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Aus dem Blau dieses unfassbare Glück: Roman
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Aus dem Blau dieses unfassbare Glück: Roman
eBook241 Seiten3 Stunden

Aus dem Blau dieses unfassbare Glück: Roman

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Über dieses E-Book

Clément ist ein kleiner Junge in einem Dorf mitten in Burgund. Wenn ihn im Schlaf aus den Traumwelten Wellen von Grün, Türkis und Blau erreichen, taucht er ein in das warme Leuchten, das voller Versprechungen ist. Seitdem versteht Clément auch die exotische Sprache der Menschen, die er in den Träumen trifft, und je vertrauter ihm die Fremden werden, umso fremder wird ihm das Leben in seinem Dorf in der französischen Provinz. Auf der Flucht in die Welt lernt er Freunde und Frauen, Drogen, Sex und den Tod kennen, verliert sich beinahe, bis er zu seiner Musik findet – und dann, als er nicht mehr daran glaubt, dem unfassbaren Glück begegnet.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum26. März 2021
ISBN9783753183848
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    Buchvorschau

    Aus dem Blau dieses unfassbare Glück - Stefan G. Wolf

    Der Traum

    Aus einem Traum war er erwacht,

    oder träumte er, wach zu sein?

    War er ein Mensch, der träumte,

    dass er mit den Fischen schwamm,

    oder ein gefiederter Fisch, der da flog und hoffte: dies sei kein Traum?

    Dieses unfassbare Glück,

    Traum von einem Traum.

    Prolog

    Wenn man in den Ort im Herzen Burgunds hineinfährt, kommt man – aus welcher Richtung auch immer – unweigerlich zur Kirche Saint Ghislain mit ihrem schiefen Dach. Davor liegt ein abschüssiger Platz, den die zweigeschossigen grauen Sandsteinfassaden mit verschlossener Miene anschweigen und an dessen unterem Ende das kleine Rathaus von St. Didier-les-Saules missmutig hinaufschaut, davor das Kriegerdenkmal. In der oberen Hälfte des Platzes zweigt links eine Gasse ab, schlägt ein Haken nach rechts, und da steht man schon vor dem Anwesen der Familie Robin: Wohnhaus, Hof, Werkstatt, ein paar niedrige Nebengebäude, dahinter ein trostloser Garten. Heute wohnt hier eine Frau aus Paris mit ihrem Freund, der aus Australien oder Neuseeland zugeflogen sein soll. Sie gibt Mal­kurse, im Sommer ist das Haus voll, viele Frauen, auch einzelne Männer. Dann und wann zieht eine Gruppe, bepackt mit Staffeleien, Mal- und Picknick­utensilien früh morgens hinaus in die Natur, manchmal sitzen sie alle im Hof, es wird viel geschwiegen und dann wieder viel gelacht. Was sie sonst so machen, wo sie alle schlafen: Wen interessiert das heute noch? Einmal im Jahr, außerhalb der Saison, veranstaltet Mélanie, die Malerin, eine Ausstellung im Atelier, das mal eine Werkstatt war, »um den Bürgerinnen und Bürgern von St. Didier-les-Saules etwas zurückzugeben«, wie sie sagt. Die kommen auch, schauen sich die Bilder an, trinken ein Glas Wein, das ihnen Neil, der Australier (oder Neuseeländer) eingießt, und gehen wieder. Gekauft hat noch niemand jemals etwas.

    Wenn sie wieder draußen sind, schauen sich die Leute aus dem Dorf schweigend, aber bedeutungsvoll an. Sie kennen ja alle die Geschichte vom kleinen Clément Robin, der früher hier wohnte und der eines Tages begann, in einer Sprache zu reden, die im Traum zu ihm gekommen sein soll. Ein seltsames Kind, das sich durch nichts und niemanden davon abbringen ließ, dieses Kauderwelsch zu produzieren. Irgendwann war es dann weg. Und viele Jahre später lief Roland, sein Vater – da war er schon ein alter, zuweilen seltsamer Mann – mit einem Brief durchs Dorf, hielt jeden an, der ihm entgegenkam, klopfte da und dort auch an die Haustüren. »Hier«, sagte er, dem sein Sohn schon immer fremd war, und schwenkte den Brief durch die Luft wie eine erbeutete Fahne, »er schreibt: ›Ich habe das Paradies meiner Träume gefunden‹. Heilige Maria, Muttergottes, er hat das Paradies gefunden!«

    1.

    Clément war gerade dem Unbewussten der frühen Kindheit entwachsen, als sich erstmals in die Schwaden des unerinnerten Graus, die seine Träume durchzogen, hier und da erleuchtet von grellen Blitzen, die ihn gerade genug erschreckten, dass seine kleinen Fäuste das Kissen fassten und er sich umdrehte, um weiter durch die Nebel des Schlafs zu taumeln, zunehmend Wirbel und Wellen von Grün, Türkis und Blau aller Schattierungen mischten, die aus dem unendlichen Raum der Traumwelten zu ihm kamen. Nicht Nacht für Nacht, aber immer wieder über die Wochen dieses ungewöhnlich milden, dann plötzlich frostig-kalten Herbstes hinweg verdrängte die blau-grüne Drift die Nebel seiner Kinderträume. Wenn Clément dann erwachte, fand er sich wieder in einer trüben, farblosen Welt, und schloss schnell die Augen, um noch einmal einzutauchen in das warme Leuchten.

    Machte er sich morgens auf den Schulweg, begleiteten ihn bis hinter Bertrands Ziegenstall das Singen der Bandsäge und die dumpfen Hammerschläge, mit denen Roland Robin die Bretter ineinanderfügte. Seit Clément wusste, dass sein Vater, wie schon sein Großvater und dessen Vater, Särge zimmerte und wozu sie dienten, klangen die Geräusche aus der Werkstatt hinter dem Wohnhaus anders, ohne dass Clément darüber nachdachte, wie er das beschreiben sollte – anders eben. Es sollte nicht lange dauern und der Vater würde zum ersten Mal einen Verstorbenen aus einem Trauerhaus holen, um ihn in einem Raum hinter der Werkstatt ordentlich einzusargen, denn in den neuen Mietshäusern am Rand des Nachbarorts war die Möglichkeit für die alten Bräuche (das Aufbahren, die Totenwache) nicht mehr ohne Weiteres gegeben. Von da an nannte sich sein Vater ein wenig großspurig Bestatter und verbarg die Schwielen und blutigen Risse seiner Hände, so gut es ging, aber das sollte noch eine Zeit dauern, und bis dahin änderte sich für Clément und seine Gedanken über die Werkstatt, den Duft des Holzes und das Kreischen der Kreissäge noch nicht allzu viel.

    War er erst einmal auf die Rue de la Grande Cour eingebogen, konnte er das kleine Schulhaus am gegenüberliegenden Hang sehen. Noch im Sommer hat­te er ganz genaue Vorstellungen davon gehabt, was ihn dort erwartete. Schule, das war für ihn wie das schönste Buch, das man sich vorstellen kann, bunter, lebhafter, spannender, erfüllender als alles andere, was er seinem jungen Geist je zugeführt hatte. Le Petit Chaperon Rouge, Les Contes du chat perché, Un bon petit Diable oder die Bücher um Babar, den Elefanten. Wenn seine Eltern vom Markt in Saulieu zurückkamen und seine Mutter ihm am Abend ein neues Buch in die Hand drückte, führte er es jedes Mal als erstes an seine Nase, um den Duft von Papier und Druckfarbe einzuatmen, die sich für ihn zu einem süßen verheißungsvollen Parfüm vereinten. Mutter sah ihn verständnislos, aber nachsichtig an, und wenn er über den Rand des Buches ihr in die Augen schaute, erkannte er, dass sie diejenige war, deren Hand er auf dem Weg über den schmalen Steg in ein unbekanntes, doch schon jetzt ihm verheißenes Land auf seinem Rücken spürte. Sie war sein Schutzengel.

    Jetzt, nachdem der Sommer endgültig zu Ende gegangen war, da sich die Zweige mit den schweren Äpfeln und Birnen und Quitten den Pflückern entgegenneigten, die meisten Felder zwischen Thorizeau und La Raquette, soweit sein Auge eben von dieser Stelle des Schulwegs aus reichte, abgeerntet und die Schweine hinter seines Onkels Haus rund und speckig geworden waren, sich alles der Vollendung des Jahres zubereitete, da fühlte sich sein junges Leben so weglos an, hatte alle Spannung verloren. Wenn er jetzt zur Rue Basse hinunterlief, dann verschwand das Schulhaus hinter den anderen Häusern, die rechts und links und vor ihm an der Straße standen, doch wusste er immer noch, in welche Richtung er gehen musste, wo sein Ziel lag. Für sein Leben hatte das verwirrte Kind sein Ziel verloren, denn die Schule, dieses unauffällige Gebäude, ein Geschoss hoch und aus grauem Sandstein wie alle anderen Gebäude umher, bot ihm während der Stunden, die er dort verbrachte, nicht das, was er erwartet hatte, und das war nicht mehr gewesen als Überwältigung, Offenbarung, das große Aha. Er aber war gezwungen, mit Buntstiften seine Sommererlebnisse zu malen. Kreise und Wellen auf einer Linie zu ziehen, ooooo und mmmmm und vvvvv. Singen und dabei die Bewegungen von Madame Schwartz nachzuahmen … Savez vous planter les choux? À la mode, à la mode!, und dann pflanzten sie alle imaginäre Kohlköpfe auf ein imaginäres Feld. Das war nicht die Schule, die Clément sich erträumt und erhofft, nein: nach der ihn verlangt hatte, auf die er geradezu ein Anrecht hatte! Am Nachmittag, wenn Madame Schwartz und Monsieur Petitjean, der Lehrer der älteren Kinder, sie an der Schultür verabschiedeten, rannte er so schnell nach Hause, dass er stets außer Atem in der Rue Haute ankam, über den Hof und ins Haus stürzte, den Ranzen von sich warf und sich auf die Eckbank zurückzog, ja, und nicht selten liefen ihm Tränen über die Wangen.

    Dann kam Großvater und sprach zu ihm wie zu einem großen Jungen. Er machte Witze und versuchte ihn aufzuheitern, was ihm auch zuweilen gelang und ihn veranlasste, sich wieder aus der Küche zu entfernen und irgendeiner Arbeit zuzu­wenden, im Haus oder draußen, in der Werkstatt, im Hof, so als ob das Lächeln seines Enkels eine erledigte Aufgabe wie jede andere sei. Seine Mutter aber nahm ihn in die Arme und sagte kein einziges Wort, kein falsches und kein richtiges, und das war es, was er jetzt brauchte. Dann drückte sie ihn kurz und ging zu anderen Dingen über. »So, und jetzt holst du die Teller für das Abendbrot aus dem Schrank. Und den Käse aus der Kammer. Und bring die Eier mit!«

    Er freute sich darüber, seiner Mutter zur Hand gehen zu können, und was andere Kinder vielleicht eher widerwillig und nachlässig erledigten, tat er gewissenhaft und gern. Dann stand er neben ihr und schaute aus gehörigem Abstand zu, wie sie das Brot aufschnitt oder einen Auflauf zubereitete und in den Ofen schob oder einfach nur Eier buk. Denn er aß auch gern, er hatte Genuss am Geruch der Lebensmittel, der sich veränderte, wenn sie in der Pfanne auf zischendem Fett tanzten oder wenn sie sich aufbäumten unter der Hitze des Backofens, die Farbe wechselten, schmolzen oder fest wurden, je nach Art, wenn sie auf den Teller kamen und sich entspannten und man das riechen konnten, wie gut ihnen das gefiel: gut aussehen, wohl riechen, gut schmecken. Sein Verhältnis zu den einfachen Gerichten seiner Kindheit auf dem Lande war sublim, ohne dass er sich je darüber bewusst wurde – auch später nicht –, was sich aber niemals änderte, sein Leben lang nicht, was immer es war, das er vor Augen, unter die Nase, auf seine Zunge bekam.

    Clément musste nicht im Haushalt helfen, seine Mutter hatte ein feines Gespür dafür, wann und wofür sie ihn anstellen konnte und wann und wofür nicht. Niemals hielt sie ihn nach dem Abendessen auf, wenn er, wie sie wusste, schnellstens auf sein Zim­mer gehen wollte, nicht zum Abräumen des Tischs, zum Abtrocknen oder eine andere Handreichung. Sie ließ ihn ziehen, und er wusste, dass sie wusste, dass dies der wertvollste Teil des Tages für ihn war.

    Angekommen in seinem Refugium, schloss er leise die Tür, um keine schlafenden Ansprüche zu wecken, die an ihn gerichtet werden könnten, was zuweilen vorkam: dem Großvater Tabak besorgen gehen, dem Vater helfen, den Holzleim für den nächsten Tag anzurühren oder die messingnen Beschläge anzuhalten, während Vater sie am Sarg festschraubte – Dinge, bei denen der Meister, so mutmaßte Clément, eigentlich keine Hilfe brauchte. Warum verlangte er danach, warum stahl er ihm seine wertvollste Zeit? Weil er seinen Sohn gern einmal für sich haben wollte, könnte man sagen, weil er ihm zeigen wollte, was er mit seiner Hände Arbeit schaffte, aus Stolz, vielleicht aus Liebe? Clément schaute verstohlen zu seinem Vater auf, der ihm so vertraut und zugleich so fremd war. Wenn Roland Robin sich konzentrierte, kniff er die Augen zusammen und schob die Zungenspitze links zwischen die Lippen, dorthin wo sonst die Zigarette saß. Der Junge versuchte, diesen Gesichtsausdruck nachzuahmen, doch ohne Spiegel konnte er nicht überprüfen, ob es ihm gelang. Er musste heute Abend daran denken, wenn er sich im Bad für das Zubettgehen fertigmachte. Er konnte zwar noch nicht sein Gesicht vollständig im Spiegel sehen, doch mit dem kleinen Tritthocker musste es gehen. Ein Spiegel in seinem Zimmer, das wäre schön, dann könnte er üben zu sein wie die anderen. Hinterhältig schauen wie Jean-Baptist, klug schauen wie Marc, herausfordernd wie Edmond, fröhlich wie Hardouin, überlegen wie der, den sie alle nur Seigneur nannten, weil er im alten Manoir d’Ogny wohnte, auch wenn er nicht von Adel war.

    Wenn er in seinem Zimmer war, übte er Ausschauen, auch ohne Spiegel. Und wenn er ausschaute wie …, dann versuchte er auch zu denken wie … Was dachte sich Pépin dabei, wenn er sich schon vor der ersten Schulstunde an Madame Schwartz heranmachte, um ihr irgendetwas zu erzählen, was keinem anderen als erzählenswert erschienen wäre, von dem Pépin allerdings wohl dachte, es hebe ihn, den kleinen, grau­häutigen, gelbhaarigen Jungen eines Ziegenbauern, der weitab vom Ortsrand hinter Collonges hauste, aus der Schar der anderen rotznasigen Quälgeister heraus? Währenddessen genoss es Clément, nicht aufzufallen, nicht zu stören, still, aber beständig und vorhersehbar seine Bahn zu ziehen, Kometeneinschlägen wie dem Brand des Papierkorbs im Klassenzimmer auszuweichen, nicht zu viel Mühe darauf verwendend, sich beliebt zu machen, beliebter als er meinte, auf natürliche Weise sein zu können.

    In der Abgeschiedenheit der kurzen Frist zwischen Abendessen und Zubettgehen versuchte er sich auch darin, die Physiognomien der Bücherwesen nachzubilden. Früher hatte Mutter die Kinderbücher, aus denen sie an seinem Bett vorgelesen hatte, mitgenom­men, damit er nicht noch heimlich darin blätterte, wenn er eigentlich hätte schlafen sollen. Seit einiger Zeit aber stellte sie die Bücher auf ein Bord, auf dem auch sein Plüschhase Panpan saß und die kleine Spieldose stand, die Dodo, l’enfant, do! spielte. Seit einiger Zeit konnte er auch entziffern, was die Bücher erzählten, manches davon wusste er auswendig, doch wenn ein neues Buch hinzukam, dann wanderten jetzt seine Finger über die Zeilen, um die Buchstaben aufzulesen, und nach und nach verwandelte sich der Zauber der Verkündigung aus dem Mund seiner Mutter in Wissenschaft, mit der er sich die Geschichten erarbeitete. Nach und nach auch vernachlässigte seine Mutter ihre abendliche Pflicht, als sie sah, dass ihr Junge ihrer nicht mehr bedurfte, um in die imaginierten Welten einzudringen. Es geschah ganz allmählich, dass er nicht nur seine Mutter zurückließ (wie er es jetzt übrigens auch tat, wenn er allein seine anderen Großeltern in La Comme besuchte, eine halbe Stunde und mehr zu Fuß, in der er den Dorant überqueren und durch ein Wäldchen hindurch hügelaufwärts lau­fen musste), sondern sich bald nicht mehr als Besucher in jener fremden Welt bewegte, sie vielmehr er­oberte und dann, im Einschlafen und zuweilen noch im Traum selbst gestaltete. Er hatte viel Phantasie.

    Zu Weihnachten bekam er einen Globus geschenkt, dort, wo die zwei Halbkugeln aus dünnem Blech zusammengefügt waren, lief der Äquator durch Meere, über Berge und durch Urwälder, die Meere waren blau wie die großen Ströme, die Berge dunkler und dunkler, je höher sie ragten, und die höchsten trugen weiße Kronen. Von undurchdringlichem Dun­kelgrün waren die großen Wälder, während blasses Gelb die Trostlosigkeit der Wüsten vermittelte. Und überall die roten Punkte der großen Städte. Im Schlaf noch rezitierte er sein geografisches Mantra: Tromsö, Stambul, Saragossa, Ouagadougou, Mississippi, Addis Abeba, Curitiba, Djibuti, Ushuaia.

    Er lernte schnell, keine Frage. Das Lesen und Schreiben vor allem, das Rechnen fiel ihm nicht so leicht, was Pflanzen und Tiere im Unterrichtsstoff zu suchen hatten, war ihm nicht klar, denn sie umgaben ihn doch so selbstverständlich, dass man nicht viele Worte darum machen musste. Über die Sterne hätte er gern mehr gewusst, oder zunächst wenigstens etwas über Katanga, das Feuerland oder die gelb-grünen Punkte im weiten Blau des Ozeans, die so klein waren, dass er sie übersehen hätte, wenn sie nicht alle bezeichnet gewesen wären: Papeete, Nouméa, Pago-Pago, Fidji, Rapa Iti.

    Sein erstes Zeugnis hielt er in seinen Händen, ohne recht zu wissen, was er nun damit anfangen sollte. Noch nie hatte ihm jemand gesagt, dass er etwas gut oder weniger gut oder gar schlecht gemacht hätte. Wenn Vater ihn das Bodenbrett eines Sarges beizen ließ, dann zeigte er ihm, wieviel der beißenden Flüssigkeit er aus dem rundum verschmierten Topf zu nehmen, wie er den Pinsel zu halten habe, wie er die Striche führen sollte, wie er dann, kurz nach dem voll­ständigen Trocknen, mit einem zum Ballen gewundenen Tuch Glanz aufzupolieren hatte. Stellte er sich ungeschickt an, führte Papa ihm die Hand, machte er es gut, nickte er. Es fiel niemals ein lautes Wort, geschweige denn, dass Vater ihm seinen Unmut körperlich mitgeteilt hätte. Hatte Clément seine kleinen Arbeiten zur Zufriedenheit seines Meisters ausgeführt, strich dieser über das polierte Brett, prüfte er eine geschmirgelte Plankenkante mit einem zugekniffenen Auge auf ihre Ebenmäßigkeit, fasste seinen Sohn anschließend an den Schultern und nickte.

    Mutter sagte ›Bitte‹ und ›Danke‹, wenn er ihr zur Hand ging, und hinterher, wenn der letzte Löffel abgetrocknet, die letzte Schüssel verräumt war, ›Geh jetzt zu deinen Dingen‹ (sie sagte tatsächlich: zu deinen Dingen), und Clément wusste hinterher nie, ob er gerade wegen seines besonders tatkräftigen Einsatzes und seiner löblichen Sorgfalt mit der Freiheit belohnt oder wegen seiner Unfähigkeit und Begriffsstutzigkeit davongejagt worden war.

    Nun hatte man ihn also ausdrücklich beurteilt und dies mit blauer Tintenschrift auf einem amtlichen Dokument festgehalten. ›Clément hat das erste Schuljahr mit insgesamt guten Leistungen beendet. Er versteht sehr schnell, zeigt dies aber zu wenig im Unterricht. Vor allem an seinen guten Lesefähigkeiten lässt er die anderen nur ungern teilhaben. Seine Hausaufgaben macht er gewissenhaft und meist fehlerfrei. Auch die ihm in der Schule übertragenen Aufgaben erledigt er schnell und sicher. Er hat sich gut in die Klassengemeinschaft eingefügt, verhält sich aber eher zurückhaltend und abwartend und geht jedem Streit aus dem Weg. Wir wünschen ihm auf dem weiteren schulischen Weg viel Erfolg und Freude.‹

    Auf dem Nachhauseweg entzifferte er die ungewohnte Handschrift. Er verstand nicht alles, was das Zeugnis sagen wollte, aber er ahnte, dass jedes Lob mit einem Quentchen Einschränkung, wenn nicht Ab­wertung verbunden war. Doch war er mangels Er­fahrung dem Lob gegenüber so wenig aufgeschlossen wie der Kritik, sie traten nicht an ihn heran, er brauchte sie nicht, um zu wissen, er vermisste sie nicht, um zu fühlen, er tat, was er tat, so gut er es tun konnte, ohne eine Vorstellung von Maß und Messbarkeit, von Unbrauchbarkeit, Mittelmäßigkeit und Vollendung zu besitzen. Darüber hatte noch nie jemand mit ihm gesprochen, und davon hatte noch nie jemand abhängig gemacht, wie und als wen er ihn ansah.

    Er legte das Zeugnis auf den Küchentisch, denn er war ermahnt worden, das Dokument vom Vater unterschreiben zu lassen und nach den Sommerferien Madame Schwartz noch einmal zu präsentieren. Und weil niemand da war, der ein Wort an ihn gerichtet, ihm eine Frage gestellt, einen Auftrag erteilt hätte, stieg er hinauf in sein Zimmer, schloss das Fenster, durch das der unverschämte, aufdringliche Geruch von rohem Holz, billiger Beize und Lack hereindrang, und steckte seine Nase in den vielversprechenden, unfassbaren und stets neuen Duft von Papier und Druck­farbe.

    Das war etwa um die Zeit, als sie zum ersten Mal im Traum erschienen. Sie waren stets zu zweit oder zu dritt, und kamen durchaus gemächlich, doch mit gleichmäßiger Bewegung und ohne Zögern durch die Wellen von Grün, Türkis und Blau auf ihn zu. Er ahnte sie mehr, als dass er sie sah, die Gesichter

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