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Das Ende der DDR: Eine politische Autopsie
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eBook838 Seiten8 Stunden

Das Ende der DDR: Eine politische Autopsie

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Über dieses E-Book

Die Dokumente, die in diesem Buch gesammelt sind, entstanden im Feuer der Ereignisse – von den Massendemonstrationen in der DDR 1989 bis zur Wiedervereinigung im Herbst 1990. Es sind Leitartikel, Kommentare, programmatische Erklärungen und Reportagen aus der Neuen Arbeiterpresse, der Zeitung des Bunds Sozialistischer Arbeiter, der deutschen Sektion der Vierten Internationale. Zusammengenommen ergibt diese Sammlung eine detaillierte Autopsie des Zusammenbruchs der DDR – seiner historischen Ursachen, seiner internationalen Hintergründe, der handelnden politischen Parteien und Tendenzen, gesellschaftlichen Klassen, Schichten und Personen und der aufeinander prallenden Interessen.
Eingeleitet wird der Band mit einem ausführlichen Vorwort von Peter Schwarz über die Rolle des Stalinismus in Deutschland.
Der Bund Sozialistischer Arbeiter hat sich in Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) umbenannt.
SpracheDeutsch
HerausgeberMEHRING Verlag
Erscheinungsdatum10. Aug. 2020
ISBN9783886347544
Das Ende der DDR: Eine politische Autopsie

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    Buchvorschau

    Das Ende der DDR - Peter Schwarz

    Kurzbiografien

    Einleitung

    Die Rolle des Stalinismus in Deutschland

    von Peter Schwarz

    Es ist kaum möglich, sämtliche Leitartikel und Kommentare zu zählen, die während der letzten drei Jahre zum Thema »Das Ende des Sozialismus« geschrieben worden sind. Doch die große Zahl derer, die im Zusammenbruch der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und später der Sowjetunion das Scheitern der Lehren von Karl Marx und das Fehlen jeder Alternative zum Kapitalismus erkennen wollen, ändert nichts daran, dass solche Theo­rien an der Oberfläche der Ereignisse stehen bleiben und vollkommen unfähig sind, die ihnen zugrunde liegenden historischen Prozesse aufzudecken. Die These vom »Ende des Sozia­lismus« entspringt eher dem Wunschdenken, eineinhalb Jahrhunderte nach dem Erscheinen des »Kommunistischen Manifests« endlich das »Gespenst des Kommunismus« loszuwerden, als den Ansprüchen einer ernsthaften wissenschaftlichen Untersuchung.

    Tatsache bleibt, dass die Journalisten und Politiker, die jetzt im Brustton der Überzeugung das »Ende des Sozialismus« verkünden, von den Ereignissen in der DDR völlig überrascht wurden. Bundeskanzler Kohl empfing noch 1987 im festen Vertrauen auf die Stabilität der DDR deren Staatschef Honecker mit allen protokollarischen Ehren in Bonn. Und die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) verstärkte zur selben Zeit ihre Zusammenarbeit mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) durch die Bildung einer gemeinsamen Programmkommission. Selbst der DDR-Spezialist unter den westdeutschen Historikern, Hermann Weber, schrieb in der Einleitung zu seiner 1985 veröffentlichten »Geschichte der DDR«, es sei »positiv zu vermerken …, dass die DDR einer der historisch stabilsten Staaten der neueren deutschen Geschichte ist«. [1]

    Und ebenso wenig wie den Zusammenbruch der DDR und der Sowjetunion haben sie die soziale, wirtschaftliche und politische Katastrophe vorausgesehen, die statt des versprochenen demokratischen und marktwirtschaftlichen Paradieses über den Osten Deutschlands, die Länder Osteuropas und die ehemalige Sowjetunion hereingebrochen ist und zusehends auch den Westen in Mitleidenschaft zieht.

    Das vorliegende Buch über den Zusammenbruch der DDR geht von einem völlig anderen Standpunkt an die Ereignisse heran. Anstatt Vorurteile und Klischees wiederzukäuen, forscht es nach den tieferliegenden Faktoren, die zu den dramatischen Ereignissen der Jahre 1989 und 1990 führten. Sein Ziel ist es, hinter den Schlagworten, Parolen und Ideologien, die Aufstieg und Fall der DDR begleiteten, die gesellschaftlichen, ökonomischen und historischen Triebkräfte aufzudecken. Die Unterscheidung zwischen objektiven gesellschaftlichen Veränderungen und den ideologischen Formen, durch welche diese verschleiert werden, zwischen Anspruch und Wirklichkeit, ist im Falle der DDR umso wichtiger, als die herrschende Bürokratie von Anfang an gezwungen war, ihre tatsächliche Rolle hinter einer Maske dem Marxismus entlehnter Phrasen zu verbergen, und sich der Untergang der DDR unter einer Flut von Illusionen, falschen Versprechungen und trügerischen Hoffnungen vollzog.

    Die Dokumente, die in diesem Buch gesammelt sind, entstanden im Feuer der Ereignisse. Es sind Leitartikel, Kommentare, programmatische Erklärungen und Reportagen aus der »Neuen Arbeiterpresse«, der Zeitung des Bunds Sozialistischer Arbeiter, der deutschen Sektion der Vierten Internationale, die bis Ende 1989 vierzehntägig, ab Januar 1990 wöchentlich erschien. [2]

    Etwa ein Drittel aller Veröffentlichungen über die Ereignisse in der DDR aus der Zeit zwischen der Massenflucht im Sommer 1989 und der Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 sind für diesen Band ausgewählt worden. Sie sind in zehn Kapitel gegliedert, von denen jedes mit einer kurzen Einleitung versehen ist, die die einzelnen Artikel historisch einordnet. Zusammengenommen ergibt diese Sammlung eine detaillierte Autopsie des Zusammenbruchs der DDR – seiner historischen Ursachen, seiner internationalen Hintergründe, der handelnden politischen Parteien und Tendenzen, gesellschaftlichen Klassen, Schichten und Personen und der aufeinanderprallenden Interessen.

    Die Artikel sind nicht vom Standpunkt des Beobachters, sondern des aktiven Teilnehmers geschrieben. Doch das tut ihrer Objektivität keinen Abbruch. Im Gegenteil. Wahre Objektivität schließt Parteinahme nicht aus, sondern setzt sie voraus. Die Maske scheinbarer Neutralität gegenüber Ereignissen, die das Leben von Millionen Menschen verändern, kennzeichnet nicht eine objektive Betrachtungsweise, sondern verbirgt lediglich den Standpunkt des Autors vor dem Leser. Wer würde schon einen Historiker ernst nehmen, der sich etwa im Kampf zwischen Inquisition und aufsteigendem Bürgertum »neutral« verhält? Es wäre sofort klar, dass es sich um einen Reaktionär handelt. Dasselbe gilt für die jüngste Geschichte.

    Wir überlassen es dem Leser, sich ein Urteil über die Analysen und Schlussfolgerungen zu bilden, zu denen der Bund Sozialistischer Arbeiter im Sturm des Geschehens gelangt ist. Alle Artikel sind unverändert, so wie sie geschrieben wurden, wiedergegeben. Lediglich einige Kürzungen wurden vorgenommen, um – in einer periodischen Zeitung unvermeidliche – Wiederholungen zu vermeiden. Der Leser wird schnell feststellen, dass der Bund Sozialistischer Arbeiter im Gegensatz zu den bürgerlichen Journalisten und Politikern weder von den Ereignissen noch von ihren Folgen überrascht wurde. [3]

    Stalinismus und Sozialismus

    Die bürgerlichen Kommentatoren der Ereignisse in der DDR bemerken in ihrem Eifer gar nicht, dass sie mit der Parole vom »Ende des Sozialismus« nur das Lügengewebe weiterspinnen, das der stalinistischen Bürokratie selbst jahrzehntelang zur Rechtfertigung ihrer Herrschaft diente: dass nämlich die von ihr errichtete Diktatur eine Form des Sozialismus darstelle. Die Gleichsetzung von Stalinismus und Sozialismus, einst die Lebenslüge des SED-Regimes, ist heute zur Lebenslüge der deutschen Bourgeoisie geworden.

    In Wirklichkeit ist es unmöglich, die Ursachen für den Zusammenbruch der DDR zu verstehen, ohne die zersetzende Rolle zu untersuchen, die der Stalinismus über sieben Jahrzehnte hinweg in der internationalen sozialistischen Bewegung gespielt hat. In der DDR ist nicht der Sozialismus gescheitert. Es kommt der Wahrheit schon wesentlich näher, wenn man sagt, dass aufgrund der Unterdrückung des Sozialismus durch die stalinistische Bürokratie die DDR gescheitert ist. Man muss, um das Schicksal der DDR zu verstehen, zu den Ursprüngen des Stalinismus zurückgehen.

    Es ist von Gegnern des Sozialismus oft versucht worden, die russische Oktoberrevolution von 1917 als Ergebnis einer Verschwörung oder als Putsch einer kleinen Minderheit und dementsprechend die stalinistische Diktatur als konsequente Fortsetzung der bolschewistischen Methoden darzustellen. Auch von den Epigonen des Stalinismus in Moskau werden heute solche Theorien wieder aufgewärmt. Historisch sind sie völlig unhaltbar.

    Ohne die bewusste, auf tiefer Überzeugung beruhende Unterstützung breiter Massen hätten die Bolschewiki die Macht weder erobern noch unter unsäglichen Opfern in einem dreijährigen Bürgerkrieg verteidigen können. Die Oktoberrevolution war der Höhepunkt einer langen Periode, die einen beispiellosen Aufschwung der internationalen sozialistischen Arbeiterbewegung erlebt hatte. Lenin, Trotzki und die Bolschewiki konnten sich auf die Arbeit der Ersten und der Zweiten Internationale stützen, die zwei Generationen von Arbeitern mit den Grundlagen des Marxismus und seinen Quellen, den fortgeschrittensten ökonomischen, philosophischen und sozialistischen Theorien der Zeit, vertraut gemacht hatten. Vor allem die deutsche SPD galt um die Jahrhundertwende als Musterbeispiel einer marxistischen Massenpartei. Sie konnte auf die bewusste Mitarbeit und aktive Unterstützung von Hunderttausenden Arbeitern zählen und hatte mit dem Apparat von gutbezahlten Funktionären, Karrieristen und Postenjägern, der sich heute SPD nennt, nicht die geringste Ähnlichkeit. Es ist bekannt, dass die Führung der SPD 1914 ihr Programm verriet und vor der Welle des Nationalismus, die mit dem Ersten Weltkrieg einherging, kapitulierte. Aber die marxistische Kultur, die sie in der Arbeiterklasse geschaffen hatte, konnte nicht über Nacht zerstört werden.

    Diese marxistische Kultur hatte auch in der russischen Arbeiterklasse Wurzeln geschlagen. Wie sonst ist die Welle der Begeisterung, der Höhenflug der Gedanken zu erklären, der mit der Oktoberrevolution einherging und sich keineswegs nur auf das Gebiet von Politik und Wirtschaft beschränkte; so rief die junge Sowjetunion trotz der materiellen Not eine Blüte der Kunst hervor, die sie auf zahlreichen Gebieten – wie dem Film, dem Theater und der Architektur – an die Spitze der internationalen Entwicklung stellte.

    Die historische Rolle des Stalinismus bestand darin, das Ergebnis dieser Arbeit des Marxismus zu zerstören. Die von Stalin geführte Fraktion in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) begann Mitte der zwanziger Jahre damit, die theoretischen Grundlagen des Marxismus anzugreifen und die Geschichte der Revolution zu fälschen. Bald ging sie dazu über, ihre marxistischen Gegner aus der Partei zu werfen. Dann schickte sie sie in die Verbannung und ins Exil. Doch dabei ließ sie es nicht bewenden. In den dreißiger Jahren machte sie sich daran, jeden, der in irgendeiner Beziehung zur Oktoberrevolution stand, physisch zu vernichten. Die berüchtigten Moskauer Prozesse, denen die gesamte Führung von Lenins bolschewistischer Partei zum Opfer fiel, waren nur die Spitze des Eisbergs. Millionen wurden in den Säuberungen umgebracht. Dabei machte der Stalinismus nicht bei seinen politischen Gegnern halt. Jeden, der einen fortschrittlichen oder selbständigen Gedanken im Kopf hatte, betrachtete er als Gefahr. Die Führungsspitze der Roten Armee wurde – am Vorabend des Weltkriegs – ebenso liquidiert wie eine ganze Generation von fähigen Ingenieuren, Ökonomen, Wissenschaftlern und Künstlern, die im Aufbau der sowjetischen Wirtschaft und Gesellschaft Beispielhaftes geleistet hatten. Es ist unmöglich, in Zahlen auszudrücken, welchen Schaden die Ablösung dieser Blüte des menschlichen Geistes durch ein Heer völlig inkompetenter, aber linientreuer Bürokraten in der sowjetischen Wirtschaft angerichtet hat.

    Hauptziel der Säuberungen blieben aber die Trotzkisten, die als einzige Gegner Stalins in vollem Umfang den Marxismus und die Grundlagen der Oktoberrevolution verteidigten. Wer als »Spion« oder wegen »Sabotage« verhaftet wurde, konnte noch hoffen, mit einer Lagerstrafe davonzukommen und sie bei robuster Natur sogar zu überleben. Wer als »Trotzkist« angeklagt wurde, konnte sich einer Kugel im Hinterkopf absolut sicher sein. Wurde in einem Betrieb ein »trotzkistischer« Arbeiter entdeckt, so wanderte nicht nur er, sondern die gesamte Abteilung vor das Erschießungskommando. Die Jagd nach Trotzkisten machte an der sowjetischen Grenze nicht halt. Rund um die Welt jagten die Mörderkommandos der stalinistischen Geheimpolizei nach linken Kritikern des Kremls. Kein Regime, das Hitlers nicht ausgenommen, hat derartig zielstrebig, systematisch und unerbittlich überzeugte Marxisten verfolgt wie dasjenige Stalins.

    Sicher berief sich der Stalinismus in Ermangelung einer eigenen Ideologie bei all seinen Verbrechen auf Marx, dessen Schriften er verfälschte und in eine Art Katechismus verwandelte, und auf Lenin, den er mumifizierte und auf dem Roten Platz einmauerte, damit die Spitzen der Bürokratie jedes Jahr am Jahrestag der Revolution mit ihren Stiefeln auf ihm herumtrampeln konnten. Aber diese Mörder- und Verbrecherbande deshalb als Repräsentantin jener Ideale zu betrachten, die einst Millionen Arbeiter beflügelten, das faulende Krebsgeschwür am sozialistischen Körper für den Sozialismus selbst zu halten, ist der Gipfel der historischen Verfälschung, vergleichbar nur mit den Geschichtsfälschungen des Stalinismus selbst. Auf nichts anderem beruht aber die These vom »Ende des Sozialismus«.

    Die Wurzeln des Stalinismus

    Die ideologischen und materiellen Wurzeln des Stalinismus finden sich nicht in den Traditionen der Arbeiterbewegung und des Marxismus, er ist keine, noch nicht einmal eine taube Blüte am Baum des Sozialismus.

    Ideologisch nährte er sich von Abfallbrocken bürgerlicher, um die Jahrhundertwende in die Arbeiterbewegung eingedrungener Ansichten, denen er zu neuem Leben verhalf. So stammt die Theorie vom »Aufbau des Sozialismus in einem Land«, die er zu seiner zentralen ideologischen Achse machte, vom rechten deutschen Sozialdemokraten Georg von Vollmar; in China ruinierte er die Revolution von 1927 gestützt auf eine Wiederbelebung der menschewistischen Zweistufentheorie; und während und nach dem Zweiten Weltkrieg sank er mit der Übernahme der rückständigsten nationalistischen Auffassungen noch viel tiefer.

    Materiell nährte sich der Stalinismus von der Fäulnis und den tiefen Widersprüchen des Imperialismus, zu deren Lösung die Oktoberrevolution zwar ein wichtiger erster Schritt war, die aber im Rahmen eines Landes unmöglich überwunden werden konnten. Mit der Eroberung der Staatsmacht im Oktober 1917 hatte das russische Proletariat eine grundlegende Voraussetzung für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft geschaffen, vollendet werden konnte diese Aufgabe aber nur im Weltmaßstab. Der Aufstieg und Triumph des Stalinismus war die Strafe dafür, dass sich die sozialistische Weltrevolution verzögerte und der erste Arbeiterstaat der Geschichte isoliert blieb.

    Es gab und gibt bis heute zahlreiche Versuche, die Entartung der Sowjetunion darauf zurückzuführen, dass das russische Proletariat die Macht »zu früh« erobert habe: Russland hätte zuerst eine lange Phase der parlamentarischen Demokratie durchmachen müssen, bevor es reif für den Sozialismus sei. Doch diese Auffassung, die sich mit jener des Menschewismus deckt, lässt die internationalen Ursachen der Oktoberrevolution völlig außer Acht. Der Siegeszug des Imperialismus um die Jahrhundertwende, das Vordringen des Finanzkapitals in jeden Winkel der Welt versperrte wirtschaftlich zurückgebliebenen Ländern wie Russland ein für alle Mal den Weg zu einer »normalen« bürgerlichen Entwicklung, ja machte selbst für die fortgeschrittensten kapitalistischen Länder jede weitere friedliche Expansion unmöglich. Das Völkergemetzel des Ersten Weltkriegs war nichts weiter als eine Bestätigung dieser Tatsache.

    Die Arbeiterklasse Russlands war als erstes berufen, den Schritt zur Machteroberung zu wagen, weil in diesem wirtschaftlich relativ zurückgebliebenen Land die internationalen ökonomischen, sozialen und politischen Gegensätze des Imperialismus ihren konzentriertesten Ausdruck fanden; eine weit fortgeschrittene kapitalistische Entwicklung und Klassendifferenzierung der Gesellschaft prallte auf das Erbe der zaristischen Rückständigkeit. Die Monate Februar bis Oktober 1917 bewiesen praktisch, was Trotzki bereits 1906 theoretisch vorausgesagt hatte: dass in Ländern mit verspäteter bürgerlicher Entwicklung die demokratischen Aufgaben nur mittels der Diktatur des Proletariats gelöst werden können. [4]

    Die provisorische Regierung, die den bürgerlichen Parlamentarismus auf ihre Fahne geschrieben hatte, erwies sich als unfähig, auch nur eine Aufgabe der demokratischen Revolution anzupacken, geschweige denn zu lösen. Die Alternative zur Oktoberrevolution lautete nicht bürgerlich-parlamentarische Demokratie und blühender Kapitalismus, sondern Kornilow-Diktatur, Tyrannei und wirtschaftliche Rückständigkeit, wie sie bis heute für die Entwicklungsländer Asiens, Lateinamerikas und Afrikas typisch sind. Dasselbe gilt auch heute noch. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erfährt dies die Arbeiterklasse ihrer Nachfolgestaaten in tragischer Weise am eigenen Leib: Die sogenannten »demokratischen« Regierungen entpuppen sich als Horden von raffgierigen Kompradoren, Mafia-Gangstern und Glücksrittern, die die neu gebildeten Staaten innerhalb kürzester Zeit auf den Status von Halbkolonien herunterbringen.

    Die Abhängigkeit des Schicksals der russischen von dem der internationalen Revolution galt zur Zeit der Oktoberrevolution allen Marxisten als selbstverständlich. In prägnanter Weise formulierte dies Rosa Luxemburg in ihrem 1918 im Gefängnis verfassten Artikel »Zur russischen Revolution«. [5]

    Sie verteidigte darin die Oktoberrevolution gegen die heftigen Angriffe der SPD-Führer, die gemeinsam mit der deutschen Regierung gegen die Bolschewiki Front machten und, indem sie die Revolution in Deutschland unterdrückten, die zentrale Verantwortung für deren Schwierigkeiten trugen. In geradezu prophetischer Voraussicht schrieb Luxemburg:

    Nicht Russlands Unreife, sondern die Unreife des deutschen Proletariats zur Erfüllung der historischen Aufgaben hat der Verlauf des Krieges und der russischen Revolution erwiesen, und dies mit aller Deutlichkeit hervorzukehren ist die erste Aufgabe einer kritischen Betrachtung der russischen Revolution. Die Revolution Russlands war in ihren Schicksalen völlig von den internationalen Ereignissen abhängig. Dass die Bolschewiki ihre Politik gänzlich auf die Weltrevolution des Proletariats stellten, ist gerade das glänzendste Zeugnis ihres politischen Weitblicks und ihrer grundsätzlichen Treue, des kühnen Wurfs ihrer Politik …

    Es wäre in der Tat eine wahnwitzige Vorstellung, dass bei dem ersten welthistorischen Experiment mit der Diktatur der Arbeiterklasse, und zwar unter den denkbar schwersten Bedingungen: mitten im Weltbrand und Chaos eines imperialistischen Völkermordens, in der eisernen Schlinge der reaktionärsten Militärmacht Europas, unter völligem Versagen des internationalen Proletariats, dass bei einem Experiment der Arbeiterdiktatur unter so abnormen Bedingungen just alles, was in Russland getan und gelassen wurde, der Gipfel der Vollkommenheit gewesen sei. Umgekehrt zwingen die elementaren Begriffe der sozialistischen Politik und die Einsicht in ihre notwendigen historischen Voraussetzungen zu der Annahme, dass unter so fatalen Bedingungen auch der riesenhafteste Idealismus und die sturmfesteste revolutionäre Energie nicht Demokratie und nicht Sozialismus, sondern nur ohnmächtige, verzerrte Anläufe zu beiden zu verwirklichen imstande seien.

    Sich dies in allen tiefgehenden Zusammenhängen und Wirkungen klar vor die Augen zu führen ist gerade elementare Pflicht der Sozialisten in allen Ländern; denn nur an einer solchen bitteren Erkenntnis ist die ganze Größe der eigenen Verantwortung des internationalen Proletariats für die Schicksale der russischen Revolution zu ermessen. Andererseits kommt nur auf diesem Wege die entscheidende Wichtigkeit des geschlossenen internationalen Vorgehens der proletarischen Revolution zur Geltung – als eine Grundbedingung, ohne die auch die größte Tüchtigkeit und die höchsten Opfer des Proletariats in einem einzelnen Lande sich unvermeidlich in ein Wirrsal von Widersprüchen und Fehlgriffen verwickeln müssen. [6]

    Das von Luxemburg befürchtete »Wirrsal von Widersprüchen und Fehlgriffen« fand seine Verkörperung im Stalinismus. Die Isolation des ersten Arbeiterstaats verhalf der traditionellen Zurückgebliebenheit und Barbarei Russlands wieder zum Durchbruch. »Armut und kulturelle Rückständigkeit der Massen verkörperten sich noch einmal in der Schreckensgestalt des Gebieters mit großem Knüttel in der Hand. Die abgesetzte und geschmähte Bürokratie wurde aus dem Diener der Gesellschaft wieder ihr Herr«, wie es Trotzki später ausdrückte. [7]

    Verursacht wurde diese Isolation durch die Niederlagen der internationalen und vor allem der deutschen Arbeiterklasse. Die Sozialdemokratie, die die deutsche Novemberrevolution von 1918 im Blut ertränkte und den Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht organisierte, war die eigentliche Geburtshelferin des Stalinismus. Auch später haben sich die sozialdemokratische und die stalinistische Bürokratie trotz heftig zur Schau getragener Feindschaft in ihrer Rolle gegenseitig ergänzt. Beide trugen auf ihre Weise dazu bei, die kapitalistische Herrschaft zu festigen und gegen die Gefahr eines proletarischen Aufstands zu sichern. Wann immer die Situation wirklich kritisch wurde, waren sie auch zur direkten Zusammenarbeit bereit. Das erstreckte sich von Einzelfragen – wie der Verweigerung eines Visums für Trotzki – bis hin zu den Volksfrontregierungen der dreißiger Jahre, in denen sozialdemokratische und stalinistische Minister gemeinsam das Überleben der französischen, bzw. spanischen Bourgeoisie sicherten. Nach dem Zweiten Weltkrieg verdankte die Sozialdemokratie ihren erneuten Aufschwung unmittelbar den Verbrechen des Stalinismus, die zahlreiche Arbeiter, die längst mit dem Reformismus gebrochen hatten, in ihre Arme zurückstießen. Dieser Zusammenhang wird von den SPD-Führern, die heute über den Zusammenbruch des Stalinismus triumphieren, gerne aus den Augen verloren. Tatsächlich hat der Kollaps der stalinistischen Bürokratie auch die Totenglocke für die Sozialdemokratie geläutet.

    Erleichtert wurde der Aufstieg der stalinistischen Bürokratie durch mehrere Umstände. Zum einen führten Mangel und Not dazu, dass der Staatsapparat nicht – wie es Lenin für eine sozialistische Gesellschaft vorausgesagt hatte – abstarb, sondern an Bedeutung gewann. Als »Polizist der Ungleichheit« wachte die Bürokratie über die Verteilung der knappen Güter, wobei sie selbstverständlich darauf achtete, dass sie selbst nicht zu kurz kam. Zum anderen war die revolutionäre Vorhut der Arbeiterklasse durch Revolution und Bürgerkrieg erschöpft. Konservative Schichten, die der Revolution feindlich oder passiv gegenübergestanden hatten, drängten in Staat und Partei. Stalin, der von seiner Mentalität her seit jeher solchen Schichten zuneigte, riss ihnen die Tür weit auf. Das Hereinfluten neuer, unausgebildeter Kräfte in die Partei drängte die Marxisten in die Minderheit. Organisiert in der von Trotzki geführten Linken Opposition, leisteten sie dem Aufstieg der Bürokratie erbitterten Widerstand. Doch die Bürokratie siegte, »nicht mit Ideen und Argumenten, sondern durch ihr eigenes soziales Schwergewicht. Das bleierne Hinterteil der Bürokratie wog schwerer als der Kopf der Revolution.« [8]

    Mit der Theorie vom »Aufbau des Sozialismus in einem Land«, die Stalin 1924 nach Lenins Tod verkündete, schuf sich die Bürokratie eine eigene theoretische Achse. Laut Stalin war der Erfolg der sozialistischen Revolution in einer Reihe fortgeschrittener kapitalistischer Länder nicht länger die Voraussetzung für den Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion. Der Sozialismus, lautete die neue Lehre, konnte allein innerhalb der Grenzen der Sowjetunion vollendet werden.

    Ungeachtet der Bemühungen ganzer Heerscharen vom Stalinismus korrumpierter Akademiker, diese Theorie mithilfe zusammengeklaubter Zitate auf Lenin zurückzuführen, bedeutete sie einen grundlegenden Bruch mit dem Marxismus. Der Marxismus versteht unter »Sozialismus« eine höhere historische Entwicklungsstufe der menschlichen Gesellschaft, die sich auf entsprechend fortschrittlichere Produktivkräfte als der Kapitalismus stützen muss. Schon die in der kapitalistischen Gesellschaft erreichten gigantischen Fortschritte von Industrie und Technik waren nur dank einer internationalen Arbeitsteilung möglich; eine sozialistische Gesellschaft kann sich daher erst recht nicht im Rahmen von isolierten Wirtschaftseinheiten entwickeln. Die Notwendigkeit für die sozialistische Revolution ergibt sich gerade daraus, dass in der kapitalistischen Gesellschaft die Produktivkräfte über die nationalen Grenzen hinausgewachsen und in unversöhnlichen Konflikt mit diesen geraten sind. Der proletarische Internationalismus beruht auf der Unhaltbarkeit des nationalen Staates, der sich längst überlebt hat und zum Hemmschuh für die Entwicklung der Produktivkräfte geworden ist.

    Die Theorie vom »Sozialismus in einem Land« entsprach den konservativen Bedürfnissen einer Bürokratie, die eben dabei war, ihre Stellung als privilegierte Kaste zu festigen, und jeden Gedanken an weitere Revolutionen hasste und als Bedrohung empfand. Ihre Folgen waren verheerend. Im Innern führte der utopische Versuch, losgelöst von den Ressourcen der Weltwirtschaft eine harmonische Entwicklung aller Produktionszweige herbeizuführen, zu ständigen Erschütterungen und wirtschaftlichen Katastrophen, auf die die Bürokratie mit panischen Kurskorrekturen nach links und nach rechts reagierte, die die Sache nur noch schlimmer machten. Auf internationaler Ebene führte die neue Doktrin zu einer Neudefinition der Aufgaben und schließlich zur Auflösung der Kommunistischen Internationale. Gegründet als Weltpartei der sozialistischen Revolution, degenerierte sie zu einem Hilfs­instrument der sowjetischen Außenpolitik, bis Stalin sie schließlich, um seinen imperialistischen Verbündeten seine unbedingte Loyalität zu demonstrieren, 1943 liquidierte.

    Die Zerstörung der KPD

    Eines der Hauptopfer der zerstörerischen Arbeit des Stalinismus in der internationalen Arbeiterbewegung war die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). Die SED hat sich immer auf die Tradition der KPD berufen; tatsächlich war jedoch die Staatspartei der DDR das exakte Gegenteil jener revolutionären Organisation, die zwischen dem 30. Dezember 1918 und dem 1. Januar 1919 mitten im aufrührerischen Berlin gegründet wurde. Zwischen der Gründung der KPD und ihrer Vereinigung mit der SPD zur SED lagen knapp drei Jahrzehnte des politischen und theoretischen Niedergangs, von wiederholten, systematischen Säuberungen der Führung, sowie die verheerende Niederlage von 1933.

    Die KPD ging aus dem Kampf hervor, den der revolutionäre Flügel der deutschen Sozialdemokratie rund zwanzig Jahre lang gegen den wachsenden Opportunismus in der SPD geführt hatte. Die überragende Rolle spielte dabei Rosa Luxemburg, die, trotz heftig ausgefochtener Differenzen in einigen Einzelfragen, Lenin und Trotzki politisch sehr nahestand. Im Gegensatz zu Lenin, der sich bereits sehr früh auch organisatorisch vom Opportunismus abgrenzte, brach Rosa Luxemburg allerdings erst 1914 mit der Mehrheits-SPD, als diese den Krediten für den Ersten Weltkrieg zustimmte. Die »Gruppe Internationale«, der spätere Spartakusbund, wurde gebildet, aus dem dann die KPD hervorging.

    Die neue Partei, die für die Schaffung eines Rätedeutschlands als Schritt zur sozialistischen Weltrevolution eintrat, gewann schnell an Einfluss. Im März 1919 schloss sie sich als erste Sektion der soeben gegründeten Kommunistischen Internationale an. Ende 1920 trat ihr der linke Flügel der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) mit 300 000 Mitgliedern bei, was die Gesamtmitgliederzahl mehr als verfünffachte.

    Es war unvermeidlich, dass diese junge, schnell wachsende Partei, die sich zudem ständig im Feuer der Revolution bewähren musste, durch einen heftigen inneren Klärungsprozess ging, von Fraktionskämpfen aufgewühlt wurde und eine Reihe von Spaltungen durchmachte. Zusätzlich erschwert wurde dieser Reifungsprozess durch den Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, durch den die KPD nur zwei Wochen nach ihrer Gründung ihre erfahrensten Kader verlor. Aber es war schließlich der wachsende Einfluss des Stalinismus, der das Heranreifen einer gefestigten marxistischen Führung vollends vereitelte.

    1923 erlebte die Partei einen entscheidenden Test. In Deutschland entwickelte sich eine umfassende revolutionäre Krise. Im Januar besetzte Frankreich das Ruhrgebiet, um ausstehende Reparationszahlungen einzutreiben, und versetzte damit der wackligen Wirtschaft den Todesstoß. Der Wechselkurs der Mark gegenüber dem Dollar stieg von 8400 Mark zu Jahresbeginn auf die schwindelerregende Höhe von 4 Billionen Mark Ende November. Für die Arbeiterklasse wurde das Leben unerträglich, die Mittelklassen verloren ihre gesamten Ersparnisse. Am 26. September verhängte Reichspräsident Ebert (SPD) den Ausnahmezustand. In Bayern rebellierten rechte Reichswehrtruppen; im November versuchten Hitler und General Ludendorff einen Putsch. In Thüringen und Sachsen waren linke SPD-Regierungen an der Macht, an denen sich zeitweise auch die KPD beteiligte. Sie begannen mit dem Aufstellen von proletarischen Verteidigungsformationen.

    Unter diesen Bedingungen bereitete sich die KPD nach langem anfänglichem Zögern in enger Zusammenarbeit mit der Komintern-Führung auf einen gesamtdeutschen Aufstand vor. Als Termin war die erste Novemberhälfte vorgesehen. Doch die Ereignisse überstürzten sich, als die Berliner Regierung – eine Große Koalition, bestehend aus Stresemanns Deutscher Volkspartei und der SPD – die Reichswehr gegen die sächsische Regierung in Gang setzte. In dieser kritischen Situation gab die KPD die Initiative aus der Hand. Sie überließ die Entscheidung über einen Generalstreik in Sachsen, der das Signal zum Aufstand geben sollte, einer Arbeiterkonferenz, die am 21. Oktober in Chemnitz tagte. Die Delegierten, überwiegend Gewerkschafter und Betriebsräte, lehnten ab. Die KPD-Führung beschloss am selben Abend, die Erhebung abzusagen. Hamburg erreichte dieser Beschluss allerdings nicht mehr. Dort brach am 23. Oktober ein Aufstand aus, der, isoliert geblieben, innerhalb von drei Tagen niedergeschlagen wurde.

    Die Rechte wusste die Lähmung der KPD zu nutzen und schlug zurück. Das Kabinett Stresemann trat zurück und Ebert übertrug die vollziehende Gewalt dem Chef der Heeresleitung, General von Seeckt. Die KPD wurde sofort verboten. Die wirtschaftliche und politische Situation stabilisierte sich langsam. Der »Deutsche Oktober« war gescheitert, eine außergewöhnliche revolutionäre Gelegenheit ungenutzt verstrichen, weil die Führung der KPD zu lange gezögert und unentschlossen taktiert hatte.

    Die Niederlage von 1923 warf die KPD in eine schwere Krise. Sie verlor fast drei Viertel ihrer Mitglieder und konnte in der folgenden, fünfjährigen Phase der wirtschaftlichen Stabilisierung nur langsam wieder Fuß fassen. Gleichzeitig stärkte die deutsche Niederlage die stalinistische Fraktion in der KPdSU, in der sich Stalin, Sinowjew und Kamenew zu einem Bündnis gegen Trotzki zusammengeschlossen hatten. Kurz danach wagte es Stalin zum ersten Mal, die These vom »Sozialismus in einem Land« öffentlich zu verkünden. Hätte die KPD aus ihren Fehlern gelernt und eine nüchterne Bilanz gezogen, sie hätte sich von der Niederlage erholt und wäre 1929, als die kurze wirtschaftliche Erholungsphase mit Krach zu Ende ging, in der Lage gewesen, einen neuen revolutionären Aufschwung einzuleiten und dem Faschismus die Stirn zu bieten. Doch genau das wurde durch den Aufstieg des Stalinismus verhindert.

    Sinowjew und Stalin versuchten, den KPD-Führer Brandler zum alleinigen Sündenbock zu stempeln, obwohl Sinowjew selbst, der als Vorsitzender des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale Brandlers zurückhaltenden Kurs monatelang unterstützt hatte, eine ebenso große Verantwortung traf. Gegen Trotzki, der eine überhastete organisatorische Lösung ablehnte und sich bemühte, die politischen Lehren zu ziehen, wurde eine bösartige Hetzkampagne in Gang gesetzt. Sie steigerte sich zur Raserei, als er in der Schrift »Die Lehren des Oktober« die Parallele zwischen dem Verhalten Brandlers 1923 und dem Verhalten Sinowjews und Kamenews 1917 aufzeigte. Beide hatten sich damals gegen den Oktoberaufstand gestellt.

    Im Januar 1924 wurde Brandler seiner Funktionen enthoben und durch Vertreter des linken Parteiflügels ersetzt. Ruth Fischer und Arkadij Maslow spielten nun die führende Rolle in der Partei; Ernst Thälmann wurde stellvertretender Parteivorsitzender. Während sich der Klassenkampf merklich abkühlte, setzte die neue Führung einen ultralinken Kurs durch, der zur Folge hatte, dass sich die Partei weiter von der Arbeiterklasse isolierte.

    Es folgten weitere Führungswechsel, hervorgerufen nicht durch die Klärung politischer Fragen, sondern durch die Frak­tionskämpfe und die Bedürfnisse der Stalin-Clique in Moskau. Als 1925 das Bündnis zwischen Stalin auf der einen und Sinowjew und Kamenew auf der anderen Seite in Brüche ging, wurden auch Fischer und Maslow ihrer Führungsfunktionen enthoben und ein Jahr später aus der Partei ausgeschlossen. Entsprechend der Entwicklung in der Sowjetunion, wo Stalin ein Bündnis mit den Rechten unter Bucharin eingegangen war, wurde auch in der KPD ein Rechtsschwenk durchgeführt. Die Positionen von Fischer und Maslow wurden nun von Philipp Dengel, Ernst Meyer und Arthur Ewert eingenommen, die 1928, als Stalin mit Bucharin in Konflikt geriet und einen erneuten Linksschwenk machte, durch Hermann Remmele und Heinz Neumann ersetzt wurden.

    Der einzige, der all diese Schwankungen und Kurswechsel unbeschadet überlebte, war Ernst Thälmann. Nach der Absetzung von Fischer und Maslow wurde er 1925 Parteivorsitzender und behielt dieses Amt bis zu seiner Verhaftung im März 1933. Thälmann war 1920 mit der Hamburger USPD zur KPD gestoßen und galt bald als ein Vertreter ihres linken Flügels. Doch seine linken Standpunkte waren mehr von gefühlsmäßiger Radikalität als von theoretischer Einsicht bestimmt und vertrugen sich ohne weiteres mit jener Rückgratlosigkeit, die ihn zum bedingungslosen Statthalter Stalins in Deutschland befähigte. Seit 1928 band ihn auch noch ein Korruptionsskandal persönlich an Stalin. Er hatte versucht, die Unterschlagung von Parteigeldern durch seinen engen Freund und Vertrauten, den Hamburger KPD-Funktionär Wittorf, zu vertuschen. Das Zentralkomitee enthob ihn deshalb von allen Funktionen. Erst Stalins persönliches Eingreifen verhalf ihm wieder zum Amt des Parteivorsitzenden.

    1928/29 vollzog die Kommunistische Internationale erneut einen Linksschwenk und stellte die Weichen für jenen verhängnisvollen Kurs, der zur vernichtenden Niederlage der KPD und der deutschen Arbeiterklasse führen sollte. Sie verkündete den Beginn der sogenannten »Dritten Periode«: weltweit habe nun ein jäher und geradliniger revolutionärer Aufschwung eingesetzt. Auch diese taktische Neuorientierung entsprach nicht einer Einschätzung der objektiven Lage, sondern den Bedürfnissen der Stalin-Bürokratie. Sie war in der Sowjetunion mit einer Rebellion der Kulaken konfrontiert, jener bürgerlichen Elemente, die sie zuvor selbst jahrelang genährt hatte. Mit beispielloser Brutalität machte sie sich nun an die »Liquidation der Kulaken«, während sie gleichzeitig noch wütender gegen die trotzkistische Linke Opposition vorging, die seit langem vor einer solchen Entwicklung gewarnt hatte, und Trotzki selbst in die Türkei verbannte.

    In Deutschland fand der neue ultralinke Kurs seine Krönung in der Theorie vom »Sozialfaschismus«. Danach war die SPD eine »sozialfaschistische« Partei, der Zwillingsbruder der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). Sie wurde zum »Hauptfeind« der KPD erklärt. Jede Einheitsfront gegen die Nazis mit ihr wurde strikt abgelehnt. Bis zur Machtübernahme Hitlers im Januar 1933, ja sogar noch einige Monate danach, bildete die Sozialfaschismustheorie den Dreh- und Angelpunkt der Politik der KPD.

    Diese Theorie beruhte auf einer ungeheuren, vulgären Verflachung des Marxismus. Ohne Zweifel verfolgte die SPD eine Politik, die sich gegen die Arbeiterklasse richtete, den bürgerlichen Staat verteidigte und den Aufstieg des Faschismus begünstigte. Aber daraus den Schluss zu ziehen, dass es keinen Unterschied zwischen SPD und NSDAP gab, war völlig abwegig. Trotzki, der in dieser Zeit mit Dutzenden von Broschüren und Artikeln gegen diesen unsinnigen Kurs ankämpfte, bemerkte dazu:

    Die Sozialdemokratie, jetzt Hauptvertreterin des parlamentarisch-bürgerlichen Regimes, stützt sich auf die Arbeiter. Der Faschismus auf das Kleinbürgertum. Die Sozialdemokratie kann ohne Arbeitermassenorganisationen keinen Einfluss ausüben, der Faschismus seine Macht nicht anders befestigen als durch Zerschlagung der Arbeiterorganisationen. Haupt­arena der Sozialdemokratie ist das Parlament. Das System des Faschismus fußt auf der Vernichtung des Parlamentarismus. [9]

    Um die Arbeiterklasse gegen den Faschismus zusammenzuschweißen, musste die KPD den Gegensatz zwischen Faschismus und Sozialdemokratie ausnutzen. Stattdessen tat sie alles, um die sozialdemokratischen Arbeiter zurückzustoßen. Dabei ließ sie sich auf solche Niedrigkeiten herab wie den preußischen Volksentscheid. Gemeinsam mit den Faschisten unterstützte sie im Sommer 1931 eine Volksabstimmung gegen die preußische SPD-Regierung.

    Letzten Endes war die Sozialfaschismuspolitik trotz ihres ultralinken Aussehens nur die Form, in der die KPD-Führung vor dem Faschismus kapitulierte. An die Stelle eines wirklichen Kampfs, der die systematische Mobilisierung der Arbeiterklasse vorausgesetzt hätte, trat lautes Geschrei, das niemanden beeindruckte, außer die KPD-Führer selbst. Trotz dem wortradikalen Getöse vom »Sozialfaschismus« kam diese Politik den SPD-Führern entgegen, die nichts so sehr fürchteten, wie die Mobilisierung der Arbeiterklasse. Eine solche Mobilisierung hätte sich unweigerlich nicht nur gegen den Faschismus, sondern auch gegen dessen Nährboden, den kapitalistischen Staat, gerichtet.

    Die Spaltung und Lähmung der Arbeiterklasse ebnete Hitler den Weg an die Macht. Wie sehr der Schlüssel zu den Ereignissen in den Händen der KPD-Führung lag, zeigt allein die Tatsache, dass noch zweieinhalb Monate vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler KPD und SPD bei den Reichstagswahlen zusammen mehr Stimmen erhielten (die SPD 7,2 und die KPD 5,9 Millionen) als die Nazis (11,7 Millionen). Dabei ergeben Wahlen lediglich ein passives Abbild der Gesellschaft und lassen die Dynamik des Klassenkampfs völlig außer Acht. Hätte die KPD mit Taten statt mit Phrasen gegen den Faschismus gekämpft, Teile des verelendeten Kleinbürgertums, die der Demagogie der Nazis zum Opfer fielen, hätten sich stattdessen der KPD angeschlossen.

    Die Hauptverantwortung für die deutsche Niederlage trägt ohne Zweifel Stalin. Aber die KPD-Führung unter Thälmann war keineswegs nur Stalins »Opfer«. Stalin konnte sich auf eine »national-sozialistische« Tradition stützen, die weit zurückliegende Wurzeln in der deutschen Sozialdemokratie hatte und auch in der KPD nie völlig überwunden wurde. 1914 hatte die SPD ihren historischen Verrat mit der Formel gerechtfertigt: »Um den Sozialismus aufzubauen, müssen wir das Vaterland verteidigen.« Der Spartakusbund hatte im Namen des Internationalismus dagegen den Kampf geführt. Doch bereits 1923, während der französischen Ruhrbesetzung, wurden in der KPD wieder offen nationalistische Töne laut. Am 13. Mai veröffentlichte die »Rote Fahne« einen Aufruf, in dem es hieß: »Aufgabe der Kommunistischen Partei Deutschlands ist es, den breiten kleinbürgerlichen und intellektuellen nationalistischen Massen die Augen darüber zu öffnen, dass nur die Arbeiterklasse, nachdem sie gesiegt hat, imstande sein wird, den deutschen Boden, die Schätze der deutschen Kultur und die Zukunft der deutschen Nation zu verteidigen.« [10]

    Dieses Aufgreifen nationalistischer Parolen im Namen einer Hinwendung zu den kleinbürgerlichen Massen fand seinen Höhepunkt im sogenannten »Schlageter-Kurs«, der Verherrlichung eines von den Franzosen hingerichteten Faschisten durch die KPD.

    Während dies eine kurze, wenn auch charakteristische Episode blieb, tauchten unter der Führung Thälmanns immer regelmäßiger nationalistische Parolen in der Propaganda der KPD auf. Thälmann neigte dazu, marxistische Politik durch demagogische Phrasen zu ersetzen. Bekannt wurde er durch seine theatralischen Auftritte in der Pose des »Proleten« und seine kriegerischen Aufmärsche in der Uniform des Rotfrontkämpferbunds, die ihn bis heute zum Idol stalinistischer und kleinbürgerlicher Gruppierungen – wie der DKP oder der MLPD – machen. Während die KPD die Sozialdemokraten als »Sozialfaschisten« beschimpfte, passte sie ihre eigene Agitation an die Demagogie der Nazis an. Anfang 1932 erhob sie die Parole der »Volksrevolution«, die aus dem theoretischen Arsenal des Faschismus stammt und den Klassencharakter der Revolution völlig verwischt, zu ihrer zentralen Losung.

    Am schärfsten und unerbittlichsten gingen Thälmann und seine Anhänger gegen Trotzki und seine deutschen Mitstreiter vor, die unermüdlich für eine Einheitsfront von KPD und SPD gegen den Faschismus eintraten und unter kommunistischen Arbeitern rasch an Unterstützung gewannen. Noch Ende 1932 beschimpfte Thälmann Trotzki deshalb als »bankrotten Faschisten und Konterrevolutionär«.

    Die Komintern reagierte auf die deutsche Niederlage, als wäre nichts geschehen, und betrachtete Hitlers Machtübernahme lediglich als ein Zwischenstadium auf dem Weg zur Revolution. »Die politische Linie und die organisatorische Politik, die das ZK der KPD mit dem Genossen Thälmann an der Spitze bis zum hitlerschen Umsturz befolgte, war vollständig richtig … Die Errichtung der offenen faschistischen Diktatur beschleunigt das Tempo der Entwicklung Deutschlands zur proletarischen Revolution«, hieß es in einer Resolution ihres Exekutivkomitees vom 1. April 1933. Thälmann war inzwischen verhaftet, die KPD verboten und die Gewerkschaftshäuser gestürmt worden.

    Trotzki und die Linke Opposition zogen aus der deutschen Niederlage und der Unfähigkeit der Komintern, daraus zu lernen, den Schluss, dass die Dritte Internationale nicht mehr für einen marxistischen Kurs zurückgewonnen werden konnte, und nahmen den Kampf für eine neue, die Vierte Internationale auf, die 1938 gegründet wurde.

    Erst der siebte Kongress der Komintern im Sommer 1935 vollzog einen Kurswechsel, indem er die »Volksfront« zur offiziellen und allgemeingültigen Taktik erhob. Oberflächlich betrachtet scheint die Volksfront in krassem Gegensatz zur Sozialfaschismuspolitik zu stehen – erklärte letztere selbst ein Bündnis mit der SPD für unzulässig, billigte die Volksfront nun ausdrücklich auch Bündnisse mit rein bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien. Dieser Gegensatz verflüchtigt sich jedoch, betrachtet man den politischen Inhalt der neuen Linie. Auch sie diente dazu, die Arbeiterklasse zu lähmen. Hatte die Sozialfaschismuspolitik dies durch eine politische Spaltung erreicht, so tat die Volksfront dasselbe, indem sie die Arbeiterklasse an die ohnmächtigsten Vertreter des demokratischen Kleinbürgertums kettete. Um ihre neuen Verbündeten nicht zu verprellen, wurde den Kommunistischen Parteien der Verzicht auf alle revolutionären Forderungen verordnet. Die Volksfront kennzeichnete so den vollständigen Übergang des Stalinismus ins bürgerliche Lager – und dies nur wenige Monate, nachdem die Komintern die Sozialdemokratie wegen desselben Vergehens als sozialfaschistisch beschimpft hatte. Sie wurde zur Grundlage für weitere blutige Niederlagen der internationalen Arbeiterklasse.

    In Frankreich erwürgte die von der Kommunistischen Partei gestützte Volksfrontregierung unter Léon Blum die mächtige Streikbewegung von 1936/37, die noch einmal die Chance bot, das Blatt in Europa zu wenden und damit auch das Hitler-Regime zu erschüttern. Im spanischen Bürgerkrieg schließlich trat die Komintern offen als Totengräber der Revolution auf. Die spanische Kommunistische Partei wurde zur wichtigsten Stütze der bürgerlichen, republikanischen Regierung, die sie gegen alle Angriffe von links verteidigte. Trotzkistische und anarchistische Revolutionäre und Mitglieder der zentristischen POUM wurden von der stalinistisch beherrschten Polizei oder dem sowjetischen Geheimdienst GPU gefangengenommen, gefoltert und ermordet. Nicht wenige spätere DDR-Größen machten sich dabei die Hände blutig; so Wilhelm Zaisser (»General Gomez«), der erste Stasi-Chef, und Erich Mielke. Die Kommunistische Partei erstickte jede gegen die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse gewandte Forderung und Initiative im Keim und stieß so die unterdrücktesten Schichten der Bevölkerung, denen es ziemlich gleichgültig war, ob sie unter einer demokratischen oder einer faschistischen Regierung hungerten, in die Passivität oder ins Lager Francos. Indem sie der spanischen Bourgeoisie, die die Arbeiterklasse weit mehr fürchtete als einen Sieg Francos, die militärische Führung überließ, ebnete sie schließlich Franco den Weg zum Sieg. [11]

    Stalins Haltung im spanischen Bürgerkrieg wurde nicht zuletzt durch die Überlegung bestimmt, auf keinen Fall Frankreich und Großbritannien, die er als wichtige Verbündete gegen Hitler betrachtete, durch eine erfolgreiche proletarische Revolution in Spanien zu verprellen. Die stalinistische Bürokratie hatte endgültig aufgehört, die internationale Arbeiterklasse als Garant für die Sicherheit der Sowjetunion zu betrachten, stützte sich stattdessen auf Bündnisse mit unterschiedlichen imperialistischen Mächten und war bereit, jede revolutionäre Bewegung ihren außenpolitischen Manövern zu opfern. Wie zynisch sie dabei vorging, zeigte kurz nach der Niederlage des spanischen Proletariats der Pakt Stalins mit Hitler. Hatte die Verteidigung der »demokratischen« imperialistischen Regierungen gegen den Faschismus eben noch als Begründung für die Erdrosselung des spanischen Proletariats gedient, so verbündete sich nun Stalin selbst mit den Faschisten.

    Die Volksfront bildet bis heute ein Kernstück stalinistischer Politik. Während viele stalinistische Parteien inzwischen eingestehen, dass mit der Sozialfaschismuspolitik »Fehler« gemacht worden seien, wird die Volksfront als die annehmbare Seite des Stalinismus dargestellt. Dabei wird allerdings geflissentlich übersehen, dass die Moskauer Prozesse die untrennbare Kehrseite derselben Politik bildeten. Der Verzicht auf die Revolution im Namen von »demokratischen« und pazifistischen Bündnissen mit bürgerlichen Kreisen erforderte die Unterdrückung und Ausrottung aller revolutionären Elemente, wie sie die stalinistische Bürokratie auf dem Höhepunkt der Volksfront mit blutiger Konsequenz betrieb.

    Selbst die KPD hatte ihren Nutzen für die stalinistische Bürokratie verloren. Kaum einer ihrer Führer überlebte den Zweiten Weltkrieg. Unzählige KPD-Mitglieder, die vor dem Faschismus in die Sowjetunion geflohen waren, fielen den stalinistischen Säuberungen zum Opfer, darunter Thälmanns engste Mitstreiter Neumann und Remmele. [12]

    Hunderte wurden während des Hitler-Stalin-Pakts an die Gestapo ausgeliefert. Thälmann selbst verbrachte zwölf Jahre in faschistischen Kerkern, bis er schließlich ermordet wurde, obwohl es für Stalin 1939 ein leichtes gewesen wäre, ihn freizubekommen. Als Märtyrer leistete er bessere Dienste denn als lebende Erinnerung an die stalinistischen Verbrechen.

    Übrig blieben nur die übelsten Kreaturen und Bluthenker des Stalinismus, Leute wie Ulbricht und Mielke, die den stalinistischen Terror überlebten, weil sie ihre eigenen Genossen denunzierten und ihre unbeschränkte Fähigkeit zur Anpassung bewiesen. Dieser menschliche Abschaum bildete die kommende Führungselite der DDR.

    Der Ursprung der DDR

    Wie kam es zur Gründung der DDR, nachdem die stalinistische Bürokratie bereits in den dreißiger Jahren jeden Gedanken an eine Ausdehnung der sozialistischen Revolution aufgegeben hatte? Diese Frage, die den Schlüssel für ein Verständnis des Klassencharakters der DDR und der gesellschaftlichen Ursachen ihres Zusammenbruchs liefert, wird in der Regel sorgfältig umgangen.

    Tatsache ist, dass Stalin 1945 nichts ferner lag als der Gedanke an ein sozialistisches Deutschland. Er fürchtete ebenso wie seine imperialistischen Verbündeten Roosevelt und Churchill, dass dem Zweiten Weltkrieg ähnlich wie dem Ersten eine Welle revolutionärer Aufstände folgen würde, die auch die Fundamente seines eigenen Regimes erschüttert hätte. Er traf deshalb frühzeitig Vorkehrungen, um einer solchen Entwicklung zuvorzukommen und zu verhindern, dass mit dem Hitler-Regime auch die deutsche Bourgeoisie insgesamt zusammenbrach.

    Im Sommer 1943, als sich nach dem sowjetischen Sieg in Stalingrad die deutsche Niederlage abzeichnete, wurde unter Ulbrichts Leitung das »Nationalkomitee Freies Deutschland« gebildet. Unter der Aufsicht von KPD-Funktionären, zu denen neben Ulbricht auch Pieck und Becher gehörten, gewann es deutsche Wehrmachtsoffiziere aus sowjetischen Kriegsgefangenenlagern zur Mitarbeit. Als Gegenleistung wurde ihnen versprochen, dass das Deutsche Reich in seiner alten Form erhalten und eine sozialistische Revolution verhindert würde; sie selbst sollten im neuen Deutschland führende Positionen einnehmen. Das »Nationalkomitee Freies Deutschland« übernahm die Verantwortung für die sowjetische Propaganda in Deutschland. Seine Anbiederung an die rechtesten Kreise ging so weit, dass es nicht unter der schwarz-rot-goldenen Fahne der Weimarer Republik, sondern unter der schwarz-rot-weißen des Kaiserreichs auftrat. Die »national-sozialistische« Strömung, die in der KPD bereits mit dem »Schlageter-Kurs« und Thälmanns Anbiederung an die Demagogie der Faschisten an die Oberfläche gekommen war, gelangte nun zu voller Blüte. Bis in die fünfziger Jahre hinein sollte sie die Hauptachse der Politik der KPD und der SED bleiben.

    Bei Kriegsende wurden Gruppen von emigrierten KPD-Funktionären, darunter die »Gruppe Ulbricht«, mit dem Auftrag in die sowjetisch besetzte Zone geschickt, sofort alle spontan entstandenen antifaschistischen Komitees und Betriebsräte aufzulösen und Verwaltungen aufzubauen, an denen auch bürgerliche Kräfte beteiligt wurden. Ulbricht selbst schrieb am 9. Mai 1945 nach Moskau:

    Die spontan geschaffenen KPD-Büros, die Volksausschüsse, die Komitees der Bewegung »Freies Deutschland« und die Ausschüsse der Leute des 20. Juli, die vorher illegal arbeiteten, treten jetzt offen auf. Wir haben diese Büros geschlossen und den Genossen klar gemacht, dass jetzt alle Kräfte auf die Arbeit der Stadtverwaltungen konzentriert werden müssen. Die Mitglieder der Ausschüsse müssen ebenfalls in die Stadtverwaltungen überführt und die Ausschüsse selbst liquidiert werden. [13]

    Wolfgang Leonhard, damals Mitglied der »Gruppe Ulbricht«, berichtet in seinem Buch »Die Revolution entlässt ihre Kinder« ausführlich über die rücksichtslose Auflösung aller spontan entstandenen Komitees und kommt zu dem Fazit:

    Erst bei meinem Bruch mit dem Stalinismus wurde mir der Sinn der damaligen Direktive gegen die spontan entstandenen Antifaschistischen Komitees klar: Es war nicht ein Fehler in einer Teilfrage, sondern ein Wesenszug der stalinistischen Politik. Der Stalinismus kann nicht zulassen, dass durch selbständige Initiative von unten antifaschistische, sozialistische und kommunistische Bewegungen oder Organisationen entstehen, denn er liefe stets Gefahr, dass sie sich seiner Kontrolle zu entziehen und sich gegen Direktiven von oben zu stellen versuchten. Die Auflösung der Antifaschistischen Komitees war daher nichts anderes als die Zertrümmerung erster Ansätze einer vielleicht machtvollen, selbständigen, antifaschistischen und sozialistischen Bewegung. Es war der erste Sieg des Apparates über die

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