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Das Blut der Opfer
Das Blut der Opfer
Das Blut der Opfer
eBook472 Seiten6 Stunden

Das Blut der Opfer

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Über dieses E-Book

Einen Toten erkennt Detective Inspector Tom Thorne sofort, und das Foto auf seinem Handy ist eindeutig das einer Leiche. Nur wer ist dieser Mann, und warum hat man Thorne dieses Bild zugeschickt? Weitere Todesnachrichten folgen, und die Spur führt zu einem erst kürzlich entlassenen Häftling. Dessen Familie wurde durch einen angeblichen Autounfall getötet. Doch daran glaubt er nicht – er will Rache. Und Thorne weiß, dass es keinen gefährlicheren Killer gibt, als einen, der nichts zu verlieren hat …
SpracheDeutsch
HerausgeberJentas
Erscheinungsdatum22. Dez. 2021
ISBN9788742820308

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    Buchvorschau

    Das Blut der Opfer - Mark Billingham

    Das Blut der Opfer

    Das Blut der Opfer

    Das Blut der Opfer

    © Mark Billingham 2007

    © Deutsch: Jentas A/S 2021

    Serie: Tom Thorne

    Titel: Das Blut der Opfer

    Teil: 7

    Originaltitel: Death Message

    Übersetzer: Isabella Bruckmaier

    © Übersetzung : Jentas A/S

    ISBN: 978-87-428-2030-8

    Tom Thorne

    #1 – Der Kuss des Sandmanns

    #2 – Die Tränen des Mörders

    #3 – Die Blumen des Todes

    #4 – Blutzeichen

    #5 – In der Stunde des Todes

    #6 – Die Geliebte des Mörders

    #7 – Das Blut der Opfer

    #8 – Die Schuld des Blutes

    –––

    Für Claire —

    wie alle anderen auch

    Die Rache triumphiert über den Tod;

    die Liebe verachtet ihn.

    Francis Bacon

    Prolog

    Als er sie sah, wusste er sofort, das waren Bullen. Aber irgendwie wirkten sie so förmlich und steif, so merkwürdig verkrampft, dass es ihn tief in die Magengrube traf, ihm den Atem raubte, als er sich in den angebotenen Sessel fallen ließ.

    Er sammelte den Speichel in seinem trockenen Mund und schluckte ihn hinunter, sah den beiden zu, wie sie vergeblich versuchten, locker zu wirken. Wie sie sich räusperten und ihre Stühle etwas näher rückten.

    Bei dem Geräusch zuckten sie alle drei zusammen. Dieses furchtbare Kratzen und der Hall.

    Sie schauten, als wären sie gegen ihren Willen in diesem Raum gelandet. Wie Schauspieler im falschen Stück. Die beiden taten ihm beinahe leid, als sie Blicke wechselten und er spürte, wie der Schrei sich tief in ihm aufzubauen begann.

    Die Polizisten stellten sich vor. Der Mann — der Kleinere von den beiden — machte den Anfang, gefolgt von seiner Kollegin. Die beiden legten Wert darauf, ihm ihre Vornamen zu nennen, als wäre das eine Hilfe.

    »Es tut mir leid, Marcus, wir haben schlechte Nachrichten.«

    Er achtete nicht auf die Namen, nicht wirklich, starrte nur auf die Köpfe, registrierte Details, an die er sich bestimmt noch lange erinnern würde: einen schmuddeligen Kragen, das feine Adernetz auf einer Säufernase, gefärbte Haare und die schwarz nachwachsenden Haarwurzeln.

    »Angie«, sagte er. »Es geht um Angie, stimmt‘s?«

    »Es tut mir leid.«

    »Sagen Sie es mir.«

    »Es gab einen Unfall.«

    »Einen schlimmen ...«

    »Das Auto bremste nicht.«

    Und während er zusah, wie ihre Lippen die Worte formten, erhob sich über den Lärm in seinem Kopf ein einziger banaler Gedanke, wie eine ferne Stimme, die trotz des Rauschens des schlecht eingestellten Radiosenders gerade noch hörbar war.

    Deshalb haben sie die Frau geschickt. Weil Frauen angeblich einfühlsamer sind. Oder weil sie glauben, ich breche dann vielleicht nicht zusammen oder werde hysterisch ...

    »Was war mit dem Auto?«, fragte er.

    Der Polizist nickte, als hätte er diese Frage erwartet und fühlte sich bei der Beantwortung technischer Fragen wohler. »Wir glauben, der Fahrer fuhr über die Ampel und konnte nicht mehr rechtzeitig vor dem Zebrastreifen bremsen. Wahrscheinlich zu viel Alkohol. Wir haben keine besonders gute Beschreibung, aber wir haben Lackspuren.«

    »An Angies Leiche?«

    Der Bulle nickte langsam und holte noch einmal ordentlich Luft. »Wir fanden den Wagen am nächsten Morgen ausgebrannt, ein paar Kilometer von der Unfallstelle entfernt. Wahrscheinlich Hooligans, die sich den Wagen für eine Fahrt gestohlen hatten ...«

    Die Luft im Raum war stickig, es roch nach Farbe. War wohl erst frisch gestrichen worden. Schlaf fiel ihm ein und wie es wohl wäre, nassgeschwitzt aus einem Alptraum aufzuwachen.

    »Wer kümmert sich um Robbie?« Er sah zu dem Mann, als er die Frage stellte. Peter Irgendwas. Der wich seinem Blick aus, und er spürte, wie es ihm die Brust zerriss.

    »Es tut mir leid«, sagte die Frau. »Ihr Sohn war zur Zeit des Unfalls mit Miss Georgiou zusammen. Der Wagen erfasste beide.«

    »Sie wurden noch am Unfallort für tot erklärt.« Der Mann hatte die ganze Zeit die Hände verkrampft, nun spielte er mit seinem Ehering. »Sie mussten nicht lange leiden, verstehen Sie?«

    Er starrte auf den Daumen und den Zeigefinger des Polizisten, die den Ring drehten und drehten. Ihn fröstelte, das Blut gefror ihm in den Adern, die daraufhin unter seiner Haut aufsprangen. Er spürte das Blut zu schwarzem Pulver werden, unter seinen Tattoos und dem gelblichen Fleisch rieseln, als wäre er schon sehr, sehr lange tot.

    »Okay dann«, sagte die Frau und meinte damit: Gott sei Dank, das wär‘s. Können wir jetzt endlich verschwinden?

    Er nickte und meinte: Ja und danke, und verschwindet bitte sofort, bevor ich euch meinen Kopf in das Gesicht ramme — oder gegen die Wand oder den Boden.

    Auf dem Weg zur Tür, wo der Aufseher bereits wartete, schienen sämtliche Sinne kurze Zeit auf Hochtouren zu arbeiten, bevor sie heruntergefahren wurden.

    Die Risse im Anstrich der Ziegelwand taten sich Abgründen gleich auf, und er musste der Versuchung widerstehen, die Finger hineinzustecken. Der Stoff seiner Jeans rieb bei jedem Schritt grob an seinen Beinen. Und das Flüstern der beiden Polizisten auf der anderen Seite des Raums war klar und verständlich — übertönte geradezu ohrenbetäubend den Lärm seiner Schritte und des gurgelnden Wassers in den Heizkörpern.

    »Wann kommt er raus?«

    »In ein paar Wochen, glaub ich.«

    »Dann muss er bei den Beerdigungen wenigstens keine Handschellen tragen ...«

    Erster Teil

    »Senden«

    Erstes Kapitel

    Er glaubte der alten Frau nicht, dass sie das Ass hatte. Tom Thorne ließ sich keine Sekunde lang hinters Licht führen von ihrem Nette-Omi-Lächeln und ihrer Brille, ihrer Zuckerwattefrisur und der adretten Handtasche im Schottenkaro. Auch dem Typen im Smoking mit dem kantigen Kinn, den er vor ein paar Runden mit seinem Bluff hatte auflaufen lassen, glaubte er kein Wort. Ein Zehnerpärchen, mehr hatte der nicht.

    Thorne setzte fünfzehn Dollar. Mit dem Ass, das er auf der Hand hatte, hätte er ein Pärchen. Andererseits lagen drei Herzen auf, und da wollte er denen einen Schuss vor den Bug geben, die auf einen Flush spekulierten.

    Zuerst stieg der Typ im Smoking aus, dann der Kerl mit der Glatze, der die ganze Zeit auf einer dicken Zigarre herumkaute.

    Nur noch Thorne und die alte Lady waren übrig. Sie ließ sich Zeit, legte dann aber doch ihr Blatt weg und überließ ihm die fünfundzwanzig Dollar im Pot.

    Das war die Crux beim Online-Poker. So echt die Spieler wirkten und so gut die Graphik war, es saßen immer dieselben Typen am Tisch. Soweit Thorne informiert war, war die alte Lady mit dem ungemein witzigen Namen Top Bluffa in Wahrheit ein pubertierendes Pickelgesicht aus dem Mittleren Westen Amerikas.

    Thorne, der bei seinem Zocken im Internet als The Kard Kop firmierte, loggte sich seit ein paar Monaten bei Pokerpro.com ein. Es war ein harmloses Vergnügen, nicht mehr. Er hatte genug Opfer der Spielsucht gesehen, um zu wissen, dass einen Zocken ebenso teuer zu stehen kommen konnte wie Heroin und dass die leichte Verfügbarkeit online für Tausende im Lande fatal war. Er konnte damit nach einem langen Tag einfach wunderbar abschalten, nicht mehr. Oder, wie heute Abend, die Zeit totschlagen, während er auf Louise‘ Anruf wartete.

    Er sah auf die Uhr und war überrascht, dass er bereits zweieinhalb Stunden spielte.

    Ein Blick auf die untere Bildschirmleiste sagte ihm, dass er für heute Abend bereits vierzig Dollar im Plus war. Insgesamt bereits zweihundertfünfundsiebzig Dollar. Das war nicht übel, und vermutlich kam ihn das Zocken am Bildschirm, selbst wenn er ab und an verlor, noch immer billiger, als wenn er die Zeit im Royal Oak verbrachte.

    Thorne stand auf und ging zur Stereoanlage. Er nahm die Laura-Cantrell-CD raus, die er gehört hatte, und suchte nach einem passenden Ersatz. Eine halbe oder eine Dreiviertelstunde wollte er noch spielen, bis zwei Uhr. Dann reichte es für heute Nacht.

    Mit DI Louise Porter war er seit Ende Mai zusammen, seit einem Fall, an dem sie gemeinsam gearbeitet hatten. Thorne war ihrem Team bei der Kidnap Investigation Unit zugewiesen worden. Der Mullen-Fall hatte viele das Leben gekostet — und manche vielleicht sogar mehr als das Leben. Da waren Dinge geschehen, die nicht mehr wiedergutzumachen waren. Thorne und Louise waren mindestens so überrascht wie alle anderen, dass dieses Gemetzel für sie etwas Positives gebracht hatte und dass nach fünf Monaten noch immer keine Ermüdungserscheinungen zu erkennen waren.

    Thorne zog eine Waylon-Jennings-Compilation heraus. Er legte die CD ein und nickte im Rhythmus der Gitarre zum Intro von »Only Daddy That‘ll Walk the Line«.

    Es war schon nicht einfach für zwei Polizeibeamte aus verschiedenen Einheiten, überhaupt einigermaßen Zeit füreinander zu finden, aber Louise war überzeugt, dass die Sache eher frisch blieb, wenn man nicht ständig aneinanderklebte. Ihre kleine Wohnung war in Pimlico — ein ordentliches Stück entfernt von Thornes noch kleinerer Wohnung in Kentish Town. Und obwohl sie in der Regel eine oder zwei Nächte in der Woche miteinander in der einen oder anderen Wohnung verbrachten, meinte Louise, es sei gut, dass die beiden Wohnungen so weit voneinander entfernt seien. Gut gegen die Angst, die Unabhängigkeit zu verlieren oder sich in- und auswendig zu kennen. Oder auch nur davor, sich zu langweilen.

    Thorne waren diese Ängste zwar nicht fremd, aber er hatte Louise trotzdem gefragt, ob sie sich nicht vielleicht etwas zu viele Gedanken mache. Nach ein paar Monaten hatten sie im Bengal Lancer einen Kaffee getrunken und sich über die Wohnungssituation unterhalten. Und das hatte bedrohlich nach einer Einsatzbesprechung geklungen. Thorne hatte sich über den Tisch gebeugt, ihr die Hand auf die Finger gelegt und gesagt, sie sollten das etwas lockerer nehmen und ihre Zeit miteinander genießen. Und sich einfach Zeit lassen.

    »Typisch Mann«, hatte Louise gemeint.

    »Wie bitte?«

    »Diese Scheiße von wegen ›locker nehmen‹.«

    Thorne hatte gegrinst und getan, als würde er nicht verstehen, was sie meinte.

    »Es haut mich einfach um, wie Männer keine fünf Minuten für ein Gespräch über ihre Beziehung erübrigen können, aber einen ganzen Tag Zeit finden, ihre CD-Sammlung alphabetisch zu ordnen ...«

    Thorne wusste natürlich, dass Krauss vor Kristofferson kam. Aber ihm war ebenso klar, dass es ihm schon lange nicht mehr so gut gegangen war. So glücklich war er nicht mehr gewesen, seit sein Vater vor zweieinhalb Jahren gestorben war.

    Als Waylon Jennings — der zwischen The Jayhawks und George Jones eingeordnet war — »The Taker« zu singen begann, setzte sich Thorne für ein paar weitere Spiele wieder an den Computer. Er spürte Elvis unter dem Tisch herumstreichen, mit seiner Schnauze an sein Schienbein stupsen, in der Hoffnung auf einen späten Happen — oder ein lachhaft frühes Frühstück.

    Thorne kramte nach dem Katzenfutter und dachte über den König und die Zehn in seiner Hand nach, als sein Handy klingelte.

    »Es tut mir leid«, sagte Louise. »Ich komm jetzt erst weg.«

    Die Kidnap Investigation Unit war zusammen mit anderen Spezialeinheiten bei Scotland Yard untergebracht, das ebenfalls beruhigend weit entfernt von Thornes Morddezernat war, das sich im Peel Centre in Hendon befand. Doch um diese späte Stunde brauchte man wahrscheinlich nur zwanzig Minuten nach Kentish Town.

    »Ich stell schon mal das Wasser auf«, sagte Thorne. In der anschließenden Pause konnte Thorne hören, wie Louise mit den anderen Beamten im Raum scherzte, während sie sich auf den Weg nach unten in die Parkgarage machte.

    »Ich denk, ich fahr heute gleich nach Hause«, sagte sie schließlich.

    »Oh, okay.«

    »Ich bin kaputt.«

    »Ist in Ordnung.«

    »»Verschieben wir‘s auf morgen.«

    »Ich verschieb‘s nicht«, sagte Thorne. »Sieht nur so aus, als wär ich dabei allein.«

    Sie lachte auf, kurz und schmutzig. Ihr Atem ging heftig, und Thorne sah sie vor sich, wie sie schnell ausschritt, um zu ihrem Auto und nach Hause zu kommen. »Ich hätte früher anrufen sollen«, sagte sie. »Aber du weißt ja, wie es ist. Wartest du schon lange?«

    »Kein Problem.« War es auch nicht. Sie hatten beide in letzter Zeit irrsinnig viel gearbeitet, und es hatte jede Menge dieser späten oder frühen Telefonate gegeben.

    »Wie war dein Tag?«

    »So lala.« Wie üblich arbeitete Thorne an einer Handvoll verschiedener Fälle, jeder davon in einem anderen Stadium — von der Leiche, die noch nicht kalt war, bis hin zum Gerichtsfall, der gerade in die heiße Phase kam. Von der Frau, deren Ehemann durchgedreht war und sie und ihre Mutter mit einer leeren Wodkaflasche zu Brei geschlagen hatte, bis hin zu einem pakistanischen Mädchen, das von einem Onkel erwürgt worden war, was verdächtig nach einem Ehrenmord aussah. Und einem jungen Türken, der auf dem Parkplatz vor einem Pub erstochen worden war. »Und du?«, fragte Thorne.

    »Bei uns gab‘s jede Menge zu lachen«, sagte Louise. »Echt super heute, ich hatte eine längere Debatte mit einem der Hauptcrackdealer hier, der keine Anzeige gegen einen anderen Hauptcrackdealer erstatten will. Ich wollte ihm nicht abnehmen, dass er sich selbst eine Woche lang als Geisel gehalten und sich auch die drei Finger selbst abgehackt hatte.«

    »Und wie hat er das erklärt?«

    »Wie‘s aussieht, hat er sich selbst in einem Schuppen eingesperrt und sich gedacht, dann könne er die Zeit nutzen und ein bisschen rumwerkeln. Dabei gab‘s Probleme mit der elektrischen Kettensäge.«

    »Bitte keine voreiligen Schlüsse«, sagte Thorne. »Hat er ein ehrliches Gesicht?« Wieder lautes, dreckiges Lachen. Er hörte ein leichtes Echo, also war sie in der Garage.

    »Du klingst müde«, sagte Louise.

    »Mir geht‘s gut.«

    »Was hast du so getrieben?«

    »Nicht viel. Ich hab mir so einen blöden Film angesehen ... etwas gearbeitet.«

    »Okay.« Die Verbindung war jeden Augenblick weg. Thorne hörte das Klicken, als sie den Wagen mit der Fernbedienung aufsperrte. »Also bis morgen Abend, sicher?«

    »Außer ich wasch mir die Haare«, sagte Thorne.

    »Ich ruf dich zwischendurch an.«

    Thorne sah auf den Bildschirm, als die Fourth Street ausgeteilt wurde. Sah, dass sein König und sein Zehner sich in eine nach oben und unten offene Straße verwandelt hatten. Und eine Karte stand noch aus. »Fahr vorsichtig ...«

    Er ging in die Küche, um sich Tee zu machen, entschuldigte sich bei Elvis, dass er sein Futter vergessen hatte, und schaltete auf dem Weg zum Kühlschrank das Wasser ein. Er griff nach einer Tasse, als das Handy piepte.

    Sicher eine SMS von Louise. Lächelnd drückte er LESEN, und als er den Text las, wurde sein Grinsen noch breiter.

    Ich weiß, dass du Poker spielst.

    Er dachte noch über eine witzige Antwort nach, als es erneut piepte.

    Diesmal stammte die Nachricht nicht von Louise Porter.

    Es war eine Multimedia-Message mit einem Foto. Das Bild war schlecht zu erkennen. Eine Nahaufnahme, von unten nach oben fotografiert. Thorne musste es einen halben Meter weg- und im richtigen Winkel halten. Doch dann wurde ihm klar, was er vor sich hatte.

    Das Gesicht des Mannes füllte den kleinen Bildschirm aus, es war blass und verzerrt.

    Eine dunkle Strähne verdeckte die Wange. Der Mund stand offen, die Lippen waren weiß gesprenkelt, und in der Mundhöhle war die Zunge zu erkennen. Ein Kinn wölbte sich über das andere, beide voll schwarzer und silbriger Bartstoppel, dazwischen eine rote Linie. Das sichtbare Auge war geschlossen. Thorne konnte nicht sagen, ob die Linien über der Braue und der Stirn von der Kameralinse stammten oder nicht.

    Er drückte auf die Tasten, um mehr über die Nachricht zu erfahren. Sah sich Uhrzeit und Datum an, suchte nach Hinweisen über den Sender. Ein Name war nirgends zu entdecken, aber er drückte zweimal die Rückruftaste, um die angegebene Nummer zu wählen.

    Das Telefon am anderen Ende war tot.

    Er sah sich noch einmal das Foto an und spürte seine Halsschlagader pochen. Spürte dieses vertraute, schreckliche Prickeln im Nacken. Es kam häufig vor, dass Thorne das Offensichtliche nicht sah. Aber das hier war, wie immer man es sehen mochte, sein Fachgebiet. Buchhalter kannten sich mit Zahlen aus, und Tom Thorne erkannte eine Leiche, wenn er eine vor sich hatte.

    Er neigte das Display noch einmal leicht, hielt es näher an die Schreibtischlampe. Das Pokerspiel hatte er vergessen. Er starrte auf den dunklen Fleck unter dem Ohr des Mannes. Das war mit Sicherheit keine Haarsträhne. Starrte auf die rote Linie, die in die Falte zwischen dem Doppelkinn lief.

    Das Blut war nicht ausschlaggebend, aber Thorne wusste, wie hoch die Chancen waren, dass jemand einen Freund oder Verwandten fotografierte, dem ein Balken auf den Kopf gefallen oder der die Treppe hinuntergestürzt war.

    Ihm war klar, er blickte auf das Foto eines Mordopfers.

    Zweites Kapitel

    »Haben Sie eine Vorstellung, wie viele Formulare dafür ausgefüllt werden müssten?«

    »Okay. Dann rücken Sie mir was aus der Portokasse raus. Wir haben doch so was wie eine Portokasse?«

    »Ja, und das hieße noch mehr von diesen verdammten Formularen.« Russell Brigstocke nahm die Brille ab und massierte sich mit Zeigefinger und Daumen den Nasenrücken.

    Thorne hob die Hände als Zeichen der Kapitulation. Er wollte nicht noch mehr Unglück auf die Schultern seines DCI laden. »Was soll‘s. Ich zahl es selbst. So ein Zweithandy schadet ja nicht.«

    War ja nur eine Frage gewesen ...

    Es war von Anfang an klar, dass Thorne sein Handy rausrücken musste, um es genau untersuchen zu lassen. Und wie alle anderen war er viel zu abhängig von dem verdammten Ding. Der Gedanke, auch nur kurze Zeit ohne Handy auskommen zu müssen, hatte ihn mit blankem Horror erfüllt. Er hatte auf das Handy auf Brigstockes Schreibtisch gestarrt, als hieße es, sich für immer von einem geliebten Haustier zu verabschieden.

    »Sie könnten das Handy ja behalten und ihnen nur die SIM-Karte geben«, meinte Brigstocke.

    »Und was bringt mir das? Meine ganzen Nummern sind so oder so auf der Karte gespeichert.«

    »Sie wissen nicht, wie man die überspielt?«

    »Was glauben Sie denn?«

    Natürlich hatten sie keine Zeit zum Blödeln. »Besorgen Sie sich doch einfach eins von diesen Prepaid-Dingern«, sagte Brigstocke. »Stellen Sie es auf Rufumleitung ein, und Ihnen entgeht kein Anruf.«

    »Was kosten die?«

    »Keine Ahnung, nicht viel.«

    »Und übernimmt die Abteilung die Kosten?«

    Brigstocke setzte die Brille wieder auf und fuhr sich mit den Fingern durch die dichten schwarzen Haare. Er griff nach Thornes Handy. »Wenn wir dann Ihre Telefonprobleme endgültig geklärt haben ...«

    »Ich würde Sie gern sehen, wie Sie ohne zurechtkommen«, unterbrach ihn Thorne.

    Brigstocke ging nicht weiter auf Thornes spitze Bemerkung ein, sondern betrachtete das Bild auf dem kleinen Display des Nokia-Handys.

    Thorne zog die schwere Lederjacke aus und hängte sie über den Stuhl. Es war kalt gewesen, als er vor eineinhalb Stunden seine Wohnung verlassen hatte, aber nach zehn Minuten im Becke House, in dem kein Fenster zu öffnen und sämtliche Heizungsthermostaten permanent auf »Sahara« gestellt waren, schwitzte er. Draußen blies der Wind gegen die Scheiben. Der November, frisch und aufbrausend, nahm gerade Fahrt auf. Auf den Flachdächern gegenüber wirbelte das Laub wütend durch die Luft.

    »Wahrscheinlich nur ein schlechter Scherz«, meinte Brigstocke.

    Thorne hatte sich dasselbe gesagt, als er das Foto erhielt. Vergebens. Und es nun aus dem Mund eines anderen zu hören, das überzeugte ihn genauso wenig. »Das ist keine Wachspuppe«, sagte er.

    »Vielleicht ein Foto von einer dieser durchgeknallten Webseiten? Da draußen gibt es die seltsamsten Sachen.«

    »Vielleicht. Aber irgendetwas steckt hier dahinter.«

    »Womöglich war es nur die falsche Nummer?«

    »Ziemlicher Zufall wär das. Ungefähr so, als ob ein Klempner aus Versehen das Foto von einem kaputten Absperrhahn zugeschickt bekommt.«

    Brigstocke hielt das Handy dicht an sein Gesicht, neigte es ein bisschen, um das Licht besser einzufangen. Er sprach mehr zu sich selbst als zu Thorne, als er sagte: »Das Blut ist noch nicht trocken. Wir müssen davon ausgehen, dass er noch nicht lange tot ist.«

    Thorne dachte noch immer über Zufälle nach. Sie hatten in einigen Fällen der letzten Jahre eine Rolle gespielt, und er hatte sie nie leichtfertig von der Hand gewiesen. Aber hier, das spürte er, steckte mehr Organisation dahinter.

    »Das ist kein Zufall, Russell. Das ist eine Botschaft.«

    Brigstocke legte das Handy sachte beiseite, beinahe so, als müsste er dem noch nicht identifizierten Toten Respekt erweisen. Er wusste, dass Thorne mit seinem Bauchgefühl mindestens so oft dramatisch danebenlag, wie er damit recht hatte. Aber er wusste auch, dass eine Auseinandersetzung mit diesen Eingebungen Kopfschmerzen geradezu provozierte und die Wahrscheinlichkeit eines Magengeschwürs beträchtlich erhöhte. Es sprach wirklich nichts dafür, Thorne in diesem Punkt zu widersprechen. »Wir geben das hier an die Jungs von der Technik. Mal sehen, wie weit die mit dem Foto kommen. Und jemand soll sich mit der Telefongesellschaft in Verbindung setzen.«

    »Kann das nicht Dave Holland erledigen?«

    »Ich bin sicher, der reißt sich nur zu gern los von dem Imlach-Papierkram.«

    Darren Anthony Imlach. Der Mann, der sich vor Gericht dafür verantworten musste, seine Frau und seine Schwiegermutter mit einer Wodkaflasche umgebracht zu haben. Das hatte ihm den Namen »Smirnoff-Mörder« eingebracht. So nannten ihn diese Revolverblätter, deren Nippelquote sich noch immer im zweistelligen Bereich bewegte.

    »Dave versteht sich darauf, die Leute zum Reden zu bringen, wenn‘s schnell gehen muss. Spart uns vielleicht ein paar Stunden Formulareausfüllen.«

    »Hört sich gut an«, meinte Brigstocke. Er klopfte mit dem Zeigefinger auf das Handy. »Warum kümmern Sie sich nicht darum, ob wir irgendwo eine Leiche haben, zu der dieses Gesicht passt?«

    Thorne war bereits auf den Beinen und griff nach seiner Jacke. »Ich logg mich gleich ein.«

    »Hat Kitson mit Ihnen über den Sedat-Fall gesprochen?«

    Thorne, bereits an der Tür, drehte sich noch einmal um. »Ich hab sie noch nicht gesehen.«

    »Wie auch immer. Sie wird Sie aufs Laufende bringen. Wir haben ein Messer gefunden. Lag in einem Abfalleimer gegenüber vom Queen‘s Arms.«

    »Fingerabdrücke?«

    »Hab ich nicht gehört. Würde mich aber wundern. Das Messer lag zwischen Zigarettenkippen, Bierresten und Dreck. Kebabreste ...«

    »Vielleicht der richtige Moment, die Jungs von S&O hinzuzuziehen.«

    »Die sollen sich verpissen«, sagte Brigstocke.

    Die Serious and Organised Crime Unit, die sich, wie ihr Name sagte, um das organisierte Verbrechen kümmerte, war der Ansicht, dass der drei Tage zurückliegende Mord an Deniz Sedat mit der Tatsache zusammenhing, dass das Opfer Mitglied einer türkischen Gang war. Sedat, der von seiner Freundin vor einem Pub in Finsbury Park gefunden wurde, als er verblutete, war keine große Nummer. Aber sein Name war bei Ermittlungen im aufstrebenden Heroinhandel des Londoner Nordens immer wieder mal aufgetaucht. Und das Team von S&O hatte sofort die Ellbogen ausgefahren.

    »Richtig organisiert, wie die sich hier breitmachen«, hatte sich Brigstocke gestern beschwert. »Aber wenn sie das Spiel so spielen wollen ...«

    Thorne hatte in dieser Hinsicht bereits seine Erfahrungen gesammelt, sowohl mit S&O als auch mit einigen türkischen Banden, mit denen sie es hier zu tun hatten. Er hatte seine Gründe — persönliche Gründe —, ihnen lieber nicht schon wieder zu sehr auf den Pelz zu rücken. Und in Anbetracht dieser Sachlage sprach es durchaus für den DCI, dass er sich nicht rumschubsen lassen wollte. Außerdem kannte Thorne seinen Chef gut genug, um zu wissen, dass es ihm hier nicht darum ging, wer weiter pinkeln konnte. Wie Thorne gehörte er zu den Bullen, die einen Mord nicht als Bedrohung für ihre Aufklärungsrate sahen, sondern als Fall, den sie lösen wollten. Wenn ein Fall nach drei Wochen Ermittlung eiskalt war, war Brigstocke so übel drauf wie alle anderen, aber wenn ein neuer Fall hereinkam, dann wusste er, dass er es den Betroffenen, ob tot oder lebendig, schuldig war, sich mit seinem Team ins Zeug zu legen.

    Allmählich begann sich bei Thorne der Gedanke festzusetzen, dass er sein eigenes Mordopfer bekommen hatte, auf das man — mit voller Absicht — seine Aufmerksamkeit gelenkt hatte und für das er nun alles geben musste.

    Für den Moment wollte er nicht zu viel über den Mörder nachdenken. Über den Mann oder die Frau, von dem oder der diese Nachricht vermutlich stammte.

    Im Augenblick wusste er nur, dass der Mann auf dem Foto tot war.

    Thorne musste ihn nur noch finden.

    Die Berichte der Beamten aus den diversen Homicide Assessment Teams, die stets die Ersten vor Ort waren, waren inzwischen sicher bereits in der Zentrale von Scotland Yard eingegangen. Zumindest für die Schicht von 23 Uhr bis 7 Uhr morgens. Und die Zentrale veröffentlichte täglich eine Übersicht, auf die jeder Kriminalbeamte Zugriff hatte. Der Bericht enthielt sämtliche ungeklärten Todesfälle — oder lebensgefährlichen Verletzungen — inklusive Schussverletzungen, Vergewaltigungen, Vermisster oder sonstiger Vorkommnisse aus dem Großraum London.

    Name und Adresse des Opfers, falls vorhanden, und die Details in Kürze. Todesursache, falls diese offensichtlich war. Name des zuständigen Beamten, falls der Fall einem Team zugewiesen wurde.

    Thorne suchte sich einen freien Schreibtisch in dem Großraumbüro der Einsatzteams und loggte sich ein. Er las die E-Mail, durchforstete die Morde der letzten Nacht nach passenden Details. Der Rekord für eine Nacht — ausgenommen Terroranschläge — lag bei elf Morden. Das war eine Nacht vor ein paar Jahren gewesen, als neben zwei Familienstreitigkeiten und einem Handgemenge in einem Pub, die tödlich ausgegangen waren, auch noch Schüsse auf Partybesucher in Ealing abgefeuert wurden, eine Wohnung in Harlesden abgefackelt wurde und eine Gang auf der Suche nach Geld für Crack sämtliche Mitarbeiter in einem Minicab-Büro in Stockwell niedergemetzelt hatte.

    Wie vorherzusehen war, forderten viele, die Polizisten der Met müssten sich schon etwas stärker ins Zeug legen, wenn sie gemäß ihrem Motto »Working for a safer London« wirklich für ein sicheres London arbeiteten. Und das, obwohl eine Menge Leute, Tom Thorne eingeschlossen, sich in den Wochen danach den Arsch aufrissen.

    Er überflog den Bericht.

    Drei Tote waren viel für Dienstagnacht.

    Er suchte nach »dunklen Haaren«, »Kopfverletzung« — Details, die zu dem Foto auf seinem Handy passten. Der einzige Eintrag, der annähernd in Frage kam, war ein ermordeter Barkeeper aus dem West End: ein Weißer, der auf dem Weg nach Hause in einer Gasse hinter dem Holborn-Bahnhof mit einem halben Ziegelstein erschlagen wurde.

    Allerdings nur annähernd. Das Opfer war laut Bericht Mitte zwanzig, und obwohl der Tod oft sogar mit den frischesten Gesichtern merkwürdige Dinge anstellt, war der Mann auf dem Foto sicher älter.

    Thorne hörte am Schreibtisch in seinem Rücken DS Samir Karim und DC Andy Stone arbeiten. Auch wenn »arbeiten« in diesem Fall bedeutete, dass die beiden sich über eine Kollegin von der Polizeiwache in Colindale unterhielten, die Stone bequatscht hatte, sich mit ihm auf einen Drink zu treffen. Thorne loggte sich aus dem Bericht aus und sagte, ohne sich umzudrehen: »Offensichtlich handelt es sich hier um einen Fall von positiver Diskriminierung. «

    »Wie bitte?«, fragte Stone.

    »Dass die in Colindale jetzt bevorzugt blinde Polizistinnen einstellen.«

    Karim lachte noch immer, als er und Stone hinter Thorne traten.

    »Hab von Ihrem heimlichen Verehrer gehört«, sagte Stone. »Normalerweise schickt man ja Blumen.«

    Karim ordnete die Unterlagen auf seinem Schreibtisch. »Wahrscheinlich verläuft die Sache im Sande.«

    »Genau. Inzwischen bekommt man so viel Scheiße aufs Handy. Ich krieg jede Woche unaufgefordert Unmengen an Upgrades, Klingeltönen und was es da noch gibt. Spiele ...«

    Thorne sah auf zu Stone, als wäre der DC so unendlich beschränkt wie diese Bemerkung. »Und sind viele Nachrichten dabei mit Leichenfotos im Anhang?«

    »Ich mein ja nur.«

    Karim und Stone wippten auf den Fersen wie drittklassige Kabarettisten, die vergessen hatten, wer mit dem Text dran war. Sie waren ein kurioses Paar: Stone, groß, dunkel und gut angezogen; Karim, grauhaarig und untersetzt, in einem schlecht sitzenden Sakko, wie ein Sportlehrer, der sich für den Elternabend in Schale geworfen hat. Thorne mochte sie beide, obwohl Karim in seiner Funktion als Büroleiter nerven konnte, wenn er wollte, und Stone nicht gerade der gewissenhafteste Bulle war. Vor etwa einem Jahr war ein junger Polizist, der sich noch in der Ausbildung befand und der ihm als Partner zugewiesen worden war, erstochen worden. Stone war deshalb zwar nicht offiziell getadelt worden, aber nicht wenige fanden, Schuldgefühle wären das Mindeste, womit Andy Stone dafür hätte büßen müssen.

    »Könnt ihr nicht jemand anders finden, den ihr nerven könnt?«, fragte Thorne.

    Nachdem die beiden verschwunden waren, ging er durch den schmalen Gang, der um die Einsatzzentrale führte, in den kleinen, als Büro ungeeigneten Raum, den er sich mit DI Yvonne Kitson teilte. Er verbrachte zehn Minuten damit, diverse Memos und Newsletter unter »P« für »Papierkorb« abzulegen, und blätterte die neueste Ausgabe der Polizeizeitung, The Job, nach Fotos von Leuten durch, die er kannte.

    Er schaute gerade gebannt auf ein Foto von Detective Sergeant Dave Holland, wie er bei irgendeinem Polizeisportereignis eine Trophäe überreicht bekam, als dieser leibhaftig in der Tür erschien. Ungläubig las Thorne schnell die paar Absätze zu Ende, bevor Holland sich auf den Stuhl hinter Kitsons Schreibtisch setzte.

    »Tischtennis!«, fragte Thorne und schwenkte das Blatt.

    Holland zuckte mit den Schultern und konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Auch Thorne grinste breit. »Das schnellste Ballspiel der Welt«, meinte Holland.

    »Stimmt nicht«, widersprach Thorne.

    Holland wartete.

    »Jai Alai«, sagte Thorne.

    »Jai was?«

    »Auch unter dem Namen Pelota bekannt. Der Ball erreicht dabei Geschwindigkeiten von bis zu dreihundert Kilometer in der Stunde. Auch ein Golfball ist schneller. Zweihundertsiebzig Kilometer ab dem Tee.«

    »Die Tatsache, dass Sie diesen Scheiß wissen, jagt mir regelrecht Angst ein«, antwortete Holland.

    »Der alte Herr.«

    Holland nickte, er verstand.

    Thornes Vater war in den Monaten vor seinem Tod besessen gewesen von trivialen Fakten — von Listen und Quizfragen über Listen. Diese Listen wurden immer bizarrer, und seine Besessenheit, darüber zu sprechen, wurde immer größer, je mehr Schaden die Alzheimer-Erkrankung in seinem Hirn anrichtete und je mehr sie ihn beherrschte.

    Die schnellsten Ballspiele der Welt. Die berühmtesten fünf Promiselbstmorde. Die schwersten Organe. Und was es noch an belanglosen Fragen gab ...

    Jim Thorne. Der im Schlaf starb, als sein Haus ausbrannte. Ein normaler Wohnungsbrand, den ein liebevoller Sohn — der sich die nötige Zeit genommen und die Mühe gemacht hätte — hätte vermeiden können, so voraussehbar war er.

    Oder vielleicht war es auch ganz anders gewesen.

    Ein Mord, eine an Thorne gerichtete Botschaft, etwas direkter allerdings als die, die ihn momentan beschäftigte.

    So oder so, eine offene Frage. Und wenn er nachts wach lag, konnte Thorne sich nie entscheiden, welche der beiden Möglichkeiten ihm das Leben schwerer machte.

    »Jai Alai«, sagte Holland. »Ich weiß es noch.«

    »Wie läuft‘s mit den Telefongesellschaften?« Thornes optimistischer Ton war nur aufgesetzt, er wusste, jede Hoffnung würde verdammt schnell platzen, wenn sie es nicht mit einem außerordentlich dämlichen Typen zu tun hatten.

    »Es ist eine T-Mobile-Nummer«, sagte Holland.

    »Prepaid, richtig?«

    »Richtig. Die Nummer ließ sich zu einem Pay-as-you-go-Handy zurückverfolgen, das wohl sofort im Abfall landete, nachdem das Foto an Sie rausgeschickt worden war. Oder vielleicht hat er auch das Handy behalten und nur die SIM-Karte weggeworfen.«

    Wie auch immer, da war wohl nicht viel zu holen. Seit der Explosion und der Diversifizierung des Handymarkts war jede Ermittlungsarbeit zum sinnlosen Unterfangen geworden. Prepaid-SIMs bekam man praktisch überall. Man konnte sich ein Handy mit allem Zubehör am Automaten kaufen, und sogar Handys, die bei einem bestimmten Betreiber registriert waren, konnte man für zehn Pfund in jedem Straßenmarkt freischalten lassen. Wer Handys für kriminelle Zwecke einsetzte, brauchte nur die grundlegendsten Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, um sich abzusichern. Das Handy brachte die wenigsten in den Knast.

    Die einzige Gefahr war das Aufspüren der Sendemasten, von denen das Signal ursprünglich gesendet wurde. Sobald man einen Sendemast geortet hatte, ließ sich der Bereich, von dem aus der Anruf getätigt wurde, auf eine Handvoll Straßen einengen. Und wenn es immer dieselben Masten waren, dann wusste man schnell, welche Verdächtigen man ins Visier nehmen musste und bei welchen man sich weitere Nachforschungen sparen konnte. Allerdings ein zeitaufwendiges und teures Unterfangen.

    Als Thorne die Frage stellte, erklärte ihm Holland, der DCI habe in diesem Fall die Anfrage an die Telefongesellschaft nicht genehmigt. Thornes Reaktion fiel entsprechend grob aus, andererseits war die Argumentation hinter dieser Entscheidung durchaus nachvollziehbar. Die Telefongesellschaften verlangten für eine solche Anfrage bis zu tausend Pfund, und das war zu viel für das Foto eines Mordopfers.

    »Und wo hat er es gekauft?«, fragte Thorne. Wenn sie zurückverfolgen konnten, wo er das Handy gekauft hatte — in welcher Gegend oder in welchem Laden —, fanden sie vielleicht in den Aufnahmen der Videoüberwachung ein Bild des Gesuchten. Sosehr Handys der Polizei das Leben schwer machten, so war die allgegenwärtige Videoüberwachung zum besten Freund des Bullen avanciert. Als Bürger der am besten überwachten Nation Europas — in der auf vierzehn Leute eine Kamera kam — wurde der durchschnittliche Londoner dreihundertmal täglich auf Video erfasst.

    »Es handelt sich um ein Handy von Carphone Warehouse«, sagte Holland.

    »Ist das gut?«

    »Raten Sie mal. Dieser dämliche DC bei der Telephone Unit behauptet, deren Handys kann man nur bis zu dem Lagerhaus verfolgen, aus dem sie kommen. Bei einem

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