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Ave Covid morituri te salutant
Ave Covid morituri te salutant
Ave Covid morituri te salutant
eBook325 Seiten3 Stunden

Ave Covid morituri te salutant

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Über dieses E-Book

Warum sollte man ein Buch in die Hand nehmen, das im Titel "COVID" führt?
Das Buch von Heipe Weiss handelt nur insofern von COVID, als ein vermeintlich Todgeweihter zwischen Frühjahr 2020 und Herbst 2021 73 Texte an seine Freundinnen und Freunde geschickt hat. Er lässt uns teilhaben an seiner Pariser Zeit 1970/71, schildert seine Tage an der Blutwäsche-Maschine, nimmt uns mit bei seinen Reflexionen zu Theweleit, Camus und anderen Philosophen und betrachtet die bundesdeutsche Gegenwartspolitik.
Der Stil von Heipe Weiß ist distanziert und locker, als habe er mit allem nichts zu tun. Jedoch seziert er radikal, ironisch, antiautoritär und anarchistisch unser Alltagsleben. Gleichzeitig spielt er angstfrei mit Argumenten und Realitäten.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum15. Feb. 2022
ISBN9783754951118
Ave Covid morituri te salutant

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    Buchvorschau

    Ave Covid morituri te salutant - Heipe Weiss

    ¹

    Fast jede Woche schickte Heipe uns und weiteren Freundinnen und Freunden eine Folge der Ave Covid-Texte. Wir dachten zunächst nicht im Traum daran, diese Blattsammlung zu veröffentlichen. Anfangs lasen wir, zum Teil mit Freude, zum Teil mit Erstaunen und zum Teil mit Erschrecken, wie Heipe mit der für ihn sehr hohen Gefahr einer COVID-19-Infektion umging. Die assoziationsreiche, oft zwischen den Themen und Zeiten mehrmals hin und her wechselnde Betrachtung des deutschen Gesundheitswesens mit seinen Fallstricken und die Beschreibung des Alltags mit Rückblenden auf Ereignisse aus seinem Leben eröffneten uns eine einzigartige Sicht auf die bundesrepublikanische Wirklichkeit in der Zeit zwischen dem Frühling 2020 und dem Herbst 2021. In seinen Rückblenden lässt Heipe uns teilhaben an seinen und unseren anarchistischen und spontaneistischen Alltagsgeschichten. Er beschreibt gesellschaftliche und politische Situationen und Geschehnisse ohne Verbitterung, aber mit Humor und beißender Ironie.

    So fiel es uns schon im Sommer 2021 nicht schwer, Heipe vorzuschlagen, seine Ave Covid, morituri te salutant-Sammlung, die in der Zwischenzeit auf 73 Texte angewachsen war, in Buchform zu veröffentlichen.

    Ave Covid, morituri te salutant (1)

    Was wir zurzeit erleben, erinnert überraschend an Das Jahr null eins, L’an zéro un, die Comicserie von Gébé bei Charlie Hebdo in den siebziger Jahren, und ihre spätere Verfilmung mit Coluche, Depardieu und anderen.

    Der Unterschied zwischen der heutigen Realität und der damaligen (früh)ökologischen Utopie ist allerdings eklatant. Startete die Utopie vom Jahr 01, also dem ersten Jahr des kommenden Jahrtausends, beim Zeichner Gébé (Georges Blondeaux) als eine Initiative von unten – die Leute sagten: „On en a ras-le-bol, wir haben die Schnauze voll, von „métro, boulot, dodo (U-Bahn, Maloche, müde ins Bett), der tagtäglichen, sinnlosen Hetze und Schufterei; „hören wir einfach auf und machen gar nichts mehr, „On arrête tout, „und schauen mal, was dann passiert, „Et voyons voir, qu’est-ce que se passe–, sieht es jetzt mit der sogenannten Corona-Krise doch eher so aus, als beginne das Ganze von ganz oben, sozusagen ex machina, verordnet per Ordre de mufti, quasi vom Staat persönlich, in Gestalt von Kanzlerin, Gesundheits-, Finanz- und Wirtschaftsminister, beraten vom obersten Virologen des Robert-Koch-Instituts, im Auftrag der allerhöchsten Instanz, mit einem ebenso unerbittlichen wie unheimlichen Diktator, einem mal eben so aus China sich herbeigeschlichen habenden viralen Krankheitserreger namens COVID-19, einem Winzling, ja Winzding von Virus, das ab jetzt die Krone auf hat und sich deshalb stolz und majestätisch Corona nennt.

    Gemeinsam ist beiden, der ökolibertären Idee vom Jahr null eins und dem staatlich verordneten totalen „Shutdown" unserer Tage, die offene Frage: Was passiert dann? Tscha, schaun mer mal.

    Dann sehn wir schon? Ob das gut geht? Da darf der gewöhnliche Zeitgenosse getrost skeptisch bleiben.

    Wird uns Die Maske des roten Todes (Edgar Allan Poe) verschonen? Und was kommt dann? Goldene Zeiten? Oder die vier apokalyptischen Reiter? Um konstruktive Vorschläge wird gebeten!

    (24. März 2020)

    Ave Covid, morituri te salutant (2)

    Wir zurzeit situationsgedrungen in halbwegs freiwilliger Quarantäne zu Hause Bleibenden gleichen zwar insofern den Protagonisten der ökolibertären Siebziger-Jahre-Utopie vom L’an zéro un, dem Jahr null eins, dass auch wir so gut wie jede Arbeit im wirtschaftlichen Raum eingestellt haben. Aber bislang zeigt sich kaum jemand geneigt, sich erfreut über das vorläufige Ende des Arbeitslebens im Sessel zurückzulehnen oder, wie die Nulleinser-Arbeitsverweigerer der Utopie, nun in den damals seltsam modischen blauen Latzhosen auf grünen Wiesen herumzustreunen mit einer Margerite zwischen den Zähnen, und fröhlich vor sich hin zu grinsen. Vor allem, wenn ihm jemand begegnet, der anscheinend noch nicht gemerkt hat, was die Stunde geschlagen hat, und offensichtlich noch in irgendwelche Vor-Corona-Arbeits-, Konsum- und sonstige Stresszusammenhänge verwickelt ist.

    Dennoch verhilft uns die öffentlich verordnete komplette gesellschaftliche Arbeitspause zu (wer weiß) genügend Zeit, darüber nachzudenken, was denn überhaupt unbedingt produziert und gearbeitet werden muss, wie das die Nulleinser nach dem Totalstopp der Arbeitstretmühle in der Utopie als Hauptbetätigung neben dem Latzhosentragen und Mit-Blumen-im-Mund-in-freier-Natur-Umherschlendern sich angelegen sein lassen.

    Sehr weit sind wir in unserer öffentlichen Diskussion über solche Fragen bislang noch nicht vorgedrungen. Immerhin ist fast allen deutlich geworden, dass in Zukunft unsere wirtschaftlichen Prioritäten etwas anders gesetzt werden müssen. Das betrifft vor allem die Beschäftigten im Gesundheitswesen und in der Pflege. Jetzt, da der Mangel in diesen und anderen Bereichen überdeutlich geworden ist. Besser bezahlt werden sollen, heißt es allenthalben, in Zukunft all die, auf deren Leistungen wir, wie wir jetzt erfahren, dringend angewiesen sind. All die bislang mies bis bescheiden Verdienenden in den Pflegeberufen, die Kassierer und Kassiererinnen in den Supermärkten, die Saisonarbeiter in der Landwirtschaft, die Lagerhilfsarbeiter und die Lkw-Fahrer, die Briefträger und Auslieferungsfahrer und was derlei wenig geachtete und sonst auch kaum beachtete Berufsgruppen mehr sind, deren Arbeitsleistung aber nun in der Corona-Krise sich für uns alle unübersehbar als überlebensnotwendig für die Gesellschaft als Ganzes herausstellt.

    Was wir sonst noch in Zukunft an unverzichtbaren gesellschaftlichen Dienstleistungen und an dringend fürs Überleben benötigten Produkten brauchen werden, wird sich erst in einiger Zeit genauer herauskristallisieren. Auch die Frage, was wir überhaupt nicht brauchen, jedenfalls nicht mehr unbedingt brauchen, worauf wir in Zukunft getrost verzichten können, wird sich erst nach und nach beantworten lassen. Aber einiges lässt sich bereits vorab vermuten, wir sollten schon mal anfangen, Listen aufzustellen. Was kann weg, was brauchen wir auf keinen Fall, und was wäre denn im Prinzip wünschenswert, und was nicht? Wie ja auch die Debatte langsam anfangen könnte, wie die Lohn- und Entgeltepalette entsprechend den gesellschaftlichen Prioritäten verändert werden sollte – muss ja nicht gleich so sein, dass unsere wackeren Müllmänner genauso viel verdienen wie die Fußballstars oder dass die Einkommen von Altenpflegern mit den Einkommen und Tantiemen von Topmanagern, Börsenspekulanten, Hedgefonds-Algorithmikern, Wohnungsmaklern, Promianwälten, Spindoktoren und Konzerneigentümern gleichziehen. Aber passieren muss da schon was.

    Aber all das sind Dinge, über die in den nächsten Wochen nachzudenken uns unerwarteterweise etwas Zeit geschenkt worden ist. Nur genau jetzt denken wir erst einmal über anderes nach. Über etwas, das erheblich bedrohlicher ist. Wo uns, wie das alte Sprichwort sagt, das Hemd näher ist als der Rock. Und die große Angst, die uns alle streift, ist die Befürchtung, dieses Hemd könnte sich als unser Totenhemd herausstellen. Doch stellt sich neben diesem uralten Memento mori immer auch die Weisheit des „Carpe diem" als unabweisbar heraus.

    Allerdings: Auch dem stoischsten Vertreter der sarkastischen Fraktion, der seit Langem nach der Devise lebt „Vergnüge dich heute so, als sei es dein letzter Tag, denn wie Epikur sagt, der Tod geht uns nichts an, wenn der kommt, leben wir ja nicht mehr" – diesem überzeugt pessimistischen Optimisten geht, wer hätte es gedacht, trotz der unabweisbar tröstlichen Gewissheit der Steiß gewaltig auf Grundeis, wenn es sich plötzlich herausstellt, dass genau heute das tatsächlich der letzte Tag ist. Und urplötzlich beginnen wir zu verstehen, wie es den Gladiatoren im alten Rom zumute gewesen ist, wenn sie in die Arena einmarschiert sind und dem Caesar das Ave der Morituri zuriefen.

    Wer so wie meine Mitpatientinnen und -patienten und Leidensgenossinnen und -genossen seit Jahr und Tag dreimal die Woche frühmorgens im Foyer des Dialysezentrums darauf wartet, in die Hallen eingelassen zu werden, um dort an die Überlebensmaschinen der Blutwäschedialysatoren für Niereninsuffiziente angeschlossen zu werden, kann nach einiger Zeit ein Liedchen davon singen, wie man mit so einem Lebensgefühl auf Dauer umzugehen lernt.

    (31. März 2020)

    Ave Covid, moribundi te salutant (3)

    Wir lagen vor Madagaskar

    und hatten die Pest an Bord.

    In den Kesseln, da faulte das Wasser,

    und täglich ging einer über Bord.

    Die gegenwärtige Situation allgemeiner Lähmung angesichts der Bedrohung durch die Corona-Pandemie ist nicht so einzigartig, wie sie uns Zeitgenossen zunächst erscheinen mag. Die Denkpause, die uns der weitgehende Shutdown fast aller wirtschaftlichen Aktivität und das Stillhalten in der staatlich verordneten häuslichen Quarantäne gnädigerweise vergönnt, legt nahe, über vergleichbare historische Ereignisse nachzudenken. Der französische Präsident Macron, der wegen seiner Kriegsrhetorik –„Nous sommes en guerre" – vielfach der Übertreibung bezichtigt wird, hat in gewisser Hinsicht gar nicht so unrecht.

    Die allgemeine Mobilmachung zu Beginn großer Kriege hat zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht mit der gegenwärtigen Lage einiges gemeinsam – auch wenn es eher nach einer Demobilisierung aussieht, bedeutet die massenhafte häusliche Quarantäne doch, dass ein Großteil der in der Wirtschaft Beschäftigten ausfällt; Produktion, Handel und Dienstleitungen kommen in weiten Bereichen zum Stillstand. So wie die Autoindustrie, die zurzeit kaum Fahrzeuge verkaufen kann, ihre Produktion auf die Herstellung von Atemgeräten und Gesichtsmasken umzustellen beginnt, wird generell in Kriegszeiten auf die Produktion von Granaten und Kanonen umgerüstet, und ähnlich wie jetzt die zuvor unter Arbeitsverbot gestellten Asylbewerber und noch nicht anerkannten Kriegsflüchtlinge bei den unter Hilfsarbeitermangel leidenden Bauern als Helfer in der Spargelernte einspringen müssen, sind im Ersten und Zweiten Weltkrieg plötzlich die Frauen gefragt gewesen, die in den Waffenfabriken an die Fließbänder mussten.

    Klar, bei der Corona-Pandemie wird es nicht darauf ankommen, dass sich die zur Armee einberufenen Männer mit der Waffe in der Hand um das Massakrieren anderer Soldaten „verdient machen sollen, um anschließend als „Helden der Nation gefeiert zu werden. Heldenhaft, da sind sich alle einig, ist zurzeit der Einsatz des Medizinpersonals, und zwar bei der Rettung von Menschenleben, was einen Unterschied ums Ganze macht. Ähnlich wie im Kriegsfall ist allerdings die allgemeine Furcht, und zwar so gut wie aller, um ihr eigenes Leben, oder wenigstens um das ihrer Angehörigen.

    Wenn wir also nach ähnlichen gesellschaftlichen Befindlichkeiten in der Vergangenheit suchen, müssen wir nicht bloß an Seuchenjahre wie die Zeiten der Spanischen Grippe um 1919 oder die Kinderlähmungsepidemie in den fünfziger Jahren denken. Auf der Suche nach Beschreibungen dieser Befindlichkeiten angesichts einer allgemeinen tödlichen Bedrohung müssen wir nicht auf Camus’ Pest, das Dekameron, die Maske des roten Todes von Edgar Allan Poe, Thomas Manns Zauberberg oder ähnliche Literatur zurückgreifen, wir werden auch in der reichlichen Literatur fündig, die in den zwanziger und den fünfziger Jahren versuchte, die „Kriegserfahrungen", wie man das beschönigend nannte, halbwegs literarisch zu verarbeiten.

    Albert Camus’ Roman Die Pest von 1946/47 kann man als realistischen Report lesen über die Quarantäne einer ganzen Stadt, des algerischen Oran, über eine anscheinend endlos dauernde, wahllos und zahllos die Menschen dieser Stadt hinraffende Seuche. Zwischen den Zeilen dieses Romans jedoch drängt sich dem Leser unwillkürlich eine Ahnung davon auf, dass es dem Autor dabei mehr um die Verarbeitung der gerade erst überstandenen Phase der Besetzung Frankreichs durch mordwütige deutsche Truppen geht und das Lebensgefühl, das die Lage der französischen Intellektuellen in dieser Zeit bestimmt, die in der Résistance engagiert sind und praktisch Tag für Tag um ihr Leben fürchten müssen, weil sie damit rechnen, dass es morgens um fünf bei ihnen klingelt und es nicht der Milchmann ist.

    Die Philosophie dieser Zeit ist denn auch nicht unerwartet der Existentialismus, der im Hauptwerk seines Erfinders, Martin Heidegger, mit dem leicht größenwahnsinnig anmutenden Titel Sein und Zeit mit der Behauptung beginnt, die Hauptfrage, vor der sich alle drückten, sei die nach dem bevorstehenden Tod. Eine Sicht der Welt, die allerdings verständlich ist, wenn man bedenkt, dass die Generation der zwanziger Jahre ihre Jugend in den Schützengräben vor Verdun verbracht hat. Täglich den eigenen Tod vor Augen.

    „Nous sommes en guerre, sagt der französische Präsident. Und beschreibt damit recht präzise die Angststarre, die unsere Gesellschaft zurzeit angesichts der Corona-Pandemie erfasst hat. Und vergisst dabei, dass die tatsächlich akut vom Sterben infolge der Seuche bedrohten Bevölkerungsgruppen, also die über Achtzigjährigen und die an mehrfachen Vorerkrankungen Leidenden, sich auch ohne die derzeitige Bedrohung durch Corona schon lange in diesem Zustand befinden, gewissermaßen „Tote auf Abruf zu sein.

    Das, so dekretiert es der Existentialismus, sei generell die „Condition humaine". Eine Auffassung vom Leben, die sich als posttraumatische Wahnidee, nach den Schrecken und Grausamkeiten des Massensterbens und -tötens, als bleibende Verrücktheit der Überlebenden der Kriegsschlächtereien durchaus verstehen lässt. Aber übernehmen müssen wir diese pessimistische Sicht auf die Welt und unser Leben wahrlich nicht, und das macht auch den Unterschied aus zwischen verstehen und Verständnis zeigen.

    Wie gehen wir mit der sogenannten Corona-Krise um? Was kommt danach? Wir werden über den Tod der an der Corona-Seuche sterbenden Morituri trauern müssen, auch wenn wir wissen, dass sie ohnehin, auch ohne Seuche, in den nächsten drei Jahrzehnten gestorben wären. Und wir sie in diesen zehn, zwanzig, dreißig Jahren nicht mehr werden verlieren können, da sie ja dann längst tot sind. Aber über die sinkenden Sterberaten der nächsten Jahrzehnte, darüber redet verständlicherweise in der gegenwärtigen Situation niemand – wozu auch?

    (2. April 2020)

    Ave Covid, morituri te salutant (4)

    Grundgesetz – auf Grund gesetzt?

    Wie viele Grundrechte dank Corona kurz- oder mittelfristig mal eben so außer Kraft gesetzt werden, ist schon beeindruckend. Reisefreiheit, Versammlungsfreiheit, Gewerbefreiheit, Freiheit der Berufsausübung, all diese Dinge, die wir gewöhnlich für selbstverständlich halten, sind – vorübergehend? – eingeschränkt. Wenn nicht gar völlig eliminiert. Angeblich zugunsten des Rechts auf Leben. Das, so heißt es, werde wohl ein jeder einsehen. Common Sense, oder – wie die irreführende deutsche Version lautet – der gesunde Menschenverstand. Als ob es einen ungesunden Menschenverstand gäbe. Den sollten wir dann lieber – ehrlicherweise – Schwarmdummheit nennen.

    Irgendwer hat in den letzten Wochen erklärt, wir würden uns noch wundern, welche Kompetenzen den Regierenden für den Fall eines Ausnahmezustands vom Gesetz her eingeräumt würden – da seien die alten Notstandsgesetze, gegen die es 1968 reichlich Opposition gegeben habe, ein Kinkerlitzchen gewesen. Zu verdanken hätten wir diese extrem weit gehenden Möglichkeiten zur Einschränkung des Grundgesetzes ausgerechnet unserm ach so korrekten, linken Ex-„RAF-Anwalt" Otto Schily, der als sozialdemokratischer Innenminister in der rot-grünen Regierungszeit gezeigt habe, wozu ein echter Preuße in der Lage ist. Er habe still und heimlich in rasantem Tempo, ohne dass die Öffentlichkeit größer davon Notiz genommen hätte, im Schnellverfahren die entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen zur Quasiabschaffung des Grundgesetzes in Notstandszeiten via Parlament und Bundesrat durchgeboxt. Und was das alles beinhalte, das könnten wir jetzt angesichts des Corona-Ausnahmezustands gleichsam hautnah erleben.

    Nehmen wir zum Beispiel die Versammlungsfreiheit. Wenn bei dem jetzigen wunderschön sonnigen Frühjahrswetter in der Osterzeit mehr als zwei Personen zusammen an der frischen Luft im Park wandeln oder sonst wo in der „Öffentlichkeit (falls man davon überhaupt noch sprechen kann, wo doch kaum noch etwas offen ist – da kann Hölderlin noch so freundlich mahnen „Komm! ins Offene), dann ist das bereits ein Fall für die Polizei. Und ein Strafgeld ist fällig.

    In meiner Erinnerung habe ich so etwas nur einmal erlebt, im Sommer 1968 in Paris, im Quartier Latin. Unten am Ende des Boul’Mich, des Boulevard Saint-Michel, am Rand der Seine, wo an der Kaimauer sonst die Bouquinisten auf die Touristen oder diverse Liebhaber antiquarischer Bücher und Zeitschriften warten, standen die vielen jungen sonntäglichen Flaneure auffälligerweise immer nur zu zweit auf dem Platz vor dem Brunnen des heiligen Michael herum. Einem Brunnen, in dem laut einer Mutmaßung der Satirezeitschrift, die damals noch (L’Hebdo) Hara-Kiri hieß (bis sie wegen der Schlagzeile „Bal tragique à Colombey – 1 mort" zu de Gaulles Tod verboten wurde und prompt eine Woche später als Charlie Hebdo wieder erschien), wohl der Goldschatz der französischen Republik versteckt sein müsse. Denn er war derart militärisch gesichert, dass tatsächlich mehrere hochbewaffnete Hundertschaften der Bürgerkriegstruppe CRS (Compagnies Républicains de Sécurité) aufmarschiert waren.

    Ähnlich bewacht werden muss offensichtlich dieser Tage der Osterspaziergang – vom Eise befreit und schon von Corona bedroht. Allerdings betrifft es diesmal kein abgegrenztes Terrain, wie 1968 das Quartier Latin in Paris, sondern das ganze Land. Beziehungsweise den ganzen Kontinent und mehr. Auslöser ist überdies heutzutage keineswegs ein Aufstand der Bevölkerung oder ein von den Werktätigen organisierter Generalstreik, der das gesamte Land so gut wie komplett lahmlegt, sondern schlicht Angst. Die kein guter Ratgeber sein soll. „Ick bin de arme Kunrad, hieß es in den Zeiten, die zum Bauernkrieg des 16. Jahrhunderts führen sollten, „un wiss mir kun Rat. Angst, Furcht, Ratlosigkeit. Furchtbare Zeiten.

    (5. April 2020)

    Ave Covid, morituri te salutant (5)

    Take it diseasy

    (but take it!)

    Was wir für neue Vokabeln lernen. Nosokomial zum Beispiel. Eine Nosokomie ist laut dem Pschyrembel eine im Krankenhaus erworbene Infektion. Experten (wunderliche Wesen, äh, Weise) weisen darauf hin, dass diese Nosokomie – ähnlich wie die fatalen multiresistenten Krankenhauskeime, an denen jährlich Tausende von Krankenhauspatienten sterben – während der Corona-Pandemie zunehmend an Bedeutung gewinnen wird, eine Bildung von „Clustern" wie auch in Altenheimen bewirken könnte. Cluster, noch so ein neues Modewort, das bislang überwiegend positiv konnotiert benutzt wurde – eine erfreulich enge Zusammenarbeit im wissenschaftlichen oder industriellen Bereich meinend. Nun also Cluster auch im Zusammenhang mit Seuchenherden.

    Unsere Dialysezentren sind um die Vorsorge vor ansteckenden Keimen und anderen Krankheitserregern ebenso besorgte wie erfahrene Einrichtungen. Hat man es hier doch täglich mit Patienten zu tun, denen mit Nadeln in den Arm gepikt wird, um kontinuierlich einen halben Liter Blut zwecks Reinigung aus ihrem Körper heraus in die Dialysemaschine zu pumpen und anschließend wieder zurück. Dass deshalb hier besonders auf Hygiene geachtet werden muss, ist überlebensnotwendig für die Patienten. Aber auch die Pfleger und Ärzte müssen darauf achten, sich nicht anzustecken, denn eine Weiteransteckung ihrer Patienten könnte sich für diese letal auswirken – letal, oder Letalität, eine freundliche medizinische Bezeichnung für einen höchst tödlichen Ausgang.

    Insofern bilden die Dialysezentren ähnlich wie Intensivstationen in den Krankenhäusern ein anschauliches Beispiel dafür, was der angesichts der COVID-19-Bedrohung besonders gefährdete Teil der Bevölkerung zu erwarten hat: Dann, wenn die angekündigte „Lockerung oder gar „Befreiung der Restbevölkerung von der allgemeinen Quarantäneanordnung endlich stattfindet, der „Lockdown" – der die Wirtschaft insgesamt lähmende und die meisten Klein- und Mittelbetriebe wie die kulturellen Einzelkämpfer (Scheinselbstständigen) der Insolvenz entgegentreibende Stillstand – wie dringlich erwartet endlich ein Ende findet. (Ende ungut, alles ungut.)

    Die Pflegerinnen und Pfleger, Ärztinnen und Ärzte unseres Dialysezentrums tragen schon seit zwei Wochen Schutzmasken, unseren Taxifahrern wurde verordnet, immer nur noch einen Patienten pro Fahrt zu transportieren und diesen lonely Fahrgast hinten sitzen zu lassen. Vermutlich, um einer der Nosokomie ähnlichen Transporto- alias Taxikomie vorzubeugen. Bei uns Patienten haben diese Maßnahmen dazu beigetragen, unsere krankheitsbedingt ohnehin ausgeprägte Nosophobie (krankhafte Angst, krank zu werden) in ungeahnte Höhen zu katapultieren. Bevor diese explosionsartige Erhöhung des Panikniveaus zu einer ausweglosen Selbstisolation führen kann (wie beim Altersmilliardär Howard Hughes, der sich in einem allen Fremden unzugänglichen Stockwerk eines seiner Hotelhochhäuser in Las Vegas einsam die Fingernägel auswachsen ließ wie ein chinesischer Mandarin und im eigenen Heimkino permanent die von ihm produzierten Spielfilme anschaute, dank Demenz immer wieder völlig neue, spannende Reißer, meist mit John Wayne oder ähnlichen Hollywood-Heroen, meist auch mit Happy End), hat die Dialysezentrumsbetreiberzentrale gestern nun an uns Patienten jeweils eine hochwertige, waschbare Mund- und Nasenschutzmaske verteilen lassen. Mit der Maßgabe, ab jetzt gelte für die Dialysezeit wie für den Hin- und Rücktransport Maskenpflicht. Überdies seien die Masken zweimal wöchentlich bei 60 Grad zu waschen; wie man das mit nur einer Maske bewerkstelligen soll, blieb unerwähnt.

    Immerhin Gratismasken. Schutzmasken waren in den letzten Wochen echte Mangelware, ähnlich wie Desinfektionsspray oder wie, völlig überraschend, auch Klopapier. Welche Kollateralschäden die Corona-Krise noch alles im Gepäck hat, werden die nächsten Wochen zeigen. Unerwartete Details werden fehlen, vielleicht wird es Engpässe bei so was wie den kleinen Schläuchen für den Sauerstoffzufluss der Intensivpatienten geben, oder bei den Druckerpatronen für das Homeoffice, oder man glaubt es kaum, ausgerechnet bei den Staubsaugerbeuteln.

    Aber die armen, am Ende oder genauer gesagt am Anfang der Billigkonfektionslieferkette sitzenden, dank Auftragsstaus der Modehäuser von der plötzlichen Arbeitslosigkeit bedrohten Näherinnen in Indien, Bangladesch und anderswo werden aufatmen. Wenn endlich die Bestellungen aus den reichen westlichen Nationen kommen, massenhaft solche Gesichtsmasken herzustellen, die in den letzten Wochen in unseren Breiten zu milden Gaben geworden sind, von mitmenschlich denkenden Nachbarn, Freunden oder Verwandten in Fünferpacks in unsere Briefkästen geworfen, in Sorge wegen der besonderen Gefährdung der

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