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Vierecke fallen nicht zur Seite: Ein Epos für Arme
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Vierecke fallen nicht zur Seite: Ein Epos für Arme
eBook458 Seiten6 Stunden

Vierecke fallen nicht zur Seite: Ein Epos für Arme

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Über dieses E-Book

Ians Vater ist ein Neo-Nazi. Ian selbst wird auch einer werden. Sein einziger Wunsch ist, dass seine kleine Schwester Freya aus dem Familiensumpf entfliehen kann. Als Freya an die falschen Leute gerät, muss Ian überlegen, ob er selbst weiterhin zu den falschen Leuten gehören möchte.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum14. Nov. 2021
ISBN9783754175941
Vierecke fallen nicht zur Seite: Ein Epos für Arme

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    Buchvorschau

    Vierecke fallen nicht zur Seite - Johannes Irmscher

    Inhalt

    Runde 1

    Nadine Sömmerda:

    Jetzt ist es so weit. Der Moment auf den über zwölftausend Zuschauer gewartet haben. Der Hauptkampf des heutigen Abends. Wir sehen, wie als erstes der Herausforderer in den Ring kommt. Rocco „Paulmanders ganzer Stolz" Schneider wird von seinem Vater Fritz und von Igor Kadotmanegov zum Käfig begleitet. Ludovic, du hast mit allen drei trainiert, was geht gerade durch Roccos Kopf?

    Ludovic Jabrovnik:

    Rocco ist ein unheimlich erfahrener Kämpfer und hat Leute in der Ecke, da würde sich jeder hier im „German Brawl" die Finger lecken. Mit 41 Jahren wird das sicherlich seine letzte Titelchance sein. Ja, vielleicht sogar sein letzter Kampf. Rocco ist ein sehr emotionaler Mensch. Wenn ihm all das durch den Kopf geht, könnte es schwierig werden. Von daher ist es vielleicht sogar ein Vorteil, diese Kurzfristigkeit.

    Nadine Sömmerda:

    Du sprichst es an. Nicht einmal zwei Wochen Vorbereitungszeit hatte Rocco. Das ist verdammt wenig. Insbesondere wenn man es mit so einem brandgefährlichen Gegner und Finisher wie Jakub Al-Hassan zutun bekommt. Andreas Starke hatte den Kampf nach dem Ausfall des regulären Herausforderers verschieben wollen. Jakub bestand allerdings auf eine mündliche Vereinbarung, die ihm einen Kampf in diesem Sommer zusicherte. Im Winter möchte er seinen ersten Kampf in der USA machen. Wie stehen die Chancen, dass er Deutschland als Halbschwergewichtschampion verlässt?

    Ludovic Jabrovnik:

    Um ehrlich zu sein, sehr groß. Rocco war ein toller Boxer. Auch jetzt hat er noch gute Hände. Die Kraft verlässt einen zuletzt. Und bei den großen Jungs reicht ein guter Schlag, aber Al-Hassan ist in jedem Aspekt der bessere Kämpfer.

    Nadine Sömmerda:

    Da kommt der aktuelle Champion. Zehn Kämpfe, zehn Siege und nur ein Kampf ging über die Zeit. Und ich habe den Eindruck, dass er heute besonders heiß ist. Bei dieser Kulisse; kein Wunder. Wie muss der Gameplan lauten?

    Ludovic Jabrovnik:

    Ich persönlich würde nicht viel ändern. Jakub Al-Hassan hat den Nimbus des Unbesiegten. Für einen Kämpfer ist das sehr wichtig. Ich nehme an, dass er Rocco so schnell wie möglich auf die Matte bringen möchte. Dort sind seine Stärken und er entgeht der Gefahr eines harten Treffers.

    Nadine Sömmerda:

    Wir werden es sehen. Jetzt lauschen wir zunächst den Vorstellungen des Ringsprechers.

    Nadine Sömmerda:

    Da ist der Gong. Die beiden Kämpfer klatschen sich gegenseitig ab. Da scheint der Trashtalk in der vorangegangenen Woche wohl nicht allzu schlimm gewesen zu sein. Schneider nimmt direkt die Käfigmitte ein. Und er steht sehr tief. Ungewöhnlich. Für die neuen Zuschauer, Ludovic, kannst du das erklären?

    Ludovic Jabrovnik:

    Genau, Ringkontrolle ist eine der Wertungskriterien für die Ringrichter. Das versucht Rocco gerade. Er nimmt die Mitte ein, um Jakub Aufgaben zu geben. Er steht relativ tief, damit er besser gewappnet ist, falls Jakub zum Takedown shoutet. Häufig gibt der Zaun da eine gewisse Sicherheit. Ihn kann man wie ein weiteres Körperteil nutzen, um aufzustehen. Bei einem Grappler wie Jakub wird das allerdings ziemlich schwierig, da er … UOH! Schöner Treffer. Da hat Rocco zum ersten Mal gezeigt, dass da noch ein ordentliches Pfund dahinterliegt.

    Nadine Sömmerda:

    Das hat Al-Hassan gar nicht geschmeckt. Er findet auch noch nicht die richtige Distanz. Nach einem Schlag fällt er immer wieder in den Clinch.

    Ludovic Jabrovnik:

    Das sollte er aber vermeiden. Jakub hat zwar die bessere Technik, aber Rocco wuchtet ihn hier ganz schön hin und her. Da muss er aber auf die klassischen Dirty-Boxing-Techniken aufpassen. Al-Hassans Ellbogen sind messerscharf. Aber er wird hier von Rocco an den Zaun gedrückt. Das ist nicht gut. Eigentlich müsste er sich lösen und ihn mit Schlägen eindecken, jetzt hat er ihn schon einmal am Zaun.

    Nadine Sömmerda:

    Und da kommen die angesprochenen Ellbögen. OUH! Der scheint getroffen zu haben. Ist das ein Cut? Es sieht so aus, da läuft Blut aus Schneiders Gesicht. Und Al-Hassan dreht, nein, er greift nach dem rechten Bein. Schneider will weggehen, Al-Hassan hält das Bein und ein schöner Outsidetrip. Direkt in der Sidecontrolposition gelandet. Jetzt muss er das Bein zu fassen griegen, aber Schneider dreht sich. Jakub umgreift seinen Hals, wird das eine Guillotine? Nein, das ist nur ein Kontrollgriff. Schneider steht wieder auf, aber Al-Hassan kontrolliert ihn noch, drückt den Kopf nach unten, geht in den Thaigriff, drückt ihn gegen den Zaun und OHH!; schönes Knie und noch eins. Schneider muss sich hier lösen. Schafft es. Jetzt liefern sich die beiden ihr eine wahre Kneipenschlägerei am Zaun und Schneider TRIFFT! Al-Hassan wackelt und und … da kommt der Gong. Wahnsinn. Was sagst du dazu, Ludovic?

    Ludovic Jabrovnik:

    Technisch keine tolle Runde, aber sehr unterhaltsam und spannend. Ich glaube Jakub hat jetzt zweimal geschmeckt, wie hart Rocco schlägt. Das ist in einem echten Kampf noch mal was anderes als im Sparring.

    Nadine Sömmerda:

    Wie würdest du die Runde werten?

    Ludovic Jabrovnik:

    Ganz klar 10-9 für Jakub. Er hat einen Takedown, vorausgesetzt, der zählt, Rocco war ziemlich schnell wieder oben, außerdem hat er viel mehr Treffer gelandet und ordentlich Schaden angerichtet. Auch wenn wir gerade sehen, dass der Cut unterm Auge ist. Das ist gut. Da ist die Sicht nicht beeinträchtigt. Ich bin sehr gespannt auf die zweite Runde.

    Buch 1 -1-

    Freyas linke Wange glühte rot. Es fühlte sich so an, als wäre sie mit Schnee eingeseift worden oder als würde sie, ohne Schal an einem kalten Wintertag, durch Schaldstättens Straßen laufen. Die Ohrfeige kam überraschend, der Schmerz meldete sich noch nicht zu Wort, als ihr Vater sie am Handgelenk packte und aus dem Kinderzimmer, über den Flur, hinein in das Bad zog. Freya schlüpfte aus ihrer durchnässten Schlafanzughose, mit den blauen und roten Rennautos und legte sie in das Waschbecken. Eine Wanne hatte die Familie Teutschwitz nicht und die Dusche würde Herr Teutschwitz für Freya benötigen. Das kleine Mädchen stand zitternd vor der Dusche mit der hohen Stufe. Der Vorhang mit Leopardenmuster war an die Wand gezogen, der dritte Halterungsring war zerbrochen und der Stoff hing etwas durch. Das Bad hatte keine Fenster und nur eine Glühbirne an der Decke erhellte den Raum. Um die Glühbirne herum gab es einmal eine cremefarbene Umhüllung aus Glas, die aber abfiel und zerbrach, als Freya und ihr Bruder Ian mit einem Ball in der Wohnung spielten. Jetzt schien eine einsame Glühbirne an der Decke zu schweben. Eine Mücke gesellte sich zu ihr, es war eine dieser Großen. Größer als Freyas Handfläche. Freya nahm sich vor, ihre Sachkundelehrerin nach der Art zu fragen. Morgen würde sie ihren Stundenplan für die dritte Klasse bekommen und sie nahm doch an, dass sie wieder Sachkunde haben würde. Ihr Vater hatte sich in die Dusche gelehnt und beugte sich nun wieder vor. Das Wasser hatte seiner Meinung nach, eine angemessene Temperatur. Er zog Freya über die Kante und hielt sie in der Dusche mit einer Armbeuge fest. Mit diesem Arm hielt er die Brause. In der freien Hand hielt er einen Schwamm, der beinahe auseinanderfiel und bei jedem Waschvorgang braungelbe Einzelteile im Abfluss zurückließ. Freyas Vater wusch recht grob den Urin von Freyas Beinen. Dann hob er das Mädchen aus der Dusche und trocknete sie mit einem Handtuch ab.

    „Bleib", sagte er zu ihr, wie zu einem Hund.

    Herr Teutschwitz ging in das Schlafzimmer der Eltern, in dem sich seine Frau gerade umzog und holte ein Nachthemd von ihr. Es war mal weiß gewesen. Vor grauen Tagen. Der Vater zog es aus der unteren Schublade des Holzkleiderschrankes. Dann gab er es seiner Tochter.

    „Zieh das an, leg dich auf die Couch", befahl er.

    Freya hielt das Nachthemd mit beiden Ärmchen umklammert und stapfte durch den Flur in das Wohnzimmer. Dabei ging sie an ihrem Zimmer vorbei, welches sie sich mit ihrem Bruder teilte. Ian stand in der Tür und hielt das Bettzeug und die Bettwäsche ähnlich wie Freya das Nachthemd. Freya wollte sich bei ihrem großen Bruder entschuldigen, doch sie traute sich nicht. Im Wohnzimmer setzte sie sich auf die Couch und schlüpfte in das Nachthemd ihrer Mutter, welches ihr natürlich viel zu groß war. Ihre Beine waren von dem Stoff komplett verdeckt und sie hätte es nach oben ziehen müssen, wenn sie durch die Wohnung hätte laufen wollen. Doch ihr Vater hatte ihr ja gesagt, dass sie sich hier hinlegen sollte und so tat sie das auch. In der hinterletzten Ecke verkrümelte sie sich. Sie fror an den Füßen und klappte das Nachthemd herum. Wie in einem Kokon gehüllt, lag sie da und wartete auf ihren Vater. Der kam mit einer Decke und legte sie auf Freya.

    „Du schläfst heute Nacht hier."

    Freya war traurig, aber konnte es verstehen. Auf dem Bildschirm des kleinen Fernsehers liefen die Zusammenfassungen der Sonntagsspiele. Es dauerte nicht lange, bis ihr Vater einschlief. Das Schnarchen und die unbequeme Liegeposition hielten sie wach. Wie Kanonenschläge knallte es aus Herr Teutschwitz´ roter Nase. Dazu war sie noch sehr aufgeregt, da sie morgen in die dritte Klasse kommen würde. Hoffentlich würde Frau Rhemberg noch ihre Klassenlehrerin sein. Freya tat in dieser Nacht kaum ein Auge zu. Und wenn doch, dann war sie sich immer selbst bewusst. Sie beneidete Ian.

    Ian legte sich ins Bett und es dauerte keine zehn Minuten, bis er einschlief. Ian lag auch immer mit dem Kopf zur Tür.

    Irgendwann wurde in der kleinen Wohnung das Licht angemacht. Im Wohnzimmer hing keine Uhr und deshalb wusste Freya nicht, wie lange sie Zeit zum Schlafen gehabt hätte. Sie hörte, wie sich ihre Eltern in der Küche Frühstück machten. Die Filterkaffeemaschine blubberte und der kräftige Geruch drang durch die Küchentür, über den Flur, in das Wohnzimmer. Dazu knallten die Weißbrotscheiben aus dem Toaster. Freyas Mutter befürchtete, dass das Gerät bald den Geist aufgeben würde, deshalb sollten Freya und ihr Bruder es nicht benutzen. Die Neudrittklässlerin versuchte sich wieder in die Decke einzumummeln und wartete.

    Sie wartete auf ihre Mutter. Wartete auf den Abschiedskuss. Doch das Licht in der Küche ging aus und die beiden Erwachsenen traten in den Flur des Mehrfamilienhauses. Sie stiegen die eine Treppe hinab. Vater Teutschwitz parkte weiter weg. Gemeinsam fuhren Freyas Eltern zur Arbeit. Dann überkam Freya die Müdigkeit und in dem Moment, in dem sie die Augen fest schloss, ging das Licht schon wieder an.

    Ihr Bruder Ian hatte die Jalousie der Wohnzimmerglastür hochgezogen. Familie Teutschwitz besaß einen Balkon, der etwa einen Meter über dem Unkraut hing.

    Ian rüttelte sie leicht und sagte ihr, sie solle sich anziehen. Freya tippelte in das Kinderzimmer. Sie sah, dass Ian die obere Hälfte des Hochbettes noch nicht neu bezogen hatte. Die Matratze lehnte am gekippten Fenster. Draußen sangen Vögel, obwohl in den umliegenden Straßen kaum Bäume standen. Gegenüber dem Hochbett stand ein Schrank, dessen untere Hälfte die Sachen von Freya beherbergte. Sie holte Unterwäsche und Socken heraus. Als sie auf einem Bein balancierte, um die linke Socke anzuziehen, stolperte sie beinahe über den gepackten Schulranzen. Das Zimmer war klein. Aber da sie noch keine Schulbücher bekommen hatten, war der Ranzen nicht sehr stabil oder schwer. Er gab zuerst nach und Freya durfte stehen bleiben. Dann zog das Mädchen sich eine alte Jeans von Ian an. Viele Sachen, die ihr gehörten, hatten früher Ian gehört. Der Ranzen auch. Freya hätte lieber einen violetten Schulranzen gehabt. So wie ihre Freundinnen. Doch ihrer war blau und mit Rennautos versehen, deren Scheinwerfer kleine Reflektoren waren. Sie wollte sich gerade ihr T-Shirt anziehen, als Ian in das Zimmer kam.

    „Warte mal, sagte er, „geh dich erstmal waschen.

    Gemeinsam gingen die Geschwister in das Bad. Ian zeigte ihr wie Katzenwäsche funktionierte. Dann ließ er sie noch Zähneputzen. Abwechselnd spuckten sie ins Waschbecken. Die Borsten von Freyas Zahnbürste standen wilder ab, als Ians blonde Haare und stachen leicht in das Zahnfleisch.

    Ian und Freya hatten beide die gleiche Haarfarbe. Im Frühling war es ein helles Straßenköterblond. Wenn die Sonne normal schien, würden die Köpfe der Geschwister Mitte Oktober am Hellsten aussehen. Wenn der Winter kam, wurden sie dann wieder dunkler. Freya beobachtete, wie Ian Wasser an seine Haare klatschte. Dann setzte er sich die schwarze Mütze auf. Er trug sie fast immer im Haus und Draußen sowieso.

    Die ramponierte Zahnbürste wackelte noch in dem ausrangierten Senfglas, als Freya und Ian sich an den Küchentisch setzten. Ian holte aus dem ausziehbaren Fach unter der Arbeitsfläche zwei Cornflakesschüsseln aus ehemals roter Plastik heraus. Man sah, dass sie ihre besten Jahre in der Mikrowelle hinter sich gelassen hatten. Die beiden Schüsseln stellte er auf die Arbeitsfläche, durch die ein langer Kratzer, hervorgerufen durch einen Stein unter einem Brettchen, lief. Aus dem Schrank darüber holte er eine Packung, oder wie Freya sagen würde „Pappung", Nougatkissen hervor und eine rot-schwarze Dose, durch deren zerschrammten, durchsichtigen Deckel man Haferflocken sehen konnte. Erst füllte er die Schüssel zur Hälfte mit Haferflocken auf, um dann Nougatkissen hinzuzufügen. Ian stellte die Cornflakes zurück an ihren Platz. Danach öffnete er die Kühlschranktür.

    Der Kühlschrank war kaputt und deshalb waren die Einlassungen an der Tür leer. Ian holte eine „Pappung" Milch heraus, drehte an dem weißen Verschluss und roch daran. Sie schien in Ordnung zu sein. Als er die Milch in die Schüsseln goss, waren die einzigen Klumpen die Kissen. Freya hatte derweil die Löffel aus der Besteckschublade geholt. Ian erlaubte ihr, einen großen Löffel zu nehmen. Bei ihren Eltern durfte sie nur die kleinen Plastikexemplare benutzen, die es dazu gab, wenn man sich ein Schokoladenei zum Auslöffeln kaufte. Gemeinsam mit den großen Löffeln, machten sie sich über ihr Frühstück her.

    In der Küche hing zwar eine Wanduhr, doch Freya half das nicht. Klar es war 7:00 Uhr, das konnte sie schon lesen, doch sie wusste nicht, wie sie es einordnen sollte. Ohne Ian würde sie bestimmt zu spät zur Schule kommen. Er passte auf sie auf. Ian wartete, bis seine kleine Schwester aufgegessen hatte. Nahm dann die Schüsseln und spülte sie ab. Während er mit dem gemusterten Tuch über die Plastik fuhr, schickte er die widerwillige Freya schon ins Bad. Sie wollte sich kein zweites Mal die Zähne putzen. Die Bürste tat weh und die Zahnpasta schmeckte fürchterlich.

    In Freyas Grundschule war einmal eine Frau gewesen, die hatte ihnen gezeigt, wie man richtig Zähne putzte. Die Kinder sollten eine farbige Flüssigkeit trinken und erst, wenn alles weg war, hatten sie gut genug geputzt. Die Zahnpasta hatte nach Waldmeister geschmeckt. So eine Tube hätte Freya gern. Sie überlegte schon, ob sie nur so tun sollte, als ob, doch da stand Ian bereits neben ihr.

    Wachsam schaute er ihr zu. Dann gingen sie aus dem Bad raus. Ian sprühte noch etwas Parfüm auf sein T-Shirt. Es war das Parfüm des Vaters und Freya rümpfte die Nase. Mittlerweile war es 7:10 Uhr. Ian und Freya zogen sich ihre Schuhe an. Freya brauchte keine Hilfe beim Schleifenbinden. Die Schuhe waren neu, sie hatte sie diese Sommerferien bekommen. Ian hob ihr den Ranzen hoch, dabei war er gar nicht schwer und Freya schlüpfte mit den dünnen Ärmchen durch die Tragelaschen. Die Protektoren am Rücken waren schon leicht zerrissen und faserten so wie der Schwamm aus, doch sie lagen eng an Freyas Oberteil an. Ians Ranzen war ein Rucksack und baumelte weit unten. Zwischen Rucksack und Rücken klaffte eine große Lücke.

    „Hast du dein´ Schlüssel?, fragte Ian. Freya nickte fleißig. Der Schlüssel war an einem langen schwarzen Band mit dem Aufdruck „4. Paulmander Stadtteilfest befestigt.

    Paulmander war eines der neusten Viertel von Schaldstätten. Es lag ziemlich weit draußen. Um den Bokettoberg mit dem Aussichtsturm und dem Rosengarten, standen Altbauhäuser mit Geschäften. Das alles war vor der Eingemeindung eine eigene Stadt. Um den Berg herum herrschte viel Trubel und es gab zwei große Einkaufscenter. Die Nebenstraßen bestanden zunächst aus größeren Gebäuden und nördlich entstanden Einfamilienhaussiedlungen. Südlich des Bokettoberges erhoben sich Wohnblöcke. Ian konnte sich noch erinnern, wie es zwischen den großen Häusern Felder gegeben hatte. Für Freya war das zu lange her. Mittlerweile wurden auch immer mehr Häuser gebaut, die viel schicker aussahen, als das in dem die Familie Teutschwitz wohnte. Zwei großen Straßen zogen sich wie Halbringe durch Paulmander. An den Seiten des zweiten Ringes standen hauptsächlich Industriebetriebe, die von außen alle gleich weiß aussahen.

    Das Haus, aus dessen Glastür Freya und Ian gingen, war grau und bis zur zweiten Etage mit Tags überzogen. Die Steinplatten, die den Gehweg bildeten, waren teilweise lose und Löwenzahn zeigte sich in den Lücken. Die meisten Blüten sahen schon lange nicht mehr gelb aus. Auf einer dieser Steinplatten stand ein Junge, der im selben Haus wohnte und mit Ian in eine Klasse ging. Alex war in diesem August dreizehn Jahre alt geworden. Beide Hände von Alex steckten in einer knallgelben Trainingsjacke. Kleine Fliegen sammelten sich daran. Eigentlich war es so warm, dass man keine Jacken benötigte. Alexanders Haare waren an den Seiten mit Mustern rasiert und oben stachelig nach oben gegelt. Er wartete auf Ians Befehl und die drei marschierten an zwei Hauseingängen vorbei. Vor der 38 blieben sie stehen. Die beiden Jungs schauten fragend zu Freya hinunter.

    „Ich habe Patrick in den Sommerferien nicht gesehen. Wir haben uns nichts ausgemacht. Wir müssen nicht warten."

    Patrick Schmidt wohnte im Kleinhauerweg 38 und war Freyas Sitznachbar. Seit der ersten Klasse. In den letzten Sommerferien hatten sie noch viel unternommen. Dieses Jahr nicht. Patrick war am Anfang zwei Wochen nach Kroatien gefahren. Dann war er nicht mehr rübergekommen. Alex nickte mit seinem kantigen Schädel. Alexander hatte ein Gesicht, dass schon sagte: „Wenn du mich haust, tut es eher dir weh als mir." Freyas Vater würde von einem Russenschädel sprechen.

    Am Ende des Kleinhauerweges bogen die Schüler nach links ab. Für Fahrzeuge war die Straße eine Sackgasse, doch hinter dem letzten Wohnhaus gab es einen kleinen Trampelpfand. Die Stadt hatte die Büsche an den Seiten im Sommer geschnitten und so passten mit Ian und Alex zwei Siebtklässler nebeneinander durch die Schlippe. Freya trottete hinterher. Sie hielt sich an ihrem Ranzen fest. Sie kamen auf den Fußweg des zweiten Ringes raus. Busse und LKW fuhren über den neuen Flüsterasphalt, der die Geräuschkulisse reduzierte. Die Sonne stand noch nicht hoch genug, um auf den Gehweg zu scheinen. Die Industriegebäude auf der rechten Seite warfen ihre Schatten auf die Fußgänger, unter denen sich auch einige andere Schüler befanden. Sie passierten die U-Bahnstation „Paulmander Ring. Hier fuhr die U6. Es handelte sich um eine der letzten Stationen. Danach kam nur noch der „Bokettoberg und „Paulmander Nord". Die Station hatte zwei Treppen. Eine, die direkt auf den Ring führte und eine andere, die sich hinter der umzäunten Freifläche befand. Die Freifläche war eine der letzten im Viertel. Früher wurde sie als Abenteuerspielplatz genutzt. Es gab zwei große Bäume, die früh in ihrer Wachstumsphase gebrochen worden. Deshalb führte kein gerader Stamm nach oben, sondern viele Kleine. Ein wahres Kletterparadies. Jetzt waren die Bäume gefällt, dafür hatten die Disteln eine ähnliche Höhe, sie boten allerdings erheblich weniger Kletterspaß. Gegenüber der Fläche stand die Mycathie-Akihi-Realschule. Direkt dahinter, die Tuhlmspatz-Grundschule-Schaldstätten.

    Der Tuhlmspatz war eine Sagengestalt, schon bekannt, als Paulmander noch ein Dorf war. Den Geschichten nach wohnte er im Fluss Tuhlm, der nördlich des Bokettoberges verlief und im Hafen von Schaldstätten, kurz vor dem monumentalen Glaskino in den großen Fluss floss. Im Winter grub sich der Tuhlmspatz in das Flussbett ein und sorgte so dafür, dass kleine Erdbrocken in das Wasser fielen, deshalb mäanderte der Tuhlm so stark. Die Dorfbewohner wollten das nicht und fragten den Tuhlmspatz, ob er das nicht lassen könnte. Der Tuhlmspatz schlug einen Handel vor. Jedes Jahr zum Erntedankfest sollten ihm jeweils das klügste, das kräftigste und das schönste Kind von Paulmander eine Gabe an sein Heim bringen. Wenn die Kinder das täten, würde er den Tuhlm wieder begradigen. Und so setzten sich die Bewohner jedes Jahr, kurz vor dem Erntedankfest, zusammen und suchten das klügste Kind, sie suchten das schönste Kind und sie suchten das stärkste Kind. Das ging so lange gut, bis eine Familie der Meinung war, ihr Kind sei nicht nur das Schönste, sondern auch das Klügste. Und sie stritten und sagten, schimpften und fluchten. Die anderen Dorfbewohner waren sich nicht sicher, ob der Tuhlmspatz das erlauben würde. Die Älteren waren vehement dagegen. Sie konnten sich noch an die Überschwemmungen und an die mühsame Arbeit an den Uferverläufen erinnern. Jetzt war es viel leichter mit den Flößen in den großen Fluss zu fahren und die Felder waren klar abgegrenzt. Sie wollten es sich nicht mit dem Tuhlmspatz verscherzen und so versuchten sie die Jüngeren zu überzeugen. Doch es gab nicht mehr so viele Alte, die sich noch an die schlingrigen Zeiten erinnern konnten. Die Jungen waren in der Überzahl und die Jungen hielten es für normal, dass alles gerade lief. Die Meisten von ihnen glaubten noch nicht einmal, dass es den Tuhlmspatz wirklich gab, deshalb ließen sie es zu, dass ein Kind zugleich das Schönste und das Klügste genannt wurde. In diesem Jahr wurden nur zwei Gaben an den Fluss gelegt und im Winter trat der Tuhlm wieder über die Ufer. Die Paulmanderer waren erbost. Die Familie, die ihr Kind zwei Plätze hat einnehmen lassen, wurde geächtet. Im nächsten Jahr wurden wieder drei Kinder ausgewählt und jedes von ihnen trug zwei Körbe mit Ernteerzeugnissen.

    Ian, Freya und Alex schritten die Treppe zu der U-Bahnstation hinunter. Sie hätten auch um die umzäunte Freifläche herum gehen können, doch das hätte länger gedauert. Der Tunnel war lang und Freya, obwohl sie ihn gut kannte, recht unheimlich. Sie beeilte sich, um den Abstand zu ihrem Bruder nicht zu groß werden zu lassen. Als sie wieder an das Tageslicht kamen, trennten sich die Wege der Geschwister. Freya musste, wenn sie zu der Grundschule wollte, entlang einer Mauer hinter das große Schulgebäude laufen. Sie wollte ihren Bruder umarmen, doch unterdrückte den Impuls und ging winkend hinter den anderen Grundschülern her. Sie sah Neslihan und John, die sie beide sehr mochte und die hinter ihr saßen. Als sie sie einholte, waren Ian und Alex schon außer Sicht. Alex hatte eine Armbanduhr mit einem grüngelben Stoffband und sagte Ian, dass es 7:25 Uhr sei. Die Schüler standen schon dicht gedrängt vor dem Schuleingang. Die Glastüren waren aufgeschlossen, doch man durfte erst in fünf Minuten hinein gehen. Seitlich der Treppe befand sich ein Fahrradständer, an dem eine Gruppe Zehntklässler stand und rauchte. Der Platz vor dem Haupteingang war klein und wurde durch den Bauzaun begrenzt. An der anderen Ecke des Zaunes, führte eine Straße auf den kleinen Platz. Fahrräder und Elterntaxen fuhren dort. Es war schon oft zu kleinen Unfällen gekommen. Die Masse der Wartenden wurde größer und sah von oben aus wie ein Pfeil. Um die Fassade der Schule stand auch ein Bauzaun. In abwechselnden Entfernungen, von fünfzig Zentimetern bis zu zwei Metern. Aus der Plattenfassade der Mycathie-Akihi-Realschule fielen Steine heraus. Es klingelte und die Türen wurden geöffnet. Die Schüler drangen hinein. Die Schule erstreckte sich über vier Etagen und hatte die Bauform eines Rechtecks, in dessen Mitte der Schulhof lag. Treppenaufgänge gab es an den Stirnseiten.

    „Hast du den Stundenplan?", fragte Ian.

    „Klar, der ist gestern online gegangen", sagte Alex.

    Weder Ian noch Freya besaßen einen Laptop oder ein Handy.

    „Wo haben wir? Was haben wir?"

    „Deutsch, 401", antwortete Alex.

    Ian wäre ohne Alex von den ausgehängten Zetteln im Glaskasten abhängig gewesen und vor dem sammelten sich gerade eine Menge Schüler.

    Die Schule hatte Räume auf beiden Seiten, dadurch sahen die Gänge sehr dunkel und eng aus. Eine senfgelbe Farbe sollte das vertuschen. Alex und Ian quetschen sich durch die Ranzenmassen. Matthias, der von den deutschen Jungen nur bei seinen Nachnamen Schlagmann gerufen wurde, traf beim Treppenabsatz zu ihnen. Dass er ein Jahr älter war als die beiden, konnte man nicht erkennen. Die Jungs klatschen ein, rutschen dann mit der Handfläche zu einer Faust und ließen die Finger kurz gegeneinander fallen. Ian ging als erster die Treppe hoch. Oben warteten seine Klassenkameradinnen Vivien und Tania. Die beiden waren seit den Sommerferien beste Freundinnen und erzählten das, als sie Ian zur Begrüßung umarmten. Ian war größer als Schlagmann und Alex. Vor den Sommerferien war auch größer als Vivien gewesen. Sie war mit ihren Eltern in die serbische Heimat gefahren. Dort war sie größer und brauner geworden. Tania war weiterhin klein und weiß wie ein Toastbrot. Dafür schminkte sie sich schon stark. Der rote Lippenstift hob sich deutlich von der hellen, leicht pickligen Haut ab. Tania Jentzsch trug ihre schwarzgefärbten Haare kurz. Nette Menschen würden von einer feschen Kurzhaarfriseur sprechen, die 7a war da deutlich primitiver und sagte „Lesbenfrise". Vivien trug ihre braunen Haare zu einem strengen Pferdeschwanz. Die Babyhaare fielen ins lächelnde Gesicht.

    Alex und Schlagmann standen hinter Ian und warteten darauf, ob sie von Vivien und Tania auch umarmt werden würden. Die beiden Mädchen machten aber dahingehend keinerlei Anstalten, sondern gingen die zweite Treppe hoch. Viviens Hose war kurz. Viviens Eltern hatten sie abgenickt. Viviens Eltern liefen allerdings auch nicht hinter ihrer Tochter eine Treppe hoch. Ian hingegen schon. Er versuchte nicht auf die herausfallenden Pobacken zu schauen.

    Letztes Jahr gab es einen großen Streit unter den Mädchen, der sogar im Stuhlkreis diskutiert wurde. Vivien Radokc hatte einen Freund, aus der damaligen achten Klasse und wurde von der Mädelsgruppe um Elen Civelek als Schlampe bezeichnet. Dann gab es eine Phase, in der die deutschen Mädchen, Vivien gehörte als Serbin scheinbar auch dazu, die türkischen Mädchen provozieren wollten, in dem sie sich freizügiger anzogen. Angeblich zumindest. Während Ian an der Tür des Raumes 401 stand und auf den Sitzplan schaute, dachte er an diese Wochen zurück und erinnerte sich, dass er erst etwas davon mitbekommen hatte, als sie im Stuhlkreis saßen.

    Der Sitzplan war gleichgeblieben. In den meisten Räumen waren die Tische zu einem „U" geformt. Es gab auf beiden Seiten jeweils zwei weitere Tische, die in der Mitte standen. Ian saß in der Wandreihe und Vivien direkt vor ihm, auf einem der mittigen Plätze. Alex saß einen Platz versetzt hinter Vivien in der letzten Reihe und Matthias rechts daneben. Neben Schlagmann saß der schlaksige Franz Timbherg. Sein Adamsapfel tanzte auf Höhe des Kinns. Er saß schon da und begrüßte seine Freunde. Franz hatte den letzten Platz, der einen geraden Blick auf die Tafel zuließ. Ian musste seinen Kopf immer nach rechts drehen, doch er war noch besser dran als seine linke Banknachbarin.

    Das war Lena Kraft. Eingeengt zwischen Ian und Franz saß Lena, die, nach einhelliger Meinung, eines der hübschesten Mädchen aus der Klassenstufe war. Dabei war sie noch eine der Jüngsten und würde erst im Mai dreizehn Jahre alt werden. In der 7a gab es einige Schüler, die sitzen geblieben waren oder schon im Sommer Geburtstag hatten. In den letzten Wochen des vorangegangenen Schuljahres hatte sich eine Beziehung zwischen Ian und Lena angedeutet. Am letzten Schultag hatten sich die beiden geküsst. Für Ian und Lena war es der erste Kuss auf dem Mund des anderen Geschlechts seit dem Kindergarten gewesen. Dementsprechend freudig schaute Ian auf, als die Klassenschönheit durch die Tür trat und sich mit vielen Umarmungen einen Weg durch die Wandreihe freischaufelte. Die blonden Haare hatte sie eng an die Kopfhaut geflochten und zwei Zöpfe hingen in ihrem Nacken. Das weiße Top hatte an den Ärmeln, am Hals und am unteren Rand Elemente aus Spitze. Dazu trug Lena eine braune Stoffhose, die weit über ihren Knöcheln endete.

    Ian wollte seine Coolmanrolle einnehmen, doch er grinste, wie ein Hund, der, nachdem ihm das Halsband abgenommen wurde, schwanzwedelnd im Flur saß und wusste, dass es gleich aus der schwarz-roten Verpackung in der Speisekammer einen Hundekeks geben würde. Entsprechend enttäuscht schaute Ian drein, als Lena an ihm vorbeilief und Franz, Matthias und Alex umarmte.

    Das konnte er nun überhaupt nicht verstehen. Klar, Franz war okay. Franz konnte sie umarmen, die kannten sich auch schon lange und waren auch Sitznachbarn. Aber Schlagmann und Alex? Die wurden nie umarmt und erst recht nicht vor Ian. Doch Lena ignorierte ihn weiter und quetschte sich auf ihren Platz. Die Nähe, die Stuhlbeine berührten sich, nahm der Geste etwas die Wirkung, doch Ian fühlte sich trotzdem schlecht.

    „Is´ was?", fragte Ian, während er den knarzenden Stuhl zurückzog, um sich auf die zerkratzte und ausgediente Sitzfläche zu fläzen.

    „Nö", sagte Lena und holte aus ihrer Tasche die Stiftebox und einen Collegeblock heraus. Ihren Ranzen aus dem letzten Jahr hatte sie gegen eine große Umhängetasche mit Reißverschluss eingetauscht. Ian bezweifelte, dass da alle Bücher reinpassen würden und er zweifelte auch an Lenas Antwort.

    „Wir war´n deine Ferien?"

    „Gut."

    Lena beließ es dabei. Dann kam Frau Lärmer-Nilmarch, die immer nur Frau Lärmer genannt wurde, in den Raum 401, schmiss ihre Ledertasche auf den einzigen gepolsterten Stuhl und legte zeitgleich mit dem Klingeln ihre beringte Hand auf den Lehrertisch.

    Aus irgendeinem unerfindlichen Grunde trugen die Lehrer an der Akihi-Realschule Namensschilder. Als wäre es nicht schon schwer genug in einer lauten, mit dreißig Schülern übervollen siebten Klasse Autorität auszustrahlen. Das Namensschild ließ die Deutschlehrerin wirklich lächerlich aussehen. Zumal dort auch nur „Frau Lärmer" stand. Ein Kollege hatte das verbockt. Dabei war es ihr wichtig bei ihrem vollen Namen genannt zu werden. Das erwartete sie auch von ihren Schülern, das Namensschild war da keine große Hilfe. Sie hatte leider auch keine große Stimme, wenn sie lauter werden wollte, überschlug sie sich und das hörte sich sehr albern an. Deshalb hatte Frau Lärmer-Nilmarch sich für eine sehr leise Sprechweise entschieden. Fast flüsternd erklärte sie die ganzen organisatorischen Dinge, die zu Beginn eines neuen Schuljahres geklärt werden mussten. Sie wurde dabei immer wieder vom Klopfen an der Tür unterbrochen. Nach dem dritten Schüler, der zu spät kam und gegen die Tür hämmerte, ließ sie sie einfach offenstehen. Im Raum 401 gab es keine freien Stühle mehr und deshalb wurde der Kartenständer zum Türstopper umfunktioniert. Es waren schon fünfzehn Minuten der Unterrichtszeit verstrichen, als mit Adem der letzte Schüler, durch die nun offene Tür, kam. Letztes Jahr war sein Platz noch in der letzten Reihe gewesen, doch er wurde von Frau Lärmer, die auch gleichzeitig die Klassenlehrerin der 7a war, nach vorne in die Mädchengruppe gesetzt. Wie ein Gockel saß er da, umgeben von Elen, Gülsah, und Aiyln in der Fensterreihe. Jetzt kam Frau Lärmer zum Thema Bücher. Die Klasse wurde in drei Gruppen aufgeteilt und sollte sich die Schulbücher aus dem Bücherraum holen. Die erste Gruppe war die komplette Wandreihe, mit den dazugehörigen mittleren Plätzen. Lena stand schnell auf. Sie wollte vor zur Tür, konnte aber zwischen sich und Ian nur SS-Sveni bringen. SS-Sveni hieß mit Vornamen Silvio-Sven. Seinem Vater war die Konnotation sehr wohl bewusst. Hätte der Junge, der nun hinter Lena wartete, weil der dicke Leroy es nicht schaffte aufzustehen und die anderen sich stauten, mit Nachnamen Bauer, Müller oder Michl geheißen, so wäre sein Spitzname wahrscheinlich SS-Müller und so weiter geworden. Aber Silvio-Sven hieß mit Nachnamen Aé und daraus konnte man nun wirklich gar nichts machen. Als Leroy es endlich geschafft hatte, seine Rundungen aus der Umklammerung des Stuhles zu lösen, drängten die Schüler aus dem Raum, wie Sprudel aus einer geschüttelten Flasche. Lena machte weiter Plätze auf Ian gut, der an der Tür mit einer generösen Geste Vivien den Vortritt ließ. Das junge Mädchen machte einen Schritt aus der Tür und drehte sich dann im Flur auf, so dass sie neben Ian laufen würde. Im Gang war es schon sehr laut. Eigentlich war die Einteilung so, dass die Klassen sich abwechselnd die Bücher holen sollten. Doch den Geräuschen nach, waren wohl alle Schüler auf den Beinen. Bei einem Probefeueralarm gelang das selten.

    „Es ist wohl Ärger im Paradies?", fragte Vivien. Sie mussten an einer der Feuerschutztüren warten. Logischerweise hatten diese Türen einen Holzrahmen. Doch der Umstand, dass sie nur mit dem Kraftaufwand von fünf Siebtklässlern geöffnet werden konnten und deshalb spätestens ab dem zweiten Schultag immer sperrangelweit offenstanden, indem sie mit dem Metallhaken in der Öse befestigt wurden, machte sie noch obsoleter.

    „Nein, alles paletti", antwortete Ian ausweichend.

    Auch wenn er Vivien mochte, wusste er, dass es keine gute Idee wäre, mit ihr über solche Sachen zu reden.

    Lena hatte mit Vivien geredet. Sie hatte sich bei ihr beschwert, dass Ian ihr einfach nicht schrieb. Es kotzte sie schon an, dass er ihre Bilder auf SchülerCC nicht kommentierte. Ian hatte immer eine fadenscheinige Ausrede parat, von wegen; kein Handy, keinen Computer und so einen Mist. Ihrer Meinung nach sollte er dann einfach mal den Mut haben, seine Eltern zu fragen. Konnte ja nicht so schwer sein. Unter strengster Geheimhaltungsvereinbarung hatte Lena Vivien das alles erzählt.

    Lena war schnell mal eingeschnappt, wenn sie nicht die Aufmerksamkeit bekam, die sie ihrer Meinung nach verdiente. Und sie hatte mit viel mehr Aufmerksamkeit seitens Ian gerechnet, gerade nach dem Kuss.

    Etwa eine Viertelstunde von der U-Bahnstation „Paulmander Nord" entfernt, nah des Bokettoberges, gab es einen See, an dem die Schüler traditionell den Nachmittag ihres letzten Schultages verbrachten. Letztes Jahr waren Ian und Lena dafür noch zu klein gewesen, deshalb stromerten sie stattdessen in den schmalen Gassen am Bokettoberg herum und setzten sich irgendwann an das Ufer des Tuhlm. In dem kleinen Park gab es mehrere Bänke, meist waren sie von Rentner besetzt. Die hatten immer Zeit. Doch an diesem Tag schienen Ian und Lena Glück gehabt zu haben.

    Lena hatte für sich und Ian jeweils einen griechischen Joghurt gekauft. Der Vater ihrer Mitschülerin Maria führte ein Restaurant. Es befand sich in dem Keller des älteren Einkaufcenters. Früher sah dieses Gebäude fremd zwischen den Altbauhäusern des Außenbezirkes aus. Doch nun hatten Häuser dieser Art die Vorherrschaft in Paulmander errungen.

    Den Joghurt aßen sie mit einem kleinen Löffel, den Freya verächtlich weggeschmissen hätte.

    Etwa bei der Hälfte, ein Kanu zischte gerade an ihnen vorbei, fragte Lena Ian, ob er sie küssen wollte. Es war so unromatisch, aber auch so kindlich einfach gewesen. Ian hatte zwar gar keine Ahnung, doch nutzte die sich ihm bietende Chance. Er nahm Lenas schmale Hand, an der sie ein Armband

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