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Oszillation
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eBook541 Seiten6 Stunden

Oszillation

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Über dieses E-Book

Es heißt, man solle das Buch weder öffnen noch lesen. Schon bei der Lektüre des ersten Buchstabens, so wird gewarnt, entstehe auf Quantenebene eine Verschränkung im Zeitraum. Text und Leser würden für immer miteinander verknüpft, es verblieben nur gemeinsame Existenz oder Auslöschung. Auch Vermutungen, es handele sich um einen Roman, dienen offensichtlich der Verschleierung. Der Autor behauptet seinerseits, er liefere einen Geheimbericht ab, gerichtet an den Creator des Multiversums. Er sei in dessen Auftrag gereist, zur Aufklärungszwecken, in ein Universum, einst seiner Schwester geschenkt. Die Spezies der Zweibeiner sei gefährdet. Er reist zu den Anfängen des Lebens. In der Quantenwelt kursieren Gerüchte, der Autor sei unglaubhaft, wenn er beteuerte, jedes hier erwähnte historische oder quantenmechanische Erlebnis entspräche dem Stand der Wissenschaft. Oder vielleicht doch. Das Fragezeichen verweigert sich, alles sei zu unwahrscheinlich. Bis die Zeit des Endes anbricht.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum8. März 2022
ISBN9783754187203
Oszillation

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    Buchvorschau

    Oszillation - Christopher Sprung

    Warnhinweis

    Christopher Sprung

    Oszillation

    Roman

    Meiner Familie. Hier und dort.

    Es könnte sein, dass Sie in einer aus Wellenfunktionen materialisierten Partikelwelt leben. Oder auch nicht. Dieser Bericht jedenfalls existiert nicht. Er ist höchstens eine von vielen Möglichkeiten in Wellenfunktionen, und darüber hinaus streng vertraulich. Bereits seine Wahrscheinlichkeit ist nicht zur Kenntnisnahme durch Partikel, Gruppen von Partikeln, Organismen und deren Gehirnpartikel bestimmt – falls er sich je materialisiert. Was unwahrscheinlich ist. Er dient mir ausschließlich zu internen Revisionszwecken und später als Kurznotiz für Vater, der dieses Universum, welches ich zu besuchen den Auftrag erhielt, nur initiierte, jedoch in seinen weiteren Ausprägungen nicht selbst anlegte. Anfang, Verlauf und Ende des Universums überließ er meiner Schwester. Selbst sie, die letztlich für alles verantwortlich ist, ich komme darauf zurück, wird meinen Bericht vermutlich nicht erhalten. Sollte jemand das Manuskript, einen Entwurf, oder irgendeine andere Form des Textes durch zufällige oder gezielt auf ihn gerichtete Quantenoszillationen zu Gesicht bekommen, erfolgt die Lektüre unter Ausschluss jeglicher Haftung. Die Authentizität des Berichts wird in jedem Fall dementiert, sofern seine Welleneigenschaft nicht ohnehin bei Beginn der Buchstabenbeobachtung zusammenfällt. Auch besteht Lebensgefahr: die persönliche Wellenfunktion eines zur Lektüre nicht befugten Lesers geriete sofort ins Wanken. Sie könnte in diesem Universum kollabieren, wobei zumindest die körperliche Präsenz in der gegenwärtigen Raumzeit nicht mehr garantiert werden kann. Denn bei Beginn der Lektüre schon des ersten Buchstabens – gerechnet ab jedem Buchstaben, der auf den übernächsten Punkt folgt – wird auf Quantenebene eine Verschränkung zwischen diesem Bericht und dem Leser hergestellt, mit der Folge, dass beider Schicksale unauflösbar miteinander verknüpft und nur noch gemeinsame Existenz oder Auslöschung möglich sind. Aus diesem Grunde ist zu empfehlen, das Lesen zu beenden und den Text aus der Reichweite des Schicksals zu entfernen.

    Wanderer

    Ich begann meine Reise in dieses Universum, indem ich von meinem designierten Ruhepunkt zwischen den Bran-Blasen zur Grenze schwebte, an das Warmfenster. Dockte an eine der elektromagnetischen Wellen an, die in der Quantenwelt unablässig pulsieren. Auf der Frequenzspitze einer Wasserstoffwahrscheinlichkeit trugen sie mich durch den Zwischenraum einer Planck-Länge hinein in die Welten aus verdichteter Energie.

    Die Heliumwahrscheinlichkeiten nutze ich nicht, sie sind mir in der Regel zu flüchtig, sonst gibt es in dem Universum, das Schwester vor kurzem von Vater geschenkt wurde, praktisch nichts. Vater hatte mich schon gewarnt, im Durchschnitt seien von eintausend Atomen neunhundert als Wasserstoff und neunundneunzig als Helium programmiert. Der magere Rest, im Grunde sogar weniger als 0,1 Prozent, verteile sich auf prinzipiell unwichtige Verdichtungen der Quantenenergie, einige wenige Elemente und deren Verbindungen, die er lediglich für mehr oder weniger interessante Varianten diverser Spiele und Rituale benötigte.

    Es war keine zufällige Reise. In der Regel ruhe ich zwischen den Universen, betrachte das leuchtende Meer ihrer Lotusblüten. In stoischer Ewigkeit ruhen sie auf der Spannungsfläche des schwarzen Raums, in und auf Allem, hellgelbdunkelrot schimmernd, in ihnen die Adern pulsierender Galaxien. Mit gewissem Interesse notiere ich Abspaltungen und Zweige, wie sie aufkeimen und sich entwickeln, in Spiralen aufquellen, Sternsysteme zu träumen beginnen, mit Planeten und Monden tanzen.

    Auf deren Oberflächen erwarten Anmutsknospen von Wahrscheinlichkeiten ihre ersten Beobachter, bereit, im ersten Moment der Beobachtung zu existieren.

    Liebhaber und Mörder verursachen Abstürze.

    Nur gelegentlich, eher spontan, erforsche ich meine eigenen Universen. Lasse ich mich hineintreiben, ankere an einem äußeren Magnetar und sehe, was sich ergibt. Erscheint ein Mond oder Planet von überdurchschnittlichem Reiz, mag es sich um empfindsame Wesen oder auch um Überraschungen in der Biosphäre handeln, oder selbst auch nur um Potenziale aus Wahrscheinlichkeiten von Intelligenz, schäume ich auf, begebe mich an die Frequenzspitze einer der ununterbrochen ausströmenden Magnetarwellen und rolle mit ihr in den Mond- oder Planetenkern, zunächst. Zwar ziehen Magnetare an, in manchen Universen bilden sie die stärkste Kraft. Zur Anziehung bedarf es jedoch einer Kommunikation zum Subjekt, einer Information, sonst wäre jenes nicht betroffen. Ich treibe also auf der ersten Informationsfrequenz des Magnetars zu den Kernen.

    Meine eigenen Universen konzentrieren sich in der nordwestlichen Sphäre von Allem, blickte man von außerhalb auf eine zweidimensionale Kartenprojektion aller multidimensionalen Bran-Blasen samt angrenzender Universen. Und wäre eine solche Projektion nach – wie ich später lernte – Art der Zweibeiner beschriftet. Wovon Hugh Everett III. allerdings vielleicht etwas ahnte, es zu seiner Zeit jedoch nicht zu formulieren wagte.

    Südöstlich gelegen wären die Reiche meiner Schwester, ansonsten überall um uns herum die unbekannten Territorien in den Welten Vaters.

    Schwester, die Hüterin dieses Universums, war vermutlich nachlässig und unaufmerksam geworden, nur so kann ich mir den Auftrag Vaters erklären. Vielleicht durch ihr gelegentliches Abschweifen in den leeren Raum, zu den verlorenen Seelen, oder, was Vater im knappen Vorgespräch eher vermutete, abgelenkt und angezogen von abwegigen, philosophisch verbrämten Eskapaden einer von ihr in einer eher durchschnittlichen Galaxie seit kurzem bevorzugten Primatenart, den dortigen Zweibeinern. Mir fehlt, um es kurz und bündig auszudrücken, schlicht die Musse, mich um eine aus meiner Sicht unbedeutende Störung im schwesterlichen Universum zu kümmern. Aber es war eine Bitte, die ich nicht abschlagen konnte. Und da es eine Bitte war, wurde es ein Auftrag, ein höchst unangenehmer, den ich so rasch wie möglich zu erledigen trachtete.

    Universen, in denen Zeit und Raum für die dort empfindsamen und bewussten Wesen existieren, sind mir schon dem Grunde nach von geringem Interesse. Sie sind in der Regel zu gewöhnlich. In meiner eigenen Universensphäre sind Zeit und Raum keine Kategorien. Selbst nicht in dem Zwischenraum der Bran-Blasen, ja auch nicht in der ersten Planck-Länge am Warmfenster. Raumzeit-Zeitraum-Universen sind ohne größeren Belang, dort herrscht überwiegend, nachdem habitable Zonenplaneten sich hunderte Millionen Jahre die Mühe geben, ihr Ökosystem auf eine bewusste Beobachterintelligenz vorzubereiten, nur noch die öde Langeweile des vorgeblich freien Willens und der stets unauflösbaren Sinnfrage, kombiniert mit dem Unvermögen, ihre zeitvariablen Alternativgeschichten mitsamt der instantanen Verschränkung an der eigenen Bran zu erkennen. Sie bleiben dann nur auf ihren Raum fixiert, den sie über die Partikel aus angeblicher Materie definieren. Stattdessen könnten sie Materie als oszillierend verdichtete Energie im Zeitraum verstehen und vor allem kulturell umsetzen, erreichen aber diese Stufe kaum. Das ist schlicht monoton und vorhersehbar, stets erfolgt der kollektive Suizid durch ethisch unkontrollierte technische Entwicklung; exzessive Gewalt; fehlertolerante Abläufe; oder, wenn die Schädlichkeit einer Spezies unheilbar ist, durch Einschreiten systemisch kontrollierter, artspezifischer Abstürze der Biosphäre, um sich nach erfolgreicher Bereinigung neu auszurichten. Unvergessen mein vorletzter Besuch in einem Sternensystem, in dem… ach, lassen wir das, es tut nichts zur Sache, ich muss mich konzentrieren, die Planck-Zeit kennt keine Gnade.

    Ich tauchte an der Zeit-Raum-Boje auf, die aus Sicht eines äußeren Betrachters etwas seitlich zum aktuellen Diskurs der intergalaktischen Zivilisationen gelegen ist. Dort würde das kurze Aufflackern meiner eigenen Aura nicht auffallen, es wäre eine kleine Sternschnuppe.

    *

    Intelligente, empfindsame, mit einem selbsterkennenden Bewusstsein ausgestattete Beobachter innerhalb eines beliebigen Universums erfahren stets die Wahrnehmungsgrenze. Ihr je nach den lokalen, planetaren Bedingungen gebildetes Gehirn präsentiert ihnen stets kleine Ausschnitte aus der Vollständigkeit aller Umgebungswellen, justiert aber eben auch limitiert auf die sensorischen Kapazitäten ihres individuellen Körpers. Jenes minimale Mosaikbild, zusammengesetzt in den auf natürliche Weise begrenzt entwickelten neuronalen Strukturen, bezeichnen sie – subjektiv sinnvoll – als »Realität«.

    Die Betrachtung der Vollständigkeit würde sie auf der Stelle sensorisch überhitzen, ihre Körper verglühen.

    In einer solchen »Realität« suchte ich Schwester. Die Zeit der ersten Knospen war schon längst verflossen, die ersten Blüten und Früchte verdorrt. Unendlich viele Welten, gelebt und gestorben. Unendlich viele Seelen auf karmischen Pfaden. Nach knapp vierzehn Milliarden Jahren dehnte sich ihr Universum dennoch immer weiter aus, gebar immer neue Galaxien, Konjugationen aus Befruchtung oder Neugeburt, riesige Energien der Oszillation drängten das Nichts zur Seite und schufen neue Räume.

    Es war zu vermuten, sie driftete nicht wie sonst in ihren glückselig schwebenden Träumen innerhalb der riesig leeren Zwischenräume, sondern hielte sich in einer von hunderten Milliarden Galaxien auf, und dort in einem von hunderten Milliarden Sternsystemen, inkarniert zu einem konkreten Lebewesen auf einem habitablen Planeten oder Mond.

    Spekulatives Geraune am Hofe Vaters, ich könne unter solchen Umständen Schwester schon aus statistischen Gründen niemals finden, die Möglichkeiten seien um Potenzen höher als die Gesamtzahl aller Tachyonen, zeugen von Unkenntnis der Quantenmechanik. Und von Ignoranz zu meiner Entität. Mit analogen oder digitalen Methoden beschäftige ich mich weder bei meinen Reisen in die Universen noch in meinen Meditationen in den Ruheräumen der Bran.

    Meine Suchfunktion basiert vielmehr auf Anwendung der Stochastik innerhalb der Quantenfunktionen.

    Ich fand Schwester innert zwei Planck-Intervallen.

    *

    Der dritte Planet beschützt seine Gewässer, die Felsen und Steine, Pflanzen und Tiere durch eine dünne Haut, mit einer auch im Durchschnitt der Galaxie eher seltenen Mischung aus Gasen. Alles Leben der Landbewohner wirkt und walkt am Grund eines Gasmeeres. Endet die gasbedeckte Landfläche an den Wellen salzhaltiger H2O-Meere, beginnt das Leben der Meeresbewohner.

    Das Gasmeer, die dünne Haut, rotiert in stetigem Austausch um den Planeten. Die Gashaut-Tiere, auch die Zweibeiner, sie nennen sich wohl »Menschen«, wie ich später notierte, sind überwiegend Gastauscher, Diffusion und Osmose bedingen ihre Existenz. Eine fragile Existenz, offenbar ständig in Frage gestellt, Pfeile des Lebenswillens Anderer in den Lüften. Das Leben in den Meeren wiederum ergötzt sich an den Niederschlägen, die aus den Gasen der Planetenhaut in den Wellenschaum einfließen, es wandelt deren Moleküle in Glukose um, zieht die darin enthaltene Energie des Zentralsterns unter das Wasser zu dort prävalenten Nahrungsketten.

    Gegen die Biosphäre des blauen Planeten kann ich nichts Essentielles vorbringen. Im Gegenteil. Sie ist auf lange Sicht mächtig und widerstandsfähig. Zu Einzelschicksalen hat sie keine Meinung, auch nicht zu Gattungen und Arten. Die Zweibeiner scheinen ihr grundlegend gleichgültig. Dazu später, eventuell, woher soll ich die Wahrscheinlichkeit der tatsächlichen Erwähnung sporadischer Notizen im Rahmen dieses Berichts im Voraus kennen.

    Allein die strukturelle Gleichgültigkeit der Biosphäre zu Individuen und Arten ist die in galaktischer Zeitbetrachtung optimale Haltung. Sie ist genuine Neutralität. Was durchaus mein erstes Interesse weckte.

    Seit der ersten Aussaat der DNA-Sporen, schätzungsweise 1.200 Millionen Jahre vor meinem ersten Besuch, wurden Fauna und Flora des Planeten vermutlich fünfmal beinahe vollständig ausgelöscht, Milliarden Zweige des Lebens verdorrten, Milliarden Skelette verschwanden in den Subduktionszonen der Kontinentalplatten.

    Aber Deni war erst dreizehn, als sie starb.

    Fünfzehn Jahre zuvor in den tiefen Wäldern des Altaigebirges, in der Welt der »heutigen Zweibeiner« in den Weiten Sibiriens, am Rande einer hoch über einem weit geschwungenen Tal gelegenen Höhle. Dichte Wälder aus Urzeiten bedecken die Ebenen bis hinauf zu den letzten Zwergbäumen, verstreut vor den Gletscherfeldern. Sie gaben den Weg frei für die Wanderer und Tiere. Hinter dem Pass, nach den Gebetsfahnen, die Hochebene, am Heiligen See, das Ziel der Bemühung.

    Als der Adler den Horst verließ, den Urgrund beäugte, kreischte der Nachwuchs.

    Ishtar zerlegte das Mammut. Seit Jahrtausenden streiften ihre Urahnen in diesem Gebiet, nutzten diese weite, großzügige Höhle. 90.000 Jahre später würden ihre weit entfernten Verwandten nur noch 1 – 3 % ihrer Gene tragen und sie Neandertaler nennen. Geschickt benutzte Ishtar einen groben Flintstein, um das Fell und die gesamte Haut vom rohen Fleisch zu lösen. Die meisten Innereien legte sie sofort in einen Stein, den sie halb ausgehöhlt hatte, der Stein lag auf dem ewigen Feuer, dessen Hüterin sie war. Sie goss Wasser hinzu, bewarf den brodelnden Sud mit Kräutern und Pflanzen. Die riesigen Fleischstücke legte sie auf große gegerbte Hautfetzen einst erlegter Tiere, bis die Männer sie in den hintersten Teil der Höhle trugen, dort, wo das Eis schlief.

    Die Männer aus ihrer Gruppe hatten das Mammut am frühen Morgen erlegt, zur Höhle getragen und dann erneut hinunter zum Tal gewandert. Im Unterschied zu Oktopussen mit ihren acht Gehirnen, konnten Neandertaler, obwohl sie nur ein Gehirn entwickelt hatten, ihre individuellen Erfahrungen mit anderen in der Gruppe austauschen und an die nächste Generation weitergeben. Sie waren auf Gemeinschaft angewiesen und begannen, über ihre Umwelt nachzudenken und Sinnfragen zu stellen. Schon in einer uralten Zeit, ungefähr 290.000 bis 337.000 Jahre vor der Zeit der »Heutigen« (relativ zu meinem Bezugs-Zeit-Raum), tauchten auf dem Planeten aufrecht gehende Zweibeiner auf, die Speere zur Jagd nutzten, auf große Tiere warfen, in den Uferzonen im »heutigen« Schöningen. Irgend»wo« und Irgend»wann« hatten dann die Neandertaler die Herstellung von spitzen Steinen, die an Stoßlanzen festgezurrt wurden, von den Früheren abgeschaut, mit denen sie viele zehntausend Jahre gemeinsam in den weiten Tundren und Wäldern der eisfreien Regionen im heutigen Europa umherwanderten. Von dort gelangte, über Jahrtausende und Hunderte von Generationen, die Kenntnis der Wurfspeere in das Gebiet, in dem Ishtar lebte.

    Die Männer jagten immer gemeinsam. Sie sprachen sich ab. Dass ihre Frauen alleine zurückblieben, war eigentlich ungefährlich. Selbst die großen Raubtiere hatten Angst vor dem ewigen Feuer, am Eingang der Höhle. Es loderte unter einem ausgehauenen Felsvorsprung, der es von drei Seiten umschloss. Wenn es regnete, schob Ishtar einen rechteckigen, beinahe quadratischen Basaltstein darüber, nicht um die Tropfen des Regens zu töten. Der Stein lenkte das Himmelswasser zu den kleinen Würmern im Boden, zu Wurzeln und Pflanzen.

    Heute war alles auf irgendeine Weise anders. In der Nacht zog in Ishtars Geist ein schwerer Traum auf. Seit der Schamane zu seiner langen Wanderung aufgebrochen war, dachte sie sehr oft an ihn. Er beschützt sie alle, in den Nächten schenkt er ihnen ihre wilden Tänze in eine andere Welt hoch oben an der Himmelsdecke, wo die ewigen Feuer der unzähligen anderen Stämme leuchten, wo sie sich alle im Glück der Trance vereinen, im Rhythmus von Trommeln, die aus der Erde kommen, vom drehenden alten Weisen, der in der Luft schwebt.

    Doch nun waren sie alle ungeschützt. Noch nie hatte sie ein solches Gefühl, allein, wie ausgesetzt, obwohl die Männer noch im Tal und die Frauen an der Höhle waren. Abends würden die Männer zurückkehren, kurz vor der Dunkelheit, meist mit neuem Wild. Die anderen Frauen warteten, nähten ein Fell, redeten ohne Unterlass, blickten auf die Kette aus perlweißen Muscheln, die Ishtar seit kurzem um ihren Hals trug.

    Der Riese hatte braune Haut, tiefschwarze lange Haare, blaue Augen. Er war größer als die Männer, die nackten Arme muskelbepackt, das schwarzgelb gescheckte Fell eines Smilodons hing um seine Schulter. Um seinen Hals trug er an einer breiten Lederschnur einen sehr langen, leicht gebogenen und spitz zulaufenden Eckzahn, Ishtar kannte diese Hauer, damit konnten die Säbelzahnkatzen auch große Mammuts töten. Sie konnte in dem Augenblick noch seine Armbänder erkennen, aus vielen kleinen Zähnen, Kalkmuscheln und dunkelblau schimmernden Steinen.

    Die anderen Frauen kreischten und flohen in die Höhle hinein. Sie wollten das Eis wecken.

    Ishtar bewegte sich nicht. Sie blieb sitzen, ihre Hände hielten ein Fleischstück, das sie gerade abgeschabt hatte. Wie der Riese den steilen, vom Tal zur Höhe führenden Pfad hinaufkam und ihre Blicke sich erstmals trafen, senkte sie instinktiv ein wenig ihren Kopf, aber schaute ihn doch weiter an. Auch Ishtar hatte blaue Augen, aber ihre Haut war hell. Der Riese war überrascht, er spürte ihre Neugier. Er war stehen geblieben.

    Sie hatte keine Angst. Sie spürte keine Bedrohung.

    Sie beobachteten sich. Sie merkte, wie er ihre Muschelkette anschaute. Sie wusste, er war kein brutales Raubtier. Er war einsam.

    Sie senkte ihren Kopf nach unten, ihren Blick auf den Boden gerichtet, und streckte ihre beiden Arme nach vorne, in ihren offenen Händen bot sie ihm das große frische Fleischstück an.

    Sie hörte nichts. Sie rührte sich nicht.

    Sie spürte seinen Atem. Ihr Blick war noch gesenkt. Kräftig waren seine Hände, doch er berührte ihre beiden Oberarme mit anrührend zärtlicher Geste. Kurz sah sie zu ihm hoch. In seinen blauen Augen entdeckte sie seine Seele. Als sie Gutes fühlte, zog sie ihn näher zu sich und umgriff mit den feinen Gliedern ihrer kleinen Hände seine Wange, ertastete sein Gesicht wie eine weinende Blinde. Sie schwiegen. Schon vereinte sich beider Atem im Geheimnis. Sie drehte sich um und bot sich ihm an.

    100.000 Jahre später würden die neuen Menschen behaupten, der Riese sei ein Denisova-Mensch gewesen, und Deni, geboren aus ihrer zärtlichen Vereinigung am Rand der Höhle, das erste Mischlingskind. Darüber würde Marduk nur lachen. Denn Ishtar war die Frau aus der Denisova-Höhle, er der beginnende Mensch, und Deni die erste Seele auf der Reise zu den heutigen Menschen, geboren aus der Vereinigung von zwei menschlichen Arten.

    *

    Die in mir angelegte Quanteneigenschaft erlaubt vielfache bis unendliche Untersuchungen zur gleichen Zeit, mit dem Ziel einer simultanmultiplen Neugiersättigung. Dabei liegt mir nichts ferner als Ungeduld. Mein Wunsch nach der Nutzung solch gleichzeitig und umfassender Neugiersättigung dient ausschließlich der Sammlung von Wissen in größtmöglicher Dichte. Zu diesem Zweck benötige ich keine «Zeit« im Verständnis der Bewohner dieses Universums, dieser Galaxie, ich komme später darauf zurück, aus diesem Grunde besteht kein Anlass für Ungeduld. Ich »habe« auch keine Zeit, noch führe ich ein Leben in ihr. Was ich bei meinen Reisen besuche, ist »Raum«. Jedoch benötige, beobachte und betrete ich den »Raum« keinesfalls im Sinne, wie ihn die Bewohner begreifen würden. In meiner Quantenwelt bin ich an Orten lokaler Energieresonanzen von Oszillationen der Quantenwellen, die aus der subjektiven Sicht von Beobachtern des von mir besuchten Universums bereits als Materie verdichtet sein würden, gleichgültig ob in deren Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. In diesem Verständnis wäre ich eine einflusslose Anheftung.

    »Meine« Quantenwelt? Gibt es mehrere? Bin ich nicht in, sondern an den Orten? Ja und Nein. Ich bewege mich stets nur an einem einzigen Planck-Ort an einer Spitze der Frequenzwelle. Zugleich aber stellt die verdichtete Materie jenes Ortes innerhalb der subjektiven Raumzeit der dortigen lokalen Beobachter eine Art Hologramm dar – ist dieses Wort allerdings nur ein schwacher Abglanz einer mangelhaften Sprache. Auf jeden Fall aber, soweit sei hier in »Sprache« als der verständnislosesten, mangelhaftesten Form der Kommunikation in diesem Universum gesagt, enthält jeder Pixel eines Hologramms die gesamte Information, die innerhalb des Hologramms gespeichert ist. Angekommen am obersten Pixel des Planck-Ortes der Frequenz, befinde ich mich auf diese Weise sowohl an einem bestimmten Ort wie auch innerhalb der Information.

    Ich sehe die lokale Raumzeit als Gesamtheit sämtlicher Kausalitäten, die dort in der konkreten Gegenwart von Beobachtern subjektiv verursacht werden.

    Es ist kein Bild und kein Film.

    Ich sehe vielmehr das Panorama gleichzeitig entstandener Kausalitäten.

    »Gleichzeitig« im Sinne einer Planck-Zeit an meinem konkreten Planck-Ort.

    Eine Planck-Zeit weiter, und es sind bereits Myriaden anderer – dann und dort »gleichzeitig« – entstandener neuer Kausalitäten in diesem Universum aufgeschäumt.

    Die Gleichzeitigkeit der Gegenwart der vorherigen Planck-Zeit am gleichen Ort ist nicht verschwunden; sie ist weiterhin sichtbar; je mehr Planck-Zeiten ich jedoch zurückblicken würde, je weniger würden die Gegenwarten erkennbar bleiben. Sie werden verschwommen, jedoch nur, wenn ich mich an meinem relativen Bezugsort nicht bewege. In ihren jeweiligen Orten der Gegenwarten verbleibt die Klarheit der Gegenwarten, selbst wenn sie – in Bezug auf meinen Ort – in einer Vergangenheit liegen.

    Durch meine Position an der obersten Spitze der Frequenzwelle, sehe ich also nicht nur eine »Gegenwart« an und in dem lokalen Raum, etwa nur in dem einen und einzigen mit diesem einen Raum verschränkten Planck-Zeitabschnitt.

    Vielmehr sehe ich die kontinuierliche Abfolge aller durch subjektive Beobachter jeweils dort und in jeweils sich nachfolgenden Gegenwarten, wie sie erst durch Beobachter entstanden.

    Wie sie sich alle aufschäumen, in einem pulsierenden lebensfrohen Feuerwerk unendlicher Möglichkeiten. In jedem Moment in diesem wunderbaren Universum aus verdichteter Energie, aus regelmäßig vom Vater emanierenden Frequenzen seiner Quantenwelten, keimen Myriaden von Entscheidungen auf, von Kausalitäten, individuell verursacht durch Beobachtungen von bewusst denkenden Bewohnern an jeweils subjektiven Raumpunkten, und erschaffen so ganz neue gegenwärtige Planck-Orte, die ihrerseits von neuen Planck-Zeitabschnitten begrüßt werden, nur um eine weitere Möglichkeit von Myriaden weiterer Kausalitäten zu eröffnen. Milliarden von leuchtenden Pfaden und Wegen zerstäuben sich als schnell wachsende Zweige, verästeln sich, und gebären so immer mehr und immer tiefere, strahlende, glückliche Fraktale voller Leben. Jetzt sehe ich, es ist nicht nur wie ein aufblähender Schaum – es sind Bäume, die schnell wachsen, mächtige Bäume, gewaltige Kronen, in allen Farben, je tiefer ich in die Fraktalspiralen einschwebe, Wälder entstehen, großartig weite Wälder in schnell sich bildenden neuen Räumen, Wälder aus beinahe unendlichen neuen Kausalitäten.

    Ach, könnten die Bewohner dies nur sehen, solange sie die Kausalitäten verursachen können! Könnten sie die Schönheit sehen, die Anmut aller Entscheidungen!

    Ist ihr materieller Körper nämlich zerflossen, seine Atome und Moleküle in neue Materie oder Energie übergegangen, die nun ihre ewige Aufgabe in anderen lebenden oder nichtlebenden Formen erfüllen, endet ihre Möglichkeit zur Erschaffung lokaler, subjektiv verursachter Kausalitäten. Plötzlich, in einem Augenblick des schlimmsten Entsetzens, erkennen sie ihren angeblichen Tod und wissen zugleich, dass die Spanne der ihnen gewährten Zeit, innerhalb nur derer sie Kausalitäten begründen können, beendet ist und sie in die Rolle des fernen Zuschauers verbannt sind. Alles, was sie einst beeinflussen konnten, sei es durch Handeln oder Unterlassen, ist ihnen für immer entglitten, die von ihnen erschaffene alte Welt voller selbstbegründeter Kausalitäten entschwebt unaufhaltsam hinein in den verschwommen erscheinenden Schaum der Verbliebenen. Nur ganz wenigen ist es bis zu dieser Stunde, die gewiss eintritt, vergönnt, mit Freude und nicht mit Ungewissheit oder gar Furcht in die Quantenwelt zurückzukehren.

    Sie sind in ihrer immateriellen Existenz noch nicht einmal Beobachter, denn ein solcher würde auf der Quantenebene mit der Begründung neuer Kausalitäten fortfahren können. Sie sind nur noch Zuschauer.

    So wie ich an ihren jeweiligen Orten die gleichzeitigen und vorherigen Gegenwarten sehen konnte, vermag ich selbstverständlich – bewege ich mich nicht – zugleich auch die »künftigen« Abfolgen von Kausalitäten an den jeweiligen Raumorten zu erkennen. Die Gleichzeitigkeit der Zukunft der folgenden Planck-Zeit am gleichen Ort ist bereits erschienen, verursacht durch die unmittelbaren Kausalitäten zuvor; die Zukunft ist bereits klar sichtbar; je mehr Planck-Zeiten ich jedoch im Voraus blicken würde, je weniger würden die möglichen Zukünfte erkennbar. Sie wären verschwommen, jedoch nur, wenn ich mich an meinem relativen Bezugsort nicht bewege. In ihren jeweiligen Orten der Gegenwarten verbleibt die Klarheit der Gegenwarten, selbst wenn sie – in Bezug auf meinen Ort – in einer Zukunft liegen.

    Durch meine Position an der obersten Spitze der Frequenzwelle, sehe ich also nicht nur eine »Zukunft« an und in dem lokalen Raum, und zwar nur in dem einen und einzigen mit diesem einen Raum verschränkten Planck-Zeitabschnitt.

    Vielmehr sehe ich die kontinuierliche Abfolge aller Zukünfte, jener Kausalitäten, durch subjektive Beobachter jeweils dort einzeln und nachfolgend angefügt, verursacht. Myriaden neuer Abfolgen separat-isolierter Kausalitäten innerhalb ihrer eigenen Schaumwelten.

    *

    »Deine Gegenwart ist bereits verflossen.«

    »Ja, in deiner Raumzeit. Aber ich bin im Zeitraum, und dort bereits an der Spitze der Oszillation einen Planck-Ort weitergereist und befinde mich somit erneut in der Gegenwart deiner Raumzeit, nicht in, sondern an ihr. Und sehe alles, was geschieht.«

    »Was tust du eigentlich hier?« fuhr Schwester fort.

    »Ich bin neugierig.« Ich versuchte, sie abzulenken.

    »Bisher hast du dich für Ereignisse in der Zeit eines Raumes nicht sonderlich interessiert.«

    »Das ist wahr.«

    »Was ist es dann?«

    »Ich will deine Entscheidungen sehen.«

    »Ich entscheide hier nicht. Das weißt du.«

    »Mein Algorithmus meint, dass es im Anschluss an die Quantenanmeldung durch Vater durchaus auch Entscheidungen deinerseits gegeben haben muss.«

    Sie schweigt.

    »Ich bin nur neugierig. Es ist ganz deine Sache, dein Universum. Doch auf merkwürdige Weise interessieren mich die Folgen.«

    Sie scheint nachzudenken.

    Sagt dann: »Ich habe etwas als Zweibeiner aufgeschrieben, ich lebte in ihm für die Zeit seines Lebens.«

    »Wie war dies möglich?«

    »Vater hat mir für mein Universum Anfang und Ende in die Hand gegeben. Anfangs definierte er nur die allgemeinen Parameter. Einzelheiten überließ er mir, im Rahmen seiner Quantenanmeldung.«

    »Oh, interessant.«

    »So habe ich mich dann auf ein einzelnes Individuum aufgesetzt, nur auf seine lokale Wellenfunktion.«

    »Das ist eine sehr interessante Variante. Hast du eine Beeinflussung durch deine Präsenz ausgeschlossen?«

    »Ja, das ist lediglich einer von mehreren variablen Parametern.«

    »Welcher lokaler Geschichtsrahmen war für dich von Interesse?«

    »Das Ende. Er hat ein Tagebuch geschrieben. Ich schicke dir jetzt eine Kopie.«

    Ein minimalsensorisches Wärmepixel, welches lediglich auf Quantenebene in mir galvanisiert war, signalisierte mir den Empfang ihrer Nachricht. Ich war neugierig und öffnete sie sofort:

    STARTQUOTE War es nur der letzte Tag, so wäre es nicht schmerzhaft.

    Letzter menschlicher wäre noch lange nicht letzter irdischer Tag.

    Doch Nichts war es Ende.

    Dünne Haut der Erde zerfurcht in Narben verletzt von wem? doch nur von eigen Kraft die um sich dreht und Drift webt

    und über ihr ein hohes Meer aus Luft

    fliegende Fische aus Stahl

    Schat­ten und Schall

    zitternde Flügel tragen sie fort. Nirgendwo ein Ufer an dem das Luftmeer Wellen schlagen könnte herrlich schäumende Wellenkämme am Strand der Alpen.

    Warum soll ich weinen. Darf ein paar Jährchen auf der dünnen Haut Erde leben, bevor ich in sie zurückfalle, zerstäubt in die Atome. Darf von Menschen in die Kruste getriebene, teerbedeckte Serpentinen hochfahren. Darf in von Äonen an den Saum der Kontinente zerriebenen Diamanten aus Sand liegen. Darf lieben hoffen hassen essen. Dünne Haut Erde spürt mich dennoch nicht. Spürt höchstens Megastädte und Atomschläge. Merkt sich dort alles.

    Und ich glaube dennoch weiter, aller Mittelpunkt sei in mir. Darf Mittelpunkt denken, stört doch keinen. Darf nicht so handeln, stört dann alle. Kleiner Mittelpunkt Mensch läuft weiter auf der dünnen Haut Erde, tötet, Kontrolle verloren. Und kann doch auch so lieben. Warum soll ich weinen. Kann doch auch so lieben.

    Dünne Haut Mensch sucht zarte Hände warme Lippen anderer ausgesetzt Hilfloser die zur gleichen Zeit ihre Notfrist leben.

    Doch Leben stirbt. Welt stirbt. Kalte Steine bleiben.

    Warum soll ich Worte sprechen. Worte töten Leben. Sind Buchstaben, um sich herum gedrechselt in einem Spin humanoider Hybris. Sich anmaßend, einem lebend Ding eine Bezeichnung aufzusetzen. Lebend Ding kennt keine Buchstaben. Überall verständigt es sich; ohne die Drechsel der sich krümmenden Menschen.

    Warum soll ich wissen. Wissen tötet Seele. Denkt, durch Den­ken wird Leben besser. Weiss, durch Wissen wird Denken schwerer. Tötet Seele sofort ab. Ohne Zögern. Sofort ab.

    recht lustlos durchstreife ich so die kruste, sehe im gelobten land nach und finde doch nur wahn. verheißen ist ein wenig mehr. gefunden wird ein wenig weniger. doch ich suche weiter fort und fort, die hoffnung unbesiegbar! das weiterziehen ist programme. nomaden der mystik, verirrte des körpers.

    Doch Ruhe wird nicht bei mir sein. In weiten Ebenen der Wüste wird sich der Adler aufschwingen, einsam, allein, völlig umschlossen von allem, das ganze Universum umringt ihn, bedrängt ihn, hämmert auf ihn ein mit Millionen und Abermillionen Strahlen und Ionen und Partikeln, durchdringt ihn, läßt zugleich doch noch seine Bewegung zu, das Schlagen seiner offenen Flügel, wie sie dem Absturz entkommen, wie sie ihn tragen durch die gewaltige Hitze und über den kolossalen und kahlen Felsen, schwarz, zerklüftet, geheimnisvoll. Er spürt, wie er beinahe zermalmt ist von allem, was um ihn und auf ihm ist, was er nie wird völlig von sich weisen können, immer und ständig wird er, soviel ist sicher, in der Mitte von etwas sein, und um ihn herum das Ganze.

    Er will aber allein sein, völlig allein, umgeben von nichts, allein und nicht umringt, nicht umschlossen, nicht bedrängt. Keinen Halt zu haben, das würde er dann in Kauf nehmen, keinen Raum, keinen Boden, kein Gewerk um ihn herum, keine Kleidung, nur einsam sein, für sich, ohne Umgebung, ein Traum. Ein Traum der Wahrheit, ein Traum aus Wirklichkeit, verborgen am Saum der Zeit. Verborgene Worte in sieben Tälern.

    Ohne Umgebung sein. Nur selbst sein. Keine Partikel, die durch ihn rasen, auf ihn einschlagen in ständiger Arroganz, die erhaben sind von Barrieren im Raum, Elektronenschalen unbeachtet. Kein Meer aus Luftmolekülen, das ihn umspülte und bedrängte. Und wenn er dann ohne Umgebung wäre, dann wollte er ohne Traum sein, ohne Gedanken, ohne Fragen, seinen Sinnen wollte er dann sagen, sie sollten nur noch ihren Körper fühlen. Am fragenlosen Ort. Warum überhaupt wollen wir erklären. Warum überhaupt suchen wir Antworten. Warum liegt es uns nicht, Wesen ohne Antwort in einer Welt ohne Sinn zu sein.

    ENDQUOTE

    *

    Im Rückblick vermag ich nicht mehr zu sagen, ob es eigene Erinnerungen sind. Oder hat Deni das Folgende gedacht oder gar geschrieben?

    Auch, ob das Zitat endet, es wäre nur eine mögliche Verzweigung in der Quantenwelt, Genaues kann niemand feststellen, müsste er dann doch die Beobachtung einleiten:

    Es bedrückte mich, sie zuletzt nur noch abgemagert gesehen zu haben. Doch ich respektierte ihren Wunsch. Sie wollte nur noch allein sein, allein sein mit ihrem nahenden Tod.

    Als ihre Fingerspitzen mich zum letzten Mal berührten, die Poren einen letzten zarten Gruß verströmten, als die Erinnerung des Frühlings, der Orangenduft ihrer vergangenen Liebe, sich noch ein allerletztes Mal gegen die dunkelbraunen Metastasen des nahenden Sterbens aufbäumte und ein Zeichen des Lebens setzte. Da fühlte ich mich von ihr verstanden wie noch nie zuvor. In ihrem Schweigen liebte sie mich. In ihrem Blick, ihre Augen waren kaum geöffnet, sah ich ihr Leid, das aus der unendlichen Tiefe ihrer Seele im Kleide der Weisheit zu mir sprach. War diese Art, Abschied zu geben noch vor ihrem Tod, nicht die Krönung ihrer Liebe?

    Sie entließ mich am Abend aus ihrem Todeszimmer, versöhnte mich mit ihrem Schmerz, indem sie mich begreifen ließ. »Am Ende sind wir allein«, ihre letzten Worte zu mir.

    Nur so konnte ich wieder in die Welt treten, die mich noch umgab, aus der ich mich nicht erretten konnte, als nur mit dem stündlichen Gefühl, auch mir ist das letzte Dunkel gewiss, das Stundenglas im Nacken. Wie klar war nun der Raum geworden, in dessen Sphärenfäden mein Körper hing. Die Mutter war gegangen, bevor sie starb. Der Tod war hell, bevor er kam. Stark die Kraft, die Freiheit schenkte.

    Ich ging über die Plaza, linkerhand das Café, vorgesichtig die Statue eines nackten Mannes, in feinster Harmonie in Stein gemeißelt, griechische Proportionen, aber die japanischen Touristen waren nur mit ihren technischen Geräten beschäftigt, mögen sie hier funktionieren und farbige Bilder mit nach Hause bringen, bewegte und stehende. Der Bildhauer hätte seinen Stein wütend zerstört, ahnte er auch nur ein wenig die Perversion, mit der die heutigen Zweibeiner sein Werk in digitale Einheiten zerstückeln und übersehen.

    Gleich schnellen Schrittes bog ich in die Seitengasse ein, die dunkel vom Hauptplatz abzweigte und mir keinen Weg wies, wohin denn auch, war ich doch nur ein Schlenderer in fremder Welt. Rasch verzog sich der Schein der Leuchtreklame, übrig nur der Duft der Frauen, der sich indes sogar noch verstärkte, je mehr ich in die engen Winkel hineintauchte, die, so musste ich unwiderruflich vermuten, Zuflucht gefallener Engel waren.

    Schemen zerstörter Zweibeiner zuckten bei meinen Blicken, zogen sich in der Gasse dunkle Eck zurück. Wussten nichts von meinem Respekt, den ich ihnen zollte. Sind sie doch Wesen der Ichfähigkeit, Geschöpfe des Leids, Objekte der Lust, Subjekte nie selbst ausgesprochener Weisheit. Das Leid – ihr Opfer – stand hintan bei den Eliten, gleichwohl sie es verursachten und benutzten. Aber auch hiervon wussten sie nichts. Waren wie Kinder, Jesus‘ Gehorsam. Doch: mein Leid zu wissen, ist es nicht trauriger als ihr Leid zu fühlen? Meine Pein, ist sie nicht tiefer? Mein Kummer, ist er nicht schwerwiegender, berechtigter?

    Kein Gedanke war mehr an der Helligkeit des weiten Platzes, die ich vor Augenblicken noch genoss. Eingetaucht in Eingeweide. Zettel auf dem Kopfsteinpflaster, verlorenes Papier, dem Urheber wertlos verworfene Gedanken:

    Blumen und Blüten

    den Hügel hoch die Wellen entlang

    wiegen den Baum in Ruhe

    vernichten und töten

    in ihrer Anmut

    seine Einsamkeit

    betten ihn

    in liebende Pracht.

    Für ein Weilchen

    nur

    denn er ist kein Wald

    wollte nie Wald sein

    und will auch bald die Liebe

    aller Bäume

    nicht mehr

    die ihn doch nur bedrängt?

    Doch so schön

    umschmiegt von zärtlicher Ähre

    gelesen mit weiblicher Hand

    ein offenes Buch

    wie es sich hingibt

    doch nicht löst

    von den kräftigen Wurzeln

    im Grund geflochten.

    Baum will er sein

    abseits der Wälder

    abseits der Menschenhirne

    deren massenhafte, kataklystische, narzisstische, bedenkenlose Eroberung aller Lebensräume des Planeten ihn immer stärker beunruhigte, irritierte, glauben ließ, Gott habe das Staubkorn für immer verlassen.

    Er sah sie kommen

    und gehen

    die Menschenmengen

    Erobererverbrecher

    zogen an ihm vorbei

    in ihr Verderben

    ins Leid

    ihrer Untertanen

    Jahrhunderte

    an ihm vorbei.

    Gar manches Mal

    an seinem Stamm

    zwei Menschen

    verflochten

    verstummt das Geschrei

    der Menge

    erhört

    der Ruf der Liebe.

    Und wie sehr liebe ich

    die ersten Versuche

    der Liebe

    zu erkunden

    jene Gegenliebe

    ohne die es scheint

    dass wir zu Tode verdammt.

    Unser Liebes Ziel

    erhebt sich

    flieht sofort

    ekelt sich für immer

    vor mir

    weil meine Liebe

    sie zur Bedingung machte.

    Selbst verdammen wir uns also

    zu Tode.

    Selbst verwüsten wir uns

    wenn wir nicht lieben können

    ohne Gegenliebe.

    Aber auch

    Delphine haben getötet.

    Wir sind ratlos

    weil wir dachten

    Delphine würden nur lieben

    und lieben

    und lieben

    doch nun haben sie

    getötet

    andere Tümmler

    mit scharfem Biss

    die Wellen hoch

    getötet.

    Wir dachten

    nur Wölfe töten

    ihresgleichen

    und Menschen.

    Betörende Schläge

    der Wahrheit

    betäuben unsere Hoffnung

    lähmen den Trug

    verbrennen den Bart des weisen Mannes

    vor versammelter Menge.

    Wäre er nur

    in der Zuflucht geblieben

    die Höhle

    hoch über der Schlucht

    wo er des Abends

    nur die Sonne sah

    wie sie den Menschen verließ.

    Als er hinunterstieg

    um zu künden

    vom Aufgang der Sonne

    anderntags

    da erschlug ihn die Wahrheit

    der tobenden Menge.

    Unnütz die Reue

    der Pfeil ist abgeschossen

    kehrt nie zurück

    unnütz

    dass er sich herabgelassen.

    Weil Liebe grenzenlos sei

    könne Wahrheit nur helfen.

    Welch Trugbild

    im Bad der Menge.

    Epochen später

    verstehen sie ihn

    nicht

    so wie damals

    im Augenblick

    Seiner Wahrheit

    am Kreuz

    dort in Golgatha

    und in den Salven

    der Gewehre

    dort in Tabriz

    und an den Ketten

    im Schwarzen Verließ.

    Verwirrt faltete ich den Zettel. Noch immer im Dunkel der im Mittelalter wohl wichtigen Gässchen. Hier und da ein Licht. Von oben eine Stimme.

    »Komm herauf, Fremder!« Dunkel und klangvoll. Ich blickte hoch. Ganz oben, am Ende der Stufenschlucht, ein Gesicht. Die Stimme war weiblich. Oder? Die vielen Stufen hinauf – Fußspuren der Jahrhunderte.

    »Werden wir uns verstehen?« Ihre Frage machte mich stumm.

    Das Gesicht war mir nicht fremd. Spürte ihre Weisheit. Ihre Augen wussten. Die Haut ihres Gesichts lächelte mich an, erzählte ihre zahllosen Begegnungen, von den Küssen der Männer, den Händen, die sie fest umgriffen, ihren Hals, die Schulter, die Formen der Spannung und des Krieges, der Liebe, Zärtlichkeit, Versöhnung. Die Strähnen der Haare – wie oft haben sie wohl am Strand, am Ufer des großen Meeres, dem Wind getrotzt, den das Wasser von der Ferne brachte? Kannten ihre Locken nicht die Kunde jener fernen Tage, als die Stürme über festes Land fegten, wo der Ozean heute alles mit mächtigem Wasser bedeckt? Waren es nicht die gleichen Atome, die damals wie an diesem Tag um sich selbst wirbelten? Hatten sie nicht lediglich ihre Formation geändert?

    Die feinen Züge ihres Gesichtes wussten nur zu gut, warum sie mir all dies erzählten. Sie fühlten meine Regung, meinen Wunsch, meine Sehnsucht. Oh, wollten sie mir doch alles anvertrauen! Doch ohne Worte hörte ich, wie sie mir Geduld zuriefen, gemach, gemach, mein Freund!

    »Werden wir uns verstehen?« Ihre Frage stand im Raum.

    Auch eine Kathedrale steht im Raum. Menschen, die sich ihr nähern, werden erdrückt. Kathedralen sollen steinernes Anmahnen von Ehrfurcht, Macht und Unterwerfung sein. Deshalb stehen sie im Raum so hoch und wuchtig. Deshalb braucht es auch so lange und so viel Opfer, bis sie aufgebaut sind, diese elenden Fragen, die im Raum stehen.

    Kathedralen sind eine einzige Frage an den Menschen. Kathedralen haben keine Antwort für den Menschen, der in ihnen seinem Gott dient. Nur Trost verleihen sie höchstens, dass ihr Gott nicht der Gott Aller und des Alls sei.

    Umso mehr wussten ihre Augen, die mir antworteten. »Deine Frage?«

    Nein, ich hörte keine Ungeduld. Nur eine kristallklare Forderung. Meine Frage!

    Nach einer Weile sagte ich: »Wie sinnlos.«

    Überraschung in ihren Augen, nur ganz kurz flackernd.

    »Komm, trink eine Tasse Tee mit mir.« Ich

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