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Flucht auf dem Todesmarsch
Flucht auf dem Todesmarsch
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eBook407 Seiten5 Stunden

Flucht auf dem Todesmarsch

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Über dieses E-Book

David Hersch überlebte zwei der berüchtigten Todesmärsche der Nazis, 50 km lange, meist tödliche Fußmärsche vom KZ Mauthausen zum KZ Gunskirchen. Ihm gelang die Flucht und er fand Unterschlupf bei einem deutschen Ehepaar, das ihn bis zum Kriegsende versteckte. Sein Sohn, Jack Hersch, erfährt durch Zufall von der tragischen Berühmtheit seines Vaters und macht sich auf, mehr über dessen Vergangenheit zu erfahren. In diesem Buch berichtet er von den grausamen Praktiken der Nazis und von einem Menschen, der ihnen zweimal entkommen konnte.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Förg
Erscheinungsdatum12. Feb. 2020
ISBN9783966000086
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    Buchvorschau

    Flucht auf dem Todesmarsch - Jack J. Hersch

    Teil I Dej

    1 Lufthansa

    Ich reise mit leichtem Gepäck, als ich am Bradley Terminal des Los Angeles International Airport an Bord eines Jumbo 747 der Lufthansa gehe. Es ist Freitagabend, Beginn des verlängerten Labor Day Weekend, aber ich gehe nicht in Urlaub und ich werde nicht lange weg sein, also brauche ich kein großes Gepäck. Ich bin auf dem Weg ins nördliche Österreich, um die Konzentrationslager aufzusuchen, in denen die Nazis meinen Vater quälten und versklavten, und um herauszufinden, wo genau er sich versteckte, nachdem er geflohen war. Es ist eine Reise, die auf mich gewartet hat, seit meine Cousine Vivian mich vor einigen Jahren aus Israel mit überraschenden Nachrichten über ihn angerufen hat.

    Im Juni 1944 kam mein Vater als 18-Jähriger in das KZ Mauthausen. Er wog damals 80 Kilogramm. Nach der Einteilung der Nazis waren das KZ Mauthausen und sein nahegelegenes Außenlager, KZ Gusen I, die strengsten und grausamsten Arbeits-KZ des gesamten Dritten Reichs. Nach zehn brutalen Monaten in diesen beiden Lagern hatte mein Vater die Hälfte seines Gewichts verloren. Und da er fünf Wochen vor Kriegsende immer noch am Leben war, wurde er auf einen von den Nazis organisierten Todesmarsch geschickt in der Erwartung, dass er endlich zusammenbrechen und irgendwo auf der Straße zwischen dem KZ Mauthausen und dem KZ Gunskirchen, einem Lager, das 50 unendliche Kilometer weit entfernt lag, elend zugrunde gehen werde. Mein Vater war in jenem Jahr dem Tode oft nahe, aber er starb nicht in diesen Konzentrationslagern und er starb auch nicht auf diesem Todesmarsch. Und er starb auch nicht bei einem weiteren Todesmarsch zehn Tage später.

    Stattdessen entkam er von den Todesmärschen. Zwei Mal! Einmal war schon unerhört, zweimal hielt man für völlig unmöglich.

    2 Cousine Vivi

    Frühmorgens an einem warmen Maitag 2007 saß ich an meinem Schreibtisch in einem Hochhaus in Los Angeles vor Computerbildschirmen, auf denen Aktien- und Anleihenpreise und Nachrichten flimmerten. Aus dem Fernsehgerät zwitscherten Stimmen, weil die Lautstärke abgesenkt war. Ich arbeite in der Finanzbranche, und mein Arbeitstag hatte gerade begonnen. Die aufgehende Sonne warf lange Schatten auf die hohen Gebäude, die ich von meinem Fenster aus sah.

    Ich las die Schlagzeilen des Morgens, als mein Handy klingelte. Auf dem Display erschien der Name meiner Cousine Vivian Tobias, der Tochter der Schwester meines Vaters. Sie ist so alt wie ich, war damals also 48, und lebt mit ihrem Mann David in Netanya in Israel, einem netten Küstenort 30 Kilometer nördlich von Tel Aviv. Auch wenn es in Israel schon Mitte des Nachmittags war, zu so früher Stunde rief sie mich normalerweise nicht an. Ich nahm den Anruf an.

    Üblicherweise begannen wir unsere Gespräche mit Geschichten über unsere Kinder: meine drei Teenager und ihre zwei Jungs, die ihren Militärdienst in Israel ableisteten. Aber diesmal war es anders. Vivi, wie ich sie nenne, kam direkt auf den Punkt.

    »Ich habe am Computer etwas für meine Mama gesucht und habe ein Bild von deinem Vater gefunden«, sagte sie mit ihrer wohlklingenden Stimme. Ihr Englisch hatte sie auf israelischen Schulen gelernt. »Wusstest du, dass er im Internet zu sehen ist?«

    »Mein Dad?«, fragte ich ungläubig. »Nein, das wusste ich nicht. Wo hast du ihn gefunden?«

    Ich fragte mich, warum er sechs Jahre nach seinem Tod im Internet erscheinen sollte. Vielleicht hatte sie sich getäuscht.

    »Er ist auf der Seite des Konzentrationslagers Mauthausen«, antwortete Vivi. »Die schreiben, dass er während eines Todesmarschs geflohen sei.«

    »Das ist wahr, da ist er geflohen«, bestätigte ich. Ich wusste nicht einmal, dass Mauthausen eine Website unterhielt. Ich hatte mich darum nie gekümmert.

    »Jackie«, sagte sie – sie benutzte dabei den Spitznamen aus meiner Kindheit, wie das bei meinen Verwandten noch üblich ist. »Du klingst, als ob das nichts Besonderes wäre, aber es scheint, dass dein Vater etwas Außergewöhnliches geleistet hat. Ich habe viel über die Todesmärsche gelesen. Hunderttausende Juden wurden damals gezwungen, 30, 40 und sogar 100 Meilen zu marschieren, um von den Russen und Amerikanern wegzukommen, die sich den Konzentrationslagern näherten. Kaum einer ist den Marschzügen entkommen. Dein Vater aber schon.«

    »O ja, er ist sogar zweimal geflohen«, sagte ich. »Er hat mir die Geschichte in all den Jahren immer wieder erzählt.«

    Verstohlen sah ich auf meinen Computerbildschirm.

    »Ich glaube, du verstehst mich nicht.« Ich hörte aus ihrer Stimme jetzt deutlich Verärgerung heraus. »Seine Geschichte ist die einzige auf der Website, die über die Flucht aus einem Todesmarsch berichtet. Kein anderer wird in diesem Zusammenhang genannt, nur dein Vater. Ich glaube nicht, dass du die ganze Geschichte kennst. Bitte google Mauthausen und seinen Namen. Dann siehst du es.«

    Ich tat, was sie gesagt hatte, und der Name meines Vaters erschien ganz oben auf einer ganzen Seite von Suchergebnissen.

    »Uff, ich hatte ja keine Ahnung«, sagte ich mehr zu mir selbst als zu Vivi.

    Der Klick auf das erste Suchergebnis brachte mich auf die Website des KZ Mauthausen. Sofort stach mir der Name meines Vaters im Menü oben auf der Website ins Auge: in der Rubrik »Todesmärsche«. Ich klickte darauf, und mit einem Mal öffnete sich ein Schwarzweißfoto auf meinem Bildschirm. Es war ein Porträtfoto, gestochen scharf. Ein junger Mann, der meinem 17-jährigen Sohn Sam verblüffend ähnlich sah, blickte mich an. Ich starrte wie gebannt zurück. Es war ein Bild meines Vaters als Teenager.

    Ich hatte dieses Foto oder irgendein ähnliches Jugendbild meines Vaters nie gesehen. Zwar hatte ich alle alten Fotos meiner Eltern aufbewahrt, aber von meinem Vater besaß ich nur wenige aus der Zeit vor dem Krieg, und die waren alle aus größerer Entfernung aufgenommen. Kein einziges zeigte so deutlich die kantige Silhouette seines jungen Gesichts und den schelmischen, aber gleichzeitig entschlossenen Blick, der einen Mann mit einem starken Durchhalte- und Überlebenswillen verriet.

    Mein Vater hatte mir erzählt, dass er bei dem Fotografen seiner Heimatstadt als Model gejobbt hatte, bevor er ins Konzentrationslager verschleppt wurde. Das professionelle Porträtfoto auf meinem Bildschirm musste eines dieser Bilder sein. Sein Haar war gewellt und dicht. Er trug ein hellfarbiges Hemd mit feinen Streifen und offenem Kragen, dazu ein modisches Jackett mit spitzem Revers. Er sah aus, als wollte er gerade einen der Witze aus seinem unerschöpflichen Repertoire erzählen.

    Wie waren die Leute aus Mauthausen an dieses Foto gekommen? Ich sah die englische Bildunterschrift und las sie laut:

    »Im April 1945 retteten Ignaz und Barbara Friedmann aus Enns Kristein den völlig erschöpften David Hersch aus dem Todesmarsch von Mauthausen nach Gunskirchen und versteckten ihn bis zum Kriegsende.«

    Ich wusste von den Friedmanns. Ich kannte die Geschichte, wie sie meinen Vater am Tag nach seiner zweiten Flucht gefunden hatten und ihn unter größtem persönlichen Risiko versteckt hatten, bis amerikanische Soldaten Enns, ihren Wohnort, befreiten. Wie hatte man in Mauthausen von dieser Geschichte erfahren? Warum hatte man gerade ihn ausgesucht? Warum war seine Geschichte so einzigartig? Die Welt um mich war verstummt.

    Ich hatte oft gehört und gelesen, dass die Überlebenden des Holocaust – Hitlers beinahe erfolgreichem Versuch, die europäischen Juden zu vernichten – ihre Erfahrungen aus »den Lagern« nur widerstrebend erzählten; da ich mit vielen Überlebenden in meinem Umfeld aufgewachsen war, wusste ich, dass diese die Konzentrationslager nur als »die Lager« bezeichneten. Vermutlich haben viele Überlebende ihr ganzes Leben zugebracht, ohne auch nur einmal zu berichten, was sie dort erlitten hatten. Ich hatte sogar gehört, dass viele von ihnen nicht mehr gelächelt und keinen Scherz mehr gemacht hatten seit dem Tage, an dem sie in einen Viehwagen nach Auschwitz oder Treblinka eingepfercht worden waren.

    Mein Vater war anders. Er erzählte mir oft von der Zeit der Nazi-Besatzung in Ungarn, seinem Jahr in den Lagern und seinen Fluchten. Er erzählte das mühelos, scheinbar nicht ungern und ohne zu zögern.

    Bevorzugt erzählte er an Pessach, wie er überlebt hatte. Schließlich erinnert dieses Fest an die nächtliche Flucht des Volkes Israel unter der Führung von Moses und mit göttlicher Hilfe aus der Gefangenschaft in Ägypten. Am ersten Abend von Pessach wird ein gemeinsames Essen in der Familie veranstaltet, das Seder-Mahl, bei dem traditionell Texte und Lieder zu diesem Geschehen verlesen und gesungen werden. Weil das Pessach-Mahl die Feier der Flucht und der Befreiung ist, erzählte mein Vater bei jedem Seder meinem Bruder und mir seine eigenen Abenteuer von Flucht, Gefangennahme, Todesnähe und erneuter Flucht.

    So bereitwillig mein Vater diese Geschichte erzählte, so spürte ich doch, dass sie noch ein tiefes Geheimnis barg, einen Schmerz, den er nie mit mir teilte. Die einzigen Hinweise darauf waren beiläufige Bemerkungen, dass er nicht gut geschlafen oder dass ihn ein Albtraum von den Lagern verfolgt habe. Aber all das wischte er mit einer leichten Handbewegung beiseite und versicherte, dass es nichts weiter sei, nur eine verlorene Nacht.

    »Hast du das Bild schon gehabt?«, holte mich Vivi in die Gegenwart zurück.

    Ich atmete tief durch. »Nein«, räumte ich ein. »Nein, ich habe es nicht. Hat es deine Mutter?«

    Vivis Mutter Rosie und mein Vater waren zwei von acht Kindern. Vier von ihnen – mein Vater, Rosie und zwei Onkel – hatten den Holocaust überlebt. Die anderen vier wurden von den Nazis umgebracht.

    »Nein, aber sie kennt es. Sie sagt, dass es gemacht wurde, als dein Vater 17 war. Ein örtlicher Fotograf benutzte es als Werbung für sein Studio.«

    Wie ich es vermutet hatte. »Interessant«, sagte ich. »Aber mir ist rätselhaft, wie die Leute aus Mauthausen an das Foto gekommen sind.«

    »Hältst du für möglich, dass er selbst es ihnen gegeben hat, als er dorthin gereist ist?«

    »Wie bitte?« Jetzt schrillten in meinem Kopf die Alarmglocken. »Mein Vater war nie mehr in Mauthausen«, sagte ich nachdrücklich. »Er ist da nie mehr hingegangen, er hasste den Ort. Er wär dort ja fast umgekommen.«

    »O doch. Er war dort«, beteuerte Vivi. »Er ist 1997 hingefahren. Er hat es meiner Mutter erzählt. Hat er euch nichts davon gesagt?«

    Ich war vollkommen perplex. Bis zu diesem Augenblick hatte ich geglaubt, dass mein Vater mir alles aus seinem Leben erzählt hatte.

    »Nein«, presste ich heraus. »Nein, hat er nicht. Bist du sicher, dass er noch einmal dort war?«

    »Ja, hundertprozentig. Ich habe Mutter heute nochmals gefragt, und sie hat gesagt, er sei alleine dort gewesen – auf dem Weg nach Israel.«

    Vivis Mutter und die beiden anderen überlebenden Hersch-Brüder lebten alle nahe beieinander in Netanya. Mein Vater hatte in Long Beach bei New York gelebt und seine Schwester und seine Brüder mindestens zweimal im Jahr besucht. Ich wusste immer, wann er wohin reiste – oder hatte das zumindest geglaubt.

    Vivi sagte noch: »Meine Mutter hat ihn danach gefragt, als er zu ihr kam, und er hat es bestätigt, aber er sagte, es habe keine Bedeutung. Mehr hat er darüber nicht gesagt.«

    »Nichts von Bedeutung« war einer der Lieblingsredewendungen meines Vaters. Ich konnte mir gut vorstellen, wie er das zu seiner Schwester sagte.

    »Das ergibt alles keinen Sinn«, entgegnete ich. »Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum er mir nichts davon erzählt hat.«

    »Ich bin sicher, dass er gute Gründe dafür hatte«, sagte Vivi bestimmt. »Und ich glaube, du solltest herausfinden, was das für Gründe waren. Ich würde es wissen wollen, wenn ich an deiner Stelle wäre.«

    Vivi und ich grüßten gegenseitig unsere Familien und legten auf. Ich blieb allein mit dem Bildschirm-füllenden Foto meines Vaters, während die Strahlen der aufgehenden Sonne durch mein Bürofenster fielen.

    3 Dad

    Mein Vater David Arieh Hersch war 1,77 Meter groß und schlank, aber überraschend kräftig. Sein grau-schwarzes Haar trug er streng nach hinten gekämmt. Er hatte ein unglaublich gewinnendes Lächeln, das sein Gesicht leuchten ließ. Unter dem linken Auge zog sich eine dünne, linienförmige Narbe, die von einer Sprudelflasche stammte, die in seiner Hand explodiert war. Nach dem Krieg hatte er kurz in einer Sprudelabfüllanlage in Haifa gearbeitet, die dem Vater seiner damaligen Freundin gehörte.

    Mein Vater war ein humorvoller und lustiger Kerl, der gerne lachte, neun Sprachen fließend sprach, ein großer Anhänger des New York Jets Footballteams war und gerne Sachbücher las. Sein linkes Auge glitzerte, und wenn er eine Geschichte erzählte, könnte ich schwören, dass es Funken sprühte. Er konnte sich Witze gut merken und in allen seinen Sprachen gleichermaßen perfekt wie ein Komiker wiedergeben. Wenn er einen Witz erzählte, dann konnte er sich selbst kaum halten vor Lachen, wenn er zur Pointe kam, und das zog die Zuhörer in den Witz hinein.

    Er war am 13. Juli 1925 in der landwirtschaftlich geprägten Stadt Dej in Rumänien geboren worden (Dej spricht man aus wie beige). In den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg war Dej ein Ort in Transsilvanien mit 15 000 Einwohnern, knapp 60 Kilometer nördlich von Cluj, der zweitgrößten Stadt Rumäniens.

    Transsilvanien hat grüne Hügel, wogende Getreidefelder und Bergwerke, in denen Salz, Gold, Kupfer und Eisen gewonnen wird. Seine Berge sind die Heimat des Grafen Dracula, wenn man an solche Sagen glaubt. Die k.u.k.-Monarchie Österreich-Ungarn regierte die Gegend seit Mitte des 18. Jahrhunderts bis zu ihrer Niederlage im Ersten Weltkrieg, als das Reich der Habsburger zerbrach. Das Königreich Ungarn und die österreichische Republik wurden selbständige Staaten, während Transsilvanien abgetrennt und Rumänien zugeteilt wurde. Wie für Gemeinden in dieser Gegend üblich, war das Dej, das mein Vater kannte, von Bauern, Kaufleuten, Freiberuflern und Händlern bewohnt.

    Die Häuser auf seinen runden Hügeln waren aus rohem Zement gebaut und weiß oder in hellen Pastelltönen angestrichen, grün und blau, mit roten Ziegeldächern und sauberen Gärtchen. Wie in allen alten europäischen Städten waren auch in Dej die Straßen eng, gewunden und überwiegend ungepflastert, und liefen kreuz und quer vom Hauptplatz weg, der damals wie heute von der Reformierten Kirche aus dem 16. Jahrhundert mit ihrem 70 Meter hohen Kirchturm beherrscht wird. Pferdewagen waren zur Zeit meines Vaters das Haupttransportmittel, und noch heute kann man in der Stadt Pferdegetrappel hören.

    Mein Großvater Jozsefne Jacob wurde 1886 in Dej geboren. Nach dem jüdischen Brauch, Kinder nach verstorbenen Vorfahren zu benennen, trage ich seinen Namen, allerdings in umgekehrter Reihenfolge, und glücklicherweise wurden ein paar Buchstaben weggelassen, sodass ich offiziell Jacob Josef heiße. Heutzutage nennen mich alle Jack, aber in meiner Kindheit wurde ich Jackie gerufen, weil das meiner Mutter gefiel.

    Mein Großvater war durchschnittlich groß und hager mit einem kurz gestutzten Bart. Seine beachtlichen Talente als Schriftsteller und Künstler blieben ungenutzt, denn er verdiente seinen Lebensunterhalt als Eigentümer einer kleinen Seifenfabrik. 1908 heiratete er meine Großmutter Malvina, die fünf Jahre jünger war als er, eine liebe und großzügige Frau, die man zumeist unter ihrem hebräischen Namen Malka kannte.

    Die acht Hersch-Geschwister wurden in zwei Tranchen geboren. Zwei Mädchen und zwei Buben kamen zur Welt, bevor mein Großvater als Kavalleriegefreiter der österreich-ungarischen Armee in den Ersten Weltkrieg zog. Lazar, der Älteste, wurde 1909 geboren, gleich darauf zwei Mädchen, Hanna-Leah und Blina, und schließlich 1914 Adolph. Der war für mich Onkel Villi, ein Name, den er in seinen Zwanzigern annahm, weil »Adolph« zu jener Zeit als Vorname für einen Juden unpassend wurde.

    Mein Großvater geriet im Ersten Weltkrieg frühzeitig in russische Gefangenschaft und war vier Jahre lang Kriegsgefangener. Als er nach Dej zurückkehrte, bekamen er und Malka nochmals vier Kinder, wieder zwei Buben und zwei Mädchen. Chaya-Sarah wurde 1919 geboren, es folgte Vivis Mutter Rosie 1921, Isadore 1923 und schließlich 1925 mein Vater.

    4 Erkenntnisse

    Nachdem ich aufgelegt hatte, beugte ich mich zu meinem Computerbildschirm. Sorgfältig betrachtete ich das Gesicht meines Vaters als Teenager. In der oberen linken Ecke des Fotos war ein Knick zu sehen, als ob dort ein Eselsohr gewesen wäre, das wieder zurückgebogen worden war. Hatte er es in seiner Brieftasche verwahrt? War es unabsichtlich geknickt worden, als er es in die Tasche gesteckt hatte? Oder war es gar nicht geknickt worden und der Falz die Spur einer Heftklammer, als das Bild in eine Akte abgeheftet wurde? Und wenn ja, in welche Akte? Woher also kam dieses Bild?

    Und dann tauchten andere, viel wichtigere Fragen auf. Warum sehe ich heute Früh zum ersten Mal die Website des KZ Mauthausen, die Homepage des Konzentrationslagers, das meinen Vater beinahe das Leben gekostet hätte? Hätte ich darüber nicht etwas wissen müssen? Hätte ich das nicht schon viel früher entdecken sollen?

    Vivi hatte recht. Wenn mein Vater der Einzige war, der in der Rubrik Todesmärsche des KZ Mauthausen namentlich genannt wurde, bedeutete das, dass die Geschichte seiner Flucht und seines Verstecks bei den Friedmanns sehr viel ungewöhnlicher und einzigartiger war, als ich mir das je vorgestellt hatte. Ich hatte gedacht, so etwas sei normal gewesen. Ganz offenkundig war es das nicht. Und ganz offenbar kannte ich, wie sie es gesagt hatte, längst nicht die ganze Geschichte.

    Und außerdem war da die Reise meines Vaters ins KZ Mauthausen im Jahre 1997. Je länger ich darüber nachdachte, umso mehr ärgerte es mich, dass er dort hingefahren war, ohne es mir zu erzählen. Was war da passiert? Was war im KZ Gusen I oder im KZ Mauthausen oder in der Stadt Enns vorgefallen, das er vor mir verbergen wollte? Warum hatte er mich nicht gefragt, ob ich mitkäme? Was war es, das er nicht wollte, dass ich es sah? Wovor fürchtete er sich?

    Und plötzlich, völlig unerwartet, kam es mir vor, als hätten mein Vater und ich uns in diesem Punkt niemals verstanden. Konnte das der Grund sein, warum er dorthin gefahren war, ohne es mir zu sagen, ohne mich mitzunehmen? Hatte ich mich zu wenig für alles interessiert, was er durchlitten hatte, für die Leiden, den Hunger und die Brutalität durch die Verbrechen der Nazis? Hatte er geglaubt, das sei mir nicht wichtig?

    Ich hätte mir jetzt gewünscht, ich wäre dorthin gereist, solange er noch am Leben war. Es hätte viele Gelegenheiten gegeben. Dann hätte ich die Orte gesehen, an denen er gewesen war, und ich hätte ihm Fragen stellen können. Es hätte seine Geschichte in jenem Jahr wieder zum Leben erweckt.

    Aber ich war nicht hingefahren. Bis zu diesem Morgen war es mir nicht einmal in den Sinn gekommen. Warum nicht? Warum war ich so gleichgültig? Wovor fürchtete ich mich?

    5 Gedenkstätte Mauthausen

    Nachdem ich mich von dem doppelten Schock erholt hatte, meinen Vater so prominent auf der Website der KZ-Gedenkstätte Mauthausen zu entdecken und von seinem heimlichen Trip dorthin im Jahr 1997 zu erfahren, beschloss ich zu handeln. Ohne Frage wusste ich zu wenig über große Teile seiner Vergangenheit. Obwohl ich die Geschichte so kannte, wie er sie erzählt hatte, gab es ganz offenbar viel mehr darüber zu wissen: Einzelheiten, über die er nie gesprochen hatte, Details, die ich ganz offenkundig nicht kannte.

    Ich hatte Zeit. Mein Job war zwar tagsüber mit viel Arbeit verbunden, aber der Rest der Woche war frei. Meine Ehe war nach 20 Jahren gerade zu Ende gegangen. Mein 17-jähriger Sohn Sam und seine 16-jährigen Zwillingsschwestern Rachel und Lauren besuchten die Highschool und lebten bei ihrer Mutter, meiner Ex-Frau, in einem Vorort von San Francisco. Unter der Woche hielt mich die Arbeit in LA fest, aber jedes Wochenende flog ich nach Norden, um bei ihnen zu sein. Wenn also der Arbeitstag endete, hatte ich keine weiteren Verpflichtungen. Es gab daher keine Ausrede, warum ich versuchen sollte, alles, was möglich war, über meinen Vater während der Nazi-Zeit herauszufinden.

    Die Homepage des KZ Mauthausen war Teil des Mauthausen Memorial, der Gedenkstätte Mauthausen, einer Organisation, die das Konzentrationslager weitgehend in seiner ursprünglichen Form erhält und auch dessen international bekanntes Museum in einigen der Originalgebäude betreibt. Nach Feierabend schrieb ich eine E-Mail an dessen allgemeine Mailbox und fragte an, wie sie zu dem Foto meines Vaters gekommen waren. Im Gegenzug bot ich weitere Informationen zu seiner Person an.

    Ich erwartete mir nicht viel und dachte, ich würde eine Standardantwort bekommen, in der man mir für mein Interesse dankte. Aber ein Anfang wäre gemacht. Zu meiner Überraschung bekam ich jedoch schon am folgenden Tag eine Antwort von einem der dort tätigen Historiker, in der er großes Interesse an allem bekundete, was ich ihm über meinen Vater mitteilen konnte. Diese erste E-Mail führte rasch zu einem regen Austausch mit mehreren dort Beschäftigten. Ich beschrieb ihnen kurz die Lebensgeschichte meines Vaters und berichtete von seiner Deportation nach Auschwitz und von seiner Befreiung, und sie begleiteten mich bei meinen Entdeckungen von Details über die Lager, von denen er mir nie erzählt hatte.

    Mir wurde rasch klar, dass, wenn ich mich auch nur ein bisschen darum gekümmert hätte, ich die Homepage der Gedenkstätte schon Jahre früher hätte entdecken können. Aber ich hatte es nie getan. Ich kannte die Geschichte, wie mein Vater sie mir erzählt hatte, und das hatte mir genügt.

    Nach dem Anruf von Vivi suchte ich neben den E-Mails nach Mauthausen im Internet nach weiteren Informationen über die Todesmärsche und insbesondere nach Berichten von Menschen, die diesen entkommen waren. Ich fand recht wenige, keinen einzigen aus dem KZ Mauthausen, und nicht einen einzigen von einem Teilnehmer eines Todesmarsches, der geflohen, wieder eingefangen worden und ein zweites Mal entkommen war.

    Zu Beginn fragte ich die Beschäftigten der Gedenkstätte Mauthausen, wie sie von der Flucht meines Vaters erfahren hatten und wie sie an das Foto gekommen waren. Sie teilten mir mit, dass Anfang der 1970er-Jahre ein ortsansässiger Elektriker namens Peter Kammerstätter sich daran gemacht hatte, ein Buch über die Todesmärsche zu schreiben. Kammerstätter war nicht einfach nur ein Handwerker, sondern auch ein lebenslanges Mitglied der Kommunistischen Partei Österreichs, der KPÖ.

    Der 1911 geborene Kammerstätter wurde wegen kommunistischer Umtriebe von den Nazis im KZ Buchenwald eingesperrt. Als er 1940 wieder freikam, vermied er weitere Konflikte mit den braunen Machthabern, aber kaum war der Krieg zu Ende, wurde er wieder in der KPÖ aktiv. Nach seinem Renteneintritt machte er sich daran, den antinazistischen Widerstand in Österreich zu erforschen. Das brachte ihn zu den Todesmärschen und zu der Suche nach Österreichern, die den Todesmarschierern geholfen hatten, eine seltene, aber wichtige Form des Widerstands. Er ging die Routen der Todesmärsche von Mauthausen ab, klopfte an Türen, befragte die Leute und sammelte Geschichten, die er in einem Manuskript zusammenfasste, auf dessen Veröffentlichung er hoffte.

    Kammerstätter fand keinen Verleger, aber sein Manuskript gibt es noch, und es wird von den Historikern der Gedenkstätte hoch in Ehren gehalten. Während der Recherchen für sein Buch stieß er auf Ignaz und Barbara Friedmann. Er gibt nicht an, wie genau er sie ausfindig gemacht hatte, und da er 1993 verstarb, wird das ein Geheimnis bleiben. Aber er schrieb auf, was Barbara Friedmann ihm erzählt hatte: wie sie meinen Vater fanden, nachdem ein Todesmarsch vorbeigezogen war, und wie sie ihm bis zum Kriegsende Unterschlupf gewährten (es scheint, dass Ignaz bei dem Interview nicht dabei war). Und Barbara gab ihm jenes Bild, das er in seinem Manuskript aufbewahrte. Wie aber war Barbara Friedmann dazu gekommen?

    6 Das Bild

    Die Geschichte, die Peter Kammerstätter nicht aufschrieb und die er nicht kannte, ist die von dem Foto meines Vaters, jenem Foto, auf dem er in seinem Jackett mit spitzem Revers hintergründig lächelt, jenem Foto, das auf der Homepage der Gedenkstätte Mauthausen zu sehen war. Hier ist die Geschichte:

    An einem typisch kalten Aprilmorgen des Jahres 1945 erwachte mein Vater in einer Baracke des KZ Mauthausen und begann seinen Tag so, wie er jeden dieser elenden Tage seit seiner Ankunft im Juni des Vorjahres begonnen hatte: Antreten zum Morgenappell, dann Anstehen zur Ausgabe des Frühstücks, einer einzigen dünnen Brotscheibe. Kurz darauf mussten die Häftlinge zu einem zweiten Appell antreten, und die Nazi-Schergen kündigten einen »Transport« von etwa 1000 jüdischen Häftlingen an. Sie sollten zum KZ Gunskirchen marschieren, einem Außenlager etwa 50 Kilometer südwestlich vom KZ Mauthausen.

    Niemand sprach in dieser Zeit von einem »Todesmarsch«. Man sprach nicht einmal von einem »Marsch«. Stattdessen wurden Fußmärsche genauso wie Zugfahrten und jede andere Art von Ortsveränderung als »Transporte« bezeichnet, ein im Deutschen wie im Englischen geläufiges Wort, das mein Vater häufig benutzte, wenn er von seinen Erfahrungen während der Nazi-Zeit sprach. Er sagte nicht »Ich war in einem ›Zug‹ von …« oder »Ich ›marschierte‹ von …«, sondern »Ich war auf einem ›Transport‹ von …«. In diesem Fall stellte sich der »Transport« als ein Todesmarsch heraus, einer der ersten aus dem KZ Mauthausen und weg von der vorrückenden russischen Armee, die schon 140 Kilometer weiter östlich stand.

    Mein Vater wurde für diesen »Transport« selektiert und mit ihm seine Freunde Iszak und Chaim Mozes, Brüder aus seiner Heimatstadt. Iszak war dünn und bebrillt und ein paar Jahre jünger als mein Vater. Sie waren von Anfang an seit zehn Monaten zusammen in den Lagern gewesen. Chaim, ein großer und starker Kerl, war zwei Jahre älter als mein Vater. Statt in ein KZ geschickt zu werden, war er 1941 einem Bataillon des Ungarischen Arbeitsdienstes zugeteilt worden und hatte dort Straßen in ganz Ungarn bauen und reparieren müssen. Als der Krieg sich seinem Ende näherte, wurden die Juden in den Arbeitsbataillonen in die Konzentrationslager »transportiert«. Chaim hatte einen Gewaltmarsch über 160 Kilometer in das KZ Mauthausen überlebt, aber er war während des Krieges so weit ernährt worden, dass er noch einigermaßen bei Kräften war. An diesem Tag wollten sich die drei jungen Männer aus Dej gegenseitig so gut wie irgend möglich helfen.

    Der »Transport« setzte sich in Bewegung. Die ersten fünf Kilometer hinunter zur Donau konnten mein Vater, Iszak und Chaim das Marschtempo mithalten. Aber nach der Überquerung des Flusses wurde die Straße eben und meinen Vater verließen die Kräfte. Schon vor dem Beginn des Marsches war er sehr schwach gewesen. Er wog nur noch knapp 40 Kilogramm, litt an Tuberkulose, Lungenentzündung und wahrscheinlich auch an Typhus. Chaim stützte meinen Vater beim Marschieren. So gingen sie ein paar Kilometer weiter, bis mein Vater Chaim sagte, er solle ihn zurücklassen und sich um seinen Bruder Iszak kümmern, der fast genauso geschwächt war. Mein Vater hatte das Gefühl, dass er lang genug gelitten habe. Seine Stunde war gekommen.

    Chaim zögerte, aber mein Vater bestand darauf. Er beschwor Chaim, seine Kraft für den Bruder aufsparen. Verwandte zuerst! Widerstrebend willigte Chaim ein.

    Mein Vater ließ sich zu den Langsameren am Ende des Elendszuges zurückfallen. Chaim drehte sich ein letztes Mal nach ihm um und sein Gesicht

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