Die außergewöhnlichste Liebe aller Zeiten: Die wahre Geschichte von Jesus, Maria Magdalena und Judas
Von Franz Alt
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Franz Alt
Franz Alt, Dr., geb. 1938, ist Journalist und Buchautor. Zahlreiche Auszeichnungen für sein publizistisches und ökologisches Engagement.
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Die außergewöhnlichste Liebe aller Zeiten - Franz Alt
Franz Alt
Die außergewöhnlichste Liebe aller Zeiten
Die wahre Geschichte von Jesus,
Maria Magdalena und Judas
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2021
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
Umschlagmotiv: © LiliGraphie – iStock – GettyImages
E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau
ISBN Print 978-3-451-38709-8
ISBN E-Book 978-3-451-82240-7
Für ein integrales Menschen- und Gottesbild.
Inhalt
I. Er sprach Aramäisch – warum die Frauen verrückt nach Jesus waren
1. Jesus hat die Welt verändert
2. Kirchen können vergehen – Jesus wird bleiben
3. Jesus war kein Christ
4. Jesus »Superstar«
5. Das Geheimnis des Reiches Gottes
6. Was lernen wir aus der Corona-Krise?
7. Ihr seid Götter und Göttinnen
8. Sohn Gottes, nicht Gott
9. Die Bergpredigt ist nur politisch zu verstehen
10. Der aramäische Jesus
11. Aramäisch – die Tür zu biblischen Rätseln
12. Wer ist Gott?
13. Jesus, der Poet
14. Gott will nur Gutes
15. Fake News in der Bibel
16. Jesus, der erste neue Mann
17. Ostern verändert alles
18. Jesus: »Ich bin nicht gestorben«
19. Die Kirche – eine »Hure Roms«?
20. Jesus und die Seele
21. Ein fürchterlicher Gott?
22. Papst Franziskus: »Gott führt uns nicht in Versuchung«
23. Liebt man einen Feind, dann hat man keinen mehr
24. Was haben die Kirchen aus Jesus gemacht?
25. Die Poesie der frühen Christen
26. Jesus: Wir werden wiedergeboren
27. Die Lehre der Kirche oder die Worte Jesu?
28. Liebe ist im Aramäischen identisch mit Mutterschoß
29. Jesus war ein Grüner
30. Der außergewöhnlichste Mensch aller Zeiten
31. Die Gottesherrschaft ist bereits da!
32. Was hat Jesus über Sex gesagt?
33. Jesus über Kinderschänder
34. Jesus: Achtet auf euer Gewissen
35. Erkenne dich selbst
36. Menschen können keine Sünden vergeben
37. Jesus ist der Fels, nicht Petrus
38. Jesus verabschiedet sich von seinen Freunden
II. Es gibt keine Sünde – Warum Jesus und Maria Magdalena sich küssten
1. Von der Sünderin zur ersten Päpstin
2. Die Liebe ist stärker als der Tod
3. Das Evangelium der Maria Magdalena
4. Das christliche Europa begann mit einer Frau
5. Es gibt keine Sünde
6. Maria Magdalena küsst Jesus
7. Die Synthese von Rationalität und Religion
8. Bewusste Gewaltfreiheit
9. Jesus – Liebling der Frauen
10. Gibt es eine feministische Außenpolitik?
11. Der Tod hat nicht das letzte Wort
12. Jesu geheime Botschaft an eine Frau
13. Der Wutanfall von Petrus
14. Das Geheimnis gelingender Partnerschaft
15. Der matriarchale Jesus
16. Das Traumpaar Maria Magdalena und Jesus
17. Paulus: Ein Bischof soll verheiratet sein
18. Erste Päpstin 2039?
III. Freispruch für Judas!
1. War Judas ein mieser Verräter?
2. Verschwörungstheoretiker brauchen Verräter
3. Das Fehlurteil
4. SS-Führer, Massenmörder und feinfühliger Musiker
5. Die Blutspur von Golgatha bis Auschwitz
6. Die Rolle des Judas
7. Freispruch für Judas
8. Auch ich muss mich entschuldigen
9. Übergeben, nicht verraten
10. Das Judasevangelium
11. Warum wurde Judas zum Verräter gestempelt?
12. Judas als Sündenbock
IV. Das gefährliche Trio: Jesus, Judas und Maria Magdalena verändern die Welt
1. Wir brauchen Vorbilder
2. Maria Magdalena ist keine Quotenfrau und kein Covergirl der Kirche
3. Eine Judas-Revision auf dem nächsten Konzil
4. Jesus war eher Ökologe als Theologe
Literatur
Über den Autor
I.
Er sprach Aramäisch – warum die Frauen
verrückt nach Jesus waren
»Was die Christen glauben – Jesus lehrte es nicht!
Und was Jesus lehrte – die Christen wissen es nicht.«
Günther Schwarz
1. Jesus hat die Welt verändert
Die Bibel ist das am meisten gekaufte, aber – gemessen an seiner Auflage – das am wenigsten gelesene Buch der Welt – der unbekannte Bestseller, »das mächtigste Buch der Welt« (Der Spiegel). Die Bibel ist das Buch der Bücher, der Bestseller aller Bestseller und sie wird es auch in Zukunft bleiben. Jesus von Nazareth ist nicht nur der einzigartigste Mensch aller Zeiten, er ist auch die wichtigste Persönlichkeit der Bibel. Er ist zugleich der wirkmächtigste Mensch der Weltgeschichte. Sein Leben ist das Wunder eines erwachten Menschen auf Erden. Er zeigte, dass die Liebe die stärkste Kraft ist. Seine Botschaft berührt den göttlichen Kern in uns. Er hatte das Herz eines sanften Rebellen. Deshalb erscheinen jeden Tag weltweit drei neue Jesus-Bücher. Jeden Tag! Also 1000 Bücher pro Jahr über diesen wunderbaren jungen Mann aus Nazareth, der vor 2000 Jahren gelebt hat – ein einmaliges Phänomen. Jesus kann nicht sterben. Er hat nie eine Universität besucht, aber Tausende Universitäten sind heute nach ihm benannt. Können Sie dieses Phänomen rational erklären? Und schließlich sein Kreuz. Warum hängen sich Millionen Menschen ein Hinrichtungsgerät um den Hals? Sein Grundsatzprogramm heißt: Vertrauen, hoffen, lieben! Er war ver-rückt aus Liebe. Alle Liebenden wissen, was das heißt. Sie waren doch sicher auch schon mal verliebt.
Dieses Buch erzählt die größte Liebe aller Zeiten: die Liebe Jesu zu seinem »Abba«, seine Liebe zu allen Menschen, die bedingungslose Liebe zwischen Jesus und seiner Gefährtin Maria Magdalena, welche die Kirche zu einer Hure gemacht hat, sowie die Liebe zwischen Jesus und Judas, den die Kirche zum »Verräter« stempelte und damit den Samen für 2000 Jahre Antisemitismus pflanzte. Verrat statt Liebe. Heute wissen wir es besser und wir wissen mehr. Wir kennen den aramäischen Jesus (ab Seite 83), und es tauchten das »Evangelium der Maria Magdalena« (Kapitel II) und das »Judasevangelium« (Kapitel III) auf. Jesus sprach also nicht die Sprache der Überlieferung, das Griechische, sondern seine Muttersprache, das Aramäische, die erste Weltsprache überhaupt. Dies ändert viel Fragwürdiges, Widersprüchliches, Unsinniges und Gnadenloses, das wir in den griechischen Texten finden. Darum geht es in diesem Buch. Sie, liebe Leserin und lieber Leser, dürfen gespannt sein. Mein Arbeitsmotto: Wissen ist besser als blind glauben. Und: Immer in der Spur Jesu bleiben. Alles Schöpferische Denken ist immer ein Umdenken. Das größte Wunder ist die Umkehrmöglichkeit des menschlichen Willens. Zweifel und Kritik ist der Anfang jeden wirklichen Glaubens. Die Kirche muss immer neu in die Schule Jesu gehen, erwachsen werden und endlich ihre Windeln abstreifen. Nur dann wird es aufhören, dass sie eine Generation nach der anderen verliert. Reformation von unten ist die ewige Aufgabe der Kirche.
In unserer Lernfähigkeit steckt der Sinn unseres Hierseins. Das hat uns Jesus vorgelebt. Unsere Lernfähigkeit hängt mit unserer göttlichen Quelle zusammen, die in jedem und jeder von uns sprudelt.
Die Einzigartigkeit Jesu erkennen auch jüdische Theologen wie der renommierte Gelehrte Joseph Klausner an: »Die endgültigen Lehren der Evangelien stammen von einem einzigen Mann und jede einzelne trägt dasselbe einzigartige Gütezeichen. Ein Mann wie Jesus, für den das ethische Ideal alles bedeutete, war im Judaismus jener Tage beispiellos.« Viel Interesse an Jesus auch außerhalb der christlichen Kirchen, aber wenig wirkliches Interesse von Christen an der Bibel. Und heute immer weniger Interesse an den Kirchen. Woher diese Diskrepanz? Woher diese Tücken und Lücken? Liegt das an Jesus oder an den Kirchen? Oder an falschen Übersetzungen der Worte Jesu?
Kein anderes Buch hat die Weltgeschichte so geprägt wie die Bibel und kein anderer Mensch so sehr wie Jesus von Nazareth. Über niemanden wurden mehr Gedichte geschrieben, Bilder gemalt und Lieder komponiert als über Jesus. Für niemanden wurden mehr Gebäude (Kirchen), Kreuze und Denkmäler errichtet. Ohne Jesus sähe fast jede süd- und nordamerikanische oder jede europäische Dorfmitte mit ihrer Kirche völlig anders aus. Das gilt auch für die Innenstädte aller europäischen Metropolen: Berlin mit seiner Gedächtniskirche, Köln mit seinem gotischen Dom, München mit seiner Marienkirche, Paris mit Notre Dame, Moskau mit seiner Basilius-Kathedrale, Rom mit der Peterskirche, Wien mit dem Stephansdom, der als Österreichs Nationalheiligtum gilt, das norwegische Trondheim mit seinem Olavs-Pilgerdom, Barcelona mit seiner verschnörkelten Sagrada Familia, St. Petersburg mit seinen 279 Kirchen, das isländische Reykjavik mit seiner Hallgrimskirche, die gotische Kathedrale in Reims, in der jahrhundertelang die französischen Könige gekrönt wurden, der nach byzantinischem Vorbild gebaute Markusdom in Venedig, Freiburg und Ulm mit ihren Münstern, Frankfurt am Main mit seinem Kaiserdom, St. Petersburg mit seiner Blutskirche, Mailand mit seinem von riesigen Glasfenstern beherrschten Dom, Hamburg mit seinen fünf Hauptkirchen, London mit seiner Westminister-Abbey, Danzig mit seiner Oliva-Kathedrale oder gar Paderborn mit seinem Dom und dessen sehr katholisch geprägter Umgebung. Das ist doch ein unglaubliches Phänomen – finden Sie nicht auch?
Praktisch alle unsere Städte und Dörfer wurden um Kirchen herum gebaut. Das ist uns nur nicht mehr bewusst.
Dass ohne diese Gotteshäuser den meisten etwas fehlen würde, ist nach dem verheerenden Brand in Notre Dame in Paris 2019 überraschend deutlich geworden. Viele Bewohner der Stadt waren mehr als erschüttert. Im Fernsehen hörte ich eine Atheistin klagen: »Diese Kirche ist doch das Herz und die Seele unserer Stadt.« Auch die »heidnischen« Sachsen sind stolz auf ihren Thomanerchor so wie die katholischen Regensburger auf ihre »Domspatzen«. Auch wenn ohne Kirche etwas fehlt, wissen doch auch viele nicht mehr, was fehlen würde. Für immer mehr Menschen im christlichen Abendland ist der alte Glaube nicht mehr glaub-würdig. Alte Religionsgewissheiten verschwinden mehr und mehr, aber neue sind noch nicht klar erkennbar. Vielleicht kann dieses Buch dabei helfen.
Wenn unsere Kirchengebäude immer mehr Objekte des Tourismus werden, bleiben sie zwar materiell erhalten, aber ihr Sinn geht verloren. Dabei zeigt die Geschichte, dass auf Dauer keine Gesellschaft ohne Religion auskommen kann. Religion, definierte der Religionsphilosoph Friedrich Schleiermacher, »ist Sinn und Geschmack für das Unendliche« oder die »Verzauberung von Tod und Leben«. Die Muttersprache jeder Kirche ist die Seelsorge. Der Dalai Lama erzählte mir, dass heute selbst im kommunistischen China 400 Millionen Menschen praktizierende Buddhisten sind. Er sagt allerdings auch: »Ethik ist wichtiger als Religion.« Damit meint er: Nicht fromme Lippenbekenntnisse sind entscheidend, sondern unser ethisches Handeln.
Das empfinden Sie doch sicher genauso? Oder?
Jerusalem, Karfreitag im Jahr 30 (Jesus wurde wahrscheinlich 4 v. Chr. geboren): Ein Mann wird gekreuzigt. Er war von Pilatus, dem römischen Statthalter, zum Tode verurteilt worden. Die Freunde des Gekreuzigten hatten zuvor große politische Hoffnungen auf ihn gesetzt. Sie stritten sogar darüber, wer von ihnen neben ihrem Meister Jesus künftig wohl den größten Einfluss haben werde. Doch ihr Lehrer hatte auf ein Kind gezeigt und ihnen dieses als Vorbild hingestellt. Und dann war da noch diese Frau, der Jesus besonders zugetan war. Eine Frau! Das ging schon gar nicht. Aber jetzt am Karfreitag schien für die Männer um Jesus alles verloren. Ihr Meister endete wie ein Schwerverbrecher am römischen Schandmal. Eine Welt stürzte für sie ein. Alles schien verloren. Doch »diese Frau« und Jesu »Lieblingsjünger« Johannes standen unter dem Kreuz, und die Frau glaubte weiterhin an ihren Gefährten. Doch ihre Trauerqual muss unermesslich gewesen sein.
Ihr Name war Maria Magdalena, auf Aramäisch Mirjam. Sie hatte ungebrochenes Vertrauen zu Jesus und seiner Botschaft. Sie war eine erwachte Frau, die um den göttlichen Kern in uns wusste, sie wollte selbst denken, statt einfach nachzuplappern, was in »Heiligen Schriften« stand. Sie wusste: Erst wenn wir in das Gefühl unserer eigenen Kraft kommen, können wir selbstbewusst und selbstbestimmt werden. Und sie wollte mit keinem Mann zusammen sein, der ihre Seele nicht berührt. Sie wollte ihr Leben nicht verträumen, sie wollte ihre Träume leben: weiblich – stark – und als Jesus-Freundin. Sie war die intellektuelle Partnerin Jesu und hat seine Lehre schon zu dessen Lebzeiten verstanden. In der Gnosis und im apokryphen (nichtoffiziellen) Philippusevangelium wird sie als »Gefährtin Jesu« bezeichnet. Wahrscheinlich hat niemand so authentisch wie sie Jesu Botschaft weitergegeben. Sie war Jesu wichtigste Botschafterin.
Aber: Wie ich im nächsten Kapitel aufzeige, ist Maria Magdalena »ein typischer Missbrauchsfall männlicher Geschichtsschreibung« (Maria von Blumencron).
Es fällt auf und ist außergewöhnlich, dass ihr Name nicht wie damals üblich mit dem Namen ihres Vaters in Verbindung gebracht wird, sondern mit der Stadt, aus der sie kommt, aus Magdala. Mirjam heißt im Aramäischen die Schöne, aber auch die Bittere.
Maria Magdalena ist zweifelsfrei eine der bedeutendsten und umstrittensten Figuren an der Seite Jesu. Mit ihr und ihrem Verhältnis zum Wanderprediger Jesus beschäftigen wir uns ausführlich im zweiten Kapitel dieses Buches. Doch so viel schon jetzt: Mit ihrem Mut, bei der Kreuzigung dabei zu sein, riskierte Maria Magdalena ihre eigene Kreuzigung, wie Historiker berichten. Spätestens unterm Kreuz wurde sie seine Gefährtin. Die wichtigen Männer um Jesus waren weit weg.
Wenn damals unterm Kreuz jemand zu einem anderen Zuschauer gesagt hätte: Dieser hier elend Gekreuzigte wird die ganze Welt für alle Zeit verändern, wäre er mit Sicherheit ausgelacht worden. Doch auf diesen Karfreitag folgte Ostern. Die spannendste Geschichte – manche sagen: der spannendste Krimi – aller Zeiten: Der gekreuzigte Himmelsbote selbst war die Botschaft! Die Botschaft, die Sinn in unser Leben bringen kann. Seither können wir wissen: Was heute unmöglich scheint, kann morgen Realität sein. Ostern verändert alles. Selig sind die, welche Vertrauen in die Zukunft haben.
Die wahre Geschichte Jesu wächst in einem, je mehr man sich damit auseinandersetzt. Seither glaubt fast die gesamte Christenheit und betet es auch im Glaubensbekenntnis: gekreuzigt, gestorben und begraben, auferstanden von den Toten.
Wie oft haben auch Sie das schon so gebetet?
Das ist der Kern der christlichen Botschaft. Nur: Auferstanden von den Toten? Kann das wirklich sein, und wie soll das gehen? Gibt es Augenzeugen oder nur Glaubensbekenntnisse? Die Hypothese vom Scheintod konnte nie wirklich widerlegt werden. Doch nun gibt es neue medizinische, aber auch sprachliche Erkenntnisse und Hinweise aus der Symbolik. Steckt in den Thesen vom Scheintod am Kreuz vielleicht doch eine bisher verkannte Wahrheit, obwohl die meisten heutigen Theologen noch immer auf dem Tod am Kreuz beharren? Davon später. Noch ein wenig Geduld bitte!
Zum Tod selbst hatte Jesus eine nüchterne und für viele Christen, die heute Angst vor dem Tod haben, überraschende, ja befremdliche und ärgerliche Einstellung: »Folge mir nach. Lass die Toten ihre Toten begraben.« (Mt 8,22 und Lk 9,60) Für ihn gibt nicht der Tod, sondern das Leben dem Leben einen Sinn. Angst vor dem Tod? Die Natur lehrt uns, dass ein gesunder Wald auch tote Bäume braucht. Damit neues Leben entstehen kann.
Im Glaubensbekenntnis der Christen wird das zentrale Anliegen Jesu, nämlich die Liebe, nicht mal erwähnt. Jesus meinte ein Urvertrauen, das alle Menschen verbindet, das tut aber das christliche Glaubensbekenntnis nicht. Erst Papst Franziskus schreibt davon ganz Jesus-authentisch in seinen drei Enzykliken. Er outet sich dabei nicht nur als sozialer Papst, sondern auch als grüner Papst, ganz in der Spur des Bergpredigers entwickelt er eine sozialökologische Theologie. Franziskus ist ein grüner Jesuaner. Grün ist die Hoffnung. Grün ist die Zukunft. Grün ist Leben. Endlich sagt ein Papst, was Jesus vor 2000 Jahren gesagt hat. Das finde ich überraschend und großartig.
Das Christliche – in Dogmen, Glaubenssätzen und moralischen Verboten erstarrt – verdrängt das Jesuanische. Jesus warnte immer vor Dogmen. Der Sabbat ist für die Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat (Mk 2,27). Er räumt auf mit religiösen und kultischen Traditionen. Er wertet den Sabbat um, er streicht das Fasten, er hebt Speisegebote auf und die Grenzen zu anderen Religionen und Kulturen. Sein Gott will keine Opfer, sondern Barmherzigkeit. Er isst mit Sündern, Huren und Zöllnern. Er streitet für neues Denken und noch mehr für neues Handeln: »Neuer Wein in neue Schläuche« (Mk 2, 22). Alles ist möglich dem, der sich etwas zutraut. Das sind die Originalität und die Einmaligkeit dieses jungen Mannes aus Nazareth. Noch das letzte Buch der Bibel sagt von ihm: »Ich mache alles neu.« Die Theologin und Psychotherapeutin Hanna Wolff: »Das Wort neu umfasst also das gesamte Problem der Selbstidentität des Christen oder des religiösen Existenzvollzugs.« Jesus wollte, dass »alles neu« wird, aber die meisten Kirchenmänner wollen, dass alles beim Alten bleibt. So schafft die Kirche das Christentum ab. Und die Kirchen schaffen sich selbst ab. Wichtig ist nicht, dass so viele Menschen nicht mehr an Gott glauben. Es ist aber wichtig, dass Gott an alle Menschen, an jeden und jede von uns, glaubt.
1950 waren noch 97 Prozent der Deutschen Mitglied einer christlichen Kirche. 2020 sind es noch 62 Prozent. Diese Zahlen des Statistischen Bundesamtes ergeben in der Projektion bis zum Jahr 2100, dass dann die beiden großen Kirchen jeweils null Mitglieder haben werden. Die vom Jesusforscher und Aramäisch-Kenner Günther Schwarz wiederhergestellten Jesus-Worte in seiner aramäischen Muttersprache hingegen bieten eine hoffungsvolle und wegweisende Botschaft, die ursprünglich in poetischer Sprache formuliert war und weit über die klassische christliche Lehre hinausgeht. Diese Jesus-Botschaft ist wegweisend für alle, die wahrhaftig nach der Wahrheit suchen. Darum geht es in diesem Buch: um ein revolutionäres Gottes-, Menschen- und Weltbild. Sie erfahren bald mehr darüber.
2. Kirchen können vergehen – Jesus wird bleiben
Jesus hat die ganze Welt verändert und verwandelt – äußerlich und innerlich. Verwandelt er uns auch heute noch? Berührt er heute noch unser Herz und unsere Seele? Warum erscheint er uns heute äußerlich noch immer interessant, innerlich aber eher fremd? Das Geheimnis seiner »Wunder« und das Heilsame an Jesus sind seine sanfte und konsequente Freundlichkeit. Dieser Jesus ist die Seele und das Herz und der Geist des Evangeliums. Er konnte Menschen in tiefster Kränkung und Verletzung aufrichten. Er war im wahrsten Sinn des Wortes ein Heiland, ein großer Heiler. Dieser Heiler übersah das Böse in den Menschen nicht, er suchte sie aber immer so zu sehen, wie sie sein könnten. Jesus hatte nicht das konventionelle ärztliche Handwerk gelernt, aber er bewirkte erstaunliche Heilungen. Er initiierte für damalige Zeiten sensationelle seelische Heilprozesse, weil er die Menschen mit seinem großen Herzen betrachtete und ihnen mit grenzenloser Güte begegnete. Er strömte alle Fürsorge aus, zu der ein Mensch nur fähig sein kann. Der große Seelenheiler aus Nazareth wusste: Die Seele ernährt sich von dem, was ihr Freude bereitet.
Er zog zur Zeitenwende mit seinen Aposteln und vielen Frauen durch Galiläa, ein fruchtbares Land, reich an Viehweiden und Wald. Die Bevölkerung war dem Tempelkult in Jerusalem verpflichtet. Es wurde Aramäisch gesprochen, die Amtssprache war Griechisch. Landwirtschaft, Handwerk und Fischerei werden wohl für ein einträgliches Leben gesorgt haben. Maria und Joseph nannten ihren Sohn Joshua oder Jeschua, Sohn des Joseph. Als gläubiger Jude ließ sich Jesus am Jordan mit etwa dreißig Jahren vom Propheten Johannes taufen. Bei dieser Taufe erlebte er den Zusammenbruch seines alten Weltbildes und seiner alten Religion.
Er erlebte den Durchbruch zu seinem neuen Gottes- und Menschenbild. Seine Taufe war sein Abba-Erlebnis. »Abba« kann aus dem Aramäischen mit »mütterlicher Vater« übersetzt werden. Danach zog er als Heiler durch Galiläa und solidarisierte sich mit den Schwachen, den Hungernden, den Kranken, den Gefangenen, den Kindern und den Frauen. Sie vor allem waren seine »Kundschaft«.
Lena Naumann in ihrem Roman über Maria Magdalena über Jesu heilende Kräfte: »Was immer Jeschua tat, er war und blieb ein Zimmermann und Baumeister. Mit einem zarten Gefühl für Zerbrochenes, das behutsam wieder aufgerichtet werden musste. Das konnte er. Er gab Vertrauen, wo Vertrauen fehlte, und nahm die Last, die zu viel wog. Seine Heilungen geschahen nach dem Gesetz des Ausgleichs.« Davon zeugen auch seine Gleichnisse und Geschichten: das Gleichnis vom verlorenen Sohn und dem gütigen Vater, die Geschichte vom Sämann und vom fruchtbaren und unfruchtbaren Ackerboden, seine Gespräche mit Frauen und erst recht seine Erzählungen vom Vater, von seinem und unserem Abba, oder die wunderbare und ewig eindrucksvolle Geschichte vom barmherzigen Samariter. Oder auch der Vergleich des kleinen Senfkorns mit dem »Reich Gottes« und der Hinweis auf die »Vögel des Himmels, die nicht säen und nicht ernten«, die nicht mal eine Scheune haben, aber von Gottes Liebe leben. Oder die Bilder vom Weinstock und den Reben, vom Winzer und vom Feigenbaum. Großartige naturnahe Gleichnisse, die Weltliteratur wurden! Der ökologische Jesus! Das Land am Jordan war sehr fruchtbar.
Seine Empathie galt nicht nur den Fischern am See Genezareth, sondern auch den Fischen im See, seine Aufmerksamkeit schenkte er nicht nur dem Sämann, sondern auch dem Samen, seine Liebe nicht nur den Menschen, sondern auch den Vögeln. Das ist in den heutigen Zeiten der globalen ökologischen Zerstörung die Jahrtausendbotschaft. Und sein Evangelium, das er den wenig gebildeten Fischern, Bauern und Handwerkern in den Dörfern Galiläas in seiner und ihrer Muttersprache verkündete, muss etwas Einfaches und leicht Verständliches gewesen sein.
Es geht also nicht darum, den christlichen Glauben neu zu erfinden, wohl aber, ihn neu am wirklichen Jesus zu orientieren. Es geht um eine Wiederbelebung und um die Auferweckung einer jesuanisch-reformierten Kirche. Nur dann kann sich ihre heilsame Wirkung entfalten – ohne Zentralismus und ohne Klerikalismus. Religion braucht Wandel. Und zwar aus Liebe zu Jesus. Vielleicht wird auch »Religion ohne Kirche« (Claudia Mönius) eines der ganz großen geistigen Entwicklungen des 21. Jahrhunderts. Oder Religion ohne Fokus auf Priester. Dabei müssten freilich unser verstümmeltes Gottesbild und unser verkrüppeltes Jesus-Bild eine »Wiedergeburt« erfahren.
Das geistig sehr vitale Urchristentum der ersten 300 Jahre nach Jesus bestand aus vielen kleinen Gemeinden ohne zentralistische Strukturen. Sie wurden oft von Frauen geleitet. Doch mit Kaiser Konstantin wurde ab dem Jahr 325 alles anders. Aus der vielfältigen und verfolgten Jesus-Bewegung wurde eine Staatsreligion und eine männliche Großkirche. Die katholische Kirche ist die einzige absolute Monarchie, die jenseits der Antike bald 1700 Jahre überlebt hat. Das war lange ihre scheinbare Stärke, wird aber 500 Jahre nach der Reformation und seit der Aufklärung, Liberalisierung und Demokratisierung immer mehr zu ihrer Schwäche.
Allein im Jahr 2019 sind in Deutschland 542 771 Menschen aus den beiden Großkirchen ausgetreten. Die Zahl der Kirchenaustritte steigt seit vielen Jahren. Noch nie haben so viele Menschen die Kirchen verlassen wie heute. Ist das nun ein Fehler der Kirchen oder der Kirchenmitglieder? Bisher zumindest trat kein Bischof zurück. Vor allem durch die Missbrauchsskandale hat sich das Grundvertrauen vieler Christen in ihre Kirche in ein Grundmisstrauen verwandelt. Doch das Selbstmitleid der Kirchenfürsten über den »bösen Zeitgeist« ist noch immer größer als das Mitleid mit den Opfern. Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung: »Die sexuelle Ausbeutung von Wehrlosen ist das Risiko einer zwangszölibatären autoritären Kirche, die in 2000 Jahren zwar die Frauen aus allen Machtpositionen vertrieben hat, aber den Menschen nicht die Sexualität austreiben konnte.« Noch immer wird vertuscht, dass und wie vertuscht wurde. Dass die christliche Kirche nach 2000 Jahren in einer existentiellen Systemkrise steckt, wird noch immer verdrängt.
Ich träume von einer integralen und freiheitlichen Kirche, in der Theologen wie Eugen Drewermann und Hans Küng oder feministische Theologinnen wie Hanna Wolff, Christa Mulack oder Dorothee Sölle geachtet und nicht geächtet sind. Diese Kirchenrevolution ist bereits im Gang, auch wenn es viele Kirchenfürsten noch nicht gemerkt haben.
Je mehr Menschen von einer jesuanischen Kirche träumen, desto eher wird sie Realität. Bevor unsere Träume wahr werden, müssen wir aber erst mal träumen. Der indische Ex-Präsident Abdul Kalam: »Träumt, träumt, träumt! Träume werden Gedanken und aus Gedanken werden Taten.«
Damit aber Neues wachsen kann, muss erst mit dem Überkommenen und Übernommenen aufgeräumt werden. Diese Aufräumarbeiten können schmerzlich sein, wie wir alle aus unseren persönlichen Erfahrungen mit Aufräumarbeiten wissen. Jesuanische Kirchen sollten keine Moralpolizei sein, aber Menschen bei Gewissensentscheidungen inspirieren. Dafür braucht es therapeutische Begleitung und Hilfestellung, aber keine hierarchische und klerikale Befehlsgewalt.
Jesus träumte vom Reich Gottes, aber es kam die real existierende Männerkirche. Wenn die Kirche an Pfingsten wirklich vom Heiligen Geist erfüllt wurde, warum strahlt sie dann heute so wenig Geistesgegenwart aus? Warum so viel frommes Schweigen zu aktuellen Problemen? Die Frage nach dem Reich Gottes ist grundsätzlich die Frage nach sozialer Gerechtigkeit, nach Gleichwertigkeit von Mann und Frau, nach ökologischem Gleichgewicht und nach Frieden in einer Gesellschaft. Das sind die zentralen Bewährungsproben christlicher Praxis im Geiste der Bergpredigt.
Um fair zu sein: Die christlichen Kirchen haben immerhin das Andenken an Jesus bewahrt. Und im Laufe meines langen Lebens bin ich immer wieder Männern und Frauen begegnet, die beispielhaft und überzeugend im Geiste Jesu gelebt und gearbeitet haben. Die katholische Weltkirche unterhält weltweit über 100 000 soziale und humanitäre Institutionen. Dafür bin ich sehr dankbar – bei aller Kritik an der real existierenden Männerkirche. Männerkirchen sind jedoch kranke Kirchen.
Es ist niemals christlich oder jesuanisch, an der Realität von Armut und Ungerechtigkeit oder an der Zerstörung der Natur vorbeiglauben zu wollen.
Einige Prozent der Taufscheinchristen gehen zwar noch in die Kirche, aber auch sie wissen, dass sie dort oft mit Märchen, Mythen und vorchristlicher Magie abgespeist werden anstatt mit jesuanischem Schwarzbrot. Kirche ist ein Gott-Mensch-Projekt. Erfüllt sie diesen Auftrag noch?
Kirche muss nicht fragen: Wie kriegen wir die Menschen wieder in die Kirchen rein? Sondern: Wie gehen wir zu den Menschen raus? Vor