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Merveille du monde - Das Geheimnis der zweiten Welt: Teil 1 - 3
Merveille du monde - Das Geheimnis der zweiten Welt: Teil 1 - 3
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eBook313 Seiten4 Stunden

Merveille du monde - Das Geheimnis der zweiten Welt: Teil 1 - 3

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Über dieses E-Book

Als Tara im Wald eine alte Hütte entdeckt, ahnt sie nicht, was diese mit ihr und ihrem Leben zu tun hat. Doch ab dem Zeitpunkt, als das Mädchen die Hütte betritt, verändert sich Taras Leben. Sie entdeckt die zweite Welt und erlebt zusammen mit ihren neuen Freunden ein Abenteuer nach dem nächsten.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum1. Jan. 2015
ISBN9783738006094
Merveille du monde - Das Geheimnis der zweiten Welt: Teil 1 - 3

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    Buchvorschau

    Merveille du monde - Das Geheimnis der zweiten Welt - Yvonne Tschipke

    Kapitel 1

    Stell dir vor, das was du hier lebst, ist nicht dein richtiges Leben.

    Stell dir vor, es ist nur ein Ausflug von deiner wahren in eine andere Welt. Stell dir vor, dass all das, was du dir für dein Leben wünschst, nur die Erinnerungen an dein eigentliches Leben sind und die unendliche Sehnsucht danach. Und dass du immer wieder tief in dir spürst, dass du dorthin zurück möchtest, wo du eigentlich zu Hause bist.

    Lass dich entführen nach

    Merveille du monde

    und entdecke

    Das Wunder der Zweiten Welt

    Die Hütte

    Gedankenverloren kramte Tara ihren Lieblingsstift aus dem abgewetzten buntkarierten Mäppchen, das griffbereit neben ihr lag. Sie liebte gute Stifte und besaß einige davon, doch diesen hier mochte sie ganz besonders. Er sah nicht sehr schön aus. Eigentlich ziemlich gewöhnlich. Einer von tausenden. Doch der einfache hellgrüne Kugelschreiber schrieb besonders gut. Irgendwann einmal hatte ihn ihr irgendjemand geschenkt. Tara konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, von wem sie ihn bekommen hatte. So sehr sie auch darüber nachdachte.

    Vielleicht war das in einem anderen Leben, dachte sie manchmal schmunzelnd. Es musste auf alle Fälle jemand gewesen sein, der sie sehr mochte. Nicht weil der Stift ein so großartiges Geschenk war, denn eigentlich sah er, wie gesagt, ziemlich gewöhnlich aus. Doch sie bekam nur selten etwas geschenkt. Und wenn, dann nur von Nina, ihrer besten und, wenn sie es sich recht überlegte, auch einzigen Freundin. Aber von ihr hatte Tara den Stift nicht bekommen. Das wusste sie ziemlich genau. Jedenfalls brauchte sie diesen Stift gerade jetzt. Beim Lesen war ihr ein guter Gedanke gekommen. Manche Gedanken kommen oft heimlich von irgendwoher und fast immer verschwinden sie genauso schnell, wie sie gekommen waren, dorthin zurück. Deshalb wollte Tara ihn schnell sortieren und in dem kleinen Notizbuch festhalten, das sie immer mit sich herum trug. Das Mädchen sah beim Nachdenken über diesen Gedanken für einen kurzen Augenblick auf und stutzte. Ein Windstoß hatte ein paar der dünnen Äste des Gestrüpps, das kreuz und quer neben den Felsen wuchs, zur Seite gebogen. An und für sich war daran nichts Verwunderliches. Tara fragte sich nur, woher der Wind gekommen war. Den ganzen Nachmittag über schien bereits die Sonne und kein einziges Lüftchen wehte. Es war fast wie im Hochsommer und Tara hatte am Mittag nach der Schule schon überlegt, ob sie nicht lieber zum See gehen sollte. Doch das Wasser schien ihr noch viel zu kalt zu sein. Immerhin war es erst Ende April – die Badesaison lag noch in weiter Ferne. So war sie dann doch wie an fast jedem Nachmittag in den Wald zu den Drachenfelsen gelaufen, um sich im Schatten der Bäume in eines der Bücher zu versenken, die sie aus der Bibliothek ausgeliehen hatte.

    Den Namen Drachenfelsen hatte sich Tara vor etwa zwei Jahren ausgedacht, als sie das erste Mal hier gewesen war und diese Stelle mitten im Wald für sich entdeckte. Die drei großen grauen Steinformationen ähnelten – wenn man nur einen kleinen Funken Fantasie besaß – tatsächlich Drachen mit spitzen Zacken auf dem Rücken. Für Menschen ohne diese wunderbare Gabe, etwas Besonderes in scheinbar gewöhnlichen Dingen zu entdecken, waren es allerdings nur drei lange spitze Steinberge, die sich dort im Wald erhaben zum Himmel streckten.

    Nun jedenfalls hatte der plötzlich aufkommende Windstoß den Blick auf etwas freigegeben, was Tara hier vorher noch nie gesehen – oder vielleicht nur noch nie bewusst wahrgenommen – hatte. Später würde Tara behaupten, es kam ihr gerade so vor, als ob der Wind ihr das vermeintliche Geheimnis, das hinter dem Gestrüpp verborgen lag, unbedingt zeigen wollte.

    Tara kniff die Augen fest zusammen, so, wie man es eben tut, um besser sehen zu können. Hinter dem stachligen Gebüsch kamen Bretter zum Vorschein; braune alte Holzbretter. Tara legte das Notizbuch und den Stift zur Seite und erhob sich langsam. Sie stieg von dem Felsvorsprung, auf dem sie gesessen hatte, herunter und lief neugierig hinüber zum Gebüsch. Vorsichtig, damit sie mit den viel zu langen Ärmeln ihres Pullovers nicht in den spitzen Dornen hängen blieb, schob sie die Zweige noch ein Stück mehr auseinander.

    Was Tara dann erblickte, überraschte sie sehr.

    Denn dort stand eine Hütte. Eine kleine windschiefe Bretterbude. Tara dachte scharf nach. Sie war an fast jedem Nachmittag hier draußen im Wald. Sie bildete sich ein, jeden Stein und jeden Baum hier zu kennen. Doch sie war sich ganz sicher, diese kleine alte Hütte noch nie gesehen zu haben. Aber vielleicht hatte sie sie in den Jahren zuvor auch einfach nur übersehen. Wer achtete schon auf so ein unspektakuläres, halb verfallenes Ding, das scheinbar keinen Nutzen mehr hatte?

    Tara zwängte sich durch das Gebüsch und ging etwas näher an die Hütte heran. Sie kniff ihre Augen ganz fest zu, hielt sie für ein paar Sekunden geschlossen, um sie dann blitzschnell wieder zu öffnen. Wer weiß, vielleicht hatte sie sich ja auch nur eingebildet, eine Hütte zu sehen. Manchmal spielten einem die eigenen Gedanken einen Streich. Wenn man in der Wüste war und einen der Durst fast umbrachte, dann erschien am Horizont oft eine grüne blühende Oase. Doch je länger man auf die vermeintliche Rettung zulief, umso mehr entfernte sich dieses Hirngespinst. Tara hatte in einem ihrer Bücher darüber gelesen – Fata Morgana hießen diese Trugbilder, die das Gehirn produzierte. Oder war es doch ein physikalisches Phänomen, das diesen optischen Effekt erzeugte? Tara wusste es nicht mehr so genau. Aber sie wusste, dass sie meistens in der heißen Wüstenluft vorkamen im Zusammenspiel mit dem Licht der Sonne. Gut, das hier war keine Wüste. Aber wer weiß.

    Als Tara ihre Augen wieder öffnete, erstarrte sie kurz. Es war keine Einbildung. Das windschiefe Ding stand noch immer da.

    Das Mädchen hätte schwören können, dass die Hütte wirklich noch nie dort an dieser Stelle gestanden hatte. Aber sie konnte doch auch nicht urplötzlich aus dem Nichts aufgetaucht sein. Wahrscheinlich hatte Tara das Ding sonst einfach schlichtweg übersehen. Es hätte sie nicht gewundert. Wenn man ganz flüchtig hinsah, verschwand die kleine Hütte im Gewirr aus stachligen Brombeerzweigen, das hier an dieser Stelle besonders dicht gewachsen war.

    Tara war oft hier im Wald. Unter einem der Felsvorsprünge, er sah ihrer Meinung nach aus wie die Vorderklaue eines Drachens, konnte sie stundenlang sitzen, ganz egal ob die Sonne ihre heißen Strahlen auf den Waldboden schoss oder es lange feuchte Bindfäden regnete. Hier konnte sie sich aus ihrer wahren Welt in andere, bessere Welten, in ein besseres Leben träumen, lesen oder schreiben. Manchmal war es, als würde sie aus einem schönen Traum erwachen, wenn sie das Buch zuschlug oder den Stift aus der Hand legte.

    Keiner, außer ihrer Freundin Nina, kannte diesen geheimen Ort; er gehörte Tara ganz allein. Zumindest bildete sie sich das ein.

    Das Mädchen strich sich die langen braunen Haare, die ihr immer wieder ins Gesicht fielen, hinter die Ohren und ging weiter an die Hütte heran. Nach nur wenigen Schritten blieb Tara erneut stehen. Dieses Rauschen - woher kam auf einmal dieses leise Rauschen? Verwundert sah sie zum Himmel. Es fing doch nicht etwa gerade jetzt an zu regnen? Nein – ganz im Gegenteil – durch das dichte Blätterwerk der Bäume konnte sie noch immer die goldgelben Sonnenstrahlen tanzen sehen.

    Zögernd setzte Tara einen Fuß vor den anderen und sah sich immer wieder unsicher nach allen Seiten um. Das Rauschen kam allem Anschein nach aus der Richtung, in der die Hütte stand. Es schien immer stärker zu werden, je näher Tara ihr kam. Verdutzt spürte sie, wie sich in ihr ein Stück Geborgenheit und Glück ausbreitete, etwas, von dem sie schon lange nicht mehr gewusst hatte, wie es sich überhaupt anfühlt. Es schien fast so, als wären die Sonnenstrahlen vom Himmel direkt in ihrem Herz gelandet. Wieso auch immer – sie war auf einmal sehr froh, hier zu sein.

    Etwa einen Meter vor der Hütte blieb Tara stehen. Sie ließ ihre Augen über das schäbige Holz wandern. Gab es ein Fenster? Oder vielleicht sogar eine Tür? Nur zu gern hätte das Mädchen nachgesehen, was sich im Inneren der Hütte befand. Vielleicht konnte die Hütte ja Taras neues Versteck sein. Unter den Felsen war es bei manchem Wetter ziemlich ungemütlich und deshalb blieb das Mädchen an solchen Tagen zuhause, obwohl sie sich gerne in den Wald verzogen hätte. Aber jetzt, da sie die Hütte gefunden hatte, konnte sie selbst bei starkem Regen und Sturm hier draußen sein. Taras Herz machte einen kleinen Freudensprung. Sie trat noch näher an die Hütte heran, aber auf den ersten Blick konnte sie weder ein Fenster, noch einen Eingang entdecken. Langsam ging das Mädchen um die Hütte herum und suchte dabei mit Augen und Händen die Holzwände ab. Und tatsächlich - es gab auf der anderen Seite eine kleine Tür mit einer geschwungenen Klinke aus blau-grünem Metall. Die war allerdings für Zwerge gemacht, überlegte Tara schmunzelnd.

    Denn obwohl sie nicht besonders groß für ihre 13 Jahre war, hätte sie wahrscheinlich nur hindurch gepasst, wenn sie auf allen Vieren gekrochen wäre. Vorausgesetzt, sie hätte die etwa einen halben Meter hohe Tür irgendwie öffnen können. Denn obwohl Tara an der Türklinke rüttelte und zog, blieb sie fest verschlossen.

    Dabei gab es seltsamerweise weder ein Vorhängeschloss, noch ein Schlüsselloch, in das man einen Schlüssel hätte stecken und die Tür aufschließen können. Als würde sich daran etwas ändern, wenn sie ein paar Mal um die Hütte herum lief, drehte Tara noch drei Runden und suchte dabei das alte Gebälk nach einem anderen Eingang ab. Aber immer, wenn sie wieder an der winzigen Zwergentür angekommen war und an der Klinke rüttelte, musste sie enttäuscht feststellen, dass sie sich nicht öffnen ließ.

    War das eine Jagdhütte? Wem gehörte sie? Was befand sich darin? Und wieso hatte Tara sie in den vergangenen zwei Jahren nicht gesehen? Oder bemerkt. Neu schien sie jedenfalls nicht zu sein, denn das Holz sah bereits ziemlich schäbig aus. Mit einem flüchtigen Blick zum Himmel beschloss Tara, nach Hause zu gehen. Es dämmerte schon. Die Sonne war mittlerweile hinter dem Wald untergegangen und die Nacht hatte damit begonnen, die Lücken zwischen den Sternen mit Dunkelheit auszufüllen.

    Tara musste sich beeilen – sie spazierte nur ungern im Dunkeln allein durch den Wald. Sie würde das Geheimnis der Hütte an diesem Tag sowieso nicht lösen können. Vorausgesetzt, es gab überhaupt eins. Aber morgen war ja auch noch ein Tag. Und ganz sicher würde die Hütte dann auch noch hier versteckt mitten im Gebüsch stehen. So, wie wahrscheinlich schon in all den vergangenen Jahren. Und wenn Tara, die fast jeden Tag hier war, sie nicht bemerkt hatte, dann würde sie auch in Zukunft niemand entdecken.

    Das Rauschen, das Tara begleitete, seit sie die Hütte erkundet hatte, wurde leiser je mehr sie sich von der Hütte und den Drachenfelsen entfernte. Bald war es ganz und gar verschwunden. Und die gewohnte Traurigkeit und Schwermut vertrieb das kleine Stück Geborgenheit aus ihrem Herzen, je weiter Tara den Wald hinter sich ließ.

    Sobald sie die ersten Häuser der kleinen Stadt erreicht hatte, wurden Taras Schritte langsamer. Die Laternen warfen ihr mattes Licht auf die Straße und gaben Tara so etwas wie Sicherheit. Sie war nicht ängstlich – nein, eigentlich wirklich nicht. Und doch hatte die Dunkelheit, die sich mittlerweile um sie herum ausgebreitet hatte, für Tara etwas Bedrohliches an sich. Hinter jedem Baum und jeder Ecke schienen Spukschatten zu lauern, die sich in die Seele und die Gedanken der Menschen fressen wollten, um ihnen Angst einzujagen.

    Kapitel 2

    In der kleinen Wohnung, die Taras Zuhause war, hatte sich Stille ausgebreitet.

    Alles schien zu schlafen. Dabei war es noch nicht einmal acht Uhr und in den Häusern ringsherum zog gerade das Familienleben ein.

    Aber es war nicht die Art Stille, die einen ruhig stimmte. Nicht die Art Stille, die man suchte nach einem langen, hektischen Tag. Es war keine gemütliche Stille, die zum Entspannen und Verweilen einlud. Sie glich eher der Ruhe vor dem Sturm – einem Moment, in dem man mit bangem Herzen das erwartete, was bald darauf folgen könnte.

    Tara ging auf direktem Weg in die Küche. Ihr war die ganze Zeit über noch nicht aufgefallen, dass sie Hunger hatte, doch jetzt machte sich ihr Bauch mit einem lauten Knurren bemerkbar.

    Die kleine gelbe Lampe beleuchtete matt die übersichtliche Leere, die im Inneren des Kühlschrankes herrschte. Tara seufzte und schmierte sich ein Butterbrot – mehr war nicht da, abgesehen von der halb vollen Flasche Wodka, die auf einem der Gitter lag.

    Kauend ging sie hinüber ins Wohnzimmer.

    Der Fernseher lief. Tara riskierte einen kurzen Blick auf den flimmernden Bildschirm. Es kam eine von diesen Serien. Lauter schöne, reiche Menschen, die den ganzen Tag anscheinend nichts Besseres zu tun hatten, als sich gegenseitig ihre Probleme und Liebesgeschichten um die Ohren zu werfen. Die mussten nicht zur Schule, nicht zur Arbeit und höchstwahrscheinlich noch nicht einmal auf`s Klo. Es nervte Tara gewaltig, wenn die Mädchen in ihrer Klasse an jedem Morgen in kleinen Grüppchen zusammen standen und die Episode des Vorabends auswerteten – wer mit wem, wieso, weshalb, warum und so weiter. Das war nicht Taras Ding. So war das Leben einfach nicht – nirgends. Das Leben war ganz anders.

    Tara blickte sich um.

    Das war das Leben – oder besser gesagt: d a s war i h r Leben.

    Vor dem Bildschirm – in einem schäbigen Sessel - schnarchte ein Mann. Der Kopf hing ihm auf dem Brustkorb. Taras Vater war mal wieder im Sitzen eingepennt. Jedes Mal dasselbe.

    Sie musterte ihn mit einem angewiderten Blick. Ganz besonders sein Feinripp – Unterhemd. Das war vor Urzeiten mal weiß – vermutlich.

    Taras braune Augen wanderten durch das unaufgeräumte Zimmer mit den abgewrackten Möbeln und blieben auf der krümeligen Tischplatte hängen, wo sich Zeitungen neben leeren klebrigen Gläsern und dem übervollen Aschenbecher stapelten.

    Ja, so war das Leben – ihr Leben – und sie hasste es.

    Leise seufzend drehte sich Tara um und verschwand in ihrem Zimmer.

    Hier war ihr kleines Reich – ihre Insel mitten im Chaos.

    Bis vor drei Monaten hatte sie das Zimmer mit ihrer älteren Schwester teilen müssen. Irgendwie war es immer viel zu eng. Zwei Teenager brauchten eben Platz – ganz besonders Lena, die ihre Klamotten ständig über das ganze Zimmer verteilte. Aber wenigstens war immer jemand da – ganz egal ob zum Reden oder zum Streiten.

    Jetzt wohnte Lena bei Ricky, ihrem brandneuen Freund, und um Tara herum war es still. Zu still, fand sie, denn nichts fürchtete das Mädchen mehr, als die Ruhe der Einsamkeit. Sie fühlte sich klein und bedeutungslos. Und in ihrem Herzen wohnte Angst. Dabei wusste sie selbst nicht, weshalb das so war. Draußen im Wald – da liebte sie die Einsamkeit. Aber gleichzeitig sehnte sie sich auch nach jemandem, der hier in der Wohnung auf sie wartete und dem sie davon erzählen konnte, was sie den Tag über erlebt hatte. Sie sehnte sich nach jemandem, dem sie von ihren Ängsten erzählen konnte. Tara sehnte sich nach jemandem, der stolz auf sie war, wenn sie was Tolles erreicht hatte. Und auf den sie stolz sein konnte. Ja, Tara sehnte sich so sehr danach, dass es in ihr drin richtig schmerzte. Und es tat auch weh, wenn die anderen in der Klasse sie mieden. Wenn sie einen Bogen um sie machten und heimlich – oder auch nicht ganz so heimlich – hinter ihrem Rücken tuschelten und lachten.

    Endlich beachtet, endlich wahrgenommen werden, endlich dazu gehören – Tara konnte sich schon nicht mehr entsinnen, seit wann sich dieser Wunsch in ihrem Herzen festgesetzt hatte. Interessant für andere zu sein, nicht durch das, was sie hatte, sondern einfach dadurch, w e r sie war – dieser Gedanke erfüllte ihren Körper mit einem prickelnden warmen Gefühl. Nachts, wenn sie mal wieder nicht einschlafen konnte, dann stellte sie sich vor, jemand ganz anderes zu sein. In ihren Gedanken bastelte sie sich ein Leben, in dem sie glücklich sein konnte. In dem sie beliebt war. Ein Leben, in dem sie als Regisseur bestimmen konnte, was als nächstes passieren würde.

    Doch leider war es ganz anders. Scheinbar war nach wie vor Nina der einzige Mensch in ihrer Nähe, der sich wirklich für sie interessierte. Jemand, der die Frage „Wie geht es dir?" nicht einfach so dahin sagte, sondern ernst meinte. Jemand, der auch wirklich eine ehrliche Antwort darauf erwartete.

    Menschen stellen diese kleine Frage tagtäglich viele Male. Oft mit einem Lächeln im Gesicht – ob aufrichtig oder aufgesetzt, wer weiß das schon. Doch wenn ihr Gegenüber zur Antwort ansetzt, sind sie mit ihren Gedanken schon längst weiter gezogen.

    Keiner will wirklich hören, wie es dem anderen geht. Keiner will etwas von Schmerzen, ganz gleich ob körperlich oder seelisch, erfahren. Niemand will seinen Kopf und schon gar nicht sein Herz mit Problemen des Anderen belasten. Anscheinend genügte ein „Danke, gut" als Antwort in den allermeisten Fällen, um das Gewissen des Fragestellers zu beruhigen.

    Tara hatte das gelernt, schon sehr früh. Selbst, wenn einer der Lehrer in der Schule das ständig müde wirkende Mädchen fragte, ob denn mit ihr alles in Ordnung sei, vermied sie es, die Wahrheit zu sagen und beließ es im Normalfall bei einem „Ja, es geht schon. Alles okay."

    Dass zu Hause, was auch immer das in ihrem Fall bedeutete, sich keiner so recht dafür interessierte, wie es ihr ging, auch daran hatte sich Tara inzwischen gewöhnt. Ihre Eltern wollten nichts mit Tara zu tun haben. Und sie eigentlich auch nichts mit ihnen. Das war ungefähr seit der Zeit so, als Tara es gewagt hatte, die Art, wie ihre Eltern die Tage verbrachten, zu hinterfragen. Es war zwar nicht leicht in der viel zu engen Wohnung, doch Tara versuchte, so gut es eben ging, ihren Eltern aus dem Weg zu gehen. Dieses unausgesprochene Arrangement fanden wohl beide Seiten äußerst zufriedenstellend.

    Trotzdem wünschte sie sich viel mehr Normalität in ihrem Leben. Oder vielmehr das, was sie bei anderen Familien in ihrem Umfeld für Normalität hielt. Denn wer konnte schon durch die vorgezogenen Gardinen und bunt gestrichenen Fassaden sehen und erkennen, wie es dahinter wirklich war.

    Tara schloss die Tür ab, angelte auf dem kleinen Wandregal nach den Streichhölzern und zündete die kleine orangefarbene Kerze auf dem Tisch an. Das warme flackernde Licht breitete sich in Windeseile im ganzen Zimmer aus, es kroch in alle Ecken und verlieh dem Raum mit den alten schäbigen Möbeln so etwas wie Gemütlichkeit. Dann öffnete das Mädchen den alten Schrank, griff tief in eines der Fächer und zog unter den zerknitterten Klamotten schließlich ein kleines gelbes Büchlein heraus. Taras Tagebuch. Dem konnte sie anvertrauen, was sie erlebt hatte. Ihm konnte sie ihre Wünsche und Sehnsüchte verraten. Ihm konnte sie ihre Tränen zeigen. Es konnte zwar nicht antworten, dafür aber hervorragend zuhören. Doch Tara musste das kleine gelbe Buch gut verstecken. Man konnte nie wissen, wer am Tag hier herein schneite. Das Zimmer ließ sich nur von innen verschließen.

    „Heute ist mir etwas Komisches passiert, schrieb Tara auf die nächste freie Seite, als sie es sich auf ihrem Bett bequem gemacht hatte. „Bei den Felsen stand plötzlich eine Hütte. Ich bin mir sicher, dass sie da noch nie war. Oder habe ich sie bisher übersehen, weil sie gut versteckt im Gebüsch steht? Und dann das Rauschen – ich weiß nicht, woher das kam. Aber irgendwie hatte ich das komische Gefühl, dass ich ganz glücklich war da draußen an der Hütte. Dass ich genau dort hingehöre. Dass das mein Platz in dieser Welt ist.

    Kapitel 3

    Es wurde eine unruhige Nacht für Tara. Irgendwann war ihr Vater vor dem Fernseher wieder aufgewacht und hatte das Gerät lauter gestellt. Und auch ihre Mutter, wie schon so oft am späten Nachmittag für ein längeres Nickerchen im Schlafzimmer verschwunden, war zurück ins Wohnzimmer gegangen. Die beiden sprachen laut miteinander, ja, wahrscheinlich stritten sie sogar. So genau konnte Tara das nicht erkennen.

    Das verwaschene Wörter–Knäuel ließ sie einfach mal wieder nicht einschlafen. Selbst wenn sie sich das Kopfkissen auf die Ohren presste – das unangenehme Gemurmel vermochte sie nicht zu dämpfen.

    Doch dann – mitten in der Nacht - wurde es wieder still und Taras Gedanken glitten hinüber ins Reich der Träume.

    Tara kämpfte sich durch das stachlige Gebüsch. Die Dornen zerkratzten ihr Arme und Gesicht. Doch das machte ihr nichts aus – ganz im Gegenteil. Die Vorfreude auf das, was die dichten Zweige verbargen, ließ sie die Schmerzen ertragen.

    Dann sah sie sie. Die Hütte. Sie stand noch immer da, genauso wie am Nachmittag. Aber nun begann der windschiefe Holzhaufen sich zu drehen, solange, bis Tara vor der Tür stand. Sie wollte darauf zugehen, aber sie stolperte und landete auf den Knien. Tara hörte ein Knarren. Sie sah auf. Vor sich erblickte sie die kleine Tür, die im selben Augenblick wie von Geisterhand geöffnet wurde. Und da war auch wieder dieses Rauschen. Es hörte sich fast so an, als ob ein starker Wind durch den Wald peitschte. Tara schoss ein gleißender Lichtstrahl entgegen. Sie musste sich die Augen mit den Händen bedecken, um nicht geblendet zu werden. Gerade in dem Augenblick, als sie die Hütte betreten wollte, hörte sie von irgendwoher ihr Lieblingslied.

    Mühsam öffnete Tara die Augen.

    Sie rieb sich mit den Händen ein paar Mal kräftig über das Gesicht und sah sich gähnend um. Sie lag in ihrem Bett. Und das stand nach wie vor in ihrem Zimmer.

    Ihr Lieblingslied war echt – der Weckton auf ihrem Handy. Alles andere war ein Traum. Tara seufzte.

    Ein Sonnenstrahl tanzte durch das Zimmer und machte die kleinen Staubkörnchen sichtbar, die durch die Luft schwebten. Die kleine Uhr über dem Bücherregal an der gegenüberliegenden Wand sagte ihr, dass es bereits halb sieben war. Höchste Zeit aufzustehen.

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