Chillen inklusive: Die inklusive Entwicklung von Orten der Offenen Jugendarbeit aus der Nutzer:innenperspektive
Von Eva-Maria Thoms und Christian Tollning
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Über dieses E-Book
Eva-Maria Thoms
Frau Thoms ist Journalistin und seit 2006 für Inklusion bei dem Elternverein mittendrin e.V. aktiv.
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Buchvorschau
Chillen inklusive - Eva-Maria Thoms
Vorwort
Seit fast 15 Jahren setzt sich der Elternverein mittendrin e.V. für Inklusion ein. Angefangen haben wir damit, für unsere Kinder das Recht auf inklusive Bildung in den Schulen einzufordern. Inzwischen sind Schulgesetze geändert und vielerorts Fortschritte in der Inklusion gemacht worden. Doch bis heute gibt es noch viele Widerstände.
Befürworter eines getrennten Sonderschulsystems argumentieren zuweilen, die getrennte Beschulung müsse der Teilhabe von jungen Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft doch gar nicht im Wege stehen. Es sei doch viel leichter, sie stattdessen im Freizeitbereich in das Leben der anderen Jugendlichen einzubeziehen – in Sportvereinen, kulturellen Angeboten und in der Jugendarbeit.
Aber gelingt uns Inklusion in der Jugendarbeit wirklich leichter und besser? Obwohl die Jugendarbeit von ihrem Selbstverständnis her sehr offen für Inklusion ist, kommen Jugendliche mit Behinderung in den Freizeitangeboten nicht einfach an. Außerhalb speziell aufgelegter Inklusionsprojekte sind sie in den Orten der Offenen Jugendarbeit nur in seltenen Ausnahmen zu finden.
Um dafür die Gründe zu untersuchen und Handlungsmöglichkeiten zu finden, haben wir das Projekt Chillen inklusive entwickelt. Wir wollten erproben, wie Jugendliche mit Behinderung individuell und unkompliziert in die Angebote der Jugendarbeit am Wohnort integriert werden können. Das Ziel war die inklusive Entwicklung der Offenen Jugendarbeit aus der Nutzer:innenperspektive. Unser großer Dank gilt der Stiftung Wohlfahrtspflege NRW und dort namentlich Norbert Killewald, Stefan Juchems und Petra Reidt-Schmidt, die uns ermöglicht und begleitet haben, mehr als drei Jahre lang an diesem Modellprojekt zu arbeiten.
Unser Dank gilt auch unseren Kooperationspartnern aus der Jugendarbeit sowie den Trägern und Einrichtungen der Offenen Jugendarbeit in Köln und insbesondere der JugZ gGmbH und ihrer Inklusionsbeauftragten Marietheres Waschk, die unsere Arbeit als Impuls verstanden und begrüßt haben, die inklusive Entwicklung der Jugendarbeit erneut genauer in den Blick zu nehmen.
Besonders wertvoll für unsere Arbeit waren die zahlreichen Diskussionen und Reflektionen mit denjenigen Partnern aus der Jugendarbeit, die seit Jahren Erfahrungen mit der Teilhabe von Jugendlichen mit Behinderung in ihrem Bereich gesammelt haben. Neben dem gesamten Team des Jugendhaus Sürth möchten wir hier vor allem die Gründerin des Café Leichtsinn in Bergisch Gladbach, Anne Skribbe, nennen, sowie Bianca Rillinger von der Kölner OT Ohmstraße, Viktoria Dahm vom Haus der Jugend in Neuss und die Kolleg:innen der Rübe in Dormagen und von Abenteuer Lernen in Bonn. Auf der Seite der Behindertenhilfe fanden wir mit der Lebenshilfe Köln und ihrem Jule-Club sehr offene und engagierte Partner:innen.
Prof. Dr. Andrea Platte, Judith Dubiski und Martina Masurek von der TH Köln danken wir für die äußerst anregende wissenschaftliche Begleitung. Mit ihnen zusammen haben wir die wesentlichen Gatekeeper der Inklusion im Bereich der Jugendarbeit herausfinden und Handlungsoptionen entwickeln können, mit deren Hilfe eine nachhaltige inklusive Entwicklung der Offenen Jugendarbeit wirksam unterstützt werden könnte.
Wir danken auch dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales BMAS, das als Focal Point für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention uns die Möglichkeit gab, die Projektergebnisse auf den Inklusionstagen 2019 überregional bekannt zu machen. Und wir danken dem Landesjugendamt des Landschaftsverbands Rheinland LVR, das uns eine Kooperation angeboten hat, um die Folgerungen aus dem Projekt Chillen inklusive durch Fachveranstaltungen in die regionale Fachöffentlichkeit zu bringen, und das sich davon auch durch die Corona-Pandemie nicht aufhalten, sondern allenfalls ein paar Monate bremsen lässt.
Wir hoffen, mit unserer Arbeit zu einer nachhaltigen inklusiven Entwicklung der Jugendarbeit beitragen zu können und freuen uns über Ihr Interesse an unserem Projektbericht.
Mit freundlichen Grüßen
Eva-Maria Thoms und Christine von Kirschbaum mittendrin e.V.
Projektleitung Chillen inklusive
Inhalt
Die Idee
Das Projekt
Die Ausgangssituation am Projekt-Standort Köln
Die Erstkontakte mit der Offenen Jugendarbeit
Die Jugendlichen Projektteilnehmer:innen und ihre Eltern
Erste Besuche der Jugendlichen in der Offenen Jugendarbeit
Die laufende Zusammenarbeit mit den angewählten Orten der Offenen Jugendarbeit
Stolperstein Elternarbeit
Stolperstein Mitarbeiter:innenverhalten
Stolperstein Diskriminierung
Weitere Ansätze zum Erreichen der Zielgruppe
Informations- und Fortbildungsangebote für Orte der Offenen Jugendarbeit
Die Zusammenarbeit mit der JugZ gGmbH
Wissenschaftliche Begleitung (Teil 1)
Erkenntnisse des Projekts Chillen inklusive
Konzeptentwicklung für inklusive Jugendarbeit
Das Fachforum zu den Ergebnissen des Projekts Chillen inklusive
Wissenschaftliche Begleitung (Teil 2)
Nachhaltigkeit
Handlungsempfehlungen
Handlungsleitfaden für Inklusion in der Offenen Jugendarbeit
Beratungsbausteine für Inklusion in der Offenen Jugendarbeit
ANHANG
Kurzdarstellung des Projekts Chillen inklusive
Projektpartner:innen
Fallgeschichten (alle Namen geändert)
Anna
Luisa
Tine
Lilly
Jamal
Julia
Merve
Karla
Martin
Fredo
01.| Die Idee
Wie verbringen Jugendliche mit Behinderung ihre Freizeit?
Für Familien, die ein Kind mit Behinderung haben, stehen meistens dringendere Fragen im Vordergrund. Dies gilt für uns als Eltern im mittendrin e.V. genauso wie für die vielen Familien, die in unsere Beratung kommen. Sie sind auf der Suche nach Kindergärten und nach Schulen, die ihr Kind aufnehmen. Sie verwenden ihre Zeit für Arzt- und Therapeutentermine, sie kämpfen sich immer aufs Neue durch wahre Papierberge, um bei Ämtern und Krankenkassen Anträge auf Leistungen und Hilfsmittel zu stellen. Sie sorgen sich, ob ihr Kind in der Schule gut gefördert wird und mit seiner Behinderung akzeptiert wird. Sie schauen nach außerschulischen Fördermaßnahmen. Sie sorgen sich darum, ob ihr Kind in der Schule genug lernt und sie sorgen sich um die Zukunft.
Doch spätestens wenn aus Kindern Teenager werden, wird auch die Freizeit zum Problem. Die wenigsten Kinder mit Schwerbehinderung – also mit einer körperlichen, einer geistigen Behinderung, mit Autismus oder mit einer Sinnesbehinderung – pflegen unkomplizierte Freundschaften am Wohnort, wie das die meisten anderen Jugendlichen tun. Viele kennen kaum Gleichaltrige in der Nachbarschaft, weil sie nur selten mit ihnen gemeinsam wohnortnahe Schulen besuchen. Einerlei, ob sie eine Förderschule besuchen oder eine Schule des Gemeinsamen Lernens – fast immer sind die Schulwege weit und Schulfreunde am Nachmittag kaum erreichbar, schon gar nicht auf eigene Faust und zum einfach mal spontan vorbeischauen. In dem Alter, in dem Jugendliche ohne Behinderung sich ihre eigene Peergroup suchen und deren Gesellschaft zunehmend viel spannender finden als die ihrer Eltern, bleiben Jugendliche mit Behinderung an den Nachmittagen, an den Wochenenden und in den Ferien auf ihre Eltern und – falls vorhanden – auf ihre Geschwister zurückgeworfen. In vielen Fällen führt dies für die Jugendlichen zu Kontaktarmut und Einsamkeit.
... In dem Alter, in dem Jugendliche ohne Behinderung sich ihre eigene Peergroup suchen und deren Gesellschaft zunehmend viel spannender finden als die ihrer Eltern, bleiben Jugendliche mit Behinderung an den Nachmittagen, an den Wochenenden und in den Ferien auf ihre Eltern und – falls vorhanden – auf ihre Geschwister zurückgeworfen. ...
Auch für Freizeitaktivitäten außerhalb der Familie sind sie zumeist auf die Unterstützung der Eltern angewiesen. Viele legen weite Wege im Auto der Eltern zurück, um andere Jugendliche mit Behinderung zu besuchen oder an Angeboten des Behindertensports oder an Freizeitangeboten für Jugendliche mit Behinderung teilzunehmen. In den vergangenen Jahren sind vielerorts vereinzelte inklusive Freizeitangebote hinzugekommen. Doch auch hier gilt: Das Angebot ist bei weitem nicht so vielfältig wie für Jugendliche ohne Behinderung und die Teilnahme erfordert eine enge Festlegung und Planung. Man muss sich anmelden, es kostet Geld und man muss in der Regel weite Wege zurücklegen, die die Jugendlichen mit Behinderung nicht selbständig bewältigen können.
Ein weiteres Merkmal unterscheidet wohl sämtliche Freizeitangebote für Jugendliche mit Behinderung von den Freizeitaktivitäten Jugendlicher ohne Behinderung: die Erwachsenendichte. Neben der Zeit im Elternhaus und der – vor allem in Förderschulen – engstens durch Erwachsene geprägten Zeit in der Schule stehen ihnen auch in der Freizeit ausschließlich Settings zur Verfügung, die engstens durch Erwachsene bestimmt und betreut sind – bis hin zur Eins-zu-Eins-Betreuung vor allem für Jugendliche mit geistiger Behinderung. Während die Jugendarbeit allgemein stets die Wichtigkeit von selbstbestimmten Räumen betont, in denen junge Menschen sich in der Gruppe selbst zu organisieren lernen, sind Jugendliche mit Behinderung auch in der Freizeit lückenlos unter erwachsener Aufsicht. Statt Eltern- und (weitgehend) erwachsenenfreie Räume zu erobern, werden sie von einer Betreuung in die nächste übergeben. Dies sind zweifellos äußerst erschwerte Bedingungen für die jugendliche Persönlichkeitsentwicklung und für das Entdecken von Selbständigkeit und Selbstwirksamkeit.
Wir hatten schon lange den Wunsch, dass es auch für Jugendliche mit Behinderung unkomplizierte und weitgehend selbständig erreichbare Freizeitmöglichkeiten in Wohnortnähe geben sollte. So wertvoll Jugendfreizeitangebote der Behindertenhilfe oder eigens organisierte inklusive Angebote auch sind: Neben diesen strukturierten Angeboten sollten auch Jugendliche mit körperlichen, geistigen oder Sinnesbehinderungen die Möglichkeit haben, am Nachmittag spontan und in ureigener Entscheidung das Elternhaus zu verlassen und im nächstgelegenen Jugendzentrum zu schauen, was heute geht. Unabhängig von festen Einzelangeboten und unabhängig von Zeitplan und Fahrdienst der Eltern. Und auf den ersten Blick spricht eigentlich nichts dagegen.
Die Offene Jugendarbeit – ob in kommunaler, kirchlicher oder freier Trägerschaft - lebt das Prinzip, dass ihre Häuser für alle Jugendlichen offen sind.
Sie steht Jugendlichen aus allen Bevölkerungsschichten offen, sie bemüht sich um die Einbindung von Zuwanderern, sie hat den Anspruch, auch Jugendliche mit Schwierigkeiten oder einer Neigung zu gewalttätigem Verhalten einzubinden. Sie steht damit vom Anspruch her natürlicherweise auch Jugendlichen mit Behinderung offen.
Im Lichte der Diskussion um die UN-Behindertenrechtskonvention haben sich die meisten Orte der Offenen Jugendarbeit in unterschiedlicher Intensität mit dem Gedanken der Inklusion beschäftigt. Viele wollen sich inklusiv entwickeln, bemühen sich in Zusammenarbeit mit der Behindertenhilfe inklusive Angebote in ihrem Haus zu etablieren oder haben bereits den Anspruch, inklusiv zu sein. Dennoch findet man in den allermeisten Orten der Offenen Jugendarbeit keine Jugendlichen mit körperlicher, geistiger oder Sinnesbehinderung – schon gar keine, die außerhalb organisierter inklusiver Angebote auf eigene Faust im Haus auftauchen, wann sie möchten, zwischendurch auch mal wegbleiben, um ein paar Wochen später wieder regelmäßig da zu sein, so wie es die jugendlichen Besucher:innen ohne Behinderung tun.
Das Projekt Chillen inklusive entstand aus folgender Überlegung: Wenn einerseits Jugendliche mit Behinderung dringend unkomplizierte Freizeitmöglichkeiten brauchen und andererseits die Offene Jugendarbeit mit ihrer inklusiven Haltung zur Verfügung steht – dann gibt es vermutlich dazwischen Hürden für die inklusive Freizeit, die erkannt und überwunden werden müssen. Chillen inklusive wollte Jugendlichen mit Schwerbehinderung individuell den Weg in die Angebote der Offenen Jugendarbeit bahnen und den entsprechenden Jugendeinrichtungen beratend zur Seite stehen: Falls es Fragen oder Schwierigkeiten in Zusammenhang mit dem/der neuen Besucher:in gibt, oder für die weitere inklusive Konzeptentwicklung. Wir wollten beide Seiten unterstützen, damit die vielerorts schon längst begonnene inklusive Entwicklung der Jugendarbeit mit der konkreten Teilhabe von Jugendlichen mit Behinderung endlich selbstverständlich im Alltag ankommt.
> Die Zielgruppe
Im Projekt Chillen inklusive sind Jugendliche mit Behinderung nicht schulrechtlich definiert („sonderpädagogischer Förderbedarf), sondern sozialrechtlich („Schwerbehinderung
). Dieser Begriff schien uns am besten geeignet, die Gruppe der tatsächlich aus der Offenen Jugendarbeit bisher Ausgegrenzten zu definieren. Jugendliche mit Lern- und Verhaltensproblemen zählen nicht dazu. Sie gehören bereits traditionell zur Kern-Klientel der Offenen Jugendarbeit. Dabei sind „Jugendliche mit Schwerbehinderung" (statistisch ungefähr 3 Prozent der Jugendlichen) keineswegs in ihrer Mehrheit Jugendliche mit schwerst-mehrfachen Behinderungen (wie oft assoziiert wird). Es handelt sich um Jugendliche, deren Behinderung medizinisch diagnostiziert wurde. Dabei reicht das Spektrum von der reinen Gehbehinderung über Schwerhörig- oder Gehörlosigkeit, Sehbehinderung oder geistigen Einschränkungen bis zu Autismus – und in seltenen Fällen schwerer mehrfacher Behinderung.
02.| Das Projekt
Das Projekt Chillen inklusive wurde aufgelegt, um die inklusive Entwicklung der Offenen Jugendarbeit aus der Perspektive der jugendlichen Nutzer:innen anzugehen. Im Mittelpunkt der Aktivitäten standen also nicht einzelne Orte der Offenen Jugendarbeit und ihr interner Prozess einer inklusiven Entwicklung.
Im Mittelpunkt des Projekts standen die einzelnen Jugendlichen mit Behinderung. Ziel war es, ihre individuellen Wünsche für Freizeitaktivitäten aufzugreifen und sie dabei zu unterstützen, diesen in einem wohnortnahen Angebot der Offenen Jugendarbeit nachzugehen. Mit welchen Orten der Offenen Jugendarbeit wir zusammenarbeiten würden, stand deshalb bei Projektbeginn noch nicht fest. Das hing von den jugendlichen Projektteilnehmer:innen, ihren Freizeitinteressen und ihrem Wohnort ab.
2.1 | Abläufe im Projekt
Kennenlernen des/der Jugendlichen und ihrer Familien.
Klären von Freizeitwünschen.
Information über die Offene Jugendarbeit.
Suche nach einem für die Wünsche des/der Jugendlichen geeigneten Ort der Offenen Jugendarbeit.
Vorgespräch in der Jugendeinrichtung.
Begleitung des/der Jugendlichen zum ersten Besuch des Ortes der Offenen Jugendarbeit.
Beratungsangebot für den Ort der Offenen Jugendarbeit.
Beobachtung bzw. Rücksprache mit dem/der Jugendlichen über Gefallen oder Nicht-Gefallen der Besuche in der Offenen Jugendarbeit inklusive unterstützende Elternarbeit.
2.2 | Leistungen des Projekts …
… für die Jugendlichen
ist Chillen inklusive ein Lotsendienst in erreichbare und aus eigenem Antrieb möglichst selbständig nutzbare Freizeitaktivitäten im Kreise anderer Jugendlicher. Dabei stehen die Wünsche und Interessen des/der Jugendlichen im Mittelpunkt, nicht ihre Behinderung. Ziel ist, dem/der Jugendlichen eine nachhaltige Freizeitperspektive zu eröffnen und Kontakte zur jugendlichen Peergroup am Wohnort zu etablieren. Der Besuch des Ortes der Offenen Jugendarbeit soll ihnen einen Raum außerhalb der Familie