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Hartwich I: Freiheit
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eBook315 Seiten4 Stunden

Hartwich I: Freiheit

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Über dieses E-Book

Benjamin Hartwich, von allen nur Hartwich genannt, führt ein tristes Arbeitsleben als Elektroingenieur beim Unternehmen für Stromversorgung. Obwohl er einen soliden Job macht, traut er sich wenig zu, entsprechend gering ist seine Akzeptanz in der Firma. Schon in der Schule war er ein Weichei, eine Software, die vor allem Sandro, einer von den harten Jungs, als Datenquelle zu nutzen wusste.

Die Begegnung mit Mimi gibt der Gefühlswelt von Hartwich neue Impulse. Als auch noch Alina seine Hilfe sucht, wird er mit seinen Ängsten, aber auch mit seinen Bedürfnissen konfrontiert. Zusammen mit Sandro nimmt er die Herausforderung an.

In einer dubiosen Villa erlebt Hartwich faszinierende Seminare, die seine Denkmuster aufbrechen. Dozentin Kerstin gibt ihm Einblicke in die Welt der Persönlichkeitsentwicklung. Er spürt die Kraft des Geistes, gleichzeitig konfrontiert die zwielichtige Organisation Vesta die Menschheit mit einer aberwitzigen Idee zur Seelenheilung. Dieser Verein, in dem nicht nur Gutmenschen ihr Unwesen treiben, will mit aller Macht in die Psyche der Menschheit eindringen. Hartwich überwindet seine Ängste und stellt sich dem Kampf gegen Vesta.

Nebenher werfen Filz und Vetternwirtschaft nicht nur im Rathaus ein düsteres Licht auf die bayrische Landeshauptstadt. Während die Wohnungsnot in München bedrohlich zunimmt, können manche Reichen und Schönen den Hals nicht voll bekommen.

Hartwich und Sandro verstricken sich immer tiefer in Schwierigkeiten. Sie brauchen ihr gesamtes Potenzial, um eine Lösung zu finden.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum7. Mai 2021
ISBN9783754117514
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    Buchvorschau

    Hartwich I - PEER KLAWIR

    PEER KLAWIR

    Hartwich I

    Freiheit

    1. Auflage Mai 2021

    Texte: © by PEER KLAWIR

    Covergestaltung: © by PEER KLAWIR

    Bildnachweise:      © Can Stock Photo / Boykung      

    © Can Stock Photo / emprize

    Verlag:

    Neopubli GmbH

    Köpenicker Straße 154a

    10997 Berlin

    kontakt@epubli.de

    www.epubli.de

    epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

    PRINT ISBN-10: 3753177822

    PRINT ISBN-13 (EAN): 978-3-753177-82-3

    Der nachfolgende Roman ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Geschehnissen oder lebenden Personen wären rein zufällig. Orte und Einrichtungen, soweit sie nicht dem Allgemeinwissen zuzuordnen sind, sowie technische Zusammenhänge, basieren nicht auf Fakten, sie sind als fiktiv zu betrachten.

    „Das Mittelalter hat auch deswegen so lange gedauert, weil es so bequem ist, unfrei zu sein!"

    (unbekannt)

    Kapitel 1

    Schwer atmend rollte sich Hartwich auf die Seite. Die Entladung der immer mehr aufgestauten Anspannung bis zu dem Punkt, als es schier nicht mehr auszuhalten war, ließ ihn eine Leere und gleichzeitig einen tiefen Frieden empfinden. Mimi war eine Meisterin darin, seine Gefühle zu spüren, und sie ließ ihn diese seltsame Begegnung von Schmerz und Lust in einem ungeahnten Maß erleben.

    Nun lächelte sie ihn an, wie eine Schauspielerin nach der Show, wissend, dass sie das Publikum in ihren Bann gezogen hatte. Sie genoss es, dass er kaum den Blick abwenden konnte von ihren üppigen Rundungen, die ihn magisch anzogen.

    Mimi war sicher kein Magermodel. Auch über ihr eher mondförmiges Gesicht und ihre feuerroten Haare, die sie stets mit einem bunten Tuch gebändigt hielt, würde wohl kein Dichter eine Ode schreiben. Mit ihrer überschaubaren Körpergröße, die kaum über ihren Kleinwagen hinausragte, war sie auf ihre Art ein Gesamtkunstwerk. Nicht unbedingt das, was die bunten Blätter auf Seite eins zeigen, und doch in sich stimmig. In ihrer Weiblichkeit hatte sie eine Ausstrahlung von Muttertier, die eine kompromisslose Geborgenheit versprach. Eine Geborgenheit, nach der sich Männer wie Hartwich sehnen.

    Hartwich war körperlich eher das Gegenteil von Mimi. Nach dem Motto „Liegen haben kurze Beine war er lang und schlaksig, wenig muskulös, mit einem unübersehbaren Bierbäuchlein, das wie der australische Ayers Rock aus seinen flachen Ebenen herausragte. Seine dichten dunklen Haare trug er in einem altmodischen Mittelscheitel. Sein Friseur wandte nicht wenig Energie auf, das zu ändern, scheiterte jedoch regelmäßig am Widerstand seines Kunden. Dieses Schicksal teilte auch seine Optikerin, die ihm gerne mal eine aktuelle Hornbrille „Directors Art verpasst hätte. Auch sie musste ihn stets mit verstärkten Dioptrien im guten alten John-Lennon-Style ziehen lassen.

    Hartwich mochte keine Veränderungen. Es grauste ihm davor, sich erklären zu müssen. Sich der aktuellen Mode und dem Zeitgeist anzupassen, empfände er als Verlust seiner Identität zu Gunsten eines Herdentriebs. Im Widerspruch dazu wäre er sehr gerne Teil der großen Herde gewesen. Hartwich war ein Mensch voller Widersprüche. In Sachen Mode ging er den vermeintlich einfachen Weg. Die mitleidigen Blicke der Umwelt über seinen altmodischen Auftritt verdrängte er durch den Glauben, dadurch unabhängig zu sein. In Wahrheit hatte er Angst davor, sich erklären zu müssen, wenn er dem Zeitgeist folgen würde. Damit hatte er sich arrangiert, und gewohntes Verhalten gab ihm Sicherheit. „Stetig währt am längsten" hatte er sich zu eigen gemacht.

    So war es damals auch mit Melanie gewesen, seiner Frau, von der er nun schon fast fünf Jahre geschieden war. Als sie sich kennengelernt hatten, waren sie beide ein wenig altbacken und schüchtern gewesen. Dass sie sich kennen- und später sogar lieben gelernt hatten, bis zum Ehebündnis, war einem Zufall zu verdanken gewesen. Für ihre Umwelt hatte es gepasst. Der verträumte Hartwich und die unsichere Melanie, das ergab durchaus Sinn und hatte sie verbunden. Ihre Charaktere hielten sie auch für einige Jahre zusammen. Kinder gab es keine, die einer Entwicklung hätten förderlich sein können, sodass die Beziehung viel Stillstand und Bewahrung erlebte. Für Hartwich genau das Richtige, er konnte darin seine Ängste gut unterbringen. Melanie jedoch arbeitete an sich. Sie machte immer kleine Schritte nach vorne. Es war ihr Job in der Werbeagentur, der sie mit neuen Leuten mit neuen Gedanken zusammenbrachte. Stück für Stück nahm sie Ideen auf, erfuhr, was das Leben noch zu bieten hatte. Irgendwann legte sie die Vorstellung ab, dass Leben aus Bewahrung besteht. Und irgendwann legte sie auch ihren Ehemann ab, und nahm ihren damaligen Chef in der Agentur als Turboelement zur persönlichen Entwicklung an. Dass dieser neue Partner sich später als Turboschwein herausstellte, der Melanie eine noch intensivere Weiterentwicklung zukommen ließ, indem er eine Dreier-, zeitweise sogar eine Viererbeziehung führte, steht nicht im Widerspruch zu Melanies Ziel, ihren Horizont zu erweitern. Allerdings musste sie ihr Ziel sehr bald in Eigenregie weiterverfolgen.

    Hartwich kam in ihrem erweiterten Horizont nicht mehr vor. Er blieb, was er war, was nun auch nicht zwingend einem erfüllten Leben entgegenstehen muss. Es kommt halt auf die Erwartungshaltung an. Die festzulegen war Hartwich noch nie leichtgefallen. Lieber wollte er anderen gefallen: „Was Du willst das man Dir tu, das füge vorher andern zu! Das war so eine Grundsatzentscheidung in seinem Leben gewesen. Schon früh hatte er erfahren, wie positiv es die Menschen finden, wenn Du das tust, was ihnen gefällt. Die Reaktionen darauf sind um Welten besser, als wenn Du tust, was Dir gefällt. Und Hartwich hatte sich unbewusst dafür entschieden, den Genuss der guten Reaktionen über die eigenen Wünsche zu stellen. „Mach, was sie von Dir erwarten, dann sind sie zufrieden, und wenn die zufrieden sind bist Du es auch. So lässt sich herrlich leben, vor allem wenn es gelingt, die eigenen Bedürfnisse nachhaltig zu unterdrücken.

    Mit Melanie war das nicht gut gegangen. Ihre Lebensentscheidung war nicht so eindeutig zu Gunsten des „Lieb-Kind-Seins" ausgefallen. Trotzdem sie eine eher unauffällige Beobachterin war, hatte sie einen beachtlichen Willen gehabt, und die Fähigkeit anderen auf die Füße zu treten, wenn es sein musste.

    Hartwich verfügte über andere Qualitäten. Wenn jemand ihm auf die Füße trat, konnte er das für sich umdeuten. „Da unterstützt mich jemand darin, den Halt nicht zu verlieren ist eine bemerkenswerte Haltung, die den Konflikt mit dem Füße-Treter vermeidet. Fühlt sich besser an als „ich bin zu weich, um mich zu wehren. Aber was willst Du machen, wenn Du nicht von der harten Sorte bist?

    Es gab Schlüsselerlebnisse in Hartwichs Kindheit und Jugend, die ihm den Weg gewiesen haben. Wenn Du einmal von einem älteren und vor allem härteren Kind aufs Maul bekommen hast, dann musst Du Dich entscheiden, wie Du damit umgehst. Schlägst Du zurück, besteht die Gefahr, dass Du noch richtig eine draufkriegst, und als ultimativer Loser vom Platz gehst. So eine Niederlage verursacht nicht nur körperlichen, sondern vor allem seelischen Schmerz durch die Blamage. Die andere Möglichkeit besteht in der geistigen Verarbeitung. Du kannst Dir einreden, dass Du Dich auf keinen Fall auf das primitive Niveau dieses Primaten herablässt, und demonstrierst damit moralische Überlegenheit. Beide Wege sind hervorragend geeignet, von der Umwelt als Weichei wahrgenommen zu werden. Die Harten würden zurückschlagen und dem Affen zeigen, wer der Herr im Ring ist. Sie würden das Risiko der Niederlage in Kauf nehmen. Doch wenn Du ein hochempfindlicher Mensch bist, dazu noch ein Mann, mit mehr Intelligenz als Mut ausgestattet, dann verfällst Du leicht auf den weichen Weg des geistigen Umdeutens. „Und bist Du nicht willig dann geh ich halt! hat ja was mit „Annehmen zu tun, und das ist doch irgendwie auch gut.

    Dass er Mimi über den Weg gelaufen war, fällt auch in die Rubrik „Annehmen". Es war an einem trüben Spätsommertag gewesen. Hartwich war nach Feierabend auf dem Heimweg von der Hauptstraße abgebogen. Er war schon im Freizeitmodus, als er im Scheinwerferlicht am Straßenrand einen Kleinwagen mit eingeschalteter Warnblinkanlage sah. Davor stand etwas hilflos eine Frau, sie trug einen Umhang, den man nicht direkt als Mantel bezeichnen konnte, eher so eine Art Kaftan. Da es leicht nieselte, hing das gute Stück schon bleischwer über den Schultern der Frau, und brachte eine etwas kugelige Gestalt zur Geltung.

    Hartwich wäre gerne schnell vorbeigefahren. Als Elektroingenieur war er zwar einerseits bewandert in technischen Fragen. Andererseits fürchtete er die Schmach der Bloßstellung, wenn ausgerechnet einer wie er ein technisches Problem nicht gelöst bekam. Der „Inschinör, dem nichts zu schwör" ist, und der es nicht hinkriegt, hat beste Chancen auf den Thron der Häme.

    Leider hatte die Frau ihn bereits gesehen und sich mitten in die Straße gestellt. Sie winkte ihm zu. Er hielt den Wagen an, öffnete das Fenster und sah zu der Frau. Bevor er etwas sagen konnte, sprach sie ihn an. „Junger Mann, kannste mich mal eben ‘n Stück mitnehmen? Meine Limousine hier hat wieder mal ihre Tage, das kommt vor, und sie braucht jetzt bisschen Auszeit", ertönte es in einem Berliner Dialekt.

    „Wohin will Sie denn?, fragte Hartwich. Er hatte sich angewöhnt, Menschen in der dritten Person anzusprechen, wenn er nicht wusste, ob er „Du oder „Sie sagen wollte. „Na wenn de mich so fragst, am liebsten mit zu Dir nach Hause kam die kesse Antwort. Hartwich schnappte nach Luft. „Wie soll ich denn das verstehen?", fragte er und war froh, dass die Dämmerung seine Röte im Gesicht verbarg.

    „Na ich finde, wenn jemand hilft, soll er auch was dafür bekommen. Und wenn ich dich so ansehe, weiß ich genau, wie ich mich bei Dir am besten bedanken kann. Also wat is´ nu?"

    Hartwich war dermaßen überrumpelt, dass er gar nicht auf die Idee kam, die Situation durch eine Notlüge aufzulösen. Er hätte leicht sagen können, dass er verheiratet war und keine von der Straße aufgelesenen Frauen mit heimbringen konnte. Doch das war der Vorteil daran, hochsensibel zu sein. Irgendein Gefühl in ihm hatte bereits die Ampel auf Grün gestellt, bevor vernünftige Gedanken nur annähernd um die Kurve gekommen wären. Diese Situation stellte eine Chance dar, und so etwas kam nicht alle Tage vor, jedenfalls nicht in seinem Leben.

    Da ihm der Kloß im Hals keine Sprache mehr übrigließ, beugte er sich wortlos zur Beifahrertür und öffnete sie.

    „Ick bin die Mimi", erzählte ihm seine neue Bekanntschaft unaufgefordert. Mimi brachte neben einem Schwall kühler Abendluft einen Hauch von Lavendel mit ins Auto. Und was sie noch mitbrachte verschlug Hartwich vollends die Sprache. Das undefinierbare Kleidungsstück, das Mimi noch auf der Straße verhüllte, hatte sie bereits ausgezogen und darunter trug sie ein Leinenkleid, das seine besten Tage wohl schon hinter sich hatte. Es war in einer Batiktechnik hübsch gestaltet, dabei aber sehr dünn und – Schreck lass nach – darunter konnte Hartwichs verstohlener Seitenblick keine weiteren Textilien erkennen. Dafür aber zeichneten sich sehr deutlich Mimis weibliche Formen ab. Hartwichs Mund war so trocken wie eine Zitronenschale nach zwei Wochen Saharasonne. Er hätte seinen linken Arm für einen Schluck Wasser gegeben. Es gab aber keins, sodass er seinen Arm behalten konnte, ebenso wie seine Aufregung, die sein Herz zu Höchstleistungen anspornte. Zum Glück waren sie schon nach kurzer Fahrt bei seiner Wohnung. Er parkte auf einem freien Platz an der Straße und war froh, nirgends kollidiert zu sein. Seine Konzentration auf den Straßenverkehr war doch sehr eingeschränkt gewesen.

    Er stieg aus dem Auto und verfolgte wie ein Beobachter aus einer höheren Warte, wie Mimi in aller Selbstverständlichkeit ebenfalls ausstieg und neben ihm herging. „Möchte sie nicht Ihren Umhang anziehen bei der Kälte?, kam ihm über die Lippen. „Wir sind ja gleich drinne, und außerdem brauchste nicht so geschwollen zu reden, wie gesagt, ich bin die Mimi. Wie heißt Du denn?

    Damit konfrontierte sie ihn wieder einmal mit dem altbekannten Du-Sie-Dilemma. Nur niemand zu nahe treten war eine Grundregel. Lieber zu viel Distanz, weil zu aufdringlich darf man auf keinen Fall sein. Aber wenn sie das wollte? Dann sollte sie eben ihren Willen kriegen.

    „Ich heiße eigentlich Benjamin, aber alle sprechen mich nur mit dem Nachnamen an. Alle sagen Hartwich zu mir, das war schon immer so."

    „Wieso dat denn? Benjamin ist doch ein schöner Name. Benny! Ich heiß auch nicht wirklich Mimi, sondern Miriam, aber Mimi hab´ ich mir ausgesucht. Gefällt mir besser. Du solltest Dir auch aussuchen, wie Du genannt werden willst."

    Sie waren die eine Treppe hochgelaufen und standen vor Hartwichs Wohnung. Er beeilte sich mit dem Öffnen und ließ ihr den Vortritt. Bevor er selbst eintrat, sah er sich noch hastig im Treppenhaus um, zum Glück war niemand zugegen. Das ersparte peinliche Fragen im Nachgang zu diesem Vorgang, von dem noch unklar war, wohin er führen würde.

    Drinnen hatte Mimi es sich bereits gemütlich gemacht. Sie hatte ihren Umhang auf einen Stuhl geworfen, war ohne übertriebene Zurückhaltung auf das Sofa losmarschiert, hatte sich die Lederschuhe ausgezogen, hingesetzt und deutete ihm nun mit einer klaren Geste an, sich neben sie zu setzen. „Wie kann jemand nur so unbekümmert und selbstverständlich in eine neue Situation gehen?, dachte sich Hartwich. Für ihn wäre so ein Verhalten außerhalb jeder Vorstellung. Man fragt, was man darf, und man wartet, bis man eine Erlaubnis bekommt. So geht das im „normalen Leben. Sich selbst eine Erlaubnis geben? Einfach was machen, ohne zu fragen? Wer müsste man sein, um solche Rechte zu haben? Aber da nun mal Mimi jemand zu sein schien, dem ein göttlicher Strahl (was denn sonst?) solche Rechte verliehen hatte, durfte er – Hartwich – nicht einfach die Aufforderung ablehnen. Vorsichtig setzte er sich an den Rand des Sofas, in gebührendem Sicherheitsabstand zu der Frau, die ganz offensichtlich eine komplett andere DNA hatte als er selbst.

    „Nicht so schüchtern Benny. Fühl Dich wie zu Hause!, plauderte Mimi ungezwungen. Sie erzeugte eine natürliche Atmosphäre, ohne dabei billig zu wirken. Nahbar war das Wort, welches Hartwich dazu einfiel. Er taute ein wenig auf. „Wie kommt es, dass Du einfach so in fremde Autos einsteigst?, fragte er. „Ich könnte ja ein perverser Killer sein und jetzt mit Dir wer weiß was machen?"

    Mimi lachte. „Perverse Killer fahren nicht im VW Golf rum. Sie wohnen auch nicht im verschlafenen Vorort von München, und vor allem sehen sie nicht so aus wie Du."

    „Wie sehe ich denn aus?" Hartwichs Interesse erwachte.

    „Sei mir nicht böse, aber Dir sieht man auf hundert Meilen an, dass Du harmlos bist. Im Gegenteil, Du siehst eher bedürftig aus, wenn ick dat sagen darf. Und ich möchte Dich damit nicht verletzen. Wir haben doch alle unsere Bedürfnisse."

    Hartwich blieb erst mal die Sprache weg. Ein heißer Zorn wollte in ihm aufsteigen. Was fiel dieser dahergelaufenen Person ein, ihn derart abzuwerten, noch dazu in seiner eigenen Wohnung. Doch bevor er etwas Verletzendes sagen konnte, wonach ihm jetzt dringend gewesen wäre, blickte er Mimi in die Augen, und über diese Verbindung sandte sie ihm die Botschaft „Du brauchst Dich nicht zu schämen, Du bist ok, so wie Du bist! Sie brauchte das gar nicht auszusprechen, allein ihre Haltung und die Art, wie sie ihn ansah, beruhigte ihn. Warum konnte eine Reaktion auf eine vermeintliche Verletzung nicht immer so aussehen? Wie wohltuend war dieses Gefühl, dass jemand ehrlich war und etwas Unangenehmes aussprach, aber es nicht zu einer Abwertung kam. Das ist es doch, was immer mitschwingt, wenn Worte schwache Stellen erreichen. „Du bist nichts wert, „Nur die harten kommen in` Garten, oder „Du bist blöd!, das sind doch die Glaubenssätze, die nur all zugut an uns haften geblieben sind.

    Hartwich, der diese Erkenntnisse durch seinen überdimensionalen Sinneskanal in Sekundenbruchteilen adaptiert hatte, schmolz dahin wie Butter in der Sonne. Er empfand eine spontane Sympathie für diese Mimi, die ihm in ihrer einfachen, ehrlichen Art etwas gegeben hatte, was er in seinen 45 Jahren bisher nicht annähernd auf die Reihe gebracht hatte. Wie alt mochte sie wohl sein? Sie war jünger als er, so viel stand fest. Das allein wäre schon wieder geeignet gewesen, ihn auf die Palme zu bringen. Er hatte mehr „Lebenserfahrung, und sie erteilte ihm mal so eben eine Lektion. Beiläufig hatte sie weitere seiner negativen Glaubenssätze infrage gestellt. Die Botschaften waren: „Alter ist keine Garantie für Klugheit, und „Jugend schützt vor Weisheit nicht."

    Irgendetwas in Hartwich war nun motiviert zu handeln. Er rückte ein Stück näher auf dem Sofa an Mimi heran. Dabei fiel sein Blick wieder auf ihre Bekleidung, beziehungsweise eher auf deren transparente Eigenschaften.

    Mimi entging das nicht. Ohne noch eine weitere Frage zu stellen oder das geringste Zeichen von Unsicherheit begann sie, ihr Kleid aufzuknöpfen. Sie hatte es nicht eilig und beobachtete, wie Hartwich ihr zusah. Dass es ihm die Sprache verschlug und sie sein zunehmendes Verlangen schier mit den Händen greifen konnte, quittierte Mimi mit einem sanften Lächeln. Auch darin lag keine Spur von Vorwurf oder Geringschätzung. In ihrem Blick lag etwas, das man nur mit Liebe bezeichnen konnte. Mimi besaß die Fähigkeit, Menschen nur um ihrer selbst willen zu lieben. Ohne Ansehen ihrer Mängel und Unvollkommenheit.

    Und Hartwich war ihr von diesem Moment an verfallen.

    Von dem Tag an blieben sie in Kontakt. Es war nicht so, wie Hartwich es sich anfangs gewünscht hätte. Er empfand eine Art Liebe zu dieser Frau. Er hoffte, sie könnte die neue Partnerin an seiner Seite sein. Und für eine kurze Zeit malte er sich eine gemeinsame Zukunft aus.

    Doch schon bei ihrem nächsten Treffen musste Hartwich erkennen, dass Mimi zu viel Liebe in sich trug, um sie allein auf einen Partner zu konzentrieren. Sie machte keinen Hehl daraus, dass ihr Lebensmodell nicht die Monogamie war. Sie liebte die Menschen, in allen Formen, und das schloss niemanden aus. Sie konnte sich allen geben, die offen waren, ihre Liebe zu nehmen. Und Hartwich erlangte schnell die Erkenntnis, dass daraus keine Beziehung zu ihm entstehen konnte. Jedenfalls keine im herkömmlichen Sinne, so wie er sich das vorstellte. Und er hatte auch dazu eine sehr traditionelle Vorstellung. Dass diese bereits mit der Trennung von Melanie einen herben Bruch erfahren hatte, machte ihm schwer zu schaffen.

    Ein paar Treffen später hatte sich ein Modus herauskristallisiert, der ihnen beiden entgegenkam. Sie würden sich regelmäßig sehen, immer donnerstags, was Hartwichs Drang nach Stetigkeit entsprach. Die Treffen fanden bei ihm statt, das gab ihm das Gefühl von Sicherheit in den eigenen vier Wänden. Außerdem vermied das die Begegnung mit Mimis Haustierchen. Die Gute hielt in ihrer Wohnung zwei lebende Ratten, Donald und Dagobert. Sie liefen dort frei herum, waren zwar nicht aggressiv, aber beim Liebesspiel waren sie nicht die Gesellschaft, die Hartwich gebraucht hätte. Auch in den Tieren drückte sich Mimis Liebe zur gesamten Schöpfung aus. Wer sonst würde ausgerechnet die am wenigsten angesehenen Vertreter der Fauna bei sich beherbergen, und zu allem noch mit den wohl prominentesten Namen der Gier und des Versagens schmücken?

    So trafen sie sich regelmäßig bei Hartwich und kamen sich auf allen Ebenen näher. Am Anfang stand die Fleischeslust im Vordergrund, besonders bei Hartwich. Mimi war ausgesprochen erfahren in allen Techniken der körperlichen Liebe. Hartwich machte Erfahrungen, die er sich im Traum nicht hätte vorstellen können. Sie nahm ihn mit in eine Dimension von Glück, die er am liebsten nie mehr verlassen hätte.

    Daneben führten sie Gespräche, denn: „Reden ist Silber, Schweigen ist nicht gewollt!" Dass aus Kommunikation noch mehr Nähe entstehen kann als aus der körperlichen Vereinigung, war wieder eine neue Erfahrung für Hartwich. Mimi lernte ihn und seine konservative Art kennen. Sie brauchte gar nicht viel zu fragen. Sie spürte, wie es ihn geradezu drängte, sich in dieser Atmosphäre von Offenheit und Verletzlichkeit mitzuteilen. Über Dinge zu sprechen, die ihm die Schamröte ins Gesicht trieben, und die Erfahrung machen ließen, dass sich eben nicht der Höllenschlund öffnete und ihn verschlang, sondern dass er Heilung erfuhr mit jedem Scham-Bad, zu dem sie ihn ermutigte. Für Mimi war alles, was er ihr anvertraute, keine Überraschung. Sie fand bestätigt, dass sie ihn vom ersten Moment an richtig eingeschätzt hatte.

    Hartwich war gespannt wie ein Flitzebogen gewesen zu erfahren, wie Mimi zu der Frau werden konnte, die sie heute war. Welche Erfahrungen konnte ein Mensch machen, um bereits in jungen Jahren zu einer solchen Weisheit und Souveränität zu kommen? Und das in einer menschlichen Verpackung, die nicht gerade den Victorias Secret Models entsprach? War das vielleicht bereits eine erste Antwort auf die Frage? Steht Perfektion der Weisheit im Wege? Für manche Klischeeblondine immer wieder ein Thema.

    Mimis Geschichte begann erschütternd. Geboren in Ostberlin, aufgewachsen im Plattenbau, der Vater von der Stasi verhaftet und in den Westen abgeschoben, von der Mutter erzogen. Die Mutter musste arbeiten, war oft nicht zu Hause. Es gab einen Onkel, der regelmäßig vorbeikam und sich so zärtlich der kleinen Miriam annahm, dass es ihm selbst erstaunliche Befriedigungen verschaffte. Das ging über Jahre, irgendwann gab es eine ungewollte Schwangerschaft, Abtreibung, Schmerz und Leid. Keine Unterstützung durch eine Mutter, die ihre eigenen Sorgen hatte, oder durch einen Staat, der nur Hochglanzfassaden sehen wollte.

    „In so einer Welt musst Du Dich entscheiden: Entweder Du gehst auf die Barrikaden, und damit in den Knast. Oder Du fängst an Verständnis zu entwickeln. Zu verstehen, warum die Menschen so sind, wie sie sind, warum sie tun, was sie tun. Und zu erkennen, dass irgendwo tief drin alles nur Kreaturen sind mit ihren Bedürfnissen. Und dass es kein besser oder schlechter gibt, sondern dass eben alles ist, wie es ist", resümierte Mimi.

    Sie hatte Glück, lernte Frank kennen, einen jungen Mann, der bereits viel Lebenserfahrung hatte. Seine Eltern waren beide Psychologen, leiteten eine Beratungsstelle für psychische Erkrankungen. Sie waren mit allen denkbaren menschlichen Schwächen konfrontiert, und suchten Wege zur Heilung. Unter anderem beschäftigten sie sich stark mit Resilienz. Wie kann man überleben unter schwierigen Bedingungen? Die Erkenntnisse aus ihren Studien gaben sie ihrem Sohn mit, der sie wiederum mit Mimi teilte. So konnte sie mit der Zeit ihr Menschenbild überdenken und eine positive Sicht entwickeln.

    Nach der Wende ging sie mit ihrem Freund in den Westen, folgte ihm an verschiedene Standorte, an denen er arbeitete. Sie selbst fing ein paar Mal an zu studieren, doch zum Abschluss brachte sie es nicht. Das war die Kehrseite der Medaille. Mit ihrem großen Herzen hatte sie es nicht nötig, ihre Gedanken an Geld und Sicherheit zu verschwenden. Sie jobbte mal hier, mal da, und sie war überzeugt, dass sich immer irgendwo Türen öffnen. Und so war es ja auch wieder mal gewesen, als sie Jahre später mit 36 Jahren in Vorstedt, diesem kleinen Vorort von München gelandet war. Sie hielt sich mit

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