Was ich sonst nicht sagen kann
Von Lea Beschorner
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Über dieses E-Book
Dennoch lernen sie sich erst durch Zufall kennen, als sie von ihrer Erkrankung eingeholt werden. Obwohl die Umstände schwierig sind, merken beide, wie wichtig diese Begegnung für sie ist.
»Was ich sonst nicht sagen kann« erzählt die Geschichte von zwei jungen Menschen, die mit einer psychischen Erkrankung leben. Es ist eine Geschichte über Freundschaft und die erste große Liebe, aber auch über Verluste und Schicksalsschläge.
Lea Beschorner
Lea Beschorner wurde 1999 in Brandenburg an der Havel geboren. 2017 machte sie dort ihr Abitur, heute studiert sie Lehramt für Englisch und Ethik. »Was ich sonst nicht sagen kann« ist ihr zweiter Jugendroman.
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Buchvorschau
Was ich sonst nicht sagen kann - Lea Beschorner
Für Neele & Hilke
Weil ihr zur richtigen Zeit am richtigen Ort wart.
Triggerwarnung
Eine Triggerwarnung befindet sich auf Seite 377 des Buches. Diese Geschichte behandelt viele schwierige Themen, mit denen nicht jede*r locker umgehen kann.
Achtung: es werden Inhalte des Buches gespoilert. Wenn du dir unsicher bist, ob dich Inhalte möglicherweise triggern, würde ich dir dringend empfehlen, die Warnung vorher zu lesen.
Die Playlist befindet sich ebenfalls ganz hinten im Buch, weil auch diese die Inhalte des Buches möglicherweise spoilert.
Prolog
Sechs Monate vorher
Ich sitze auf meinem Platz, ohne mich auch nur ein bisschen zu bewegen. Wortlos starre ich den Mann vor mir an und merke, dass er redet, aber ich höre nicht, was er sagt. Ich sehe nur, wie sich seine Lippen bewegen und Worte sprechen, die alle anderen im Raum zum Weinen bringen. Aber ich spüre nichts. Nichts außer der harten Holzbank, auf der ich sitze, von der mir mein Hintern schon wehtut. Keine Ahnung, wie lang das hier schon geht, ich habe kein Zeitgefühl mehr. In meinem Kopf höre ich nicht mal ein einziges Geräusch. Kein Summen, kein Piepen, kein Schmerz. Da ist einfach nichts.
Plötzlich greift meine Mutter nach meiner Hand und hält sie ganz fest. Sie wischt sich mit einem Taschentuch die Tränen von der Wange. Ihre Wimperntusche ist fast bis zur Nase verschmiert und ich verstehe nicht, warum sie heute überhaupt welche aufgetragen hat. Ich bin mir nicht sicher, welche Tatsache sie eigentlich am traurigsten stimmt. Dass sie ihren Ehemann verloren hat? Dass sie sich jetzt um alles allein kümmern muss? Oder, dass sie sich mit Ende dreißig jetzt Witwe nennen soll?
Mein Vater war ein Alkoholiker, das brauchen wir alle nicht schönreden. In den letzten Wochen vor seinem Tod hat er sogar sehr offensichtlich getrunken, auch vor seinen minderjährigen Kindern. Morgens, mittags und abends – er hatte immer eine Alkoholfahne. Und jetzt, wo er den Kampf gegen die Sucht verloren hat, sitze ich hier und höre eine Rede nach der anderen, was für ein toller Mensch, und vor allem Vater, er nicht gewesen sei. Klar, anfangs war er das auch, aber in der letzten Zeit war ich immer wütender auf ihn. Er hat nie eingesehen, dass er Hilfe braucht. Und das haben wir jetzt alle davon. Er hat den beschissenen Alkohol über seine eigene Familie gestellt und uns alle allein gelassen. Er lässt seine Kinder ohne Vater aufwachsen, seine Frau mit dem ganzen Stress allein zurechtkommen und seine Eltern ihr jüngstes Kind beerdigen. Mein Vater hat es ja nicht einmal versucht, sodass man behaupten könnte, er hätte sein Bestes gegeben und den Kampf dennoch verloren. Nein, er war egoistisch und feige.
Ich höre dem Redner nicht zu, weil er mir quasi nichts über meinen Vater erzählen kann, das ich nicht längst schon weiß. Stattdessen frage ich mich, wer wohl zu meiner Beerdigung kommen würde. Wäre der Raum auf meiner eigenen Beerdigung auch so gefüllt wie auf der meines Vaters? Wer würde hier sitzen und sich den Vortrag über mein Leben anhören?
Ich denke darüber nach, was so ein Redner wohl über mich erzählen würde. Also, im Grunde wurde Jules sein Leben lang fertiggemacht. In der Schule war er immer die Lachnummer für alle und sein Bruder hat ihn eigentlich schon immer gehasst. Er wollte Schriftsteller werden, ist aber vorher gestorben. Nun ja, wir werden ihn sehr vermissen.
Wenn ich es mir aussuchen kann, würde ich zu diesem Zeitpunkt lieber noch nicht sterben wollen, denn genau so würde sich meine Grabrede nämlich anhören.
Mir geht außerdem durch den Kopf, für wen ich hier wohl als Nächstes sitzen werde, um zu trauern. Ist das nicht schlimm? Jetzt sitze ich hier, weil mein Vater tot ist. Und wer wird demnächst der Grund sein, dass ich wieder hier sitze?
Der Mann vom Bestattungsinstitut ist fertig mit seinem Vortrag. Er hat uns allen die Möglichkeit gegeben, noch etwas zu sagen, aber entweder können die Angehörigen vor lauter Trauer nicht reden oder finden sich selbst nicht wichtig genug, um vor allen wichtigen Menschen im Leben meines Vaters eine Rede zu halten. Dennoch bittet er uns alle, aufzustehen. Zwei andere Männer, die ebenfalls einen Anzug tragen, betreten den Raum, um die Urne meines Vaters nach draußen zu tragen. Im Hintergrund läuft ein trauriges Klavierstück und alle Anwesenden halten ihren Blick gesenkt. Die zwei Männer laufen vor und alle anderen hinterher. Fast alle, auch ich, haben in ihrer Hand eine Rose, um sie gleich auf das Grab legen zu können.
Langsam trotten wir den Männern hinterher. Mir schießen die Gedanken von eben immer wieder durch den Kopf. Schon komisch, dass ich gedanklich eher auf meiner Beerdigung bin als auf der meines Vaters. Und das, obwohl ich weder todkrank bin, noch seit zehn Jahren Alkoholiker.
Nacheinander gehen wir alle zu seinem Grab, werfen ein bisschen Erde hinein und legen eine Rose dazu. Manche brauchen ziemlich lang dafür, andere höchstens eine halbe Minute. Ich tue erst einmal nichts, außer neben dem Grab stehen zu bleiben und mit meinem Vater zu reden. Der Boden ist noch ganz feucht vom Regen der letzten Nacht. Stundenlang hat es geregnet. Es ist Herbst in Hamburg, was will man schon anderes erwarten?
»Ich bin so sauer auf dich, dass du uns alle allein lässt«, beginne ich zu reden. »Aber ich habe dir verziehen. Ich habe dir verziehen, dass du andere Prioritäten hattest als uns. Ich hoffe, dass es dir dort, wo du jetzt bist, besser geht. Und dass sich der ganze Scheiß dafür gelohnt hat. Ich möchte auch, dass du weißt, dass ich dich trotzdem noch lieb habe. Ich brauche dich hier und weiß genau, dass die Zeit ohne dich richtig beschissen wird. Mach’s gut, Papa.«
Diese Worte kommen erstaunlich leicht aus meinem Mund. Als wären sie schon lang da gewesen, um endlich ausgesprochen zu werden. Dann nehme ich die Schippe, um ein wenig Erde ins Grab zu werfen. Ich lege die Rose daneben und schließe die Augen. Auf einmal habe ich das Gefühl, dass mir alle schönen Erinnerungen mit meinem Vater durch den Kopf gehen. Das ganze Leben mit ihm zieht binnen Sekunden an mir vorbei. Kurz muss ich lächeln. Wenn man eine wichtige Person in seinem Leben verloren hat, erinnert man sich doch lieber an die schönen Momente zurück, oder? Man trauert, weil man jemanden verloren hat. Aber warum lächelt man nicht, weil man die Person in seinem Leben haben durfte, wenn auch nicht für lange Zeit?
Als Nächstes ist meine Mutter an der Reihe. Sie geht gemeinsam mit meinem Bruder und sie bleiben ziemlich lang dort stehen, wobei ich nicht hören kann, was sie sagen. Wahrscheinlich will ich es auch nicht hören und mein Gehirn stellt alles um mich herum wieder stumm. Ich weiß, dass ich sie eigentlich beide in den Arm nehmen müsste, aber ich kann es irgendwie nicht. Wir sitzen alle im gleichen Boot, streng genommen bin ich ihnen nichts schuldig.
Was nach der Beerdigung passiert ist – keine Ahnung, ich habe einen totalen Filmriss. Den Rest des Tages bin ich mit Tunnelblick durch die Gegend gelaufen und ich weiß nicht, was um mich herum passiert ist. Was ich aber weiß, ist, dass die nächste Zeit richtig beschissen wird.
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Montag, 8. April
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Dienstag, 9. April
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Mittwoch, 10. April
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Freitag, 12. April
Kapitel 20
Kapitel 21
Samstag, 13. April
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Sonntag, 14. April
Kapitel 31
Kapitel 32
Montag, 15. April
Kapitel 33
Kapitel 34
Mittwoch, 17. April
Kapitel 35
Kapitel 36
Samstag, 19. April
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Sonntag, 21. April
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Mittwoch, 24. April
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Freitag, 26. April
Kapitel 62
Samstag, 27. April
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Sonntag, 28. April
Kapitel 68
Kapitel 69
Mittwoch, 8. Mai
Kapitel 70
Danksagung & Nachwort
Impressum
Montag, 8. April
1
Miles
Es ist jetzt ungefähr sechs Uhr morgens. Seit zweiundzwanzig Uhr habe ich versucht zu schlafen – vergeblich. Draußen ist es noch dunkel, nur das Licht der Straßenlaterne leuchtet durch das Fenster in meinem Zimmer. Außerdem beleuchtet es nur meinen Schreibtisch, sodass man mich im Dunkeln nicht erkennen könnte, würde man mein Zimmer betreten. Mein Bett steht in der Ecke des Raumes, die ich höchstens mit meiner Nachttischlampe beleuchten kann, wenn ich es möchte. Das habe ich damals absichtlich so geplant, als ich es eingerichtet habe. So kann man mich nicht sofort erkennen, wenn man mein Zimmer betritt.
Müde reibe ich mir die Augen. Meine Finger sind eiskalt. Es ist Anfang April und ich friere ununterbrochen. Ich ziehe mir meine Decke bis zum Kinn und lege meine Hände unter meinen Rücken, in der Hoffnung, sie würden dadurch wärmer. Allerdings ist der Rest meines Körpers auch nicht sonderlich warm, was die Sache irgendwie schwieriger gestaltet. Was soll’s.
Dann konzentriere ich mich auf meine Atmung und versuche, mich aufzurappeln. Die letzten drei Tage habe ich es morgens nicht geschafft, aufzustehen. Wenn ich über einen längeren Zeitraum liege, wird mir immer schwarz vor Augen, sobald ich mich aufsetze.
Um genau sechs Uhr höre ich den Wecker im Schlafzimmer meiner Eltern klingeln. Wenig später bemerke ich, wie meine Mutter ihre Morgenroutine beginnt. Sie ist die Erste, die morgens ins Bad geht. Das hatte sie sich vor Jahren so gewünscht, denn sie hasst es, morgens schon gestresst zu sein. Sie kümmert sich gern um meinen Vater, meine Schwester und mich, aber diese Zeit sollen wir ihr geben. Kein Problem, denke ich, viel weiter als bis zum Rand meines Bettes schaffe ich es vermutlich sowieso nicht. Eh ich im Badezimmer ankomme, ist sie schon dreimal fertig.
Nachdem meine Mutter das Bad verlassen hat, weckt sie meine Schwester und bereitet das Frühstück für uns alle vor. Na ja, nicht ganz für alle.
Ich merke, dass ich mittlerweile ziemlich dringend zur Toilette muss, also probiere ich aufzustehen. Ich schiebe die Decke zur Seite und sehe an mir herunter: Haut und Knochen. Man braucht nicht mehr als diese zwei Worte, um meinen Körper zu beschreiben.
Ich sitze auf meinem Bett – meine Beine stehen, mehr oder weniger fest, auf dem Boden. Ich will mich gerade nach oben drücken, als es an meine Zimmertür klopft.
»Miles? Bist du wach?«, fragt meine Mutter, während sie die Tür einen Spalt aufschiebt. Ich habe es noch nicht geschafft, mir ein T-Shirt überzuziehen. Sie schaltet das Licht an und ihr Blick erstarrt, als sie mich sieht. Erschrocken atmet sie scharf ein.
Meine Mutter sieht weg, weil sie meinen Anblick schon seit Monaten nicht mehr erträgt. Wenn sie mich unangekündigt so sieht, ist ein Schock die häufigste Reaktion.
»Ähm«, stottere ich, während ich mich nach einem T-Shirt umsehe. Ich finde eins und werfe es mir schnell über. »Ja«, antworte ich.
»Frühstück ist fertig«, sagt sie und geht, ohne mich noch einmal anzusehen. Die Tür lässt sie offen stehen und das Licht bleibt an.
Ich stehe auf. Alles dreht sich und kurz sehe ich alles verschwommen. Mein Körper hat keine Kraft, aber woher soll er die auch nehmen? Ich schlüpfe in meine Hausschuhe und stütze mich dafür an der Wand ab.
2
Jules
Von dem lauten Knallen der Badezimmertür werde ich aus dem Schlaf gerissen. Draußen ist es noch dunkel, was mich vermuten lässt, dass ich eigentlich noch gar nicht aufstehen müsste. Ich werfe einen Blick auf mein Handy. Kurz vor halb sechs. Im Stillen verfluche ich meinen Bruder, oder meine Mutter, je nachdem wer um diese Zeit schon so einen Lärm macht. Ich stöhne, dann ziehe ich mir die Decke über den Kopf und drehe mich noch mal um.
Insgeheim hoffe ich, dass es meine Mutter ist, die so einen Lärm macht. Das würde nämlich bedeuten, dass sie vor uns die Wohnung verlässt und nicht mitbekommen würde, wenn ich einfach nicht aufstehe. Ich könnte den ganzen Tag im Bett liegen und mir würden eine Menge Qualen erspart bleiben.
Meine Mutter würde abends von einem ihrer drei Jobs zurückkommen und fragen, wie es in der Schule war. Ich würde sagen, dass alles wie immer war, und dann wäre sie auch schon zu erschöpft, um weitere Nachfragen zu stellen.
Tja, früher ging das ganz gut, aber mittlerweile ruft die Schule meine Mutter sofort an, wenn ich nicht pünktlich zur ersten Stunde dort erscheine. Wie oft hat sie mich deswegen schon angeschrien und mit mir diskutiert, bis es nicht mehr ging. Eigentlich kann man es ihr nicht übel nehmen. Da ist man plötzlich allein mit zwei Kindern, eines davon krank und das andere schwer erziehbar, und muss die Miete und alle Rechnungen allein bezahlen. Neben all ihren Jobs und meinem Bruder und mir hat sie dann keine Zeit mehr, auch noch um ihren verstorbenen Ehemann zu trauern. Dass ihr alles zu viel wird und sie ihren Frust dann an mir auslässt, kann ich sogar ein bisschen verstehen.
»Ich schwöre dir, Jules, wenn du heute nicht zur Schule gehst-«, beginnt sie mir zu drohen, während sie in mein Zimmer gestolpert kommt und gerade dabei ist, sich die Schuhe anzuziehen. Sie schaltet das Licht an und öffnet das Fenster, um frische Luft hineinzulassen. Ich antworte ihr nicht, sehe sie nicht einmal an.
»Ich will nicht zur Schule«, sage ich matt. Die Energie zum Aufstehen fehlt mir schon seit Monaten, aber das versteht sie nicht. Und sie versteht auch nicht, was jeden Tag in der Schule abgeht, welche Qualen ich tagtäglich über mich ergehen lassen muss.
»Das ist mir völlig egal, noch einmal kannst du die Klasse nicht wiederholen, also beweg deinen Arsch hoch und mach endlich deinen Abschluss!«
Mit ihr zu diskutieren bringt nichts, weil sie sich das, was ich sage, nicht einmal anhört. Sie wartet auch gar nicht auf eine Antwort von mir, sondern redet gleich weiter. »Mach deinem Bruder bitte Frühstück, ja? Und dann fahrt ihr zusammen zur Schule. Ich finde sowieso heraus, ob du da warst oder nicht!«
Mein Bruder hat es auch schon öfter ausgenutzt, dass meine Mutter so viel arbeitet, und ist an manchen Tagen einfach zu Hause geblieben. Nur ist der Unterschied zu mir, dass es sie nicht interessiert, wenn Jona das tut. Schließlich geht er erst in die achte Klasse und bei ihm stünde angeblich nicht so viel auf dem Spiel wie bei mir.
Auch jetzt wartet meine Mutter nicht auf eine Antwort von mir. Denn, auch wenn sie Sätze wie Fragen formuliert, verteilt sie damit Anweisungen. Sie verlässt die Wohnung ohne eine Verabschiedung und knallt die Tür hinter sich zu.
Was für ein Morgen, denke ich mir. Ich bekomme jetzt schon Kopfschmerzen und weiß nicht, wie ich diesen Tag überstehen soll. Zumindest bin ich jetzt wach und kann nicht mit der Ausrede ankommen, ich hätte verschlafen.
Aufstehen ist jeden Tag aufs Neue eine Qual für mich. Nur selten kann ich mich aufraffen, weil ich meistens gar keinen Sinn darin sehe, überhaupt aufzustehen. Mir fehlt einfach die Kraft dazu. Jetzt liege ich wach im Bett, eine Stunde zu früh, und kann nicht wieder einschlafen. Dabei würde ich so gern, weil Schlafen für mich eine der wenigen Möglichkeiten ist, der Realität zu entfliehen. Wenn ich nicht gerade schreibe oder Musik höre, schlafe ich.
Heute ist Montag. Normalerweise hassen Menschen Montage, aber für mich ist es der beste Tag der Woche. Zwischen dem letzten Schultag und dem ersten der neuen Woche liegen zwei Tage, an denen ich nicht dort sein musste. Wenn ich beispielsweise an einem Freitag in die Schule gehe, gehe ich mit dem schlechten Gefühl der letzten vier Tage dorthin. Aber an einem Montag hatte ich zwei Tage vorher meine Ruhe und fast schon wieder vergessen, warum ich die Schule hasse.
3
Miles
Nach der Toilette schaffe ich es irgendwie in die Küche. Mittlerweile ist es kurz vor sieben Uhr. Meine Familie sitzt am Küchentisch und frühstückt. Am Blick meiner Mutter erkenne ich, dass sie es leid ist, mit mir zu diskutieren. Sie starrt ihren Kaffee an und sagt nichts. Sie presst ihre Lippen zusammen, sodass sie nur noch wie ein dünner Strich aussehen. Dann will sie etwas sagen, tut es aber doch nicht.
Heute bin ich fest entschlossen, in die Schule zu gehen. Die letzten drei Tage war ich krankgeschrieben, weil ich einfach keine Kraft hatte. Mittlerweile ist die Sonne aufgegangen und scheint durch das Küchenfenster in mein Gesicht. Ich glaube, ausnahmsweise, dass heute ein schöner Tag werden kann.
Ich setze mich nicht zu meiner Familie an den Tisch, sondern nehme zwei große Gläser aus dem Schrank, der über dem Waschbecken hängt. In eines der Gläser fülle ich Leitungswasser, in das andere mische ich einen Eiweißshake, der nach Vanille schmeckt. So sieht mein Frühstück aus, wenn ich mal welches zu mir nehme. Manchmal schlucke ich noch Nahrungsergänzungsmittel, die meine Mutter für mich kauft. Aber das mache ich eigentlich nur, wenn sie beharrlich darauf besteht.
»Guten Morgen, Miles«, sagt mein Vater mit sanfter Stimme, als ich mich mit meinen beiden Gläsern zu ihnen an den Tisch setze.
»Morgen.«
»Mama, kann ich auch so etwas haben?«, fragt meine kleine Schwester Annie und deutet auf mein Glas.
»Nein Schatz, du isst bitte etwas Richtiges zum Frühstück«, antwortet sie und versucht, mich dabei nicht anzusehen. Die Blicke meiner Mutter sind immer entweder besorgt oder vorwurfsvoll. Ich weiß, dass sie mich manchmal am liebsten nur anschreien möchte, aber weiß, dass es zu nichts führt. Also lässt sie es und findet andere Wege, ihren Frust abzubauen. Traurig bin ich deswegen nicht.
»Los, zieh dich schon mal an, Annie, wir müssen los zur Schule«, sagt meine Mutter, als sie gerade aufsteht. Motiviert springt Annie von ihrem Stuhl auf, um sich Jacke und Schuhe anzuziehen. Ihre zwei blonden, geflochtenen Zöpfe springen dabei auch hoch und wieder runter und lassen sie noch ein wenig niedlicher wirken. Annie ist sechs Jahre alt und besucht seit letztem Sommer die erste Klasse. Ich bin gespannt, wie lang diese Lust auf Schule noch anhält. Bei mir hielt es bis zur Vierten, aber Annie ist eine der Besten in ihrer Klasse, also denke ich, dass sie das noch ein paar Jahre länger motivieren könnte.
Ich werfe einen Blick auf die Uhr und bemerke, dass ich mich auch bald fertigmachen müsste, um noch pünktlich zu kommen. Ich kippe den Inhalt meiner zwei Gläser schnell runter, dann kommt Annie auf mich zu.
»Tschüss, großer Bruder«, sagt sie und umarmt mich. Ich umarme sie zurück.
»Tschüss, kleine Schwester.« Ich gebe ihr noch einen Kuss auf die Stirn und dann verschwindet sie mit meiner Mutter aus dem Haus. Wenn Annie und ich uns nicht mit unseren Vornamen ansprechen, dann mit großer Bruder und kleine Schwester. Diese Spitznamen sind damals auf irgendeinem Geburtstag entstanden. Unsere Oma drückte Annie irgendetwas in die Hand und sagte »hier, gib das deinem großen Bruder« und sie gab es mir und wiederholte das, was meine Oma zuvor gesagt hatte. Seitdem sprechen wir uns gegenseitig so an.
Ich stelle die benutzten Gläser in die Spüle und laufe zurück in mein Zimmer, um mich schnell noch umzuziehen. Ich habe sieben Minuten, bis ich an der Bushaltestelle sein muss, um den Bus noch zu erwischen.
Ich schlüpfe in meine Jeans, die an den Knien Löcher hat, ziehe mein T-Shirt aus und ein frisches an, nehme einen Hoodie aus meinem Schrank und setze meine graue Beanie auf. Dann ziehe ich im Flur meine schwarzen Converse an, die ich aus Zeitgründen nicht zuschnüren kann und schnappe mir anschließend meinen Rucksack und mein Skateboard. Ich fühle mich irgendwie nur halb angezogen und laufe trotzdem schnellen Schrittes zur Bushaltestelle. Dort werde ich schon Zeit haben, meine Schuhe zu binden, und wenn nicht, dann erst im Bus.
Als der Bus seine Türen öffnet, komme ich gerade an und schaffe es noch einzusteigen, bevor sich die Türen wieder schließen. Erschöpft lasse ich mich auf einen der Sitze fallen. Ich atme schnell und halte mich an einer der Lehnen fest. Für einen kurzen Moment sehe ich wieder alles verschwommen. Körperlicher Belastung kann ich mich schon seit Längerem nicht mehr aussetzen, dafür fehlt mir einfach die Energie. Zum Bus rennen bringt mich oft schon an meine physischen Grenzen.
Ich komme wieder zu mir. Mein Skateboard und meinen Rucksack habe ich zwischen meine Beine gestellt, damit sie nicht umfallen. Aus meiner Hosentasche ziehe ich Handy und Kopfhörer. Letztere stecke ich mir in die Ohren und wähle ein Lied aus. In den letzten Tagen höre ich sehr oft meine Playlist von OneRepublic, so wie jetzt auch.
Dann lehne ich mich an der Fensterscheibe an und schließe die Augen. Die Fahrt zur Schule dauert ungefähr fünfzehn Minuten – genug Zeit, um ein wenig abzuschalten. Es ist eines meiner Highlights, wenn ich morgens allein zur Schule fahren kann und diese Zeit nur für mich habe. Ungestört Musik hören, keine Konversationen führen, mit den Gedanken noch woanders schweben als in der Schule. Ich liebe das.
Ich lege meine Hände ineinander und bemerke erst jetzt, wie kalt sie eigentlich immer noch sind. Schnell stecke ich sie in die Taschen meines Pullovers. Dann bemerke ich, dass mein Magen knurrt. Knurren ist eigentlich kein Ausdruck mehr – ich habe echt Angst, dass der Junge ganz hinten im Bus es auch gehört hat. Manchmal ist es wirklich kein Grummeln oder Knurren mehr, es ist eher ein Stechen, das meistens im Krampf endet. Ich glaube, ich habe das letzte Mal vor vier Tagen etwas gegessen.
Warum? Weil ich nicht anders kann.
4
Jules
Ich stehe auf und gehe ins Badezimmer, welches man, seitdem wir hier wohnen, noch nie abschließen konnte. Irgendjemand, der hier vor uns gewohnt hat, hat den Schlüssel verloren und der Vermieter hat sich nicht die Mühe gemacht, einen neuen erstellen zu lassen. In normalen Familien, wo man sich gegenseitig mag, würde es mit einem Besetzt-Schild an der Türklinke wahrscheinlich funktionieren, dass niemand ins Bad kommt, wenn sich bereits jemand darin befindet. Aber wir sind keine normale Familie, schon gar nicht