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Erbgut: Ein Elbekrimi aus Sachsen
Erbgut: Ein Elbekrimi aus Sachsen
Erbgut: Ein Elbekrimi aus Sachsen
eBook436 Seiten5 Stunden

Erbgut: Ein Elbekrimi aus Sachsen

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Über dieses E-Book

Der pensionierte Kriminalkommissar Klaas Tidemeyer kommt einfach nicht dazu, seine Radtour entlang des Elberadwegs fortzusetzen. Ein Hilferuf aus Belgern erreicht ihn und schon steckt er mitten in einer kuriosen Story um Blut und Schweifhaare mit frischem DNA Material eines vor über achtzig Jahren gestorbenen Trakehner Hengstes.
Natürlich steckt eine Schurkerei dahinter und der Tod eines braven Stallknecht wirft neue Fragen auf.

Klaas bringt mithilfe des kauzigen Wissenschaftlers Eberwein und einer jungen Bereiterin Licht in die illegalen Machenschaften eines Tierarztes und der dubiosen Betreiber eines Immobilienprojektes.

Die Aufklärung, bei der ihn die lieb gewonnene Wirtin der Elbklause in gewohnt tatkräftiger Manier unterstützt, führt ihn vom Friedwald bei Wermsdorf bis in eine ostpreußische Schlossruine.

Nach "Elbgold" ein weiterer humorvoller Elbekrimi aus Nordsachsen.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum3. Nov. 2020
ISBN9783752634464
Erbgut: Ein Elbekrimi aus Sachsen
Autor

Eckhard Bruns

Eckhard Bruns, vor unendlicher Zeit geborener Hanseat und Neusachse mit Sympathie für die nordsächsische Landschaft, schreibt lockere Kriminalromane nach eigenem Humorverständnis und der Devise: Spannung und gute Unterhaltung brauchen keine Gewaltorgien.

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    Buchvorschau

    Erbgut - Eckhard Bruns

    Ein herzliches

    Dankeschön

    an die verlässliche Natalie!

    Liebe Lesende!

    Auch dieser zweite Roman der Reihe ist weder ein

    Tatsachenbericht noch eine Dokumentation. Alle Personen

    und „Tatorte" auf den folgenden Seiten sind frei erfunden:

    von der resoluten Wirtin der fiktiven Elbklause bis zur

    geheimnisvollen Laborantin des LKA, sie sind genauso wie

    ein Gestüt oder Immobilienprojekt Ausbund meiner

    Fantasie.

    Falls ihr doch etwas in diesem Buch entdeckt, was euch an

    die Wirklichkeit erinnert, und sei es lediglich eine Leiche in

    einem Teich, so nehmt es bitte mit einem toleranten

    Lächeln hin, denn die eventuelle Ähnlichkeit mit dem

    Teich, den ihr kennt, ist rein zufällig.

    Inhaltsverzeichnis

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

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    Kapitel

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    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    1. Kapitel

    Ein Dutzend Pferde trotteten gemächlich auf den Wegen der Reitanlage umher oder grasten, ab und zu friedlich schnaubend, auf Grünflächen, die eigentlich dem Rasenmäher vorbehalten waren.

    Der dunkle Geländewagen, welcher trotz der frühen Morgenstunde auf den Hof des Gestüts eingebogen war, lavierte im Schritttempo zwischen den Pferden hindurch, kam vor dem geöffneten Stalltor zum Stehen und die Fahrertür öffnete sich.

    Die anspruchsvoll im englischen Landhausstil gekleidete Frau mit Kurzhaarschnitt, sie mochte um die fünfzig sein, warf mit der einen Hand die Autotür hinter sich zu, zog mit der anderen ein Handy aus der Gesäßtasche und wählte einhändig.

    „Bartenstein hier. Flitz mal rasch zum Haupteingang und verschließe das Tor. Auf dem Hof laufen Pferde frei herum. Bleib bitte am Tor stehen, damit niemand es wieder öffnet. Und schick mir die anderen zum Stutenstall, um die Pferde einzufangen."

    Während des Gesprächs war die elegante Frau in der verwüsteten Stallgasse angekommen. Alle Boxentüren standen offen und der Beton der Stallgasse war unter zertrampeltem Heu, Stroh und Pferdemist kaum zu sehen, so, als hätte seit Tagen niemand Schaufel oder Besen geschwungen. Es stank eindringlich nach einer Mischung aus Urin und frischem Pferdedung. Frau von Bartenstein eilte kopfschüttelnd und grimmig dreinblickend an den beidseitigen Boxenreihen entlang, umschiffte breitgetretene Pferdeäpfelhaufen, Urinpfützen und eine umgekippte Mistkarre, bis sie den Aufenthaltsraum des Stallpersonals erreichte und die Tür aufriss.

    Auf dem Feldbett schien lediglich ein zerknautschter Schlafsack zu liegen. Erst auf den zweiten Blick fielen rotblonde Locken am Kopfende auf.

    „Svenja!" Der Name wurde scharf, voller Entrüstung und vergeblich gerufen, denn nichts rührte sich.

    „Svenja! Aufstehen! Was ist hier los?" Sie trat an das Feldbett und ruckte energisch am Kopfkissen unter dem rotblonden Schopf. Zögernd kam Bewegung in das Etwas. Zwischen Locken und Schlafsack erschien eine sommersprossige Nase. Das dazu gehörige Mädchen drehte sich mit einem gepressten Stöhnen auf den Rücken.

    „Svenja! Warum zertrampeln die Stuten die Rabatten auf dem Hof? Warum liegst du hier faul herum? Es ist heller Vormittag, du hättest längst Hafer geben müssen!"

    Zögerlich öffneten sich hellblaue Augen zwischen Sommersprossen.

    „Ach du meine Güte … die Chefin! …. Scheiße … Wie spät ist es?", fragte das Mädchen mit belegter Stimme.

    „Ich glaub, ich spinne! Statt Stallwache zu halten, liegst du im Nest und pennst!"

    Svenja setzte sich umständlich auf und rieb sich die Augen. „Was ist los? Die Pferde laufen frei herum?"

    „Ja, hörst du schlecht? Was ist hier passiert? Warum stehen alle Boxen offen?"

    Svenja wischte sich mit einer fahrigen Bewegung rotblond gelockte Strähnen aus dem Gesicht. „Ich weiß es nicht. Ich habe nachts wie immer meine Runde gedreht und da war alles in Ordnung." Ihre Stimme klang nicht nur verschlafen, sondern undeutlich, nuschelnd. Zwischendurch stöhnte sie und griff sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an den Kopf.

    „Wie redest du denn? Hast du getrunken? Die Bartenstein sah sich um, als erwarte sie, eine Batterie leerer Schnapsflaschen vorzufinden. „Mein liebes Fräulein, da kommt was auf dich zu.

    Svenja starrte sie stumm an. Zur Verständnislosigkeit in Ihrem Gesichtsausdruck gesellte sich Angst.

    Die Bartenstein packte das Mädchen an den Schultern und schüttelte sie. „Los jetzt! Raus aus dem Bett! Pferde einfangen! Und dann ab in den Stall, Ordnung schaffen!"

    Das Mädchen stellte die Füße samt Schlafsack auf den Boden, seufzte, rieb sich erneut die Augen und fuhr sich mit der Hand durch die helle Mähne.

    Charlotte von Bartenstein musterte sie kopfschüttelnd. Ihr Ärger war nicht zu übersehen. „Wie kannst du dich mit deinen bald 18 Jahren derartig gehen lassen? Hast du allein gesoffen oder habt ihr ne Party gefeiert?"

    „Ich habe nichts getrunken. Svenja zog mit fahrigen Bewegungen den Reißverschluss auf und pellte sich aus dem Schlafsack. „Ehrlich! Ich habe um eins den letzten Rundgang gemacht und mich dann hingelegt. Mein Wecker hätte um fünf klingeln müssen. Sie wühlte auf dem Stuhl neben dem Feldbett, fand zwischen Reithose, Flanellhemd, BH und einer angerissenen Tüte Kartoffelchips ihr Handy und starrte es an. „Der Akku ist raus! Jemand hat den Akku rausgenommen …"

    „Ne blödere Ausrede hab ich lange nicht gehört. Wie gesagt, das hat ein Nachspiel …"

    „Aber Chefin! Sehen Sie doch! Da: der Akku liegt daneben!"

    Die Bartenstein schüttelte unwillig den Kopf. „Egal. Jetzt erst mal los und die Pferde einsperren. Die Lehrlinge von der Frühschicht helfen dir. Dann wird der Stall in Ordnung gebracht. Währenddessen solltest du dir überlegen, was passiert ist. Wenn dir nichts sensationell Gutes einfällt, kannst du dir den Rest deiner Lehre in die Haare schmieren." Sie drehte sich um und verschwand. Wenig später hörte Svenja den Motor ihres Wagens anspringen.

    Glücklicherweise war nichts Ernsthaftes passiert. Alle Stuten konnten auf dem Gelände des Gestüts unversehrt eingefangen werden.

    Zusammen mit Marco und Kristin, den beiden Azubis aus dem ersten Lehrjahr, verpasste Svenja dem Stall eine Grundreinigung. Zwischendurch trottete Marco mit der Schaufel in der Hand auf sie zu, stützte sich vor ihr auf den Schaufelstiel und grinste sie provokativ an.

    „Na Svenja? Hast du etwa Stress?"

    „Ach lass mich in Ruhe, du Blödmann."

    „Sei nicht so spröde. Ich will dir doch nur helfen." Er versuchte, einen Arm um ihre Schulter zu legen.

    Svenja tauchte unter seinem Arm hindurch, indem sie sich einmal um die eigene Achse drehte, und trat einen Schritt zurück. „Lass das. Ich mag dein Gegrapsche nicht! Hab ich dir schon tausend Mal gesagt."

    Marco sah sie immer noch an, aber das Grinsen verblasste und seine Augen wurden schmal. Dann senkte er den Kopf, drehte sich um und fuhr mit verbissener Miene fort, die stinkende Mischung aus Pferdeexkrementen, nassem Heu und Stroh in die Mistkarre zu schaufeln. Kristin hatte die Szene beobachtet, atmete einmal tief durch und beschäftigte sich wieder mit ihrem Besen.

    Als Svenja die erste volle Schubkarre zum Stall hinaus Richtung Misthaufen schob, fielen ihr unter dem Hebel, mit dem ein Flügel des Stalltors in der Mitte der Stallgasse arretiert wurde, ein dunkler, schillernder Fleck auf. Sie stellte die Karre ab und sah genauer hin. Am Griff hatten sich einige Schweifhaare verfangen und eine dunkelrote Flüssigkeit rann, von Fliegen belagert, in schmalen Bahnen am Tor herunter.

    Svenja lief es vor Schreck kalt über den Rücken. Sie sah sich verstohlen um. Ihre Kollegen waren beschäftigt, keiner achtete auf sie. Auch draußen, auf dem Hof, war niemand zu sehen.

    Sie wühlte ein Papiertaschentuch aus der Westentasche, tupfte es in die dickflüssige Brühe und schnupperte daran. Ja, es war Blut. Sie steckte das Taschentuch in die Innentasche ihrer Weste, zerrte die vier, fünf Schweifhaare vom Verschlusshebel, drehte sie um den Finger und stopfte sie zu dem Tuch. Ein schneller Blick hinüber zu Kristin und Marco … nein, niemand hatte sie beobachtet.

    Kurz darauf schob sie die Karre zum Misthaufen. Es war verlockend, Haare und Taschentuch unter dem Mist zu entsorgen aber sie tat es nicht.

    Auf dem Rückweg zum Stall durchzuckte sie die Angst wie ein Stromschlag und kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Das Blut! Die wertvollen Zuchtstuten! Wenn auch nur eines der Pferde eine Verletzung davon getragen hatte, würde das Donnerwetter riesengroß ausfallen.

    Nach einer Stunde war der Stall sauber wie geleckt, so, wie es einem renommierten Pferdezuchtbetrieb anstand. Aus den Boxen klangen die Mahlgeräusche friedlich fressender Pferde und ab und zu ein entspanntes Schnauben. Es könnte alles wie immer sein, wären da nicht das Blut und die Haare vom Stalltor.

    Nachdem die Stuten ihren Hafer intus hatten, würden sie, wie jeden Tag, auf die Weide geschickt werden, wo sie bis in die Abendstunden blieben. Wenn Svenja die Pferde nach Verletzungen absuchen wollte, so musste sie es jetzt, vor dem Weidegang, tun.

    Sie sah sich um. Marco drückte sich ausnahmsweise nicht in ihrer Nähe herum, sondern war mit Kristin verschwunden. Sicherlich saßen sie beim Frühstück und zerrissen sich die Mäuler. Kristin wohl nicht so arg, Marco umso gehässiger.

    Svenja arbeitete sich von Box zu Box und musterte jede der hochwertigen Zuchtstuten: Sie inspizierte jedes Bein, jede Schulter, jede Flanke, jeweils besonders sorgfältig auf Höhe des kantigen Riegels, unter dem das Blut am Tor herunter gelaufen war. Bei den drei Schimmelstuten reichte logischerweise ein flüchtiger Blick. Bei den zwei Füchsen war es schon umständlicher, bei den Braunen und Rappen musste sie besonders aufmerksam hinsehen, während sie immer wieder Richtung Aufenthaltsraum peilte, um nicht überrascht zu werden.

    Nachdem sie alle Pferde durchgesehen hatte, lehnte Svenja sich an eine der mächtigen Heurollen in der Stallgasse, richtete den Blick in die Spinnweben an der Decke und atmete tief durch.

    Ihre Suche war erfolglos. Nicht einen einzigen noch so kleinen Kratzer hatte sie gefunden. Kein Blut. Nichts.

    Inzwischen ging es ihr besser. Kopfschmerzen und Sehstörungen hatten nachgelassen. Der Kreislauf war wieder stabil. Nur die Angst vor der Bartenstein schwebte nach wie vor durch ihr Hirn. Und in ihrer Beklommenheit wirbelten bohrende Fragen durch ihren Kopf: Woher kamen das Blut und die Schweifhaare? Wer hatte den Akku aus ihrem Handy genommen und die Stuten rausgelassen? Warum fühlte sie sich, als hätte sie die ganze Nacht gekifft und gesoffen? Gleichzeitig versuchte sie beharrlich, sich selbst gut zuzureden: Keines der teuren Pferde war verletzt. Sie hatte nichts Verbotenes getan. Und trotzdem vermochte die Erleichterung über die unversehrten Stuten ihre Angst nicht zu übertünchen. Sie griff in die Westentasche und zog das Taschentuch zur Hälfte heraus. Das Blut war inzwischen getrocknet und fast so schwarz wie die Schweifhaare, die sie gedankenverloren immer wieder um ihren Finger wickelte.

    Das Geräusch eines sich nähernden Autos holte Svenja zurück in die Gegenwart. Einen Augenblick später verdunkelte ein bedrohlicher Schatten das Stalltor und eine herrische Männerstimme brüllte ihren Namen. Sie schob Taschentuch und Schweifhaare hastig in die Tasche zurück und löste sich vom Heuballen. Die Stimme war ihr bekannt. Eine Stimme, die schon unangenehm war, wenn nichts passiert war. Hans Dietmar Olufsen. Besitzer zweier Zuchtstuten. Reinste Trakehner Linien und fürchterlich wertvoll.

    Olufsen hatte eine Vorliebe für blasskarierte Kleidung mit roten Halstüchern, verstand wenig von Pferdehaltung, war arrogant und autoritär, tauchte für gewöhnlich mehrmals täglich auf, sah nach seinen Pferden und meckerte rum. Das blöde war, er fand immer etwas, meist Kleinigkeiten, die nicht in Ordnung waren: Das Halfter war nicht abgenommen. Das Heu war nicht korrekt aufgeschüttelt. Oder die Stalldecke hing schief. Einerseits hatte er immer recht, andererseits war er ein meckernder Pedant, der Spaß daran hatte, Leute zu demütigen. Bei nächster Gelegenheit war er wieder so schleimig freundlich, dass Svenja und die anderen Mädchen im Stall sich hüteten, allein mit ihm in einem Raum zu sein. Blöd nur, dass ausgerechnet Almwiese, eine der beiden Stuten Olufsens, Svenjas erklärtes Lieblingspferd war. So war das mit Olufsen, der jetzt breitbeinig in der Stallgasse stand und ihren Namen brüllte.

    „Ich weiß nicht, warum du hier noch rumhängst. Ich mache der Bartenstein die Hölle heiß, wenn du Schlampe nicht sofort hinausfliegst!"

    „Bitte, Herr Olufsen, ich habe nichts getan. Ich weiß …"

    „Erzähl keine Märchen. Ich sorge dafür, dass du fliegst!"

    Es war nur logisch: Selbstverständlich hatte die Chefin sofort alle Pferdebesitzer informiert. Informieren müssen. Ob sie selber Svenja als Schuldige gebrandmarkt hatte oder jemand anderes es ihm gesteckt hatte, wusste sie nicht und machte auch keinen Unterschied.

    Olufsen stapfte an ihr vorbei und Svenjas Erleichterung über die unverletzten Pferde war endgültig der Angst vor dem Rauswurf gewichen.

    Wie auf Kommando meldete sich ihr Handy. „Sofort in mein Büro" lautete die bedrohliche Nachricht. Svenja seufzte und machte sich auf den Weg über den Hof zum Verwaltungsgebäude, dem prächtigen Gutshaus aus der guten alten Zeit. Der Weg war lang genug, um unterwegs Tante Gabi anzurufen und ihr in Kurzform die schlechten Neuigkeiten zu überbringen.

    Klaas erwachte, weil die tiefrote Morgensonne den Weg durch das Fenster der Schiebetür gefunden hatte und ihm ins Gesicht brüllte. Er drehte sich gähnend auf den Rücken und reckte sich unter der dünnen Decke. Wenn er sich lang machte, berührte er mit den Zehen eine Seitenwand des Wohnmobils, mit dem Kopf die gegenüberliegende und seine Hände den Staukasten über ihm. Die ganze Inneneinrichtung der Minna, wie er seinen zum Wohnmobil umgebauten dunkelgrünen Transporter nannte, leuchtete dunkelrot. Es konnte höchstens fünf Uhr sein, denn Klärchen war gerade erst hinter dem Horizont hervorgekrochen.

    Stöver jedenfalls war es eindeutig zu zeitig. Der zottelige schwarze Hund blieb zusammengerollt unter dem Tisch liegen und hielt die Augen konsequent geschlossen.

    Klaas setzt sich auf und schob das Rollo am Heckfenster nach oben. Draußen herrschte Windstille. Ein dünner Nebelfilm verhüllte das Bett der Elbe. Die Bäume am gegenüberliegenden Ufer ragten aus der weißen Suppe, als lägen ihre Kronen ohne Stamm auf den Nebelschwaden. Klaas reckte sich abermals, bevor er die Füße aus dem Nest schwang.

    Eine Stunde später waren die obligatorischen morgendlichen Herausforderungen bewältigt: Der Riesenschnauzermischling hatte, nachdem er sich doch noch bequemt hatte, aufzustehen, seinen Auslauf gehabt, die Kaffeemaschine gurgelte dampfend vor sich hin und Klaas hatte eine rudimentäre Körperpflege absolviert.

    Der weitere Tagesablauf gestaltete sich fakultativ. Rasieren zählte höchstens jeden dritten Tag dazu. Klaas musterte die grauen Stoppel im Spiegel. Nein, heute ging es noch. Er zwinkerte sich selber zu und fuhr sich mit der freien Hand durch die ebenfalls stoppelige Kopfbehaarung. Er genoss den Luxus, auf sein Äußeres keinen besonderen Wert legen zu müssen. Und als pensionierter Kriminalkommissar der Hamburger Polizei oblagen ihm nur wenige Verpflichtungen, von denen die Versorgung seines Hundes die angenehmste war. Dazu gehörte der Start der Kaffeemaschine − schon der Duft und das Schnorcheln verfeinerten jeden Tag zu einem Feiertag. Das war es dann auch mit den Verpflichtungen.

    Ein weiterer flüchtiger Gedanke galt dem Grund seiner Anwesenheit hier an der Elbe bei Roßlau: die Einlösung einer Wette. Oder die Quittung für seine große Klappe, das war Ansichtssache. Die blödsinnige Wette mit der Clique aus seiner Hamburger Stammkneipe, den Elberadweg mit einem Klapprad auszumessen. Keine weltrekordverdächtige Sache, zumal er das Rad mit Akku und Elektromotor hatte aufrüsten lassen. Und er dachte speziell an seine besten Freund Holger, Wirt und Inhaber jener Kneipe. Holger hatte am hartnäckigsten auf die Einlösung der Wette bestanden. Als Gastwirt war er Menschenkenner. Und als Menschenkenner wusste er, dass Klaas nach seiner Frühpensionierung nichts dringender benötigte als eine Luftveränderung.

    Nachdem er, Klaas, die Notwendigkeit dieser Veränderung endlich eingesehen hatte, freute er sich sogar auf die Tour. Nicht, dass er ernsthaft Sorge gehabt hätte, in Depressionen zu verfallen. Eine gewisse Beunruhigung über fehlende Struktur in Tagesablauf und Kleiderordnung vermochte er auf Dauer jedoch nicht zu verdrängen. Neben einer latenten Ziellosigkeit oder auch Antriebslosigkeit. Falsch, korrigierte er sich. Antriebslosigkeit war schon seit vielen Jahren, auch vor der Pensionierung, sein Problem gewesen.

    Er wischte sich mit der Hand über das bartstoppelige Gesicht und schüttelte den Kopf. Er war jetzt nicht in der Stimmung für psychologische Eigendiagnose und Vergangenheitsaufarbeitung. Er negierte sogar dessen Notwendigkeit, denn vom Grundsatz her war er seit dem Beginn der Reise guter Dinge. Wie gesagt, die Luftveränderung tat gut. Holger, der Althippie, lag richtig mit seiner Einschätzung.

    Allerdings war Klaas in den vergangenen Monaten nicht besonders weit gekommen. Von Dresden gerade mal bis hierher, kurz vor Dessau. Von Mai bis Mitte August. Der Grund für das zögerliche Vorankommen war Wilfried, das geharnischte Skelett an der Elbe bei Belgern (siehe „Elbgold"). Das mittelalterliche Gerippe hatte ihn mehrere Wochen aufgehalten.

    Klaas schenkte sich Kaffee nach und lud den Toaster mit zwei weiteren Weißbrotscheiben.

    Seine Gedanken verweilten bei den Geschehnissen um Wilfried. Oder vielmehr bei Helena und Eberwein. Doktor Jens Eberwein, dem skurrilen Heimatforscher. Irgendwo jenseits der sechzig, freier LKA Mitarbeiter mit der Physiognomie einer vollbärtigen Spitzmaus, der im Laufe der ereignisreichen Wochen in Nordsachsen zum Freund geworden war.

    Und Helena, der zartbraun gebrannten Wirtin der Elbklause zu Belgern, gleich neben dem Fähranleger. Helena mit ihrer widerspenstigen blonden Mähne und der Vorliebe für helle, penibel gebügelte Herrenoberhemden. Die Helena, die ihn mit ihrer burschikosen Art und der immer etwas heiseren Stimme von Beginn an in den Bann gezogen hatte. Die am letzten Abend erst im weißen Businesshemd mit nichts darunter, und dann ganz ohne Hemd vor seiner Koje in der Minna gestanden hatte. Er lächelte still vor sich hin und ihr unbeschreiblicher Duft schien plötzlich im Wohnmobil zu schweben.

    Der Toaster spuckte perfekt mittelbraune Weißbrotscheiben aus und Klaas zog den Deckel von der Butterpackung. Weiter kam er nicht, denn sein Handy dudelte die Tatort-Titelmelodie.

    Nach einem schnellen Blick auf das Display hielt er das Telefon lächelnd ans Ohr. „Woher wusstest du, dass ich gerade deine Oberhemden vor Augen habe?"

    „Auch guten Morgen. Wenn du nur an mein Hemd gedacht hast, ist ja alles jugendfrei." Helenas Stimme klang wie gewohnt angeraut, aber doch sanfter zu ihm herüber, als ihre Kneipengäste sie erlebten. Ach so vertraut klang sie und Klaas fragte sich, innerlich den Kopf schüttelnd, warum er nicht bei ihr in Belgern am Frühstückstisch saß.

    „Ach Helena, selbstverständlich nur an das Hemd, was denn sonst." Er schmunzelte, während sein Blick ziellos über die Flusslandschaft glitt.

    „Okay, bevor das Gespräch entgleitet, erzähl ich dir, warum ich anrufe."

    „Ich höre."

    „Meine Freundin Gabi …"

    Klaas unterbrach sie. „Die Gabi, die immer brav die Kneipe macht, während du Verbrecher jagst? Grüß schön."

    „Wenn du möchtest, kannst du persönlich grüßen. Ich bitte dich, zurückzukommen."

    Klaas hatte plötzlich ein angenehm behagliches Kribbeln in der Magengegend. Die Frage, warum er Belgern überhaupt verlassen hatte, schien sich in diesem Moment erledigt zu haben und er flötete ein: „Oh ja, selbstverständlich, liebste Helena" in das Handy.

    „Hallo! Nicht, was du jetzt denkst, du Spinner! Es ist was passiert. Wir brauchen deine Hilfe."

    Klaas wartete. Nach dieser Ankündigung müsste noch etwas kommen.

    „Klaas? Bist du noch dran? Also, Gabi hat ne Nichte …"

    „Och nee, wieder ne Nichte? Klaas hatte kurz die durchgeknallte Jessica, ihren Rambo-Onkel bei der Torgauer Polizei und den verrückten Pfarrer vor Augen (siehe „Elbgold).

    „Keine Sorge, diesmal nicht so eine verdrehte wie die vom Rütter. Also, die Nichte von Gabi macht ne Ausbildung zur Pferdewirtin in einem Gestüt auf der anderen Elbseite und hat seit gestern ein Problem."

    „Pferdewirt … Die lernt in `ner Kneipe, in der Pferde an der Theke stehen?"

    „Nicht ganz. Helena lachte kurz auf. „In diesem Pferdestall sind nächtens merkwürdige Dinge passiert und Svenja soll schuld daran sein. Fliegt deswegen vielleicht sogar raus.

    „Svenja?"

    „Jaha, so heißt Gabis Nichte. Du bist aber schwer von Begriff heut morgen."

    „Und warum geht ihr nicht zur Polizei?"

    „Das ist nix für die Polizei. Wir brauchen jemanden mit Köpfchen und Fantasie."

    Klaas grinste bei dem Gedanken an Sheriff Rütter, der für ihn gleichbedeutend mit Polizei in Torgau war, und seufzte. Fantasie war dessen Stärke wahrlich nicht.

    „Na wenn du meinst. Ich weiß zwar nicht, wie ich das der Clique in Hamburg klar machen soll. Die glauben bestimmt, ich will mich drücken."

    „Das erklär ich dem lieben Holger schon. Du weißt, der frisst mir aus der Hand." Klaas konnte sich denken, wie sie gerade hämisch grinste. Ja, sein Freund Holger, der mit Freude zweideutige Bemerkungen einstreute und immer wieder gern in Helenas prachtvollen Ausschnitt schielte.

    „Na gut. Warum auch nicht. Er sagte es leichthin. So, als wäre es ihm völlig gleich, ob er heute Abend in der Elbklause zu Belgern neben Helena an der Theke sitzen würde oder nicht. „Dann bis nachher. Und vor Pferden hab ich Angst. Die sind groß, schreckhaft und schnauben zu laut.

    Klaas freute sich wie ein Schneider.

    2. Kapitel

    Klaas frühstückte in allerbester Laune zu Ende und jagte Stöver anschließend zum zweiten Mal an diesem Morgen in die Roßlauer Elbwiesen. Es brauchte nicht lange, bis die Minna reisefertig war. Er verpackte all sein Gerassel in den Staufächern, kurbelte die Stützen hoch und war abfahrbereit.

    Einen Moment überlegte er, den schnelleren Umweg über die Autobahn zu nehmen, entschied sich dann aber für die gemütliche Landstraße. Er freute sich auf die Schlange der Eiligen hinter ihm, die auf eine Chance zum Überholen lauerten und ihm derweil die Pest an den Hals wünschten.

    Auf den Straßen war an diesem herrlichen Spätsommermorgen wenig los und nichts hielt Klaas davon ab, während der Fahrt seinen Erinnerungen nachzuhängen.

    Es war alles wieder da: Der Überfall auf Doktor Eberwein, die mit Rotwein verplauderten Abende in der Elbklause, die Gefangenschaft im Verlies und Claus, der sabbernde Narr aus dem Mittelalter: Die Ereignisse der vier Wochen in Belgern an der Elbe zogen vor seinem inneren Auge vorbei: Zum Schluss der Abend, an dem Helena vor ihm im Wohnmobil gestanden und Knopf für Knopf ihres blütenweißen Businesshemds geöffnet hatte (siehe „Elbgold"). Der Augenblick, in dem sie an sein Bett getreten war. Ihre kräftige, aber nicht zu füllige Statur. Die samtbraune Haut, in den Bikinizonen eine Spur heller. Dieser Duft. Dieser unbeschreibliche Duft nach purer Lebenslust. Sie hatte sich mit einer fließenden Bewegung den Haargummi aus dem Pferdeschwanz gezogen und sich geschüttelt, bis die rotblonden Haare Eigenleben entwickelten und ihr locker über die Schultern fielen. Die eine störrische Strähne, die sie aus dem Mundwinkel anpustete, um sie aus dem Gesicht zu scheuchen.

    Ein stakkatoartiges Aufblinken hinter seinem Transporter katapultierte ihn für einen Moment zurück in die Gegenwart und er sah in den Spiegel. Ein Geländewagen zog halb auf die Gegenfahrbahn und die Lichthupe kam wieder und immer wieder, ausdauernd und fordernd. Klaas checkte den Tacho. Von den erlaubten 100 fuhr er nicht einmal 90. Er grinste still vor sich hin und ging ein wenig vom Gas.

    Es dauerte einige Zeit, bis die Fahrbahn wenigstens soweit zu überblicken war, dass ein Überholmanöver statt selbstmörderisch nur leichtsinnig war. Der schwarze Geländewagen zog mit aufheulendem Motor hupend an ihm vorbei und Klaas ließ seine Gedanken wieder wandern.

    „Was ist, willst du mir nicht Platz machen?, hatte Helena gefragt und Klaas musste sich von ihrem Anblick losreißen. Der Begriff „Vollweib war durch seinen Kopf geknallt und er zuckte, jetzt auf der Landstraße, nachträglich zusammen. Sexistisch? Möglicherweise. Sicherlich. Allerdings schloss das „Voll-" den Grips und den Witz dieser besonderen Frau mit ein. Das Schnippische, diese hinterhältige Ironie, die er an ihr schon mochte, bevor er den Anblick der Rundungen genießen durfte.

    Jedenfalls war Klaas nicht zur Seite gerückt und das hatte dem Verlauf der Nacht eine andere Richtung gegeben, wie er heute wusste. Statt ihr Platz zu machen, hatte er gesagt: „Links von mir lag vor ewigen Zeiten immer meine Frau. Komm bitte auf die rechte Seite."

    Helena hatte lächelnd mit den Schultern gezuckt und das Knie auf die Bettkante gestemmt, um über ihn hinweg zu steigen, aber nicht ganz. Mitten in der Bewegung hatte sie innegehalten, um ihm in die Augen zu sehen. Das war der Moment gewesen, in dem Klaas Herzklopfen bis zum Hals bekommen hatte. Dieser Anblick …

    Dann hatte die Frau sich lächelnd herabgebeugt und ihn ganz leicht auf die Stirn geküsst, während zwei Brustwarzen sanft über seinen Oberkörper strichen.

    „Verdammt!, murmelte er vor sich hin, „Jetzt ist aber gut. Wie soll man denn da Auto fahren?, und zwang sich, die phänomenalen Brüste im Interesse der Verkehrssicherheit auszublenden.

    Jedenfalls gestaltete sich der Rest der Nacht nicht im Sinne der Arterhaltung, sondern verlor sich in Konversation. „Du warst verheiratet?" Helena hatte sich hinter ihm fallengelassen, ihren Kopf auf seine Schulter gelegt und sich an ihn geschmiegt.

    „Ja, bis vor zwei Monaten."

    „Gibt es einen Grund, warum du darüber nicht sprichst? Gab`s nen Rosenkrieg? Hat es dir das Herz gebrochen?"

    „Nein, nichts von all dem. Die Beziehung scheiterte ganz profan an der Routine des Alltags. Jahr für Jahr wurde es in Wohn- und Schlafzimmer immer langweiliger. Als sie irgendwann vorschlug, wir sollten uns scheiden lassen, war das genauso belanglos, als hätte sie gefragt, ob ich den Müll mit runternehme. Wir haben zusammen durchgerechnet, wie sich das steuerlich auswirkt, macht aber keinen relevanten Unterschied. Also haben wir unseren gemeinsamen Anwalt gebeten, alles für die Beendigung des Lebensabschnitts in die Wege zu leiten."

    „Wie lange wart ihr verheiratet?, „Wie habt ihr euch kennengelernt? und „Gibt es Kinder?"

    In diesem Stil hatten sie weiter geplaudert. Mit einer Flasche Dornfelder und Knabberzeug zwischen sich im Bett. Sie plauderten und lachten und plauderten und schmiegten sich aneinander. Irgendwann war die Weinflasche leer geplaudert und Klaas vernahm ein überaus zartes Schnarchen neben sich. Wenn man es überhaupt so nennen konnte.

    Der Transporter rollte nach Wittenberg hinein und Klaas hielt vor der ersten Ampel, die natürlich rot war. Fast wie in Torgau, dachte er schmunzelnd. Direkt vor ihm stand der protzige schwarze Geländewagen. Klaas grinste und verkniff sich die Betätigung der Hupe.

    Ja, Helena war schließlich in seinem Arm eingeschlafen und er hatte noch lange wach gelegen, paradoxerweise mit ausgesprochen guter Laune. Die blaue Stunde war schon im Anmarsch, als auch er endlich weggedämmert war.

    Es war also nix mit dem wilden, hemmungslosen Sex in dieser Nacht, dachte er, wieder schmunzelnd. Aber das typisch bittere Gefühl der Enttäuschung nach einer verpassten Gelegenheit war ausgeblieben. Und am Morgen war er aufgebrochen, um seine Reise entlang der Elbe mit vierwöchiger Verspätung fortzusetzen.

    Seit seiner Abreise hatte sich nicht viel verändert: Das mit etwas Fantasie nach Bäderarchitektur anmutende weiße Gebäude, die ewig lange Reihe der Fahrradständer vor der Kneipe, das gurgelnde Geräusch der ablegenden Gierfähre, der wunderbare Blick über die Elblandschaft. Nur war die Luft noch drückender als bei seiner Abreise, die Vegetation rundherum noch vertrockneter.

    Klaas schaltete zurück in den ersten Gang und ließ die Minna im Schneckentempo über Helenas Grundstück und auf „seinen" Platz hinter dem Haus rollen. Als er den Motor abstellte, hockte Stöver schon ungeduldig an der Schiebetür und äußerte ein forderndes Jaulen. Sein Herrchen ließ ihn hinaus und der Riesenschnauzermischling verschwand wie der Blitz. Klaas schmunzelte. Der Hund mochte Helena, egal, ob mit oder ohne Buletten und er war nicht die Spur eifersüchtig. Er suchte seine Schlappen zusammen, schloss die Wagentür und folgte gemächlich dem schwarzen Zotteltier.

    In der Tür zur Gaststube verharrte er. Sein Mund verzog sich zu einem leisen Lächeln. Helena stand mit einer Hand am Zapfhahn hinter der Theke, ein Geschirrtuch über der Schulter und feine Schweißperlen auf der Stirn. Eine widerspenstige rotblonde Strähne hing, wie eigentlich immer, im vertrauten Gesicht. Ihr weißes Herrenoberhemd leuchtete ihm entgegen und Klaas hatte das Gefühl, er wäre gerade einmal zehn Minuten weg gewesen. Sie erwiderte sein Lächeln quer durch die lärmende Gaststube und er hob beinahe schüchtern eine Hand zur Begrüßung.

    Der große Bahnhof fiel aus. Sie zog ihn zu sich herunter und gab ihm einen zarten Kuss auf die Stirn. Das war es schon. „Würdest du die zwölf Radler zuende zapfen? Ich kümmere mich derweil um die Bratkartoffeln."

    Er fasste sie mit beiden Händen unterhalb des Kragens am Hemd, zog sie zu sich heran und erwiderte den Kuss auf die Stirn. „Steht dir, du solltest öfter Businesshemden tragen. Und selbstverständlich zapfe ich. Nur aus diesem Grund bin ich zurückgekommen", sagte er todernst.

    Helena lachte über das ganze Gesicht. „Klar. Warum auch sonst? In zwei Stunden kommt Gabi. Bis dahin haben wir die Gäste abgefertigt."

    Während dieser unkonventionellen Begrüßung, deren Herzlichkeit eher in den Blicken als den Worten lag, hatte Stöver schwanzwedelnd vor Helena auf dem Hintern gesessen und sie erwartungsvoll angehimmelt. Der Duft von frischen Buletten aus der Küchentür mochte der Grund dafür sein.

    Mehrere Stunden später, zum Ende eines typischen umsatzstarken Gut-Wetter-Tages in der Elbklause, und nachdem der letzte Elberadwanderer die Gaststube verlassen hatte, war der ewig lange Fahrradständer wieder verwaist. Klaas wischte sich zum x-ten Mal den Schweiß aus dem Gesicht, entledigte sich des durchgeweichten Geschirrtuches und krönte das letzte, für ihn selbst gezapfte Bier mit einer wundervoll überlaufenden Blume. Er setzte den Humpen an und nahm einen mächtigen Schluck, der einen voluminösen Bierschaumbart in seinem unrasierten Gesicht hinterließ.

    „Es hat sich nichts geändert. Helena spannt die besten Gäste zur Arbeit ein!"

    Klaas blickte erfreut zur Tür, denn die Stimme kannte er. Dieses Männchen mit den verwüsteten weißgrauen Haaren, dem Gesicht einer Spitzmaus, dem grau-braun kariertem Polunder, dem Hemd mit Lederflicken auf den Ellenbogen und den ausgebeulten Knien in den braunen Cordhosen hatte er annähernd genauso vermisst wie Helena. Auf eine etwas andere Art, aber immerhin.

    „Hallo Doktor! Wie heiß muss es noch werden, bis du dir wild und unbeherrscht den Polunder vom Leib reißt?"

    „Keine Chance! Ich bleibe meinem Ruf treu. Der

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