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Dämonentreue: An fremden Ufern
Dämonentreue: An fremden Ufern
Dämonentreue: An fremden Ufern
eBook718 Seiten10 Stunden

Dämonentreue: An fremden Ufern

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Über dieses E-Book

Auf der Insel Gantuigh ist es endlich gelungen, die beiden Völker der T'han T'hau und Menschen wieder zu vereinen. Doch der Frieden ist für Cridan nicht von langer Dauer: Ein unerwarteter Hilferuf vom weit entfernten Kontinent führt den Krieger und Leibwächter an der Seite seiner Königin auf eine Mission, die versprengten Angehörigen seines Volkes wieder nach Hause zu holen. Er ahnt nicht, dass sie in einen sorgsam ausgeklügelten Hinterhalt laufen, und als die heimtückische Falle sich schließt, steht viel mehr als nur ihr Leben auf dem Spiel.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum8. Nov. 2020
ISBN9783752921366
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    Buchvorschau

    Dämonentreue - Dagny Kraas

    1. Kapitel – Der Auftrag des Königs

    Dämonentreue

    -

    An fremden Ufern

    Cridan stand vornübergebeugt an der niedrigen Mauer, die den Wehrgang zum Hof hin begrenzte, hatte die verschränkten Arme darauf gestützt und sah in den Hof hinab, wo sich sein Schüler Raggal im Schwertkampf übte. Seine Partnerin war niemand geringeres als Béo, die Ehefrau von Mar‘Tian, des Herrschers von Gantuigh, und somit auch die Königin der T‘han T‘hau.

    Es machte ihm Spaß, den beiden zuzusehen, auch wenn er selbst fand, dass die Schwertkunst, die man Béo beigebracht hatte, zu glatt und zu sauber war. Aber so lange er als ihr Leibwächter an ihrer Seite war, würde sie hoffentlich ohnehin nie gezwungen sein, ihre eigene Waffe zu benutzen.

    Ja, er war nach wie vor ihr Leibwächter, aber er war auch Mar‘Tians ficha‘thar.

    Offiziell war Cridan eine Geisel; ein Unterpfand des Friedens zwischen T‘han T‘hau und Menschen, in Wahrheit jedoch behandelte man ihn ebenso wie die anderen T‘han T‘hau, die hier lebten, wie Freunde.

    Vor allem zwischen dem Herrscher Mar‘Tian und Cridan hatte sich ein besonderes Verhältnis entwickelt, was umso erstaunlicher war, wenn man die Geschichte der beiden kannte:

    Cridan entstammte dem Volk der T‘han T‘hau – eine Kaste, geschaffen, um die Insel Gantuigh vor Angriffen von außen zu schützen. Die Männer und Frauen, die ihr angehörten, waren geborene Krieger, und über die Jahrhunderte hatte sich nicht nur ihr Geist, sondern auch ihr Körper zu einer nahezu perfekten Waffe gewandelt. Sie waren groß, stark und muskulös, bedeckt von harten Hornschuppen, geschickt im Umgang mit jederlei Waffe und in ihren Bewegungen ebenso schnell und gewandt wie in ihrem Denken. Sie hatten eine eigene Sprache, ihren eigenen Ehren- und Moralkodex, ihre eigenen Gesetze und Regeln, und sie waren beeindruckende und bis weit über die Grenzen Gantuighs hinaus gefürchtete Krieger.

    Jahrhundertelang hatten sie kampflustig auf der Suche nach Beute die weiten Meere überquert, plündernd, mordend und brandschatzend die Küsten der umliegenden Kontinente heimgesucht und die Menschen dort in Angst und Schrecken versetzt. Kein Schiff war den schnellen Seglern der T‘han T‘hau gewachsen, und ihre Taktik, rasch zuzuschlagen und danach wieder spurlos auf dem offenen Meer zu verschwinden, hatte ihnen den Beinamen Dämonen eingetragen. Nach und nach waren sie so immer mächtiger geworden.

    Die Furcht der Menschen vor ihnen hatte auch auf ihrer Heimatinsel Gantuigh selbst mehr und mehr zugenommen. So waren die T‘han T‘hau, immer weiter von den Menschen getrennt, die sie einst geschaffen hatten, zu einem eigenen Volk geworden, das auch seine eigenen Könige hatte.

    Als Cridan acht Jahre alt war, hatte der damalige König Skatarhak ihn als Ziehsohn zu sich genommen und herangezogen. Weitere acht Jahre später hatte Cridan sich bereits einen Namen als ehrgeiziger und erfolgreicher Krieger gemacht und war schließlich als jüngster ficha‘thar aller Zeiten an Skatarhaks Seite getreten.

    Der ficha‘thar war der engste und wichtigste Vertraute eines Königs, ein Mann, dessen Meinung beim König mehr als die jedes anderen zählte, den er anhörte und dem er ausgewählte Aufgaben übertrug. Zu diesen Aufgaben gehörte auch die Durchführung der von Skatarhak gefällten Urteile in den Gerichten:

    Das Volk der T‘han T‘hau bestand aus harten, streitlustigen und unbeugsamen Kriegern – es brauchte einen starken König, um sie zu beherrschen, und unerbittliche Konsequenz bei Nichtachtung der Regeln und Gesetze.

    Skatarhak war gerecht, aber streng und gnadenlos gewesen, und unter seiner Führung hatte sich die ohnehin schon bestehende Kluft zwischen den immer stärker werdenden T‘han T‘hau und den Menschen von Gantuigh, die versuchten, die gefürchteten Dämonen durch immer schärfere Auflagen und Verbote zu beschränken, weiter und weiter verstärkt.

    Skatarhak, der von einer Herrschaft der T‘han T‘hau über die Menschen träumte und dem die verzweifelten Versuche von Gantuighs Herrschern, die Kontrolle über die T‘han T‘hau zu erhalten, ein Dorn im Auge waren, war zunehmend besessener und grausamer geworden, seine Strafen drakonisch und ohne jegliches Erbarmen. Sein stetig wachsender Jähzorn und Hass hatte nicht einmal mehr vor Cridan haltgemacht.

    Cridan hatte den Wandel seines Ziehvaters und Königs mitansehen und seine Wutanfälle ertragen müssen, ohne etwas tun zu können, verpflichtete ihn sein Treueid doch dazu, an dessen Seite zu bleiben.

    Doch als Skatarhak einen Zwischenfall dazu nutzen wollte, Krieg zwischen den Menschen und den T‘han T‘hau zu entfesseln, hatten sich ihre Wege getrennt: Cridan, der ebenso wie Skatarhaks Sohn und Erbe Ratiko‘khar den Wahnsinn hinter Skatarhaks Unterfangen erkannt hatte, war für seinen Versuch, den Krieg zu verhindern, schwer bestraft und mit Ratiko‘khar gemeinsam verbannt worden.

    Viele Jahre hatten sie sich mit den Gefolgsmännern von Tiko, wie Ratiko‘khar unter seinen Freunden genannt wurde, in den Sümpfen des Kontinents versteckt, bis sie eines Tages, nach elf Jahren im Exil, ein Bote nach Gantuigh zurückgeholt hatte.

    Doch sie fanden nichts mehr so vor wie früher. Skatarhak war tot, gefallen in dem Krieg, den er selbst begonnen hatte, und alle T‘han T‘hau, derer man hatte habhaft werden können, waren hingerichtet worden. Von ihrem einst so mächtigen Volk waren nur noch versprengte Reste übrig geblieben, und in ihrer Heimat, in die sie zurückkehren wollten, waren sie verhasste Feinde.

    Ausgerechnet Mar‘Tian, Skatarhaks ältester Sohn und Bluterbe, ein Bastard zwischen T‘han T‘hau und Menschen, war es gewesen, der die Menschen im großen Krieg angeführt hatte und das Volk der T‘han T‘hau hatte vernichten wollen, obwohl er ihm doch selbst zumindest zu einem Teil angehörte.

    Der Schlächter der Dämonen, wie man Mar‘Tian seitdem nannte, war nach dem Krieg für sechs Jahre Herrscher über Gantuigh gewesen und hatte anschließend nicht nur den Posten des obersten Heerführers wieder übernommen, sondern auch den eines politischen Beraters.

    Es schien Cridan bis heute unglaublich, doch es war Tiko gelungen, Mar‘Tian von seiner Ehrlichkeit und einem Neuanfang zwischen Menschen und T‘han T‘hau zu überzeugen. Gemeinsam arbeiteten sie seitdem daran, die beiden Völker Gantuighs wieder zu vereinen.

    Tiko hatte sich seinem älteren Halbbruder Mar‘Tian unterworfen, und nach anfänglichem Misstrauen hatte Mar‘Tian, der nun König über die T‘han T‘hau geworden war, alles daran gesetzt, die sogenannten Dämonen wieder in Gantuighs Gesellschaft einzubringen.

    Es war ein gigantisches, kräftezehrendes Vorhaben, an deren Umsetzung sie beinahe gescheitert waren, als Tikos Schwester versucht hatte, die Situation für sich zu nutzen und den Frieden auf Gantuigh zu hintertreiben. Inth Silia hatte in ihrer Gier und Machtbesessenheit nicht nur Lug und Trug genutzt, sondern war auch vor Mord nicht zurückgeschreckt.

    Cridan selbst hatte als Leibwächter von Mar‘Tians Ehefrau Béo einen Anschlag aus dem Hinterhalt damals nur knapp überlebt. Sein von Verletzungen zerstörtes Schuppenkleid war in unvergleichlicher Weise nachgewachsen: Statt der grün-golden glänzenden Hornplatten, deren glatte Oberfläche einen seidigen Schimmer besessen hatte, trug er nun einen Panzer aus dunkelblauen Schuppen, deren stahlharte Kanten Ähnlichkeit mit einer Säge aufwiesen und deren feine Riffelung das Licht beinahe zu verschlucken schien. Hatte er vorher schon aufgrund seiner enormen Körpergröße und Kraft zwischen den Kriegern der T‘han T‘hau herausgeragt, war er seitdem auch in Farbe und Beschaffenheit seiner Schuppen einzigartig unter seinesgleichen.

    Als seine Wunden verheilt gewesen waren, hatte Cridan als ficha‘thar für seinen König Mar‘Tian die abtrünnigen T‘han T‘hau um Inth Silia in den Bergen der Insel aufgestöbert, ihre Anführer getötet und die verbliebenen Dämonen unter die Herrschaft ihres rechtmäßigen Königs zurückgeführt.

    Das war jetzt fast ein Jahr her, und seitdem herrschte Frieden. Es war zwar ein vorsichtiger, noch etwas misstrauischer Frieden, aber es war einer, und mit dem Erhalt der Bürgerrechte waren die T‘han T‘hau zu anerkannten Mitgliedern der Gesellschaft geworden. Mit dem zugleich neugewonnen Wahlrecht hatten sie ebenso wie die überwältigende Mehrheit der restlichen Inselbevölkerung Mar‘Tian nicht nur als ihren König anerkannt, sondern ihn auch erneut zum Herrscher über Gantuigh gewählt.

    Cridan, der zuvor schon als Leibwächter Béos und als ficha‘thar des Königs viel Zeit in der Hauptstadt L‘hunival und der Burg zugebracht hatte, wohnte nun seit über einem Jahr hier, genauso wie Marud‘shat, seine Ziehschwester und Freundin; Raggal, den er als Schüler angenommen hatte, und eine Handvoll von Tikos Kindern. Einige weitere T‘han T‘hau lebten in der Stadt bei hochrangigen Mitgliedern des herrschaftlichen Hofes.

    Sie alle waren als Garant für den Frieden hier, ebenso wie die Männer und Frauen der Menschen, die zwischen den Dämonen in ihrer Siedlung lebten. Zu ihnen gehörte unter etlichen anderen auch Béos Tochter Ajula, die sich in einen jungen T‘han T‘hau verliebt hatte und ihm gefolgt war.

    Mar‘Tian hatte darauf bestanden, dass Cridan sich neben seinen Aufgaben als ficha‘thar, die derzeit eher wenig Zeit beanspruchten, weiterhin um Béos Sicherheit kümmerte. Dies tat er – und einer der Wege, sich darum zu kümmern, war ihr beizubringen, sich bestmöglich zu verteidigen. Hin und wieder nutzte Cridan die Zeit, sowohl Raggal als auch Béo zu unterrichten.

    Raggal war ein junger T‘han T‘hau in den Zwanzigern, und er war beileibe kein Anfänger mehr gewesen, als er Cridan darum gebeten hatte, dessen Schüler sein zu dürfen. Doch Cridan war es nur Recht so, hatte er doch am eigenen Leib erfahren, was es bedeutete, als Kind schon für die Laufbahn eines ficha‘thar erzogen zu werden.

    Er war sich zwar immer noch nicht sicher, ob er einen Nachfolger brauchen würde oder gar, ob er überhaupt in der Lage und willens war, einen solchen auszubilden, doch davon abgesehen machte es ihm Spaß, Raggal die Dinge beizubringen, die er wusste.

    Alles in allem mochte Cridan sein Leben in der Burg. Er hatte sich zwar immer noch nicht ganz daran gewöhnt, sesshaft zu sein, doch er wusste, dass er am richtigen Ort war. Sein Platz war hier, neben Mar‘Tian und vor allem auch neben Béo.

    Er hätte es niemals zugegeben, aber er liebte seine Königin. Er liebte sie dafür, dass sie in ihm mehr sah als einen Dämon oder einen ficha‘thar, und dass sie ihn ihre Zuneigung und Wertschätzung spüren ließ. Wenn sie mit ihm lachte, ihm vertraulich die Hand auf den Arm oder die Schulter legte, ihm von ihren Sorgen erzählte oder ihm eines ihrer offenen Lächeln schenkte, dann wusste er, dass es keinen besseren Platz auf der Welt für ihn gab als hier, wo sie ihr Leben mit ihm teilte.

    Er hatte nie eine Gefährtin besessen, hatte diese Möglichkeit nicht einmal ernsthaft in Betracht gezogen. Sein Leben gehörte einzig und allein seinem König. Er war der ficha‘thar.

    Und das Leben eines ficha‘thar war einsam.

    Béo durchbrach diese Einsamkeit, wie es nie zuvor jemandem gelungen war. Er stand an ihrer Seite, war Teil ihres Lebens – und das ohne eine solche Verpflichtung, wie er sie gegenüber seinem König hatte. Das war es, was es ihm so leicht machte, sie zu lieben.

    Sie war Mar‘Tians Ehefrau, daran ließ sie nie einen Zweifel, und er hätte sich eher die Hand abgehackt, als etwas herauszufordern, aber allein ihre Gegenwart füllte ihn mit Zufriedenheit.

    Seufzend streckte Cridan sich, ließ die linke Hand auf den Schwertgriff fallen und sah über den Hof.

    Auf der anderen Seite des großen Platzes war Marud‘shat in einen Übungskampf mit zwei Soldaten vertieft: Einer davon war der Offizier Hertrulf.

    Cridan konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Es war ein offenes Geheimnis, dass die beiden zusammen waren.

    Marud‘shat war zunächst Cridans Bettgefährtin gewesen – kein Wunder, wenn man bedachte, dass sie die beiden einzigen erwachsenen T‘han T‘hau in dieser Burg waren. Doch nach und nach waren ihre Besuche seltener geworden, und es hatte Cridan nicht viel Mühe gekostet, herauszufinden, was dahinter steckte. Er war nicht enttäuscht gewesen, sondern hatte sich sogar für sie gefreut. Er hatte für Marud‘shat, die mit ihm aufgewachsen war und die in all den Jahren mit ihrer unbeirrbaren, stählernen Freundschaft wie ein Fels in der Brandung zu ihm gestanden hatte, immer mehr wie für eine Schwester denn wie für eine Liebschaft empfunden, und Hertrulf war ein anständiger Kerl.

    Dabei machte sich Cridan keine Gedanken darum, ob jemand Marud‘shat nicht gut behandelte. Tatsächlich war es eher so, dass ihm jeder Mann Leid tat, der meinte, ihr nicht respektvoll genug gegenübertreten zu müssen: Marud‘shat hatte eine ausgesprochen eindrückliche und meist schmerzhafte Art, jemandem Respekt beizubringen.

    Aus dem Augenwinkel bemerkte Cridan den Fehler seines Schülers. Er beugte sich etwas weiter vor und schüttelte missbilligend den Kopf.

    »Raggal! Lass die Schulter hinter dem Ellenbogen! Du verlierst die Struktur!«

    Der T‘han T‘hau nickte kurz, ohne zu ihm aufzusehen, und korrigierte seine Haltung.

    »Besser«, brummte Cridan. »Viel besser!«

    Dann fügte er lauter hinzu: »Béo, sei nicht so nachlässig! Nur weil du zu freundlich bist, ihm seine Fehler zu zeigen, muss er das nicht sein! Deine Deckung ist sperrangelweit offen!«

    Er wollte noch etwas sagen, doch in diesem Moment kam ein Diener die Treppe zum Wehrgang hinauf und eilte auf ihn zu.

    »Cridan? Mar‘Tian wünscht Euch zu sehen.«

    Cridan nickte zustimmend, warf einen letzten Blick auf die Kämpfer, dann machte er sich auf den Weg zum Herrscher von Gantuigh und seinem König.

    Zwischen Mar‘Tian und ihm hatte sich im letzten Jahr ein Verhältnis entwickelt, das nach anfänglicher Vorsicht und Misstrauen von zunehmender Freundschaft und gegenseitigem Respekt geprägt war – vor allem, seit Cridan unter Einsatz seines Lebens die Verräter in den Bergen aufgespürt hatte. Mar‘Tian, der Cridan bis zu diesem Zeitpunkt immer mit einem gewissen Argwohn begegnet war, hatte ihn seitdem uneingeschränkt nicht nur als seinen ficha‘thar und Vertrauten akzeptiert, sondern ihn auch als Freund an seiner Seite willkommen geheißen.

    Es erinnerte Cridan an die Zeit, als er noch jung gewesen war und seinem damaligen König Skatarhak in Zuneigung und Treue verbunden. Mar‘Tian war seinem Vater Skatarhak in vielerlei Hinsicht ähnlich, doch fehlte ihm glücklicherweise die rücksichtslose, eigensüchtige Zielstrebigkeit, die bei Skatarhak letztlich in Grausamkeit umgeschlagen war.

    Mar‘Tian war nachdenklicher und ruhiger, besaß allerdings auch nicht den trockenen Humor, den Cridan an Skatarhak geschätzt hatte. Den Sturkopf jedoch hatte er ebenso ausgeprägt wie sein Vater.

    Mar‘Tian sah nur kurz auf, als Cridan eintrat, nickte ihm zu und wies auf den Stuhl neben sich, den Blick schon wieder auf die Papiere in seiner Hand gerichtet.

    Cridan gehorchte dem unausgesprochenen Befehl ebenso schweigend und nahm Platz. Während er geduldig wartete, ruhte sein Blick auf dem König.

    Mar‘Tian war, soweit er wusste, der älteste Sohn Skatarhaks. Er war ein Bastard des Dämonenkönigs, seine Mutter eine Frau der Menschen – was sein Aussehen erklärte: Der T‘han T‘hau hatte rein äußerlich bis auf seine Größe und den ausgeprägt muskulösen Körperbau nichts mit den geschuppten Kriegern gemein. Doch nicht nur die markanten Züge seines Gesichts verrieten seinen Vater, sondern auch sein Blick, der ebenso durchdringend auf einem ruhen konnte wie der Skatarhaks. Anders als bei den Dämonen, deren Augen stets eine goldene Färbung aufwiesen, waren Mar‘Tians Augen, wie bei allen Mischlingen mit einer menschlichen Mutter, genauso schwarz wie seine Haare.

    Neben diesen Merkmalen, die für jedermann erkennbar waren, zeichnete ihn aber eines vor allen anderen aus: Er folgte Skatarhak in der Linie der Könige. Das Bluterbe, das sein Vater ihm vermacht hatte, berechtigte ihn dazu, an der Spitze aller T‘han T‘hau zu stehen und über sie zu herrschen.

    Tatsächlich hatte Skatarhak unter seinen unzähligen Kindern drei Söhne gehabt, in deren Adern das königliche Erbe floss. Neben Mar‘Tian und Tiko, der sich Mar‘Tian freiwillig unterworfen hatte, um Menschen und Dämonen zu einen, gab es noch einen weiteren Sohn, der dieses Geburtsrecht trug: Cor‘tarach, der viele Jahre seine eigene Schar an T‘han T‘hau angeführt hatte, hatte bei seiner Rückkehr auf die Insel den Rang des Königs für sich beansprucht – und ihn verloren, als er Mar‘Tian zum Zweikampf herausgefordert hatte.

    Seit diesem Tag war Mar‘Tian der König der T‘han T‘hau, und nun auch wieder der gewählte Herrscher von Gantuigh.

    Eine der ersten Handlungen, die Mar‘Tian nach seiner Wahl vorgenommen hatte, war es gewesen, den Thronsaal umzubauen: Er hatte den hohen Stuhl entfernen lassen und statt dessen einen runden Tisch aufgestellt, an dem bis zu zwei Dutzend Männer Platz fanden. Alle Stühle waren gleich, und ebenso behandelte er auch diejenigen, die mit ihm hier saßen. Wer seinen Weg in die Runde des Königs fand, konnte sicher sein, dass sein Wort gehört wurde. Cridan hatte einen festen Platz an diesem Tisch.

    Mar‘Tian schob ihm einen Stapel Papiere zu. Überrascht zog Cridan den Stapel zu sich heran und überflog die Zeilen.

    »Was soll ich damit?«

    Mar‘Tian zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Sag mir, was ich damit soll.«

    Cridan grinste.

    »Das nennt sich Politik, Mar‘Tian. Nicht mein Ding, wie du weißt.«

    Mar‘Tian seufzte.

    »Ja, durchaus. Beneidenswert, Probleme einfach mit einem Schwerthieb lösen zu können.«

    »Oh«, entgegnete Cridan ungerührt, »ich nehme nicht immer das Schwert. Das wäre… kaum verhältnismäßig. Manchmal reicht die Faust oder der Unterarm völlig aus.«

    Mar‘Tian sah auf, schenkte ihm einen scharfen Blick und musste dann doch lächeln.

    »Na gut«, seufzte er und zog den Stapel wieder zu sich heran. »Meinetwegen. Aber ich hasse diesen Papierkram! Wer, wann, wo, was, mit wem und wie… Das meiste davon ist völlig uninteressant! Warum muss ich wissen, welcher reiche Weinhändler gerade mit wessen Tochter anbandelt?«

    Cridan neigte den Kopf.

    »Weil möglicherweise dieser Weinhändler eine hohe Summe in deine Flotte oder in andere Unternehmungen investieren möchte. Vorausgesetzt, seine Angebetete kann eine gute Reputation am Hof vorweisen und ihn somit in gewisse Kreise einbringen.«

    »Hast du nicht gerade gesagt, Politik ist nicht dein Ding?«

    »Ist es auch nicht«, bestätigte Cridan grinsend.

    Mar‘Tian schnitt eine Grimasse und wechselte das Thema: »Weißt du, wo meine Frau steckt?«

    »Übt Problemlösung auf meine Art. Raggal ist bei ihr, und Marud‘shat und Hertrulf sind auch da. Keine Gefahr also.«

    »Wir sind auf meiner Burg«, erinnerte Mar‘Tian ihn spöttisch. »Béo braucht nicht auf Schritt und Tritt einen Aufpasser. Sie kann sich zur Not sogar selbst verteidigen, weißt du?«

    »Es ist meine Aufgabe, genau das zu verhindern«, entgegnete Cridan etwas verstimmt.

    Mar‘Tian ging nicht darauf ein, sondern winkte einen Diener heran und bat ihn, Béo zu rufen. Dann legte er die Feder aus der Hand, schob die Papiere zur Seite und gähnte herzhaft.

    »Ich muss mich immer wieder daran erinnern, dass auch das zu den Aufgaben gehört, die ein Herrscher hat«, murmelte er. »Sonst würde ich diesen ganzen Mist einfach in den Burggraben werfen.«

    Cridan lächelte ausdruckslos.

    »Nicht die schlechteste Lösung, wenn du mich fragst«, murmelte er so leise, dass nur er selbst es hörte.

    Dann sah er Mar‘Tian an. »Du wolltest mich sprechen«, erinnerte er ihn. »Weshalb?«

    »Ah«, Mar‘Tian machte eine wegwerfende Geste mit der Hand und seufzte. »Ich erwarte eine Gesandtschaft des ehernen Königs, und meine Berater erinnerten mich eben noch einmal daran, wie viel Wert er und seine Vertreter auf Äußerlichkeiten legen. Ich brauche dich an meiner Seite, um ein wenig Eindruck zu schinden.«

    »Wenn du meinst«, entgegnete Cridan halb belustigt, halb ernsthaft. »Das sollte mir gelingen. Darf ich mein Hemd anbehalten?«

    Mar‘Tian musterte ihn mit einem knappen Blick von Kopf bis Fuß.

    »Es reicht, wenn du die Ärmel aufkrempelst«, entgegnete er dann in einem Tonfall, der nicht verriet, ob er es ernst meinte oder nicht.

    Cridan wollte etwas erwidern, da betrat ein Diener den Raum. In seinem Gefolge befanden sich Musgin und Jekerat, zwei von Mar‘Tians Beratern, die sich mit einem kurzen Kopfnicken in den Hintergrund zurückzogen.

    Der Diener verneigte sich vor Mar‘Tian.

    »Herrscher von Gantuigh«, sagte er ehrerbietig. »Die Gesandten sind eingetroffen. Sie bitten darum, von Euch empfangen zu werden.«

    »Du weißt genau, dass ich diese Anrede nicht mag«, brummte Mar‘Tian unwirsch, neigte jedoch zustimmend den Kopf, erhob sich von seinem Platz und setzte sich statt dessen auf den einzeln stehenden Stuhl am Kopfende des Raumes. Wenn es auch keinen Thron mehr gab, erwarteten die Menschen doch etwas Ähnliches, hatte Mar‘Tian festgestellt, und so war es zu diesem Kompromiss gekommen.

    Cridan beeilte sich, die Ärmel seines Hemds nach oben zu schlagen, während er ihm folgte, und nahm neben ihm Aufstellung: die Beine gespreizt, die Arme vor der Brust verschränkt. Das Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel, ließ den Staub in der Luft funkeln wie Splitter eines Diamanten und schimmerte auf seinen Schuppen – matt und silbrig blau auf den dunklen, glänzend golden auf den Überbleibseln seines alten Schuppenkleids.

    Der Diener wartete, bis Cridan in die übliche Reglosigkeit des ficha‘thar verfallen war, dann schritt er zur Tür, blieb an der Seite stehen und gab zwei weiteren Bediensteten einen Wink. Sie öffneten die großen Torflügel, und eine Handvoll Leute betrat den Raum.

    Es waren ein halbes Dutzend Männer in prunkvollen, reich verzierten und auffallend bunten Gewändern, die sich Mar‘Tians Hochsitz näherten und sich davor verneigten. Die teils verstohlenen, teils offensichtlichen Blicke, die dabei Cridan trafen, reichten von furchtsamer Neugier bis hin zu unverhohlener Bewunderung.

    Das Gespräch selbst bestand aus rein höflichem Geplauder und drehte sich überwiegend um uninteressante Dinge, und Cridan hörte bereits nach kurzer Zeit nicht mehr richtig zu. Seine Aufgabe bestand diesmal darin, als schweigender Leibwächter möglichst beeindruckend zu erscheinen, und das war dank seiner Körpergröße und seinem einzigartigen Schuppenpanzer eine ziemlich einfache Sache.

    Als die Männer schließlich gegangen waren, kam Béo herein.

    Mar‘Tian stand auf, ging ihr entgegen und küsste sie zärtlich auf die Stirn. Er raunte ein paar leise Worte, die Cridan nicht verstand.

    Sie lachte.

    »Du würdest nur deine Geschäfte vernachlässigen, mein Liebster«, sagte sie mit gutmütigem Spott, »und ich wäre dann nachts allein, weil du dich genötigt fühltest, das aufzuarbeiten, was du tagsüber nicht geschafft hast.«

    Mar‘Tian verzog den Mund.

    »Du kennst mich zu gut«, gab er zu und nahm ihre Hand. »Kommt, lasst uns gehen. Ich möchte etwas Wichtiges mit euch besprechen. Außerdem habe ich Hunger. Bevor ich mich also wieder der Politik zuwenden muss, kann ich auch bei einem guten Essen mit euch reden. Na los, komm schon!« Er winkte Cridan heran.

    Dieser runzelte verwundert die Stirn: »Mit mir auch?«

    »Gerade mit dir«, bekräftigte Mar‘Tian. »Nun komm endlich!«

    Während die Diener den Tisch deckten und das Essen auftrugen, musterte Cridan seinen König, dessen Gesichtsausdruck und dunkle Augen nichts von dem verrieten, was hinter seiner Stirn vorgehen mochte.

    Nachdem die Diener ihnen eingeschenkt hatten, schickte Mar‘Tian die Bediensteten mit einer knappen Handbewegung hinaus. Nachdenklich ließ er den Wein in seinem Becher kreisen, bevor er den ersten Schluck nahm.

    Cridan wartete geduldig, doch bei Béo siegte die Neugier. »Verrätst du auch, worüber du mit uns reden willst?«

    Er nickte, schwieg jedoch weiterhin.

    Cridan tauschte einen Blick mit Béo und zuckte dann die Achseln.

    »Er wird schon anfangen, wenn er soweit ist«, bemerkte er. »So lange sollten wir aber das Essen nicht kalt werden lassen.«

    Er zog sich die Fleischplatte heran und bediente sich. Béo tat es ihm nach kurzem Zögern gleich.

    Sie aßen eine Weile schweigend, dann sagte Mar‘Tian unvermittelt:

    »Ich habe eine Nachricht vom Kontinent erhalten.«

    Béo hob die Brauen.

    »Du erhältst jeden Tag Nachrichten vom Kontinent«, entgegnete sie. »Das ist doch nichts Besonderes.«

    Damit drückte sie aus, was Cridan dachte.

    Mar‘Tian lächelte und berührte flüchtig Béos Finger.

    »Nur Geduld, meine Liebe. Dies ist eine besondere Nachricht. Sie stammt von Llegar, dem Herrscher Initims. Er bittet mich um Hilfe. Nun ja«, er verzog das Gesicht, »zumindest, wenn man die unverschämten Formulierungen ignoriert. Es geht um ein paar seltsame Vorgänge in seinem Land und um ein Gerücht, das ihm in Verbindung damit zu Ohren gekommen ist. Grob zusammengefasst erzählt man sich in Initim, auf der Halbinsel Korat gebe es Dämonen. Oder zumindest Wesen, die der Beschreibung nach Dämonen sein könnten.«

    »Korat?« Cridan legte die Stirn in Falten. »Hilf mir auf die Sprünge: Wo ist das?«

    »Ich musste auch erst die Karten zu Rate ziehen«, gestand Mar‘Tian. »Korat ist eine große Halbinsel ganz im Norden des Kontinents, überwiegend aus Gestein, Geröll und Schluchten, auf der daher kaum ein Mensch lebt. Sie gehört zum Königreich Initim. Bisher war sie offensichtlich nie Gegenstand größeren Interesses, bis vor einiger Zeit in den Bergen Korats Gold entdeckt wurde. Seitdem strömen die Leute in Scharen dorthin, um Reichtum und ihr Glück zu finden. Nicht allen gelingt das, wie man sich denken kann, und einer der glücklosen Rückkehrer hat von den geschuppten Wesen erzählt, die dort seit einiger Zeit ihr Unwesen treiben, nachts in die Lager eindringen, Nahrung, Werkzeuge und wohl auch das eine oder andere Nutztier stehlen, die Brunnen zuschütten oder Stollen unbrauchbar machen. Sie sind nur von wenigen überhaupt gesehen worden, aber wer sie zu Gesicht bekommen hat, dessen Beschreibung gleicht frappierend der eines T‘han T‘hau.«

    Cridan kaute sorgfältig sein Stück Fleisch zu Ende und schluckte.

    »Und?« fragte er. »Was meinst du dazu?«

    Mar‘Tian hob die Schultern.

    »Grundsätzlich würde ich erst einmal sagen, dass das nichts Schlimmes ist. Meinetwegen können T‘han T‘hau auf Korat leben, bis sie alt und grau sind, wenn es ihnen gefällt, aber Korat gehört nun einmal zu Initim, und Initims König Llegar ist fest entschlossen, den Goldsuchern um jeden Preis Schutz zu bieten, da sie ihm wertvolle Steuereinnahmen sichern. Ich fürchte, er würde dafür auch Dämonen zur Strecke bringen.«

    »Und?« fragte Cridan noch einmal, hob die Schultern und schob sich einen weiteren Bissen in den Mund.

    Er lächelte scheinbar unbeeindruckt und fügte dann provokant, gepaart mit einem Blick voll abwartender Berechnung, hinzu: »Was schert dich das?«

    »Ich bin der König aller T‘han T‘hau«, entgegnete Mar‘Tian im gleichen Tonfall. »Nicht nur ihr gewählter Herrscher. Es ist die Bestimmung meines Bluts, über allen Dämonen zu stehen als ihr König.«

    Cridan runzelte ganz leicht die Stirn.

    »Und?« fragte er ein drittes Mal, jetzt eindeutig spöttisch. »Du kennst diese Dämonen dort nicht.«

    Béo sah ihn verwirrt an. Sie begriff ganz offensichtlich nicht, was er bezweckte.

    Mar‘Tian lachte leise.

    »Ich kenne auch die Einwohner von Nerding nicht«, erwiderte er, »und doch würde ich ihnen zu Hilfe eilen, wenn sie diese bräuchten. Ein Volk zu beherrschen bringt auch Pflichten mit sich, und die Pflicht, es zu beschützen, ist die oberste und wichtigste eines jeden Herrschers. Und deshalb werdet ihr Llegars Bitte folgen und nach Initim gehen. Oder besser: nach Korat.«

    »Wir?« fragten Cridan und Béo wie aus einem Munde.

    Mar‘Tian nickte.

    »Ihr beide, zusammen mit einem Hofstaat, wie er sich für eine Königin gehört, sowie ausgewählten Männern aus meinen und Tikos Reihen.«

    »Und warum ich?« fragte Béo erstaunt und kam damit Cridan zuvor.

    Mar‘Tian sah sie ernst an.

    »Aus mehreren Gründen«, antwortete er. »Ich würde selbst gehen, aber ich bin derzeit nicht abkömmlich hier auf Gantuigh. Der Frieden ist kaum ein Jahr alt, und um ihn weiter voranzutreiben, braucht es Tiko und mich. Keiner von uns beiden wird in der nächsten Zeit die Insel verlassen können. Zu wichtig ist die Rolle, die wir spielen, wenn wir T‘han T‘hau und Menschen wirklich wieder vereinen wollen.«

    Er machte eine Pause und sah seine Frau mit leicht schräg gelegtem Kopf an.

    »Warum du? Das will ich dir sagen: Zum einen gibt es dir eine Gelegenheit, zu Tiko zu reiten und Ajula wiederzusehen. Du warst schon viel zu lange nicht mehr dort. Zum anderen brauche ich jemanden, der diplomatisch geschickter ist als ich, um mit Llegar zu verhandeln, aber trotzdem über eine so hohe Stellung verfügt, dass sich Initims König nicht zurückgesetzt fühlt. Zum dritten, und das ist der eigentliche Grund, kann ich es nicht mehr ertragen, deine Langeweile mit ansehen zu müssen! Glaube doch nicht, ich würde es nicht merken«, unterbrach er ihren Redeansatz unwirsch. »Ich weiß, du unterrichtest die Kinder in L‘hunival im Lesen und Schreiben, aber sonst hast du keine Aufgabe – und L‘hunival hat nicht so viele Kinder, dass es dich lange genug beschäftigen würde! Du langweilst dich. Ich sehe es dir an, jeden Abend, wenn ich unsere Gemächer betrete; ich höre es, wenn du mir von deinem Tag erzählst und nach meinem fragst; ich spüre es, wenn du neben mir liegst! Es wird Zeit, dass du mal wieder hier heraus kommst und etwas anderes tust! Und wo wüsste ich dich wohl besser aufgehoben als bei dem mächtigsten Dämon aller Zeiten?«

    Er wies mit einem Kopfnicken auf Cridan.

    Béo schien vor lauter Überraschung für einen Moment sprachlos.

    »Und was sollen wir in Initim?« fragte sie dann.

    »Mein Volk nach Hause holen«, erwiderte Mar‘Tian knapp. »Llegar war sehr deutlich in seiner Nachricht. Er bittet, oder besser: Er fordert von mir, diese Angelegenheit zu klären, ansonsten wird er es nach seinem eigenen Gutdünken tun. Ich werde ihm noch heute einen Brief senden, in dem ich ihm die Lage erkläre, und ihr bringt die T‘han T‘hau, so es denn welche gibt, zurück nach Gantuigh, damit Llegar zufrieden ist. Ich lege keinen Wert auf Streitigkeiten mit einem anderen Reich. Ganz und gar nicht. Wir haben genug damit zu tun, unsere innere Stabilität wiederzufinden, da will ich keinen Ärger von außerhalb. Wenn das bedeutet, dass ich meine Frau über das Meer schicken muss, um eine Handvoll versprengter T‘han T‘hau zur Vernunft zu bringen, dann sei es eben so.«

    »Eine große Aufgabe für dich, meine Königin«, nickte Cridan anerkennend. »Ich fühle mich geehrt, dich begleiten zu dürfen.«

    »Begleiten?«

    Mar‘Tian lachte trocken auf.

    »Du irrst dich, Cridan, wenn du glaubst, dass du sie lediglich begleiten sollst! Um ehrlich zu sein, brauche ich Béo zwar, um mit Llegar zu verhandeln – sie hat ein Händchen dafür, mit halsstarrigen Machthabern umzugehen, aber was die T‘han T‘hau angeht, so wird das deine Aufgabe sein, mein Freund.«

    Cridan atmete hörbar ein. »Meine?«

    »Deine«, nickte Mar‘Tian. »Ich brauche einen Dämon, um Dämonen zu überzeugen, und im schlimmsten Fall einen Kämpfer, der meinen Anspruch durchsetzen kann.«

    »Aber ich trage das königliche Erbe nicht«, wandte Cridan ein.

    Mar‘Tian machte eine wegwerfende Geste.

    »Das brauchst du nicht. Ich habe mir eure Gesetze erklären lassen, und glaube mir, ich habe gründlich nachgefragt. Es ist durchaus legitim, einen Kämpfer ohne Zugehörigkeit zur königlichen Blutlinie zu wählen, wenn es aus der Situation heraus nicht anders zu lösen ist und ohne die Lösung dieser Frage eine konkrete Gefahr besteht. Llegars Androhung ist eine konkrete Gefahr. Also kannst du als mein Stellvertreter auftreten, mit allen Rechten, die ich auch selbst hätte, wäre ich anwesend.«

    Cridan kannte die Gesetze der T‘han T‘hau besser als jeder andere, doch er hatte so seine Zweifel. Mar‘Tian hatte Recht: Wenn tatsächlich T‘han T‘hau auf Korat lebten, die sich nach den alten Gesetzen richteten, würden sie ihn als Stellvertreter Mar‘Tians akzeptieren und ihm zum König der T‘han T‘hau folgen. Wie es allerdings aussehen mochte, wenn sie ihre eigenen Gesetze hatten und wie diese dann lauten würden, wagte er nicht einmal zu ahnen.

    »Und wie kommen wir nach Initim?« fragte Béo aufgeregt und unterbrach damit Cridans Gedanken.

    »Mit der Herz von Gantuigh«, erwiderte Mar‘Tian. »Sie liegt im Hafen von Q‘ada und wartet schon auf euch.«

    »Oh«, entfuhr es Béo. »Und unter wessen Kommando werden wir fahren?«

    »Diese Frage habe ich mir auch schon gestellt«, nickte Mar‘Tian nachdenklich. »Wenn ich mich recht erinnere, hat Tiko diesbezüglich einmal etwas erwähnt. Vor dem Krieg besaß er zwei Schiffe, richtig?«

    Er sah Cridan an. Dieser nickte.

    »Die Falkenflug und die Wellenstolz. Die Herz von Gantuigh ist nach ihrem Vorbild gebaut, soweit ich weiß.«

    »Es ist nicht nur das«, sagte Mar‘Tian, »nicht wahr? Wenn es stimmt, was Marud‘shat mir erzählt hat, fuhr die Wellenstolz unter Tikos Kommando, und die Falkenflug unter deinem.«

    Er hielt kurz inne, bevor er weitersprach: »Cridan – ich will, dass du die Herz von Gantuigh segelst.«

    Cridan traute seinen Ohren nicht.

    »Ich soll…?« Überraschung und unbändige Freude wallten in ihm auf, so heftig, dass er das Lächeln, das sich auf seinem Gesicht ausbreitete, nicht mehr unterdrücken konnte.

    »Entschuldigt mich für einen Moment«, bat er.

    Mar‘Tian hob belustigt eine Braue.

    »Geh nur«, sagte er mit einer auffordernden Geste und freundlichem Spott in der Stimme. »Aber vergiss nicht zurückzukommen, wenn du dem Gefühlsüberschwang, den ich zu erkennen glaube, genug Luft gemacht hast, um deinen Gesichtsausdruck wieder in die reglose Ungerührtheit zu verwandeln, die ich so sehr an dir bewundere.«

    Cridan spürte Béos verdutzten Blick auf sich ruhen, als er sorgfältig seinen Stuhl zurück rückte, aufstand und scheinbar ruhig den Raum verließ. Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss.

    Nach außen hin wahrte er ein gleichmütiges Gesicht, während er durch die Gänge eilte, doch mit jedem Schritt, den er machte, wurde die Freude größer: Er musste sich zusammenreißen, sonst wäre er gerannt. So hastete er vorwärts, die Treppen hinauf und hinauf, immer höher, bis er endlich auf der obersten Plattform des Ostturmes angekommen war.

    Dort blieb er stehen, stützte die Hände gegen die Zinnen und ließ endlich das breite Grinsen zu. Erinnerungen und Bilder einer längst vergessen geglaubten Zeit weckten prickelnde Vorfreude in ihm: Mar‘Tians Worte hallten in seinem Kopf wider, stolperten zwischen den wirbelnden Gedanken und Gefühlen, die sie ausgelöst hatten.

    Die Herz von Gantuigh – ein Segler, so stolz wie die Falkenflug, ebenso schnell und elegant, nur jünger, und er sollte sie kommandieren?

    Wieder ein Schiff zu führen, das wäre die Erfüllung eines in einem stillen Winkel seiner Seele verschlossenen und doch lange gehegten Traums. Und dann noch die Herz von Gantuigh!

    Konnte das wahr sein? Konnte das wirklich wahr sein?

    Ob Mar‘Tian ahnte, was er ihm damit zurückgeben würde? Cridan war auf dem Meer zu Hause gewesen, hatte es geliebt, und jeder Tag auf dem Deck der Falkenflug war Freiheit für ihn gewesen – eine Freiheit auf Zeit von seinen Verpflichtungen als ficha‘thar, die sonst sein ganzes Leben bestimmten.

    Als er daran dachte, schien ihm die Sehnsucht schier das Herz zerreißen zu wollen.

    Das Geräusch von Schritten auf der Treppe ließ ihn aufhorchen und verriet ihm, dass Béo ihm gefolgt war.

    Er wandte sich nicht um, als sie neben ihn trat. Eine Weile blickte sie in die gleiche Richtung wie er, dann legte sie ihre Rechte auf seine und lehnte sich vorsichtig, um sich nicht an den messerscharfen Schuppen zu verletzen, gegen seinen Oberarm.

    »Willst du darüber reden?« fragte sie sanft.

    Er blieb eine Weile stumm, dann lachte er.

    »Was gibt es darüber zu reden, dass Mar‘Tian mir mein Leben zurückgegeben hat?«

    Er senkte den Kopf und sah sie an.

    »Ich war so lange heimatlos, verstoßen, ohne einen Platz, an den ich gehöre! Mar‘Tian hat uns Gantuigh und damit unsere Heimat zurückgegeben. Als wäre das nicht schon genug, hat er mir den Platz des Freundes an seiner Seite gewährt, hat mir als sein fichathar wieder eine Aufgabe gegeben. Und jetzt das…«

    Er atmete tief durch.

    »Du kannst dir nicht vorstellen, was das Meer für mich bedeutet«, fuhr er mit rauer Stimme fort. »Die Falkenflug war so viel mehr für mich als ein Schiff. Sie zurückzulassen fiel mir jedes Mal schwer.«

    »Was ist mit ihr geschehen?« fragte Béo.

    Er hob die Schultern.

    »Ich weiß es nicht«, murmelte er. »Skatarhak wird sie einem anderen gegeben haben, und vermutlich ist sie irgendwo gesunken.«

    »Und die Wellenstolz? Tikos Schiff?«

    »Die liegt noch sicher in den Sümpfen«, lächelte er, »verborgen in einem Flussarm. Tiko ist regelmäßig dort und schaut nach dem Rechten.«

    Er machte eine Pause, in der er nachdenklich auf sie hinab sah.

    »Die Falkenflug und die Wellenstolz waren Schwestern«, sagte er dann. »Die Herz von Gantuigh ist so etwas wie ihre Tochter. Mar‘Tian hätte mir kein schöneres Geschenk machen können. Und ich bin sicher, er wusste das«, fügte er nach einer Weile hinzu.

    »Das ist wahrscheinlich«, bestätigte Béo.

    Sie machte einen halben Schritt zurück und sah ihn an. Sie war so viel kleiner als er, dass sie dafür den Kopf in den Nacken legen musste.

    »Meinst du, du bist bereit, wieder zu ihm zurückzugehen? Er wartet auf uns.«

    Mar‘Tian hatte sein Essen beendet und saß am Schreibtisch über einige Papiere gebeugt, als sie eintraten. Mit einer knappen Handbewegung wies er auf die Stühle vor dem Tisch, legte die Arbeit jedoch nicht zur Seite.

    Sie nahmen Platz und warteten geduldig, bis er schließlich die Papiere an den Rand schob. Cridan hatte die Zeit genutzt, um seine Gedanken und auch seine Worte zu sortieren.

    »Verzeih‘ mein Benehmen«, begann er. »Es war nicht besonders höflich, unser Gespräch zu unterbrechen, aber… Ich danke dir, mein König. Nichts auf der Welt täte ich lieber, als in deinem Namen die Herz von Gantuigh zu segeln.«

    »Es freut mich, das zu hören«, bemerkte Mar‘Tian. »Dann wäre dieser Punkt geklärt. Ihr werdet morgen früh zu Tiko aufbrechen und fünfzig T‘han T‘hau von ihm auswählen lassen, die euch begleiten werden. Von meinen Soldaten werden hundertzwanzig Männer hier auf euch warten. In zehn Tagen werdet ihr dann nach Q‘ada aufbrechen. Die Botschaft an Llegar ist bereits unterwegs. Und noch etwas… Bevor wir dieses Gespräch beenden, möchte ich euch eine Sache besonders dringend nahelegen.«

    Er sah erst Béo, dann Cridan an, bevor er fortfuhr:

    »Eure Aufgabe wird nicht leicht werden. Weder die deine, Béo, noch deine, Cridan, und ihr werdet für eine lange Zeit aufeinander angewiesen sein – in einer Art und Weise, wie ihr es bisher nicht kanntet. Jeder von euch ist ein immens wichtiger Teil dieser Reise. Ohne euch ist dieses Unternehmen zum Scheitern verurteilt. Es ist von größter Wichtigkeit, dass ihr einander nicht bloß vertraut – und ich weiß, dass ihr das ebenso sehr tut, wie ich euch vertraue – sondern zudem auch aufeinander achtgebt.«

    Es blieb eine Weile still.

    Cridan sah zwischen Béo und Mar‘Tian hin und her.

    »Mein König«, sagte er, »ich würde eher sterben als zuzulassen, dass Béo etwas passiert. Ich werde auf sie achtgeben, darauf hast du mein Wort.«

    Für einen Herzschlag lang wirkte Mar‘Tian nachdenklich, beinahe traurig, wie es Cridan schien, doch dann war der Augenblick verflogen, und sein König nickte zustimmend:

    »Ich weiß, mein Freund. Ich weiß. Du hast es schon bewiesen. Aber du wirst auch auf dich achtgeben müssen, mehr als du es sonst getan hast. Und sie auf dich.«

    Cridan rieb sich über den Nasenrücken. Er spürte den Versatz in seinem Knochen – ein Andenken an den Anschlag, bei dem man ihn fast umgebracht hatte. Er glaubte zu wissen, worauf Mar‘Tian anspielte.

    »Ein solcher Fehler wird mir nicht noch einmal unterlaufen«, murmelte er grimmig.

    Béo berührte ihn sanft am Unterarm. Als sie seinem Blick begegnete, lächelte sie.

    »Ich weiß zwar noch nicht so recht, wofür du meinen Schutz brauchen solltest, aber ich werde ebenso auf dich achtgeben. Das verspreche ich.«

    »Oh«, brummte Cridan, »ich hoffe doch sehr, dass ich deinen Schutz nicht brauchen werde.«

    Dennoch spürte er die Zuneigung, die aus ihren Worten sprach, und es ließ ein ungewohnt warmes Gefühl in ihm aufsteigen.

    2. Kapitel – Durch die Berge

    Der nächste Morgen begrüßte sie mit herrlichem Wetter.

    Cridan hatte ein seltsames Gefühl, als er den Stall betrat, um seinen Hengst Camro zu satteln. Es hatte im letzten Jahr keine Beschränkungen seiner Freiheit gegeben, auch wenn er formal als Geisel auf der Burg weilte, aber er hatte die Stadt seitdem nie ohne Mar‘Tian verlassen.

    Jetzt würde er es das erste Mal wieder tun.

    Camro begrüßte ihn mit einem freundlichen Schnauben. Cridan strich ihm über die Nase, betrat den Stall und begann, das Fell des Rappen mit kräftigen Strichen zu bürsten, um ihn danach zu satteln und für den Ritt fertig zu machen. Der Hengst sah sich hin und wieder nach ihm um, knabberte an seinem Ärmel oder stieß ihn spielerisch in die Seite.

    Cridan genoss die offene Zuneigung des Pferdes. Mar‘Tian hatte ihm den riesigen Hengst geschenkt, nur wenige Tage, nachdem er auf der Burg eingezogen war. Es sollte ein Dank sein für alles, was Cridan getan hatte – doch für Cridan war es viel mehr als das.

    Er hatte Tage und Wochen damit zugebracht, das Vertrauen des Tieres zu gewinnen. Er hatte Stunden bei ihm gesessen und mit ihm gesprochen, war der einzige gewesen, der Camro gefüttert, getränkt oder auf die Weide gebracht hatte, und ganz allmählich hatte sich die Furcht des Hengstes vor dem geschuppten Krieger gelegt, bis er Cridan schließlich so selbstverständlich akzeptiert hatte, als wäre er nie einem anderen Reiter begegnet.

    Auch jetzt folgte er Cridan ohne jede Spur von Scheu auf den Hof. Als Cridan sich in den Sattel schwang, bog das Pferd den Kopf herum und stieß ihn sanft mit dem Maul an. Cridan beugte sich zu ihm hinunter und zauste ihm die dichte Stirnlocke, bevor er die Zügel aufnahm.

    »Sollen wir?« fragte er nach einem Blick auf Béo, die auf ihrem schlankeren Hengst Whal bereits auf ihn wartete.

    Sie nickte. Nebeneinander trabten sie durch das Tor auf die Straße, die sie in weniger als zwei Tagesritten zur Siedlung der T‘han T‘hau bringen würde. Béos Pferd Whal hatte ein ähnlich stürmisches Temperament wie Camro, und als sie die Häuser der Stadt hinter sich gelassen hatten und die Straße erst ins Tal und dann weiter in die Berge hinauf führte, gaben sie den Pferden die Zügel frei. Die beiden Rappen sprangen in einen frischen Galopp, die Hufe trommelten den Takt auf dem Pflaster.

    Cridan schloss für einen Moment die Augen und konzentrierte sich auf das Gefühl des warmen Sonnenscheins auf seiner Haut, der Bewegungen des Pferdes unter sich und das Geräusch, mit dem ihm der Wind um die Ohren pfiff.

    »Ist das nicht wunderschön?« rief Béo zu ihm hinüber. Sie schien den Ritt ebenso sehr zu genießen wie er.

    Cridan grinste breit.

    »Das ist es«, gab er zu. »Und wie ich sehe, hat Mar‘Tian Recht, was dich angeht!«

    Béo nickte lachend.

    Die Straße wurde zunehmend schmaler und steiler, als sie anfing, sich die nächste Bergflanke hinaufzuwinden, und sie zügelten ihre Pferde in einen leichten Trab.

    Cridan warf Béo einen Blick zu. Ihre Augen ruhten auf ihm. Die ausgelassene Freude war von ihrem Gesicht verschwunden und hatte einer fast betroffenen Nachdenklichkeit Platz gemacht.

    »Worüber grübelst du nach?« fragte er.

    Ertappt lächelte sie. »Über Vergangenes.«

    »Vergangenes?« Er legte die Stirn in Falten. »Das lohnt sich nicht. Du solltest deinen Blick lieber nach vorn richten. Es ist eine bedeutsame Aufgabe, die vor uns liegt, und es zeigt, welches Vertrauen Mar‘Tian in dich setzt.«

    »In uns«, berichtigte sie ihn. »Dein Anteil an dieser Aufgabe ist ebenso groß wie der meine, wenn nicht um einiges größer. Trotzdem können wir auch aus dem Vergangenen lernen, und manchmal ist es dafür wichtig, es noch einmal zu betrachten.«

    »Ach«, bemerkte er fast ein wenig spöttisch und trieb Camro wieder in Galopp, »und was betrachtest du?«

    Béo schwieg einen Augenblick, bevor sie antwortete:

    »Ich frage mich, ob Mar‘Tian dich auch in die Berge geschickt hätte, wenn er gewusst hätte, dass Guthrag dein Bruder war.«

    Cridan zögerte kurz. Er hatte nicht erwartet, dass sie darüber nachgedacht hatte.

    Guthrag war der Gefährte von Tikos Schwester Inth Silia gewesen und hatte der abtrünnigen T‘han T‘hau, die er bis zur Selbstaufgabe geliebt hatte, nicht nur als williger Handlanger gedient, sondern in ihrem Auftrag auch versucht, Cridan zu ermorden. Aus dem Hinterhalt heraus hatte er seinen eigenen Bruder feige überfallen, ihm den bestialischen und öffentlich zur Schau gestellten Mord an einem jungen Mädchen angehängt und ihn dem rasenden Mob in L‘hunivals Straßen vorgeworfen.

    Cridan hatte diesen Anschlag nur um ein Haar überlebt – und Mar‘Tian hatte die Situation geschickt ausgenutzt: Er hatte Cridan an einen geheimen Ort tief im Berg unter der Burg schaffen lassen. Während Cridan sich dort langsam erholte, hatte Mar‘Tian die Welt glauben lassen, dass der Anschlag geglückt und der T‘han T‘hau ums Leben gekommen sei. Er hatte sogar eine Beerdigung für seinen angeblich toten ficha‘thar gestellt.

    Seit diesem Angriff auf sein Leben trug Cridan nun den dunklen Panzer, der aus den zerstörten Resten seines alten Schuppenkleids nachgewachsen war – und Cridan hatte die neuen Eigenschaften seiner matten Panzerung zu schätzen gelernt, als er in die Tunnel und Höhlen der Berge aufgebrochen war, um Inth Silia und die Verräter an ihrer Seite zur Strecke zu bringen. Letztlich hatte er nicht nur Silia selbst, sondern auch seinen Bruder Guthrag getötet.

    Das war es, worauf Béo anspielte.

    »Ich denke schon«, antwortete er nach einer Weile. »Davon abgesehen, hätte ich darauf bestanden.«

    »Aber… Er war dein Bruder! Und Inth Silia hast du geliebt!«

    »Beides ist wahr«, nickte er mit einem kleinen Achselzucken, »und doch wieder nicht. Damit du das verstehst, muss ich ein wenig weiter ausholen. Ich will versuchen, es dir zu erklären. Guthrag ist von Bluts wegen mein Bruder, das ist richtig, doch bei uns zählt das nicht in dem Maße wie bei euch. Siehst du, wir haben alle so viele Brüder, Schwestern, Halbgeschwister…«

    Er winkte ab.

    »Jeder Mann, der etwas auf sich hält, hat mindestens zehn Kinder in seinem Leben gezeugt. Mit welcher Frau er die Kinder hat, spielt keine große Rolle. Die Kinder werden in der Familie aufgezogen, in die sie hineingeboren werden, ganz gleich, wer ihr Blutsvater ist. Daher sind unsere Familien häufig riesig und sehr kompliziert miteinander verwoben. Versteh mich nicht falsch: Es ist nicht so, als würden Familienbande nicht existieren! Sie sind nur einfach anders als bei euch.«

    Er machte eine kleine Pause.

    »Ich mochte Guthrag, habe ihn als Freund und Bruder geschätzt, und als klar war, dass Inth Silia sich für ihn entscheiden würde, habe ich das akzeptiert. Natürlich wäre es mir damals lieber gewesen, wäre ich an seiner Stelle gewesen, aber im Nachhinein betrachtet war es vielleicht ganz gut so. Wer weiß, ob sie sonst mich für ihre habgierigen Ziele benutzt hätte?«

    Er verschwieg, dass er einmal ganz anders darüber gedacht hatte, und dass es dieser Vertrauensbruch gewesen war, der ihn und seinen Bruder entzweit hatte.

    Béo rümpfte die Nase. »Ich glaube kaum, dass sie das geschafft hätte.«

    Eine Weile lag Schweigen zwischen ihnen.

    »Haben wirklich alle Männer bei euch so viele Kinder?« fragte Béo dann.

    Cridan nickte.

    »Allerdings, ja. Tiko hat über dreißig – zumindest die gezählt, von denen ich weiß. Bald wird es ja noch eins mehr!«

    Er grinste.

    »Und wenn er Gironna nicht versprochen hätte, dass sie seine einzige Bettgefährtin bleiben würde, wären es sicherlich schon etliche mehr.«

    Gironna war Tikos Gefährtin und stammte aus dem Volk der Menschen vom Kontinent. Sie hatte zu einer Gruppe von Abenteurern gehört, die mit Mar‘Tian und Béo befreundet waren. Tiko und sie waren sich im letzten Jahr begegnet, und es war trotz ihres ungleichen Aussehens Liebe auf den ersten Blick gewesen. Selbst Cridan, der dieser Verbindung anfangs skeptisch gegenüber gestanden hatte, hatte rasch begriffen, dass die beiden einander auf ganz besondere Weise zugetan waren. Gironna hatte alles zurückgelassen, um dem damaligen König der Dämonen in sein Leben zu folgen, und Tiko wiederum liebte seine Gefährtin so sehr, dass er ihr – entgegen aller Gewohnheiten der T‘han T‘hau – versprochen hatte, mit keiner anderen Frau mehr das Lager zu teilen.

    »Er hat es ihr tatsächlich versprochen?« Béo staunte. »Das muss etwas Besonderes für euch sein.«

    Cridan hob die Schultern.

    »Ja und nein. Es ist ungewöhnlich, aber auch unter uns T‘han T‘hau gibt es hin und wieder Paare, die sich so etwas versprechen. Selten, ja, aber es gibt sie.«

    »Und wie wäre es bei dir?« fragte Béo neugierig. »Würdest du so etwas versprechen? Oder solch ein Versprechen wollen?«

    »Du meinst, wenn ich jemals in die Lage käme, mir eine Gefährtin zu erwählen?«

    Er hatte noch nie darüber nachgedacht, und im ersten Moment wollte er verneinen, zögerte jedoch. Er wollte ehrlich mit ihr und auch sich selbst sein.

    »Ich glaube, da bin ich etwas selbstsüchtig«, bekannte er schließlich und grinste. »Ich würde mir ein solches Versprechen gern geben lassen, aber selbst geben wollen würde ich ein solches Versprechen nicht!«

    »Das ist in der Tat selbstsüchtig«, stimmte Béo ihm zu. »Nur eins verstehe ich nicht: Du hast mir mal gesagt, du hättest keine eigenen Kinder. Wenn aber doch…«

    Er musste seinen Gesichtsausdruck nicht gut genug unter Kontrolle gehabt haben, denn sie brach ab.

    »Entschuldige«, bat sie. »Ich wollte dir nicht zu nahe treten.«

    Er zwang sich zu einem Lächeln.

    »Schon gut. Du kannst es nicht wissen. Ich rede nicht oft darüber.«

    Er sah auf Camros wippende Mähne vor sich hinab und versuchte sich zu erinnern, wie es damals gewesen war.

    »Ich hatte einmal zwei Söhne«, sagte er dann. »Ich war noch sehr jung, kaum sechzehn Jahre, und gerade Skatarhaks ficha‘thar geworden, als sie geboren wurden. Ihre Mutter war eine der wenigen T‘han T‘hau, die ich zu meinen Freunden zählte, und sie wusste, welches Leben ich gewählt hatte. Ich habe sie einmal besucht, kurz nachdem meine Söhne geboren worden waren, und danach habe ich sie nie wiedergesehen. Weder Chama noch meine Söhne. Ich weiß nicht einmal mehr ihre Namen.«

    Er griff in die Zügel und ließ Camro in Schritt fallen.

    Warum erzählst du ihr das? Er wunderte sich ein wenig über sich selbst. So viele Jahre hast du diese Erinnerungen in dir vergraben, dass es dir schon schwerfällt, sie wieder ins Gedächtnis zu holen – weshalb tust du es jetzt?

    Ihm war nicht klar, warum er es tat, doch es fühlte sich richtig an. Wenn jemand ihn verstehen konnte, dann sie. Und so fuhr er fort:

    »Es ist für dich vielleicht schwer nachzuvollziehen, aber ich lebte – und lebe immer noch – ein Leben, das sich von dem anderer T‘han T‘hau unterscheidet. Ich kann keine Gefährtin oder Familie haben, nicht wie du es kennst oder dir vorstellst. Mein Leben gehört meinem König, und ich diene dem Volk Gantuighs. Es ist der Weg, den ich gewählt habe und den ich gehen will. Ich wollte nie Kinder. Vielleicht weil ich wusste, dass ich sie nicht lieben kann.«

    »Ich habe meine Söhne nicht geliebt, und ich fühle mich deswegen bis heute in gewisser Weise schuldig. Selbst Skatarhak, der so grausam sein konnte wie kaum ein anderer, liebte seine Kinder. Ich konnte das nicht. Ich habe nie Wert darauf gelegt, Nachkommen zu zeugen. Ich hätte sie ohnehin nie aufziehen können, nie eine Familie haben können! Mein Weg war ein anderer; ein Weg, den ich nur ohne Gefährtin und ohne Kinder gehen konnte. Es ist zwar sehr wahrscheinlich, dass ich noch mehr Kinder mit anderen Frauen hatte, vermutlich ein ganzes Heer von Bastarden auf dem Kontinent«, er lächelte humorlos, »aber ich weiß nichts von ihnen. Und im Grunde ist mir das ganz recht so.«

    Er machte eine kleine Pause und sprach dann weiter:

    »Ich wollte nie Kinder haben, und heute kann ich es nicht einmal mehr. Als Skatarhak Tiko fortgeschickt hat, wollte er nicht, dass ich mit ihm gehe. Er wollte, dass ich auf Gantuigh bleibe, an seiner Seite, und den Krieg mit ihm führe, als seine Waffe, sein Kettenhund und Henker. Ich habe mich damals anders entschieden, weil ich wusste, Skatarhaks Weg war falsch. Ein König muss das eigene Volk beschützen, und wenn er es nicht tut, dann muss der ficha‘thar es tun. Skatarhak hat das Volk der T‘han T‘hau in den Untergang gestürzt – es war meine Aufgabe und Pflicht, die Blutlinie der Könige zu beschützen. Und das konnte ich nur an Tikos Seite. Ich habe mich letztlich durchsetzen können, aber ich habe teuer dafür bezahlt. Skatarhak hat mir für alle Zeiten die Möglichkeit genommen, Söhne oder Töchter zu haben.«

    Er fing ihren Blick auf und schüttelte den Kopf.

    »Frag‘ nicht weiter. Es gibt Dinge, an die ich mich nicht erinnern will, und diese Sache gehört eindeutig dazu.«

    »Ich wollte nicht fragen«, murmelte sie. »Mir wird nur gerade wieder klar, was Skatarhak für ein Ungeheuer war.«

    »Das war er in vielerlei Hinsicht«, bestätigte Cridan düster.

    Ein trauriges Lächeln ging über Béos Gesicht.

    »Weißt du«, sagte sie, »mir geht es ähnlich und doch ganz anders als dir. Ich wollte immer Kinder. Es war ein furchtbarer Zeitpunkt und die denkbar ungünstigste Lage, in der ich war, als ich feststellte, mit Ajula schwanger zu sein, aber mir hat sich nie die Frage gestellt, ob ich sie wollte. Und ich bin sehr glücklich, dass es so ist. Sie ist ein wunderbares Kind.«

    Er spürte, wie schwer ihr die nächsten Worte fielen, und wartete taktvoll, bis sie weitersprach.

    »Es passierte ein paar Jahre nach Ajulas Geburt.

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