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NECROSTEAM: Eine Cthulhupunk-Anthologie
NECROSTEAM: Eine Cthulhupunk-Anthologie
NECROSTEAM: Eine Cthulhupunk-Anthologie
eBook414 Seiten5 Stunden

NECROSTEAM: Eine Cthulhupunk-Anthologie

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Über dieses E-Book

Die Welt des 19. Jahrhunderts schickt sich an, dank ihrer dampfbetriebenen Luftschiffe und Æthertechnologie, ein neues, glücklicheres Zeitalter einzuleiten.
Doch in dieser Ära des Aufbruchs durch Dieselantriebe und des elektrischen Fortschritts geraten Menschen in einen Strudel aus Brutalität, Gewalt und Zerstörung. Dunkle Bruderschaften bilden sich, uralte Siegel werden geöffnet, die alten Götter und mächtige Wesen aus anderen Dimensionen bedrohen die Menschheit. Sie wollen diese Welt zerschlagen, die Erde bersten lassen, das Leben verbrennen.
Ein neues Zeitalter des Schreckens soll beginnen und die alten Götter aus H. P. Lovecrafts Universum treffen auf mutige Abenteurer des Steampunk, die sich ihnen in den Weg stellen …
SpracheDeutsch
Herausgeberp.machinery
Erscheinungsdatum23. Dez. 2020
ISBN9783957658715
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    Buchvorschau

    NECROSTEAM - p.machinery

    David Grade: Necrosteam

    In der Nacht schwebten wir mit der Graf von Paris über der düsteren Metropole, die allenthalben der Kohlenpott genannt wurde, ein. Das Luftschiff hatte uns von Berlin über Mitteldeutschland in die schwarzen Gedärme des Kaiserreichs getragen – ein Luxus, von dem die Wanderarbeiter aus dem Osten und die Überlebenden aus den versunkenen Niederlanden, die vom Ruhrgebiet angezogen wurden wie Insekten von einer Gasflamme, nur träumen konnten. Schon seit Stunden rochen wir rußigen Rauch. Obgleich sich über uns ein klarer Sternenhimmel spannte, schnürten sich unsere Lungen ein, und der scharfe Gestank, der zu uns herauf wehte, stach in unsere Nasen. Unter uns verdichteten sich Staub, Ruß und Schwefel zu einem schmutzigen Nebel, der wie eine dunkelgraue Wolkendecke jede Sicht auf das Land verhinderte.

    Selbst Berta von Babelsberg, Agentin des Kaisers, in deren Diensten ich stand, und die ich als unverwüstlich und matronenhaft, gleich dem majestätischsten Schlachtschiff aus den Blohm-&-Voss-Werften des untergegangenen Hamburgs erlebte, sprach gepresst. Ihr Doppelkinn zitterte hin und wieder vor unterdrücktem Husten.

    »Das ist der Preis für die Pracht des Kaiserreichs.« Ernst Berkmann, ein alterndes Männchen, Fabrikant in dem Moloch unter uns und unser Begleiter seit Berlin, zog ein parfümiertes Tuch aus seinem Ärmel und reichte es der Baronesse. »Im letzten Jahr haben wir über eine Million Tonnen Kohle exportiert, aber das meiste wird hier verbrannt. Inzwischen kommt das Eisenerz gar aus dem Zarenreich, den Minen von Moria im Süden Afrikas und natürlich aus unseren eigenen Schächten. Es braucht viel Hitze, um es nach dem Willen des Kaisers zu biegen oder zu gießen.«

    Berta von Babelsberg schwieg und presste sich das Tuch vor Mund und Nase. Wie wir alle starrte sie aus der Glasfront am Bug der Graf von Paris auf das Nebelmeer, das zunehmend in Unruhe geriet. Dort, wo unter der grauen Masse Schornsteine stehen mochten, wallten Fontänen schwarzen Dampfes auf, zogen behäbig in Windrichtung und stürzten abwärts, wo sie von aufziehenden Schwadenwänden, gegen die das Luftschiff wie Krill in einer Tsunamiwelle wirkte, verschlungen wurden. Das Schauspiel ähnelte dem Albtraum eines Matrosen von einem Orkan auf hoher See. Nur, dass kein Wind heulte, die Graf von Paris ruhige Fahrt machte und die Luft weder salzig noch frisch, sondern giftig und stechend war. Es gab noch eine Ähnlichkeit, die mir erst später ganz und gar bewusst wurde: Im Angesicht der unendlichen See neigte ich dazu, die Tiefe unter dem Schiffsrumpf körperlich zu spüren. Genau dieses Gefühl beschlich mich jetzt auch. In der Tiefe unter den Nebeln bewegte sich etwas, etwas Großes, Bösartiges, etwas, was uns verschlingen würde, entwickelte es nur das geringste Interesse an uns. Es gedieh in den vergifteten Schwären, stieß sie vielleicht sogar aus, wie Kranke den Gestank nach kaltem Schweiß und Tod. Es verfügte über Mäuler und Tentakel, die bis zur Oberfläche tasteten und hinter dem Nebel zu erahnen waren.

    Ich erschauerte wie unter einem Fieberkrampf und stützte mich an die stählerne Rahmung der Fensterfront. Berta von Babelsberg und Ernst Berkmann sahen zu mir, als hätte sich mein Schrecken bis zu ihnen ausgeweitet.

    »Da.« Ich deutete in eine aufsteigende Nebelschwade, in der ich ein Leuchten zu erkennen glaubte. Die beiden wandten ihren Blick von mir ab, hin zu meiner Entdeckung, die sich aus dem Grau herausschälte; der oberste Teil eines monumentalen kantigen Turms, der von einem Gaslicht gekrönt wurde. Mochte er im Grau der Schwaden einsam wirken, so war er doch von schier unfassbarer Größe. Das Luftschiff hätte auf ihm landen können. Glitzernden Ameisen gleich, bewegten sich gerüstete Menschen auf ihm.

    »Unser Ziel.« Berkmann rieb sich die Hände. »Wir haben Gasflammen auf den Malakofftürmen entzündet, als Wegweiser und Warnung für die Luftschiffe. Das hier ist Julius Philipp, fast dreihundert Meter hoch. Seine Mauern sind vier Meter dick, um die Belastung zu tragen, wenn wir das Grubenwasser aus den Tiefen pumpen.«

    »Wie tief sind die Gruben hier?«

    Berkmann schielte zu mir herüber. »Sehr, sehr tief.«

    Berta von Babelsberg drehte sich vom Fenster weg und schob sich, vorbei an Steuermann und Steuerrad, dem Ausgang entgegen. »Malakofftürme? Sind wir hier im Allrussischen Imperium? Huldigt ihr hier Alexander oder Wilhelm?«

    »Wilhelm, Baronesse.« Berkmann eilte von Babelsberg nach. Der Steuermann ließ die Graf von Paris zum Turm hinabsinken. Mein Schrecken wandelte sich in nackte Panik. Fast hätte ich den Steuermann, der stoisch mit einer Hand das Rad, mit der anderen das Höhenruder bediente, angebrüllt, er solle steigen, beidrehen, hinforteilen. Um keinen Preis wollte ich dort hinab, in den Nebel eintauchen und näher an das herankommen, was nur mein Unterbewusstsein dort spürte; ein Leviathan des Giftes und der schwarzen Feuer, der sich mit seinen Tentakeln aus den Tiefen zog und begonnen hatte, sich sein Reich zu schaffen. Ein Monster, das mit kanaanitischer Wut und babylonischer Verderbtheit das Land verschlang, und weit und breit keinen Gott und keinen Krieger, die es aufhalten könnten. Selbst die gerüsteten Gestalten auf dem Turm erinnerten mich mehr an die schwarzen Ritter meiner Kindheitsbücher, Stereotypen des Bösen, als an Siegfried oder gar den Erzengel Michael, die Gezücht erschlugen. Was taten diese Männer in den Rüstungen dort überhaupt? Es war das neunzehnte Jahrhundert, nicht das finstere Mittelalter, in dem Dämonen und Hexen auf Erden wandelten, Kinder fraßen und nur von Inquisitoren ähnlich finsteren Gemüts verbrannt werden konnten. Ich presste meine Stirn an den kühlen Eisenrahmen und eine Hand auf mein wild pochendes Herz. Zu gerne hätte ich tief Luft geholt, aber der Gestank der Abgase – Schwefel, Ruß und Gott weiß, was dort unten alles verbrannt wurde – hielt mich davon ab. Äußerlich gefasst, aber innerlich aufgewühlt, folgte ich Agentin von Babelsberg und dem Boten Berkmann.

    Am Plankengewinde holte ich die beiden ein. Die Planke war bereits ein Stück herunter gedreht und zwei Stewards, angeschirrt an Griffen, lehnten sich hinaus und warfen dem Personal auf dem Turm Haltetaue zu. Ich versuchte, meinen Herzschlag zu beruhigen, atmete so flach ich konnte und konzentrierte mich auf das Gespräch zwischen von Babelsberg und Berkmann. Letzterer berichtete, dass der Name der Malakofftürme von Wanderarbeitern aus der Krim übernommen war, die die mächtigen Bauwerke so nannten, da sie sie an eine Festungsanlage in Sewastapol gleichen Namens erinnerten.

    »Warum heißen die Türme nicht Bourtange?« Berta von Babelsberg unterdrückte einen Hustenanfall, der Gestank nach Verbranntem war stärker als je zuvor, und mir war, als würde feinster Ruß zwischen meinen Zähnen knirschen. »Es gibt hier doch wohl mehr Niederländer als Kaschuben, Masuren, Schlesier, Slawen, Surschyken und Ukrainer zusammen?«

    »Die haben hier nicht viel zu sagen.« Berkmann wrang seine Hände.

    »Blödsinn.« Berta von Babelsberg drückte das Tuch für einen tiefen Atemzug an ihre Nase. »Hier müssten Abertausende von Flamen, Walloniern, Holländern und sogar Artoisen angekommen sein. Die meisten konnten sich retten, als das Meer stieg und die Deiche brachen. Die müssen hier doch Einfluss haben. Ihr Fabrikanten müsstet doch Probleme mit den Steamstorma haben?«

    »Nicht so sehr.« Berkmann warf mir einen Hilfe suchenden Blick zu. Als ich nicht half, eilte er auf den Ausgang zu. »Wir haben angelegt Baronesse. Es ist mir eine Ehre, sie im Ruhrgebiet willkommen zu heißen.« Er hakte ein Geschirr aus der Wand und hielt es Berta von Babelsberg zurecht. Erst jetzt setzte die Planke auf einer Zinne auf. Bis zum Malakoffturm waren es nur wenige Meter, aber wer abrutschte, würde in die Tiefe stürzen.

    Berta von Babelsberg schnaubte, ging ohne Sicherung hinüber und ließ sich von einem Gerüsteten von der Zinne hinab auf das Turmdach helfen. Etwas stimmte mit dem Mann in Vollrüstung nicht, aber ich war zu beschäftigt mit meiner Panik, die wieder aufwallte, und heilfroh, dass mir Berkmann ins Geschirr half.

    Das Betreten der Planke verlangte mir Ähnliches ab, wie einem verurteilten Seemann der Sprung von selbiger. Es war nicht die Höhe, ich war schon oft mit Luftschiffen geflogen und sogar schon auf fast tausend Meter von Schiff zu Schiff gewechselt. Nein, es war die Tatsache, dass ich die Graf von Paris verließ, die mir die letzte Blase an Sicherheit schien, vor der wahnsinnigen Welt da draußen. Ich neigte sonst nicht zu Angst oder Panik, sonst hätte ich kaum meine Stellung erreicht – aber da lauerte etwas anderes. Etwas Urtümliches, als wären die Drohungen, die mir als kleiner Junge von der Kanzel herab ins Mark gedrungen waren, Wirklichkeit geworden und Gott selbst würde uns zürnen. Ach, wäre es doch bloß Gott gewesen, so hätten wir auf Barmherzigkeit hoffen können.

    Als ein Gerüsteter mir von den Zinnen half, wurde mir klar, was mit ihm nicht stimmte. Es war kein Mensch. Sein Leib, seine Glieder, sein Kopf, sogar seine Finger bestanden aus Metall. Aus seinen Gelenken strömte bei jeder Bewegung Dampf, so kräftig, dass es ein dumpfes Pfeifen gab.

    »Wie können sie sehen?«, fragte Berta von Babelsberg nach einem Hustenanfall.

    Mir standen Tränen in den Augen und ich atmete nur in kleinen, flachen Schüben. Mir war, als könnte ich die Rußpartikel in der Luft tanzen sehen.

    »Lassen Sie uns nach unten fahren, da ist es besser.« Berkmann winkte uns zu einer Schiebetür in einer Aufbaute aus Ziegelsteinen, die von der Gasflamme gekrönt war. Einer der Metallenen begleitete uns in die kleine Kammer im Inneren und legte einen Hebel um. Dampf zischte durch Röhren um uns herum, dann bewegte sich das ganze Zimmer abwärts.

    Das Ding neben mir hatte keine Augen, keine Nase und keine Ohren. Nicht einmal einen Mund, geschweige denn eine Zunge, unter die Rabbi Löw seinem Golem den Zettel mit seinen Anweisungen gelegt hatte. Genau dieses Gefühl löste das Wesen in mir aus, das eines Golems, der zu jeder Zeit einen Stadtteil zerstören und einen Menschen zerreißen könnte. Ich legte meine flache Hand an seinen Leib und spürte warmes Eisen.

    »Wir nennen sie Dampfmänner. Sie haben hinten eine Klappe, um Kohle nachzulegen.« Berkmann klopfte unserem stummen Begleiter auf den Rücken und erzeugte einen metallischen Klang.

    »Wie können sie sehen?« Berta von Babelsberg betrachtete die glatte, gebogene Oberfläche, dort, wo Menschen ein Gesicht haben.

    »Das müssen sie Friedrich Harkort fragen.« Diesmal pochte Berkmann dem Dampfmann auf die Brust.

    Märkische Maschinenbau-Anstalt – Harkort & Co war da eingraviert.

    »Wir haben auch so einen, bei uns zu Hause. Die Diener bringen ihm bei, was er zu tun hat, wie einem kleinen Kind. Normalerweise brauchen sie zwei, drei Jahre, dann können sie einfache Aufgaben sicher ausführen. Dummerweise orientieren sie sich an ihren Erziehern. Manche legen sich jeden Tag acht Stunden schlafen, manche versuchen zu rauchen oder zu trinken. Es ist nicht ganz leicht, ihnen in ihrer gesamten Erziehungszeit nicht versehentlich solche Unarten beizubringen.«

    »Können sie Polizeiaufgaben übernehmen, oder die eines Soldaten?« Berta von Babelsberg studierte den Klappmechanismus am Rücken.

    »Das ist vermutlich zu komplex, aber mit der Zeit …« Berkmann zuckte mit den Schultern.

    »Seit wann werden sie gebaut?«

    »Soweit ich weiß, hat Harkort 1839 mit der Konstruktion begonnen. Gleich nach dem Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in den Fabriken. Plötzlich fehlten uns Tausende Arbeiter. Kinder unter neun Jahren durften gar nicht mehr arbeiten und Kinder unter vierzehn nur noch zehn Stunden am Tag. Die Niederlande waren noch nicht überschwemmt, also war von dort keine Hilfe zu erwarten, und aus dem Osten kamen längst nicht genug Arbeiter.«

    Das Zimmer stoppte und vor uns glitten die Türen auf.

    Ich hatte mich auf das Gespräch konzentriert, um das Gefühl in mir niederzukämpfen, einen Schornstein hinabgestoßen zu werden, an dessen Ursprung mich kein Feuer erwartete, sondern … ja was? Die Monstren meiner Kindheit? Die antiken Wesenheiten, deren wirkliches Vorhandensein durch die Geschichten der Bibel schimmerte, wie die Fratze eines Mörders hinter nachtspiegelnden Fensterscheiben?

    Vielleicht war es auch nur die zunehmende Atemnot, die der scharfe Brandgeruch in mir auslöste, genau wie das Gefühl, eingeengt zu sein und nicht entkommen zu können.

    Unten angekommen verschlang mich nichts. Tatsächlich war der Nebel weniger dicht als nur zehn Meter weiter oben, aber der Brandgeruch blieb und das schleifende Gefühl zwischen den Zähnen. Ruß und Kohlestaub legten sich auf meine Haut, wie ein fettiger Film, den ich nur verschmieren, aber niemals entfernen könnte, wenn ich ihn wegreiben wollte. Meine Augen fühlten sich an, als wären Sandkörner mit meiner Hornhaut verschmolzen.

    Vor dem Malakoffturm wartete ein Vierspänner. Statt auf den Rücken von Pferden lag die einzige Deichselbrille auf den Schultern eines Dampfmannes. Er hielt eine mächtige Gasfackel in beiden Händen. Der Flammenschein tanzte über seinen matten Körper, das rußige Holz der Kutsche, die Pflastersteine (voll Kohlestaub) und die roten Backsteine aus denen der mächtige Malakoffturm gebaut war, der bis weit in den grauen Nebel über uns ragte. Und selbst auf der grauen Nebeldecke schimmerte noch das rötliche Licht der Gasfackel.

    Berta von Babelsberg blieb stehen und starrte das Gespann an. »Ein einzelner Dampfmann ersetzt vier Pferde?«

    »Ja.« Berkmann öffnete die Tür der Kutsche und klappte den Tritt herunter.

    Als auch ich in der Kutsche saß, blickte ich zurück in das Tor des Malakoffturms, bis zu dem fahrbaren Zimmer. Auch dort ein Gaslicht, viel kleiner als das des Dampfmannes an der Deichsel. Und dort der Dampfmann, der die Verbeugung eines Dieners nachahmte, der seine Kopfbedeckung aufhielt, um einen Sechser zu ergattern. Nur dass der Dampfmann keine Mütze hielt. Obwohl er keine Augen hatte, beschlich mich das Gefühl, er würde uns nachstarren.

    Die Blockrandbebauung stand im Ruhrgebiet viel dichter als in Berlin, knapp über den Dächern begann der Rußnebel und die höheren Häuser ragten in ihn hinein. Vereinzelt schepperten Dampfmänner über die Kopfsteinpflaster. Hier und da lungerten hohlwangige Gestalten in den Hauseingängen. Wir stiegen im Hotel Middendorf ab, getrennte Zimmer selbstverständlich. Ich schlief furchtbar, und als mich Berta von Babelsberg wach klopfte, wähnte ich mich noch mitten in der Nacht. Dämmerlicht ließ mich Details im Zimmer erkennen, ohne dass ich ein Gaslicht gebraucht hätte, heller wurde es den ganzen Tag nicht. Ich hustete den Nachtschleim aus und betrachtete ihn in meinem Taschentuch. Das unansehnliche Geglibber war mit kleinen, schwarzen Punkten versehen.

    Wir frühstückten in einer stillen Ecke des Hotelrestaurants und planten den Tag. Baroness Berta von Babelsberg würde neben Friedrich Harkort und Friedrich Krupp mit Hermann Piepenstock, Jacob Mayer, Eduard Kühne, Wilhelm Stein, Peter Göring, August Thyssen und natürlich Ernst Berkmann sprechen, um dem Kaiser einen möglichst umfangreichen Eindruck aus dem Ruhrgebiet mitbringen zu können. Mich würde sie als unpässlich entschuldigen, offiziell würde ich im Hotelzimmer darniederliegen.

    In Wirklichkeit sollte ich durch die Straßen des Ruhrgebiets streifen und Anzeichen der Steamstorma suchen. Überall wo die niederländischen Flüchtlinge sich niedergelassen hatten, verbreiteten sie ihre kruden Theorien über die Gefährlichkeit der Kohlenutzung. Kern ihrer Behauptungen beruhten auf missverstandenen wissenschaftlichen Berechnungen von John Tyndall (einem Engländer, wem anders als dem Empire kann solch ein Unsinn entspringen) und dem Schweden Svante Arrhenius, der mittlerweile in Würzburg in Haft saß.

    Angeblich sollte der Anstieg von Kohlenstoffdioxid in der Luft zu einer weltumspannenden Erwärmung führen, was die Polkappen abschmelzen und die Meere anschwellen ließ, was letztlich den Untergang der Niederlande und auch Hamburgs herbeigeführt habe. Nun, jeder, der die Bibel gelesen hat, weiß, dass es schon immer Sintfluten gegeben hatte und … Es ist nicht meine Absicht, Platz für die Widerlegung dieses Unsinns zu verschwenden. Interessanter ist, dass die Steamstorma sich über die ganze Welt ausbreiteten und versuchten, die Montan- und Stahlindustrie zu zerstören, wo immer sich eine Möglichkeit bot. Von überall kamen Berichte, sogar aus Indien, nur nicht aus dem Ruhrgebiet. Noch schlechter als schlechte Nachrichten nimmt der Kaiser es auf, wenn ihm etwas verschwiegen wird. Deswegen waren wir hier.

    Vielleicht hatte ich mich an den Brandgeruch gewöhnt, vielleicht hellte die Aussicht auf den abendlichen Abflug mein Denken auf, in jedem Fall schien es mir, als könne ich etwas freier atmen und das seltsame Angstgefühl, das hell in mir gekreischt hatte, zog sich zu einem dumpfen Pochen in meine Knochen zurück. Im Dämmerlicht, das hier als helllichter Tag durchging, schlenderte ich durch die Häuserschluchten. Immer wieder verdrängte ich den seltsamen Gedanken, nur auf einer dünnen Haut zu gehen, unter der Abertausende von Schächten lagen, in denen sich etwas durchfraß, etwas, das viel echter und ursprünglicher war als all die Bauten aus Stein und Stahl um mich herum. Die Haut mochte aufreißen oder einbrechen oder vielleicht würde auch etwas herausstoßen und alles verschlingen.

    Nur allmählich fiel mir auf, was alles nicht stimmte. Hinter vielen Fenstern lagen unbewohnte Zimmer, obwohl das Ruhrgebiet seit Jahrzehnten Ziel von Wanderarbeitern und Flüchtlingen war. Nirgends sah ich niederländische Namen an den Hauseingängen, keine einzige niederländische Gaststätte – dafür neben vielen deutschen, ein Kajteks Eck, das Gdanska, die Taurisschenke und das Dschankoj.

    In Letztere kehrte ich ein und versuchte bei einem schäumenden Wallrabe mit dem wortkargen Wirt ins Gespräch zu kommen. Vermutlich erkannte er mein Berlinern, denn redselig wurde er, abgesehen von einem bellenden Husten, nie. Nein, er kenne keine Holländer und auch keine Flamen. Ja, früher habe es die hier viel gegeben. Nur kurze Zeit, dann seien sie wieder weg gewesen. Wohin? Ob er aussehe wie ein Zeitungsjunge oder ein Polizist. Die Geschäfte liefen schlecht genug, wenn ich nur ein Gespräch wolle und kein Getränk, ginge das bestens im Gdanska.

    Im Gdanska schenkte ein schwindsüchtiges Fräulein Strucks aus. Ich nahm eines, setzte mich an die Theke und wartete. Jeder der wenigen Gäste hatte einen trockenen, bellenden Husten, der die Stille durchriss. Auf den Tischen standen Gaslichter, denn es war schummrig in der Stube. Hell wurde es draußen wegen des rußigen Nebels sowieso nicht, und auf den Fenstern lag ein Schlier aus Kohlestaub, der das wenige Licht noch mehr dämmte.

    Draußen schepperte ein Trupp Dampfmänner vorbei. Der Vorangehende wirkte wie der Meister und die anderen wie die Lelleks, wie sie hier im Ruhrgebiet sagten. Oder wie ein Lehrer mit seinen Schülern.

    »Suchste Arbeit?« Einer der Gäste hatte sich an mich herangepirscht und saß jetzt neben mir. Unter dem Schnurrbart sah ich eine Zahnlücke.

    »Nee, nen Bekannten von mir, Arjen, ein Flame.«

    »Flamen gibt’s hier nich.« Zahnlücke trank sein Strucks leer und knallte es auf die Theke.

    Ich deutete der Schwindsüchtigen, es ihm nachzufüllen.

    »Er ist kurz nach der Flut gekommen, mit seiner Familie, ist angeblich in diese Straße gezogen.«

    Zahnlücke wartete, bis sein Glas nachgefüllt war, trank einen Schluck, wischte sich Schaum vom Schnurrbart. »Hier warn viele Flamen, sind alle eingefahren, Vollmond, Vulkan, Zollern und nie wieder raus. Kommen viele nicht mehr raus.«

    Ich sah ihn verständnislos an.

    »Aus den Zechen.« Zahnlücke zog das Strucks weg.

    »Und was ist mit den Frauen und Töchtern?« Ich deutete schon wieder, damit meinem Gesprächspartner der Gerstensaft nicht ausging.

    »Na, die auch, da unten siehste ‘wieso nich’, ob Männlein oder Weiblein.«

    »Und was machen die da unten?«

    Jetzt war es an Zahnlücke mich verständnislos anzustarren.

    »Naja, wieso kommen sie nicht mehr raus?«

    Die Schwindsüchtige füllte neues Strucks in Zahnlückes Glas, der mich traurig anblickte. Er riss seinen Rachen auf und knallte seine verbliebenen Zähne aufeinander. »Haps.«

    »Haps?«

    »Is’ gut jetz’, Marcel, lass meine Gäste in Ruh’.« Die Schwindsüchtige nahm Zahnlückes volles Glas und stellte es ans andere Ende der Theke.

    Die anderen Gäste blickten mich an, als wäre ich etwas Feindseliges, Fremdes. Etwas wie eine menschengroße Ratte, die in ihre Gaststätte marschiert war und sich erdreistete, einer der ihren sein zu wollen.

    Zahnlücke zuckte mit den Schultern. »Der alte Mann wird sie wohl geholt haben«, und verzog sich zu seinem Strucks.

    Mehr würde ich hier nicht erfahren. Ich warf der Schwindsüchtigen dreißig Pfennig auf die Theke und ging.

    Eine Milchkutsche stand eine Straße weiter, statt Pferd ein Dampfmann, wenigstens der Milchkutscher war ein Mensch. Er stellte die Flaschen in die Hauseingänge. Auf dem durchsichtigen Glas sah ich den Kohlestaub.

    Ob’s hier Flamen gäbe?

    »Nein, hier stehen immer mehr Zimmer leer. Was seltsam ist. Ich sehe ständig neue Wanderarbeiter ankommen.« Der Milchmann wischte sich die Hände an der Schürze ab, an der schon viele Kohlespuren zu sehen waren.

    »Wie erklären Sie sich das?«

    Der Milchmann schwang auf den Kutschbock. »Keine Ahnung, werden wohl vom Erdboden verschluckt, oder der alte Mann holt sie.« Der Milchmann schnalzte und der Dampfmann erwachte zum Leben und zog an.

    Vom Erdboden verschluckt? Der alte Mann holt sie?

    Die Angst kroch aus meinen Knochen, hinein in meine Glieder und besetzte mein Herz, das bis in den Hals pochte. Der Brandgeruch stach mir wieder in die Nase, und ich musste husten. Ich beugte mich zum Boden und befühlte die Pflastersteine, fast erwartete ich eine Wärme, so wie in dem Moment, als ich den Dampfmann berührt hatte, oder gar eine Bewegung, als wäre der Boden wirklich Haut und darunter flösse Blut und irgendwo schlage ein riesiges schwarzes Herz und seien schwarze Gedärme und ein schwarzer Schlund, der …

    … verschluckte.

    Die Pflastersteine waren kalt. Als ich mich aufrichtete, sah ich meinen Handabdruck im Kohlestaub.

    Ich ging weiter, bog in eine ungepflasterte Straße ein und hörte Kinder lärmen. Von hinten kam eine Gruppe, barfuß und mit Wachstafeln an Schnüren über ihren Schultern. Sie hatten rote Augen und rotzige Nasen und umspülten mich, so achtlos wie Wasser einen Stein. Rufe aus den Fenstern. Frauen, die Wäsche auf Leinen zogen, die hoch über mir über die Straße gespannt waren. Auf dem nassen Stoff sah ich schon die ersten schwarzen Punkte.

    »Wo woll’nse denn hin?« Ein Junge mit Mütze und roten Augen ging neben mir.

    »Ich such jemanden«, begann ich mit meiner Legende, »einen Flamen.«

    »Die Flamen sind alle weg, so wie mein Vadda, den hat der Vollmond verschluckt.«

    »Die Zeche Vollmond?«

    »Ja, sindse doch von hiea.« Der Junge zog eine Zigarette aus seinem Hemd. »Zigarette nue nen Pfennig.«

    »Ne ganze Mark, wenn du mir sagst, wie dein Vater verschwunden ist und was mit den ganzen Flamen passiert ist.«

    Der Junge zog die Nase hoch und spuckte aus. Sein Rotz war schwärzer als der Nebel. »Weiß nich’ genau, aber meine Omma weiß vielleicht was. Meine Brüder sagen, sie weiß alles.«

    Der Junge brachte mich zu dem mehrstöckigen Haus, in dem er lebte. Er erzählte, dass sein Vater noch nicht so lange weg sei, wie die Flamen, dass seine Brüder bei Cosack & Co arbeiten würden, denn Drahtziehen sei allemal besser als unter Tage. Bevor es die Treppen hinaufging, klopfte sich der Junge im Hauseingang ab, dass der Staub nur so flog. Drinnen tunkte er seine Füße in einen Holzeimer voll Wasser und trocknete sie ab.

    »Ihre Schuhe solltense mindestens abbürsten, sonst muss Omma das Treppenhaus machn.«

    Tatsächlich schwebte im Treppenhaus nicht so viel Staub wie draußen und es gab auch keine Schlierschicht. Der Junge führte mich nach oben. »Wir haben ‘ne ganze Etage, die anderen Familien sind einfach wech, keine Ahnung wohin und die neuen nehmen lieber Wohnungen, wo die Straßen gepflastat sind.«

    Hier fehlten so viele Menschen. Wo waren die alle? Es gab keine Berichte über große Unfälle oder Krankheitsausbrüche, keine Anzeichen von Abwanderung. Immer nur Arbeiter und ganze Familien, die ins Ruhrgebiet zogen, weil es da was zu schaffen gab.

    Die Oma des Jungen war eine gebeugte Frau mit keuchendem Husten. Sie schnitt mir und dem Jungen ein Brot auf, beschmierte die Scheiben mit Butter, streute Salz darüber und setzte sich zu uns an den Tisch.

    Ich erzählte meine Legende und legte die versprochene Mark auf den Tisch.

    »Die Flamen sind in die Zechen eingefahren und nie wieder ausgefahren. Genau wie Emils Vater. Ende der Geschichte. Glaub kaum, dass Ihnen das ne Mark wert ist.«

    Ich biss von meinem Brot ab, kaute und schluckte. Die Salzkörner knackten zwischen meinen Zähnen. Sollte ich einfach gehen? Der Baronesse wahrheitsgetreu sagen, dass ich keine Spuren der Steamstorma gefunden hatte und all die anderen Seltsamkeiten vergessen? Ich schluckte den Brei aus Brot, Butter und Salz hinunter.

    »Es wird doch geredet unter Bergleuten. Da wird doch irgendwas passiert sein. Unfälle vielleicht.«

    »Ja.« Die alte Frau strich ihrem Enkel Krümel vom Kinn. »Unfälle gab’s, doch die Ruhrbarone lesen davon nicht gerne in der Zeitung. Und weil ihnen die Zeitungen gehören …« Sie zuckte mit den Schultern. »Niemand frisst die Hand, die einen füttert.«

    »Was für Unfälle?«

    »Einstürze, Grubengas, manchmal als Explosion, manchmal schleichend. Und sie haben zu schnell zu tief gegraben, die Bewetterung kam zu langsam hinterher – da unten kann kein Mensch mehr atmen, geschweige denn arbeiten. Allein das hat ein paar Hundert das Leben gekostet.«

    Ein paar Hundert? Sollte es so viel Leerstand wie hier überall im Ruhrgebiet geben, redeten wir von Tausenden, Zehntausenden. Ach, was machte ich mir vor, Hunderttausenden, allein all die Menschen, die aus den Niederlanden ins Ruhrgebiet gekommen waren.

    »Was ist mit dem alten Mann?« Emil schob sich den letzten Bissen in den Mund.

    Die Alte erstarrte, das Messer halb im Brotlaib versenkt, um eine neue Scheibe zu schneiden. »Was weißt du vom alten Mann?«

    »Die Brüder haben erzählt, dass Papa davon erzählt hat. Darf ich noch eins?«

    Die Alte schnitt weiter, ihr Rücken war gerade geworden. Etwas knallte gegen das Fenster. Wir zuckten zusammen. Auf dem Sims lag eine tote Taube. Der erste Vogel, den ich gesehen oder gehört hatte. In dieser Stadt schien es keine Pferde, keine Hunde, keine Katzen zu geben. Und der bisher einzige Vogel lag tot auf dem Sims.

    »Was ist das?« Emil war aufgesprungen und betrachtete durch das schwarzschlierige Glas das Federtier.

    »Eine Taube. Setz dich wieder, kriegst noch ne Stulle.«

    Emil setzte sich wieder.

    »Erzählen Sie.« Ich legte ein zweites Markstück auf das erste.

    »Alberne alte Legenden.« Die Scheibe war geschnitten, und die Alte strich die Butter. »Die Bergleute erzählen von einem alten Mann mit einer Laterne. Er erscheint unerfahrenen Bergleuten, die sich verirrt haben. Entweder führt er sie statt ins Licht immer weiter in die Dunkelheit, bis sie nie wieder aus den Gruben finden und elendig verhungern müssen …«

    Die Alte griff in das Salzfass und streute das weiße Gold auf die gelbe Butter auf dem dunklen Brot. Der Junge grapschte danach und senkte seine Zähne in die Stulle.

    »Oder?«, hauchte ich. Etwas presste mir die Luft ab. Mir schien, als würden sich die Fenster nach innen wölben, weil irgendetwas herein wollte.

    Vom Erdboden verschluckt.

    »Was oder?« Die Alte säbelte noch eine Scheibe.

    »Sie haben ›entweder‹ gesagt, da fehlt ein ›Oder‹.«

    Der Junge hustete, schwarzer Brotkrumen und schwarzer Schleim landeten auf dem Tisch.

    »Nicht so gierig.« Die Alte holte einen Lappen und wischte die Bescherung weg. Sie stellte dem Jungen ein Glas Milch hin. Ich schwöre, ich sah schwarzen Staub darin schwimmen.

    »Oder der alte Mann erscheint den Verzweifelten, die nichts mehr finden. Er führt sie herab in die tiefsten Tiefen, wo die Erde sie verschlingt und in ihren Gedärmen zu neuer Kohle quetscht. Aber das ist Unsinn.«

    »Es ist der Gott der Tiefe, die Brüder sagen, Vater habe seinen Gesang gehört.«

    »Halt den Mund und trink deine Milch.«

    »Aber

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