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Erzählen, Erklären: Ein Gespräch mit Stéphane Bou
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Erzählen, Erklären: Ein Gespräch mit Stéphane Bou
eBook250 Seiten3 Stunden

Erzählen, Erklären: Ein Gespräch mit Stéphane Bou

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Über dieses E-Book

Geboren 1932 als Sohn jüdischer Eltern in Prag mit dem Namen Pavel, muss Saul Friedländer mit seinen Eltern vor den Nazis fliehen. In Frankreich können sie den Sohn in einem katholischen Internat verstecken – sie selbst werden an der Schweizer Grenze, festgenommen und deportiert. Pavel überlebt, seine Eltern werden vermutlich in Auschwitz ermordet.Mit dem Journalisten Stéphane Bou spricht der Pulitzer-Preisträger darüber, wie aus dem Waisen Pavel, der Priester werden wollte, Saul wurde und wie schmerzhaft es war, sich den eigenen traumatischen Kindheitserlebnissen zu stellen, dass er sich erst nach Jahrzehnten auf die Erforschung des Holocaust einlassen konnte. Und Friedländer erklärt, wie er deshalb zu einem Historiker wurde, der gar nicht anders konnte, als das »Primärgefühl der Fassungslosigkeit zu bewahren« und wissenschaftliche Geschichtsschreibung mit der persönlichen Erinnerung sowie der von Empathie getragenen Perspektive der Opfer zu verflechten. Sie reden auch über deutsche und jüdische Erinnerungskultur, über Hannah Arendt und den Eichmann-Prozess, den Historikerstreit von 1986 und über filmische und literarische Fiktionalisierungen des Historischen, die das Unerzählbare erzählen.
SpracheDeutsch
HerausgeberKampa Verlag
Erscheinungsdatum4. Nov. 2019
ISBN9783311701057
Erzählen, Erklären: Ein Gespräch mit Stéphane Bou
Autor

Saul Friedlander

Born in Prague, Saul Friedländer spent his boyhood in Nazi-occupied France. He is a professor of history at UCLA, and has written numerous books on Nazi Germany and World War II.

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    Buchvorschau

    Erzählen, Erklären - Saul Friedlander

    Kampa

    Vorwort

    Mein im Jahr 1983 veröffentlichter Essay Reflets du Nazisme [dt. Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus, 1984] ist Ursprung dieses Gesprächsbandes. Stéphane Bou, Kinoexperte, hatte das Buch gelesen und dort Ideen zu einer bestimmten Ästhetik der 1970er-Jahre gefunden, die die Darstellung des Nazismus betrafen, und die er mit mir nach dem Modell der Gespräche mit der Philosophin Élisabeth de Fontenay, die er beim Verlag Seuil veröffentlicht hatte, erörtern wollte. Ich habe bereitwillig zugestimmt.

    Das Gespräch begann Ende 2012 – über Skype – und endete 2014. Einmal auf dem Weg, gingen unsere Unterredungen weit über den anfänglichen Rahmen hinaus und erstreckten sich auf Probleme der Darstellung des Nazismus sowohl in künstlerischer als auch historischer Hinsicht, die zusammenhingen mit unterschiedlichen, bisweilen widersprüchlichen Formen des Erinnerns in der besonderen Atmosphäre jener Siebziger- und Achtzigerjahre. Während ich parallel dazu am zweiten Abschnitt meiner Memoiren Wohin die Erinnerung führt. Mein Leben arbeitete, hatten die Gespräche mehr und mehr die Geschichtsschreibung und meinen eigenen Weg als Historiker zum Gegenstand. Die beiden Projekte haben sich gegenseitig genährt.

    Die Gliederung, für die wir uns letztlich entschieden haben und die im Hinblick auf die Chronologie unserer Gespräche ein wenig mogelt, schmiegt sich teilweise meinem geistigen Parcours an. Sie beginnt mit meinen ersten Arbeiten in den Archiven des Vatikans und schließt mit der Abfassung von Das Dritte Reich und die Juden. Wir haben den Text 2015 überarbeitet, während ich die Schrift Wohin die Erinnerung führt beendete; dieses Datum erklärt auch die Einbeziehung gewisser Details aus jenem Jahr. Wir haben etwas vom gesprochenen, freien und bisweilen tastenden Stil unserer ersten Unterredungen bewahrt, haben uns einige Abschweifungen erlaubt, in der Hoffnung, bei den Puristen keinen Anstoß zu erregen.

    S.F.

    Anfänge

    Saul Friedländer, Sie sind im Alter von dreißig Jahren Historiker geworden. Was hat Sie dazu bewogen, über die Geschichte des Nazismus zu schreiben?

    Ich hatte lange Zeit nicht vor, Historiker zu werden, und habe mich von meiner Vergangenheit ferngehalten. Über Jahre hinweg war ich der Shoah gegenüber – ich würde nicht sagen indifferent, das wäre der falsche Ausdruck, vielmehr war ich ihr gegenüber distanziert. Ich hatte nicht das Verlangen, mich auf dieses Ereignis zu konzentrieren. Ich verspürte nicht die Notwendigkeit. Das war ein gänzlich unbewusster Verteidigungsmechanismus gegen das Übermaß an Gefühlen, das eine solche Geschichte hätte hervorrufen können. Aber Tatsache ist, dass ich, als ich mein Studium wieder aufnehmen wollte, dennoch ein Thema aus der Geschichte der Diplomatie wählte, das im Zusammenhang stand mit dem Nazismus. Ich hatte schon viel über Nazideutschland und den Krieg gelesen. So bin ich also in völliger Unschuld, wenn ich so sagen darf, auf die Suche nach einem Thema für meine Dissertation gegangen. Ich entschied mich dafür, zu dem amerikanischen Faktor in der Außen- und Militärpolitik Deutschlands zwischen September 1939 und Dezember 1941 zu arbeiten. Wie hatten Hitler und die Diplomaten und das Militär in seiner Umgebung die Möglichkeit einer amerikanischen Intervention auf Seiten der Engländer eingeschätzt, insbesondere nach der Niederlage Frankreichs? Und inwieweit hatte dies ihre Außenpolitik und militärischen Vorbereitungen beeinflusst? Das sind einige der Fragen, auf die ich Antworten zu finden suchte.

    »Ich hatte lange Zeit nicht vor, Historiker zu werden und habe mich von meiner Vergangenheit ferngehalten. Über Jahre hinweg war ich der Shoah gegenüber distanziert

    Das hatte, streng genommen, keinen Bezug zur Shoah …

    Nein, in der Tat.

    Von Genf aus, wo wir wohnten und wo ich am Hochschulinstitut für internationale Studien eingeschrieben war, fuhr ich regelmäßig nach Deutschland, zu jener Zeit Westdeutschland: nach Bonn, in die Archive des Außenministeriums der Bundesrepublik, wo sich auch die Archive des Außenministeriums von Nazideutschland befanden. Dort habe ich viel gearbeitet, ebenso in den deutschen Militärarchiven in Freiburg im Breisgau, sowie in diversen anderen Archiven in Deutschland, aber auch in London. Das hat allmählich dazu geführt, dass meine Vorstellung von der Dissertation an Klarheit gewann. Ich habe sie recht schnell abgefasst und im Dezember 1963 verteidigt. Sie ist sogleich veröffentlicht worden, weil in der Schweiz, wie zu jener Zeit üblich, zweihundert Kopien einer Doktorarbeit gedruckt werden mussten, die das Institut dann an die Universitätsbibliotheken versandte. Jacques Freymond, der Direktor des Instituts, bat mich anschließend, in Genf zu bleiben: Ein Professor war schwer erkrankt und musste ersetzt werden. Anfang 1964 habe ich also am Institut zu lehren begonnen.

    Ihr erstes Buch, das sich direkt auf die Shoah bezog – Pius XII. und das Dritte Reich –, stammt aus dem Jahr 1964, anders gesagt, aus der Zeit gleich nach der Verteidigung Ihrer Doktorarbeit. Sie sagten aber gerade, dass Sie bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht so weit waren, dieses Thema anzugehen.

    Da hat der Zufall mitgespielt. Obgleich der Begriff »Zufall« zweifellos unangemessen ist: Hätte ich eine andere Kindheit und Jugend gehabt, hätte dieser Vorfall vielleicht nicht meine Aufmerksamkeit erregt. Während ich an meiner Dissertation arbeitete und Einsicht nahm in deutsche Dokumente, die sich auf die Vereinigten Staaten bezogen, stieß ich auf ein fehlerhaft klassifiziertes Archiv, das in Wahrheit zu den Vatikan-Dossiers gehörte. Es handelte sich um einen Brief, datiert vom Dezember 1941, in welchem auf Bitten von Pius XII. eine Anfrage an das in den darauffolgenden Tagen in Rom erwartete Orchester der Berliner Oper erging, ob es in den Gemächern des Papstes Auszüge aus Wagners Parsifal spielen könnte. Ich sagte mir, dass es immerhin seltsam sei, wenn der Papst eine solches Gesuch stellte, wo doch der Krieg an der Ostfront in Gewaltexzesse ausartete und die Ausrottung von russischen Zivilpersonen und von Juden dem Vatikan bekannt war. Das schockierte mich. Das Konzert hat nie stattgefunden, aber die Anfrage war geäußert worden. Ich beschloss also, nach Beendigung meiner Dissertation zurückzukommen, um die Unterlagen zum Vatikan zu sichten. Im Verlauf der Osterferien des Jahres 1964 bin ich dann nach Bonn zurückgekehrt und habe die interessantesten Dokumente aus den Archiven, die die diplomatischen Beziehungen zwischen dem Heiligen Stuhl und Nazideutschland behandelten, kopiert.

    »Ohne groß darüber nachzudenken, habe ich mich auf natürliche Weise dem angenähert, was dann zur eigentlichen Passion meiner geistigen und emotionalen Existenz werden sollte.«

    Sie akzeptierten somit die Idee, eine Arbeit in Angriff zu nehmen, die mit Ihrer eigenen Vergangenheit in Verbindung stand. Insbesondere, weil sie auf den Zusammenhang zwischen katholischer Kirche und Preisgabe der Juden während des Krieges eingeht: Sie selbst sind während des Zweiten Weltkriegs einer religiösen Institution anvertraut worden.

    Durchaus. Ohne groß darüber nachzudenken, habe ich mich wegen dieses Dokuments, das mich nicht auf intellektueller, sondern auf affektiver und moralischer Ebene beunruhigte, auf natürliche Weise dem angenähert, was dann zur eigentlichen Passion meiner geistigen und emotionalen Existenz werden sollte.

    Auf welche Weise haben Sie sich mit den Archiven des Vatikans beschäftigt?

    Die Dokumente waren chronologisch sortiert. Die erste Akte, die das Pontifikat Pius XII. behandelt, beginnt mit dem März 1939. So gelangte ich nach und nach zur Akte Nummer 5, die mit der Besetzung Roms durch die Deutschen zusammenfällt, zu dem Zeitpunkt, da der Marschall Badoglio, Nachfolger Mussolinis seit Juli 1943, die Alliierten, die im Süden der Halbinsel gelandet waren, am 3. September um einen Waffenstillstand ersucht. Die Deutschen halten Rom und Italien bis in den Süden besetzt. Es ist die Periode zwischen September 1943 und Februar/März 1944, in der die Juden Roms und anderer Regionen Italiens deportiert werden. Es ist auch der Zeitabschnitt, in dem man sich in Berlin die Frage stellt, ob der Papst reagieren wird. Wird er Protest einlegen, oder wird er die Deutschen gewähren lassen? Bekanntlich reagiert er nicht. Ernst von Weizsäcker, der Botschafter im Vatikan, schickt ein später berühmt gewordenes Telegramm an Ribbentrop, in dem es heißt: »Der Papst wird nicht einschreiten …« Mit diesem Material befand ich mich im Herzen einer Problematik, die immer noch die Gemüter erhitzt. Es handelte sich plötzlich nicht mehr um eine Arbeit zur Geschichte der Diplomatie, sondern um eine Mischung aus Politik- und Religionsgeschichte, die letztlich nicht nur die Haltung des Papstes gegenüber Nazideutschland betraf, sondern, genauer betrachtet, seine Haltung gegenüber der Judenvernichtung. Darauf lief meine Studie der Dokumente hinaus und wurde dann zum Thema von Pius XII. und das Dritte Reich. Eine Dokumentation. Es ging nur darum, eine Gesamtheit von Texten zu präsentieren und sie in einen Kontext zu stellen.

    War es schwierig, einen Verleger für dieses Buch zu finden, das leidenschaftliche Reaktionen hervorgerufen hat?

    Als die Hauptarbeit am Text beendet war, habe ich mich auf Anraten Elie Wiesels dafür entschieden, Kontakt zum Verlag Éditions du Seuil aufzunehmen, der damals von Paul Flamand und Jean Bardet, den »Gründervätern«, geleitet wurde. Es war ein katholischer Verlag, zugleich war er jedoch sehr eigenständig. Paul Flamand hat nach Durchsicht meiner Dokumente sogleich zugesagt, das Buch zu veröffentlichen. Es bestand aus einer Serie von sehr kurzen Kommentaren zu den vorgestellten Dokumenten.

    Dieses Buch erschien genau zeitgleich mit Der Stellvertreter von Rolf Hochhuth, ein Stück, das 1963 einen Skandal hervorrief, weil es das Schweigen Pius XII. zum Schicksal der Juden während des Zweiten Weltkriegs anprangerte.

    Mein Buch ist im November 1964 erschienen, und zu jenem Zeitpunkt wurde in der Tat das Stück Hochhuths, das viel Staub aufwirbelte, überall aufgeführt. Die Haltung des Papstes stand im Zentrum der Diskussionen. Mein Buch ist inmitten dieses Getöses eingeschlagen und hat eine Art Elektroschock ausgelöst. Es wurde von der konservativen – sowohl klerikalen als auch nicht klerikalen – Rechten und von der Kirche angegriffen. Man hat mich mit allen möglichen Schimpfnamen belegt. Von der Linken ist es unterstützt worden. Einige katholische Persönlichkeiten haben es verteidigt, darunter der Kardinal Tisserant, der Dekan des Sacré Collège. Er schrieb mir einen Brief, in dem er sagte, dass es gut sei, dass die Wahrheit ans Licht komme. Ich habe ihn übrigens um die Autorisierung gebeten, den Brief in der amerikanischen Ausgabe des Buches zu veröffentlichen. Was er akzeptiert hat. Das Buch wurde ein Erfolg. Es ist in rund fünfzehn Sprachen übersetzt worden.

    Sie waren damals etwas älter als dreißig. Ich kann mir vorstellen, dass dieser Erfolg Ihre Karriereaussichten neu definiert hat.

    Nach Beendigung meiner Dissertation war es ungewiss, ob ich am Institut in Genf eine feste Stelle bekäme; diese Frage stellte sich dann nicht mehr. Ich war zu einer Art Persönlichkeit geworden. Ich sage dies mit einem Lächeln, in der Hoffnung, dass Sie nicht der Ansicht sind, dass all dies mich heute beeindruckt. Ich war zum Historiker geworden, ohne es wirklich gewollt zu haben. Ich habe gleich im Anschluss an mein Buch über Pius XII. meine Forschungen fortgesetzt, wobei mir mehr und mehr bewusst wurde, was ich da machte. Das dann folgende Buch war Kurt Gerstein gewidmet, einem Leutnant der SS, der für die Vernichtungsmaschinerie gearbeitet hat, zugleich aber die Welt, insbesondere den Heiligen Stuhl, von den Massakern, die an den Juden verübt wurden, in Kenntnis setzen wollte.

    »Ich war zum Historiker geworden, ohne es wirklich gewollt zu haben.«

    Es gibt eine Verbindung zu Ihrem vorhergehenden Buch, da Gerstein von der Idee besessen war, die religiösen Autoritäten und insbesondere den Papst im Hinblick auf die Judenvernichtung zu alarmieren. Hochhuth hat Der Stellvertreter auf Basis seiner Zeugenschaft geschrieben. Der Untertitel des Buches, das Sie ihm gewidmet haben, Die Zwiespältigkeit des Guten, spielt, denke ich, sehr bewusst auf die berühmte Formulierung Hannah Arendts von der »Banalität des Bösen« an.

    Ja. Der Untertitel Die Zwiespältigkeit des Guten schlug in der Tat eine Art Antwort auf den Untertitel von Hannah Arendts Buch über Adolf Eichmann vor. Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen war 1963 in den Vereinigten Staaten erschienen, und ich hatte es natürlich sogleich gelesen.

    Eine »Erwiderung«, gerichtet an Arendt?

    Sagen wir eher: ein indirekter Bezug auf die Formulierung Hannah Arendts.

    Offensichtlich handelt es sich bei Gerstein und Eichmann um sehr unterschiedliche Persönlichkeiten, die zweifellos nur in begrenztem Rahmen vergleichbar sind. Abgesehen davon geht es in Ihrem Buch, nach dem Beispiel des Buches von Arendt, darum, ein psychologisches Porträt zu entwerfen und sich dabei auf moralische Kategorien zu berufen (das Böse, das Gute: Wörter, die in Ihren jeweiligen Titeln auftauchen). Aber Ihre Zielsetzungen sind sehr unterschiedlich.

    Was mich betrifft, so schien mir, dass es bei Kurt Gerstein den Willen gab, etwas gegen das Geschehen zu unternehmen, aber seine Handlungsweise war zwiespältig, und es war sicherlich jene eines Einzelgängers: Einerseits wollte er die Vernichtungsmaschinerie hemmen, indem er Informationen verbreitete über das, was geschah, in der Hoffnung, Reaktionen hervorzurufen, jene des Vatikans etwa oder jene neutraler Länder; andererseits lieferte er aber weiterhin Ladungen von Zyklon B an die Lager. Für seine Vorgesetzten war Gerstein ein vorbildlicher SS-Mann, doch zugleich hoffte er, die Operationen, an denen er beteiligt war, zu behindern, was für ihn und seine Familie große Risiken mit sich brachte. Die einzelgängerische Natur seiner Vorgehensweise verurteilte sie zum Scheitern, was er sehr bald erkannte. Dennoch verblieb er auf seinem Posten, um, wie er sagte, anschließend Zeugnis ablegen zu können. Nachdem er am Kriegsende vier Berichte für die Amerikaner geschrieben hatte – Berichte, die beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher als Zeugenaussagen dienten – wurde er den Franzosen übergeben und inhaftiert. Er hat in seiner Zelle im Pariser Gefängnis Santé Selbstmord begangen.

    Und wie sehen Sie die Art und Weise, wie Hannah Arendt die Persönlichkeit Eichmanns zu erklären sucht? Ich habe in unseren vorbereitenden Gesprächen – vielleicht zu Unrecht – eine gewisse Gereiztheit oder Reserviertheit Ihrerseits gespürt, wenn der Name Arendt fiel.

    Sie haben die Gereiztheit vollkommen richtig erfasst; sie hat zu tun mit dem Ton des Buches, einer gewissen Form der Arroganz, die dort zum Ausdruck kommt. Was die Persönlichkeit Eichmanns betrifft, so bildet er zweifellos den Gegenpart zu Gerstein: auf der einen Seite ein zögerlicher SS-Mann, in gewisser Weise auch im Widerstand, gequält von dem, was er tut; auf der anderen Seite ein leidenschaftlicher Verfechter des Systems, überzeugt von der Bedeutung seiner Aufgabe, was jedoch seine Banalität nicht verhindert – aber die Beweise für seine Banalität, die Arendt ins Feld führt, und ihre Herangehensweise im Allgemeinen sind für mich befremdlich. Sie stützt sich auf Antworten Eichmanns im Verlauf des Prozesses, in denen er sich auf Kant bezieht, um daraus seine geistigen Fähigkeiten abzuleiten. Man braucht aber nicht sehr gewitzt zu sein, um, wie sie es tut, zu der Aussage zu gelangen, dass die philosophischen Kenntnisse des Oberstleutnants der SS Adolf Eichmann, der eine wesentliche Rolle bei der Jagd auf Juden und ihrem Transport in die Vernichtungslager innehatte, lächerlich gering waren. Arendt nimmt die Zitate Eichmanns wieder auf, um zu zeigen, dass er nichts davon verstanden hat. Aber niemand hat Eichmann für einen Philosophen gehalten! Eichmanns Bezüge auf Kant gehören in den Bereich des stereotypen Nazijargons.

    »Wenn Eichmann hinsichtlich seiner bürokratischen Persönlichkeit banal war, bedeutet das nicht, dass das, was er tat, gleichfalls banal war.«

    Wie haben Sie ihn Ihrerseits aufgefasst?

    Als ich vor langer Zeit eine Vorlesung zum Eichmann-Prozess und zum Buch Hannah Arendts hielt, habe ich versucht, diesen Mann zu verstehen. Ich habe insbesondere die Protokolle der Verhöre Eichmanns studiert, die von Avner Less von der israelischen Polizei durchgeführt wurden; ich kannte ihn gut aus anderen Zusammenhängen. Er führte maßgeblich die Vernehmungen bei der Vorbereitung des Prozesses durch. Was mich verblüfft hat und was Arendt nicht erwähnte – ich weiß nicht, ob sie je diese Dokumente in Händen hielt –, ist die Art, wie Eichmann, als Gefangener in Israel, Avner Less gegenüber von Hitler, Himmler oder gewissen anderen Vorgesetzten jener Zeit gesprochen hat. Er benutzte auch 1961 noch systematisch den gesamten Titel oder Rang. Dies ist doch ein sehr seltsames, sehr symptomatisches Phänomen. Eichmann sagte nicht »Himmler« oder »Heinrich Himmler«, er sagte »der Reichsführer der SS und Kommandeur der deutschen Polizei Heinrich Himmler«. Eichmann hatte den Respekt für die Nazihierarchie so sehr verinnerlicht, dass er sich in seiner Ausdrucksweise nicht davon freimachen konnte. Ich fand das wirklich sehr eigenartig. Da hatte jemand den Gehorsam gegenüber der früheren Obrigkeit so stark verinnerlicht, dass er sich ihr noch fünfzehn Jahre nach dem völligen Zusammenbruch des Systems verpflichtet fühlte. Eichmann, der seine Aufgaben effizient und geschickt ausführte, war vor allem unbedingt gehorsam, bewohnt vom Respekt für die Hierarchie, aber auch, im Gegensatz zu dem, was er glauben machen wollte, gänzlich von der Ideologie durchdrungen. Im Verlauf des Prozesses gab er vor, er sei kein Antisemit; aber in einem Interview, das er Willem Sassen in Argentinien einige Jahre vor seiner Entführung durch die Israelis gegeben hatte, hatte er sich anders geäußert … Offensichtlich war Eichmann der perfekte Typ des Nazi-Bürokraten. Darin hat Hannah Arendt recht. Aber wenn er hinsichtlich seiner bürokratischen Persönlichkeit banal war, bedeutet das nicht, dass das, was er tat, gleichfalls banal war. Es war weit davon entfernt, banal zu sein, es war absolut grauenhaft. Hannah Arendt selbst hatte im Vorwort ihres bedeutendsten Buches Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft im Hinblick auf den Nazismus vom »radikal Bösen« gesprochen. Gershom Scholem, der große Spezialist der Kabbala, der schließlich mit Hannah Arendt brach, hat ihr geschrieben: »Wenn Sie vom radikal Bösen sprechen, verstehe ich Sie, wenn Sie aber von der Banalität des Bösen sprechen, kann ich Ihnen nicht mehr folgen …« Arendt ist von einem Thema zum nächsten übergegangen, hat sich aber dabei auf Elemente gestützt, die, so glaube ich, in dieser Debatte ganz und gar nicht an ihrem Platz waren.

    Wie war am Anfang der 1960er-Jahre, einer Periode, in der, wie Sie sagten, »Verteidigungsmechanismen« Sie daran hinderten, die Erforschung der Vernichtung anzugehen, der Stand der Geschichtsschreibung und der Bibliographie zu diesem Thema? Verfolgten Sie aufmerksam das historische Schrifttum zu dieser Frage?

    Zu Nazideutschland? Zur Shoah? Ja, ich interessierte mich dafür. Ich danke Ihnen für diese Frage. Darauf zu antworten bedeutet, den Finger auf eine Art Ambivalenz zu legen. Ich verfolgte die Veröffentlichungen zu diesem Thema, es beschäftigte mich, aber als eine Fragestellung unter anderen – so sehe ich es zumindest heute –, natürlich als ein etwas heißeres

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