderes kommt derzeit nicht in Frage. Aber wann hatte Anna sich das letzte Mal überhaupt Fragen gestellt? Wann hatte sie das letzte Mal einen neuen Gedanken gedacht? Der nur in schemenhafter Form vorhandene Denkansatz fällt von ihr ab, sie hat keine Rezeptoren zur Verfügung. Alle Kraft verwendet sie auf ihr Ziel, ihr Fortkommen. Fort von was? Auch diese Frage stellt sich Anna nicht. Bisher nicht.

    Im Gespräch zum Jahreswechsel hatte Annas Chef ihr angedeutet, dass, wenn sie so weitermache, ihrem Wunsch eines Wechsels nach Hamburg nichts im Wege stehe.

    Das neue Jahr wird für Anna sehr vielversprechend werden, denn sie rechnet mit einem Abteilungswechsel. Dieser ist für sie eine erneute Weichenstellung mit Aussicht auf Beförderung aufgrund der erweiterten Einsparung. Der Chef hatte die warnenden Worte eines Kollegen ignoriert und Anna mit der Überarbeitung der notwendigen Laufzeitverlängerung beauftragt. Sie hat die Arbeit ihres Vorgängers nur noch mehr in Richtung der Restdicke im Rahmen des Komforts für die Kunden ausgearbeitet.

    «Als Ingenieure sind wir alle vom Fach», hatte der Chef gemeint, «ich würde Ihnen auch nahelegen, das noch einmal zu prüfen. Sind diese Werte wirklich fachmännisch entschieden worden oder ist da nicht noch mehr Potenzial für eine weitere Reduzierung vorhanden? Wars das für heute? Meine Dame, meine Herren, ich erwarte Ihren Bericht gleich nach Neujahr.»

    Ein Kollege widersprach ihm mit einem Beispiel und sagte, dass er mit der derzeitigen Materialgrundlage keine weitere Absenkung für ratsam halte, woraufhin der Abteilungsleiter im Hinausgehen erwiderte:

    «Verschonen Sie mich mit etwaigen Theorien. Wir klären das, auch bezüglich der Konsequenzen für Sie, sehr zeitnah dann in einem persönlichen Gespräch. Wir haben ja auch Vorgaben zu erfüllen.»

    Das waren die Worte ihres Abteilungsleiters, der wusste, dass Anna nach Hamburg wollte. Es wäre also ein guter Deal. Das Ergebnis langen intensiven Sicheinbringens würde ein Etappensieg sein. So wie es ihr Personaltrainer prophezeit hat, wenn sie sich nur an bestimmte Regeln hielte. Irgendwann, so hat Anna sich geschworen, würde sie es schaffen. Sie wird es ihren Geschwistern gleichtun. Und wer weiß, sie vielleicht eines Tages überflügeln.

    Bei dem Gedanken muss sie lächeln, denn sie hat es schlau angestellt: Während einer ihrer Brüder mit seiner Selbständigkeit jeden Monat schauen muss, dass für seinen großzügigen Lebensstil die Klienten auch vorhanden sind, und zudem auch tatsächlich zahlen, hat sie sich einen Konzern ausgesucht, bei dem es gute Aufstiegsmöglichkeiten gibt und der aufgrund seiner absoluten Notwendigkeit niemals aufgelöst werden würde. Anna, das Nesthäkchen, macht ihren Weg!

    Recht zufrieden mit sich und ihrer Arbeit, schließt Anna ihren Bericht. Aus ihrem Haarknoten zieht sie einen Bleistift heraus, sodass es ein wenig gelockt auf ihre Schultern fällt.

    Dann massiert sie leicht ihren Kopf, stärkt sich so für die nächste Aufgabe. Sie durchkämmt mit den Fingern das Haar und dreht es erneut zu einem losen Knäuel, das sie gleich wieder mit dem Stift am Hinterkopf feststeckt. Voller Tatendrang bewegt sie sich schwungvoll auf ihrem Drehstuhl an ihrem Schreibtisch entlang und greift zum Terminkalender. Was steht als Nächstes an?

    Mittwoch, 7. Januar 1998, Max´ Training

    Der Weg, der vor ihm liegt, ist Max sehr vertraut. Viele Jahre fährt er ihn schon, um zur Sporthalle zum Volleyball zu gelangen. Erst war es während der Schulzeit, später machte er einfach weiter, auch nach bestandenem Diplom, bis heute.

    Die Halle – oder besser der Weg dorthin – hält Vorfreude bereit. Die Aussicht auf einen schönen Abend oder bei Turnieren auf ganze Tage. Und die Gesellschaft seiner Mannschaft ist genau richtig für ihn, denn Max redet nicht viel. Bei seinen Leuten ist das auch nicht nötig. Nach Fußball und Hockey ist Volleyball so ziemlich das Einzige, was Max nie spielen wollte. Ausgerechnet ein Mannschaftssport. Und doch ist er nach der Schule auch während des Studiums immer dabeigeblieben. Aber am Netz kommt ihm auch seine Größe zugute.

    Max hinterlässt eine kleine schmale, etwas eierige Spur auf dem ansonsten bretthart gefrorenen Feld, als er es mit seinem Mountainbike überquert. Die Lederjacke, die er trägt, ist zwar ein Lieblingsstück, aber eigentlich viel zu dünn für den Winter. Seine Schwester Silvia soll endlich einmal den lang versprochenen Flicken auf den Ärmel nähen, dann würde es vielleicht nicht ganz so stark ziehen. Sie hätte das passende Stück noch nicht gefunden, sagt sie. Was immer das heißen mag.

    «Wie wärs mit schwarz auf schwarz?», hatte er vorgeschlagen, aber sie hatte wie immer etwas, das man dabei zusätzlich beachten sollte.

    Die Kälte der kommenden Nacht fällt nicht nur von oben herab. Sie steigt auch aus den Feldern herauf und macht sich breit, mischt sich unter die feuchten Schneeflocken. Leicht und vereinzelt rieseln ein paar auf ihn herab. Das ist aber auch das Einzige, was gerade locker und flockig ist, denkt Max.

    Bisher kommt ihm sein Leben eher wie ein vielschichtiger Arbeitsplatz vor, wie gestern beim Streichen zum Beispiel: Seine Heimat wird er später finden, hatte er überlegt, während er die stark verrußte Wand oberhalb des Kamins hell gestrichen hatte. Und gestrichen hatte er natürlich erst, nachdem er den Bereich mit Spülmittel versetztem Wasser vom Fett gereinigt hatte und sie wieder trocken war. Sähe besser aus, hatte Silvia gemeint. Ob das wirklich hilft, einen Käufer für das Haus zu finden? Später ist bald. Hell und freundlich ist immer gut, sagt seine Schwester. Aber sie ist ja auch nicht immer da, um zum Beispiel zu streichen oder ihre vielen guten Vorschläge selbst umzusetzen. Es beginnt tatsächlich richtig zu schneien. Er hält sein Rad an.

    Max blickt vom Boden auf. In diesem Moment spürt er die kalte Luft noch klarer, die sich in seinen Lungen ausbreitet und dort langsam erwärmt. Max hebt den Kopf weiter, fühlt die zarten Schneeflocken auf seiner Haut schmelzen. Er kann sie in der spärlichen Beleuchtung vom Stadtrand her im Dunkeln auf dem Feld stehend nicht sehen, sondern nur spüren.

    Seine Füße, die nun neben dem Rad stehen, nehmen den harten Boden und die Kälte wahr, die in sie hineinkriecht. Der Himmel in Richtung Stadt ist gelb-orange-grau verhangen. Aber in klaren Nächten kann er in der Ferne, über das Feld zurückblickend in Richtung Kasseler Berge, die Sterne sehen.

    Das Leben ist holperig, genauso wie der Boden unter seinen Füßen. Nicht mehr, nicht weniger. Das ist sein Leben und wird es bald gewesen sein, denn es wird alles einfacher werden.

    Eine gewisse Erwartung löst sich vom kalten Boden und steigt beginnend an der Basis, seinen Füßen, in ihm auf. Weglaufen war nie sein Ding. Die Knie bleiben da wo sie sind, und zittern unsichtbar ein wenig der ungewissen und unverplanten Zukunft entgegen. Seiner eigenen Zukunft, der er sich stellen wird. Mit gutem Bauchgefühl wird er schließlich – seinem klaren Kopf sei es gedankt – loslegen.

    Die Sterne hinter sich zurücklassend setzt er seinen Weg fort. Egal welchen Weg er einschlagen wird, jeder Weg hält Überraschungen für ihn bereit. Das, was er sich bisher untersagt hat, ist dann erlaubt und greifbar nahe, wenn er erst einmal den Absprung geschafft haben würde.

    «Wer keine Ziele hat, kommt auch nirgends an», sagte der Deutschlehrer.

    «Komm sicher an mit Bus & Bahn», steht auf den Stadtbussen.

    «Wenn die Götter uns prüfen, erfüllen sie unsere Wünsche», stammt aus einem von Silvias Knutschfilmen. Mal sehen, was das für Wünsche sein werden. Aber erst mal gehts weiter zur Sporthalle.

    Wäre Anna nicht vor einem Jahr hinzugekommen, hätte dieser Sport vermutlich keine solche Anziehungskraft mehr auf ihn. Wer weiß, seine Schnelligkeit und das Gefühl, immer auf dem Sprung zu sein, passen doch eigentlich ganz gut hierher. Außerdem mag er das Gebäude, das er seit seiner Kindheit kennt und den Weg dorthin mag er auch. Der Ort seiner wöchentlichen kurzen Auszeit, abgesehen von den Treffen mit Anna.

    Sie hat genauso wenig Zeit, auch da passen sie gut zusammen. Denn er muss nicht immer wieder erklären, dass

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