Eine Theologenexistenz im Wandel der Staatsformen: Helmuth Schreiner. 1931–1937 Universitätsprofessor in Rostock
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A Theological Existence During the Change of Forms of Government. Helmuth Schreiner. 1931–1937 University Professor in Rostock
The theologian Helmuth Schreiner (1893–1962) – head of the Johannesstift in Berlin – was appointed as professor of practical theology in Rostock in 1931. He thus belonged to the faculty which was regarded as a "confessional faculty" after 1933. Schreiner, a national conservative Lutheran and quite interested in a "national renewal", was regarded as a decisive opponent of National Socialism by both the National Socialist side and the "Deutsche Christen". He was repeatedly denounced until his forced retirement in 1937. Within the "Bekennende Kirche" Schreiner became involved in its Lutheran branch. The presentation of Schreiner's work is embedded in the history of the Rostock Faculty of Theology in those years.
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Buchvorschau
Eine Theologenexistenz im Wandel der Staatsformen - Franz-Heinrich Beyer
Franz-Heinrich Beyer
EINE THEOLOGENEXISTENZ
IM WANDEL DER
STAATSFORMEN
HELMUTH SCHREINER
1931–1937 UNIVERSITÄTSPROFESSOR IN ROSTOCK
Franz-Heinrich Beyer, Prof. em. Dr. theol.-habil., Jahrgang 1949, studierte von 1968 bis 1973 Theologie in Berlin (Ost) und Greifswald. Er ist Professor emeritus für Praktische Theologie (Religionspädagogik) an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Er ist Mitglied der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie und der Gesellschaft für wissenschaftliche Religionspädagogik. Außerdem ist er Mitglied des Instituts für Deutschlandforschung an der Ruhr-Universität Bochum.
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Gesamtgestaltung: Zacharias Bähring, Leipzig
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019
Foto Autor: Heiko Barten, Rostock
ISBN 978-3-374-06056-6
www.eva-leipzig.de
GRUßWORT DER THEOLOGISCHEN FAKULTÄT ROSTOCK
Am 11. November 2019 begeht die Universität Rostock ihr 600. Gründungsjubiläum. Als älteste Universität Nordeuropas kann sie auf eine lange und beeindruckende Geschichte zurückblicken, in der sich die Epochen von Mittelalter und Neuzeit spiegeln. In den letzten Jahrzehnten hat das Jahrzehnt des Nationalsozialismus besondere Aufmerksamkeit gefunden. Mehrere Untersuchungen zur Universitätsgeschichte haben gezeigt, dass die Universität in diesen Jahren nationalsozialistisch geprägt war, es aber auch Beispiele von Verweigerung und Widerstand gegeben hat. Die Theologische Fakultät war an diesen Prozessen beteiligt, doch war die Lage vielschichtiger, da es neben den vom Zeitgeist geprägten Deutschen Christen auch die Mitglieder der Bekennenden Kirche gab. Zu den prägenden Persönlichkeiten der Rostocker Fakultät in dieser Zeit gehört Helmuth Schreiner (1893–1962). Schreiner wurde 1931 auf die Professur für Praktische Theologie berufen, aber bereits im Jahr 1937 gegen seinen und den Willen der Fakultät in den Ruhestand versetzt. Grund waren Anschuldigungen, er sei ein Gegner der nationalsozialistischen Ideologie und darum »aus staatspolitischen Gründen« an der Universität nicht länger tragbar. Schreiner wechselte daraufhin nach Münster, ging in den Dienst der Diakonie und wurde nach dem Krieg Dekan der wiedereröffneten Theologische Fakultät. Im Wirken Helmuth Schreiners kreuzen sich die Linien einer unruhigen, widersprüchlichen und auch im Abstand mehrerer Jahrzehnte nur schwer verständlichen Zeit. Wir sind dankbar, dass Franz-Heinrich Beyer eine Untersuchung zur kritischen Würdigung von Helmuth Schreiner vorgelegt hat. Mit seiner Studie, die umfangreiches, bisher nicht bekanntes Archivmaterial verarbeitet, bietet er einen wichtigen Anstoß, auch im Jubiläumsjahr der Universität die Zeit des Nationalsozialismus im Blick zu behalten und kritisch aufzuarbeiten.
Prof. Dr. Heinrich Holze
VORWORT
Jedes Jubiläum ist zugleich Anlass und Herausforderung zur Erinnerung. Das gilt natürlich auch für das 600. Gründungsjubiläum der ältesten Universität im Ostseeraum, der Universität Rostock. Dazu gehört selbstverständlich die Darstellung der Geschichte der Universität als Ganzer wie auch ihrer Fakultäten und der einzelnen Fächer. Dabei kann die Interdependenz der einzelnen Bereiche – Geschichte der Institution, Entwicklung eines Faches, zeitgeschichtlicher Kontext und Prägung durch Persönlichkeiten – nicht hintergangen werden. Eine Zeitepoche, an der dieses besonders deutlich wird, ist das vierte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland.
Im Zentrum dieser Studie steht der Theologe Helmuth Schreiner, von 1931 bis 1937 als Professor für Praktische Theologie sowie als Universitätsprediger Angehöriger der Universität Rostock und seit Herbst 1934 für zwei Semester Dekan der Theologischen Fakultät. Bereits die Institution des Universitätspredigers weist darauf hin, dass die akademische Theologie in einer spezifischen Weise auf die sie umgebende Öffentlichkeit bezogen ist. Da ist zum einen die normativ vorgegebene Beziehung zu der verfassten evangelisch-lutherischen Landeskirche, da ist aber zum anderen auch das Selbstverständnis der theologischen Arbeit als Wahrnehmung der religiös-kulturellen Entwicklung in der Gesellschaft sowie deren kritische und konstruktive Reflexion im Kontext christlicher Verantwortung bis hin zu öffentlichen Stellungnahmen der Fakultät oder einzelner Professoren bzw. zu einer konkret orientierenden Verkündigung.
Im Sommer 1937 hat der Reichsstatthalter für Mecklenburg die sofortige Versetzung des 44-jährigen Ordinarius für Praktische Theologie Helmuth Schreiner in den Ruhestand verfügt. Schreiner ist damit einer der wenigen deutschen Theologen, die in dieser Zeit ihre Professur nicht aus rassischen, sondern aus politischen Gründen verloren haben. Hintergrund dieser willkürlich erscheinenden Entscheidung war die voreingenommene Auffassung des Reichsstatthalters, dass sich Schreiner seit der Machtübernahme immer wieder gegen den nationalsozialistischen Staat und dessen weltanschauliche Grundlagen öffentlich geäußert habe. Diese Beurteilung, die auch von dem deutschchristlichen Oberkirchenrat in Schwerin vollkommen geteilt wurde, entsprach aber in dieser Pauschalität nicht dem Selbstbild Schreiners. Er verstand sich selbst als loyaler Beamter, der den Institutionen des Staates großes Vertrauen entgegenbracht hat. Als nationalkonservativer lutherischer Theologe hatte er durchaus Sympathien für die nationalsozialistische Bewegung gezeigt. Jedoch nahm er sich die Freiheit, dort, wo Elemente nationalsozialistischer Ideologie in den Bereich der Kirche übertragen werden sollten oder wo Größen wie Rasse, Blut oder Volk an die Stelle Gottes gesetzt wurden, aus theologischer Verantwortung heraus dazu öffentlich eine kritische Position zu beziehen. Insofern würde man der Persönlichkeit von Helmuth Schreiner in jener historischen Konstellation nicht gerecht werden, wenn man ihn allein durch seine Gegnerschaft gegen die nationalsozialistische Ideologie charakterisiert. Es ist komplexer. Das wird auch in der Reaktion der Fakultät auf die Zwangspensionierung ihres Fakultätsmitglieds deutlich. Der Dekan sieht die Pensionierung Schreiners als Konsequenz aus ungerechtfertigten Anschuldigungen, deren Haltlosigkeit zu belegen, er sich – wenn auch vergeblich – bemüht hat.
Für das Verständnis von Wirken und Ergehen Schreiners seit 1933 ist es wichtig, auf seine Entwicklung und sein Wirken vor der Berufung nach Rostock einzugehen. Durchgehend werden in dieser Studie wichtige Schriften von Schreiner ausführlicher behandelt und zitiert, um seine Argumentation vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund anschaulich werden zu lassen. Es wäre sicherlich sehr lohnend, den im Nachlass vorhandenen umfangreichen Briefwechsel Schreiners genauer zu betrachten. Im Rahmen dieses Vorhabens ist das nur in sehr selektiver Weise möglich gewesen. Aber allein die Absender bzw. Adressaten sowie der quantitative Umfang des Briefwechsels zeigen Schreiner als geduldigen und verlässlichen Ansprechpartner, der den brieflichen Kontakt etwa mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Bereich der Inneren Mission über Jahre, ja sogar Jahrzehnte aufrechterhalten hat. Ebenso sind hier die zahlreichen Briefe von und an Studierende sowie Vikare der BK und Pastoren insbesondere aus Mecklenburg zu nennen.
In Rostock hat Schreiner einer Fakultät angehört, die als eine der ganz wenigen deutschen theologischen Fakultäten geschlossen an der Seite der Bekennenden Kirche stand. Dazu haben die Rostocker Kirchenhistoriker Frau Prof. Dr. Sabine Pettke (Pauli) und Herr Prof. Dr. Dr. h.c. Gert Haendler ausführlich geforscht und publiziert. Auf der Grundlage erst jetzt zugänglicher Archivmaterialien kann diese Studie jene Forschungsergebnisse an manchen Stellen ergänzen. Insofern ist dieses Buch auch als Beitrag zu einer Geschichte der Theologischen Fakultät der Universität Rostock im vierten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zu sehen. Dazu gehört ebenfalls sowohl das Eingehen auf Ereignisse in Rostocker Kirchengemeinden, soweit Fakultätsmitglieder dabei mitgewirkt haben, als auch auf deren Aktivitäten auf überregionaler kirchlicher Ebene in jenen Jahren. Auf Grundlage der Archivstudien können einige bisher kaum bekannte Ereignisse nun näher beschrieben werden.
Helmuth Schreiner war Vorsteher des Berliner Johannesstifts, stand also in einem kirchlichen Leitungsamt, als er den Ruf nach Rostock angenommen hat. Nach seiner Zwangspensionierung ist er als Vorsteher des Diakonissenmutterhauses in Münster wieder in ein Leitungsamt in der Kirche eingetreten. Nach Kriegsende wurde er zusätzlich mit dem Aufbau der Evangelisch-theologischen Fakultät in Münster beauftragt. Diese Phase wird ebenfalls behandelt, wenn auch in eher knapper Form.
Die Anregung zu einer ausführlichen Befassung mit der Person Helmuth Schreiners und seinem Wirken verdanke ich Prof. Dr. Dr. h.c. Gert Haendler. Dankbar bin ich für die freundliche Unterstützung, die ich bei der Erarbeitung der Studie durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowohl im Universitätsarchiv Rostock und in der hiesigen Universitätsbibliothek als auch in den Historischen Beständen der Universitäts- und Landesbibliothek Münster/Westfalen sowie im Kirchenkreisarchiv Mecklenburg in Schwerin erfahren habe. Den genannten Institutionen danke ich auch für die Anfertigung der digitalen Kopien von Dokumenten und für die Genehmigung ihrer Nutzung für diese Veröffentlichung. Zu danken habe ich insbesondere der Theologischen Fakultät der Universität Rostock, die sowohl die Erarbeitung dieser Studie, vor allem aber deren Veröffentlichung durch einen erheblichen Druckkostenzuschuss großzügig gefördert hat. Dankenswerterweise haben ferner durch namhafte Zuschüsse zu den Druckkosten die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands, die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland sowie der Evangelisch-Lutherische Kirchenkreis Mecklenburg die Veröffentlichung dieser Studie ermöglicht. Der Leitung der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig, insbesondere Frau Dr. Weidhas, danke ich für die Aufnahme dieses Buches in das Verlagsprogramm sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlags für die Betreuung der Drucklegung.
Rostock, im Februar 2019
Franz-Heinrich Beyer
INHALTSVERZEICHNIS
Cover
Titel
Über den Autor
Impressum
Grußwort der Theologischen Fakultät Rostock
Vorwort
1. DEZEMBER 1930: HEIDELBERG UND BERLIN – KOINZIDENZ DER EREIGNISSE
1.1. Heidelberg
1.2. Berlin
2. HELMUTH SCHREINER – VOM THEOLOGIESTUDIUM IN LEITUNGSÄMTER DER DIAKONIE
2.1.Auf dem Weg zu einer christ-deutschen Position – der Bildungsweg
2.1.1.Theologiestudium und Examina
2.1.2.Wingolfit
2.1.3.Der Brunstädkreis in Erlangen
2.1.4.Theologische Lehrer
Exkurs 1: Die »soziokulturelle Judenfeindschaft«
2.1.5.Die Christdeutsche Jugend
2.2.»Apologetisches Denken ist Angriff« – Vorsteher der Hamburger Stadtmission: 1921–1926
2.2.1.Praktische Apologetik
Exkurs 2: »Altes Testament« und »Judentum« bei Helmuth Schreiner
2.2.2.Vortragstätigkeit
2.2.3.»Lic. theol. Helmuth Schreiner«
2.3.»Die Einheit von Liebestätigkeit, Volksmission und öffentlicher Mission« – Vorsteher des Johannesstifts in Berlin: 1926–1931
2.3.1.Der Stiftsvorsteher
2.3.2.Öffentliche Mission und Apologetik
3. DIE THEOLOGISCHE FAKULTÄT ROSTOCK IN DEN ERSTEN DREI JAHRZEHNTEN DES 20. JAHRHUNDERTS
3.1.Ein Sommersemester in Rostock
3.2.Die Einrichtung von theologischen Seminaren an der Universität Rostock
3.3.Die Frequenz der Theologiestudierenden
3.4.Zur öffentlichen Wirksamkeit der Rostocker Theologischen Fakultät
3.5.Die Rostocker Fakultät im Sommersemester 1931
4. HELMUTH SCHREINER UND DIE THEOLOGISCHE FAKULTÄT ROSTOCK IM VIERTEN JAHRZEHNT DES 20. JAHRHUNDERTS
4.1.Die ersten Semester von Schreiner in Rostock: Wintersemester 1931/32 bis Sommersemester 1934
4.1.1.Schreiner als Mitglied der Rostocker Fakultät
4.1.2.Schreiners Weg zur Bekennenden Kirche
4.1.3.Beiträge Schreiners zu den theologischen und kirchenpolitischen Zeitfragen
4.2.Das Dekanat Schreiner: Wintersemester 1934/und Sommersemester 1935
4.2.1.Die innere Geschlossenheit der Fakultät in der Bewährung
4.2.2.Schreiners außeruniversitäre Aktivitäten
4.2.3.Veröffentlichungen im Dekanatsjahr
4.3.Die zunehmend exponierte und gefährdete Stellung von Schreiner in der Universität: Wintersemester 1935/bis Wintersemester 1936/37
4.3.1.Die Zuspitzung des konfrontativen Verhältnisses von Mecklenburgischem Oberkirchenrat und Rostocker Fakultät
4.3.2.Die Kulmination der Anschuldigungen gegen Schreiner
4.3.3.Schreiners Engagement für die »Evangelische Woche« und dessen Beendigung
4.3.4.Das Hauptwerk von Schreiner: »Die Verkündigung des Wortes Gottes. Homiletik«
4.4.Die Stellung von Schreiner in der Universität ist in höchstem Maße gefährdet: Sommersemester 1937
4.4.1.Ein unruhiges Semester für Schreiner
4.4.2.»Helmuth Schreiner, Universitäts-Prediger«
4.4.3.Schreiners Engagement in der Auseinandersetzung mit dem »Neuheidentum« und der »Kirchenaustrittsbewegung«
4.4.4.Weitere Veröffentlichungen von Schreiner im Jahr 1937
4.5.Schreiner wird »aus staatspolitischen Gründen« nicht mehr an der Universität geduldet: Juni 1937
4.5.1.Die Bemühungen von Schreiner um eine Rücknahme der Pensionierung
4.5.2.Die Bemühungen von Dekan und Fakultät um eine Rücknahme der Zwangspensionierung – Dekan Brunstäd und Reichsstatthalter Hildebrandt
4.6.Die Rostocker Fakultät angesichts der Zwangspensionierung Schreiners
Exkurs 3: Erfolgreiche Promotionsverfahren an der Theologischen Fakultät Rostock 1931–1938
4.6.1.Versuche einer Einflussnahme von außen auf die Rostocker Fakultät
4.6.2.»Die Fakultät ist amputiert« – Zeugnisse für die in Rostock gelebte »enge, ungetrübte Gemeinschaft innerhalb der theologischen Fakultät«
4.6.3.Die nachhaltige Wirksamkeit Helmuth Schreiners als Professor in Rostock in Zeugnissen von Zeitzeugen
4.7.Die Fakultät wartet auf Schreiners Rückkehr – Neubeginn an der Universität Rostock nach Kriegsende
5. HELMUTH SCHREINER IN MÜNSTER – WIEDER IN EINEM LEITUNGSAMT IN DER DIAKONIE UND IN EINER THEOLOGISCHEN FAKULTÄT
5.1.Die letzten Monate in Rostock: Juli 1937 – April 1938
5.2.Vorsteher des Diakonissenmutterhauses Münster
5.3.Professor und Dekan der Evangelisch-Theologischen Fakultät Münster
Exkurs 4: Zur Rezeptionsgeschichte von Schreiners Homiletik
5.4.Schreiner als Emeritus in Münster
6. BEWÄHRTE LEBENSLANGE FREUNDSCHAFTEN SCHREINERS AUS DEM WINGOLF
6.1.Carl Gunther Schweitzer (1889–1965)
6.2.Gerhard Jacobi (1891–1971)
6.3.Walter Künneth (1901–1997)
Epilog: Die »Personalakte Helmuth Schreiner« in Rostock
Quellen- und Literaturverzeichnis
Ungedruckte Quellen
Veröffentlichungen von Helmuth Schreiner (Auswahl)
Sekundärliteratur
Abkürzungen
Personenregister
Weitere Bücher
Endnoten
1.DEZEMBER 1930: HEIDELBERG UND BERLIN – KOINZIDENZ DER EREIGNISSE
Für den Dezember des Jahres 1930 können im Rückblick zwei koinzidente Ereignisse an unterschiedlichen Orten beschrieben werden. In beiden geht es inhaltlich um den Modus der Erinnerung an den zurückliegenden Ersten Weltkrieg sowie um die Haltung der Kirche zum Krieg. Die Koinzidenz ist in der Bedeutung beider Ereignisse hinsichtlich des Lehrstuhls für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock gegeben.
1.1.HEIDELBERG
An der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg ist der Lehrstuhl für Praktische Theologie (Nachfolge Johannes Bauer) wieder zu besetzen. Im Dezember 1930 ergeht nach einstimmigem Beschluss der Fakultät der Ruf an Günther Dehn in Berlin.¹ Dehn (1882–1970) ist seit 1911 Pfarrer an der Reformationskirche in Berlin-Moabit, einer Arbeitergemeinde. Nach dem Krieg engagierte er sich bei den Religiösen Sozialisten. Er bemühte sich besonders um die Jugendlichen aus den Arbeiterfamilien, erkundete und beschrieb deren Situation in kleineren Veröffentlichungen. Die Evangelisch-Theologische Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster verlieh Dehn am 31. Juli 1926 die Ehrendoktorwürde für seine praktisch-theologische Jugendarbeit. Große Beachtung fand sein 1929 erschienenes Buch Proletarische Jugend. Lebensgestaltung und Gedankenwelt der großstädtischen Proletarierjugend.
Dehn nimmt den Ruf nach Heidelberg am 5. Januar 1931 an. Daraufhin lanciert der Herausgeber der nationalistisch orientierten Zeitschrift Eiserne Blätter, Pfarrer Gottfried Traub, tendenziöse Pressenotizen über einen Vortrag Dehns in die Öffentlichkeit. Am 6. November 1928 hatte dieser auf Einladung seines Freundes Gerhard Jacobi im Gemeindehaus der Ulrichskirche in Magdeburg einen Vortrag über »Kirche und Völkerversöhnung« gehalten. In der Folge werden über Äußerungen Dehns in seinem Vortrag wahre, v. a. aber unwahre Behauptungen verbreitet. Insbesondere wird kolportiert, Dehn habe die Gefallenen des Weltkriegs als Mörder bezeichnet und er habe sich gegen die Aufstellung von Ehrenmälern für Gefallene in Kirchenräumen ausgesprochen. In der Folge kommt es zu etlichen Aktionen nationalistischer Studenten und zu zahlreichen Protestbekundungen in der Presse gegen die Berufung Dehns. Daraufhin fasst die Heidelberger Fakultät am 26. Januar 1931 mehrheitlich den Beschluss, die Berufung Dehns nach Heidelberg nicht mehr aufrecht zu erhalten. Allein der Neutestamentler Martin Dibelius spricht sich in einem Sondervotum für die Beibehaltung der Berufung Dehns aus. Am 28. Januar folgt der engere Senat der Entscheidung der Fakultät und am Tag darauf erklärt Günther Dehn seinen Verzicht auf die Heidelberger Professur. Bei einer Versammlung der Heidelberger Theologiestudenten spricht nun eine Mehrheit der Anwesenden Dehn ihr Vertrauen aus. Auch aus der Professorenschaft wird Kritik an dem Verfahren geübt. 14 Professoren, darunter Walter Jellinek, Gustav Radbruch und Karl Jaspers, verfassen einen »Protest gegen die Zurücknahme einer bereits erfolgten Berufung«.² Und am 8. März erscheint in der Presse eine von 27 Heidelberger Professoren unterschriebene Ehrenerklärung für Dehn.
Unmittelbar nach Dehns Verzicht auf die Heidelberger Professur wird er vom preußischen Kultusminister auf eine praktisch-theologische Professur an der Theologischen Fakultät in Halle/Saale berufen. Letztlich sollte sich auch die Wahrnehmung dieser Professur aufgrund starker Proteste nationalistischer Studentenkreise sowie des Widerstandes innerhalb der Fakultät und der Universität als nicht möglich erweisen.³
Nach dem Beschluss der Heidelberger Theologischen Fakultät vom 26. Januar 1931 hat es dort verschiedene Listen mit Berufungsvorschlägen gegeben, bis schließlich der Ruf an den Rostocker Praktischen Theologen Renatus Hupfeld ergeht und von diesem am 20. Juni 1931 angenommen wird.⁴
Die Berufung Hupfelds erfolgt am 13. Juli 1931. Damit ist der Lehrstuhl für Praktische Theologie in Rostock vakant geworden. Bereits am 17. Juli 1931 beschließt die Rostocker Fakultät unter dem noch amtierenden Dekan Hupfeld eine Dreierliste für die Wiederbesetzung des Lehrstuhls für Praktische Theologie: Platz 1: Schreiner, Helmuth; Platz 2: Fendt, Leonhard; Platz 3: Schlingensiepen, Johannes.⁵
1.2.BERLIN
Ebenfalls im Dezember 1930 findet in Berlin vor dem Landgericht Moabit ein Prozess statt, der in der Presse großes Aufsehen erregt. Angeklagt sind der Maler und Graphiker George Grosz und der Verleger Wieland Herzfelde. Grosz hatte einen Bühnenentwurf für die Aufführung des Stückes »Der brave Soldat Schwejk« angefertigt. Eine Mappe mit 17 Zeichnungen von Grosz, in diesem Zusammenhang entstanden, waren unter dem Titel Hintergrund im Verlag von Herzfelde veröffentlicht worden. Zeichner und Verleger wurden daraufhin von dem Berliner Polizeipräsidenten wegen Verstoßes gegen § 166 StGB angeklagt. Besonders drei Darstellungen werden beanstandet: »Bild Nr. 2 zeigt einen Pfarrer, der zwischen zwei Offizieren und vor der Bibel auf der Nase ein Kreuz balanciert. […] In Bild 9 spuckt ein Pfarrer von der Kanzel Granaten, Gewehre und Kanonen aus. Grosz betitelte diese Zeichnung ›Ausschüttung des Heiligen Geistes‹. Das Bild 10 zeigt Christus mit der Gasmaske und Soldatenstiefeln am Kreuz. Darunter stehen die Worte: ›Maul halten und weiterdienen‹.«⁶
Nachdem 1928 in erster Instanz ein Schöffengericht eine Geldstrafe verhängt hatte, kam es in der Berufungsverhandlung 1929 vor dem Landgericht zu einem Freispruch. Infolge der eingelegten Berufung wird eine erneute Verhandlung bei der Vorinstanz erforderlich. Diese Verhandlung findet am 3. und 4. Dezember 1930 statt. Auch sie endet mit einem Freispruch, dem sich schließlich auch die wieder angerufene Berufungsinstanz, unter Verhängung von Auflagen, anschließt.
Zu der abschließenden Verhandlung vor dem Landgericht sind von dem Gericht acht Sachverständige geladen worden. »Auf Bitten des Gerichts wurden zwei Gutachter von Seiten der Kirche aufgeboten: Lic. Dr. Helmuth Schreiner, Vorsteher des Evangelischen Johannesstifts Berlin-Spandau und für das Bischöfliche Ordinariat Professor Wagner (Breslau). Daraufhin entschloß sich die Verteidigung ebenfalls Gutachter zu benennen und zwar: Pfarrer August Bleier von den religiösen Sozialisten und der VdF [Vereinigung der Freunde für Religion und Völkerfrieden – FHB], den Linkskatholiken Walter Dirks von der ›Rhein-Mainischen Volkszeitung‹, den Quäker Dr. Hans Albrecht sowie den Pazifisten Harry Graf Kessler.«⁷ Weiterhin werden vom Gericht gehört der Kunsthistoriker und Reichskunstwart Dr. Erwin Redslob sowie der Jurist und Mitglied des Reichstages Prof. Dr. Kahl.
Diese Verhandlung wird von einem großen öffentlichen Interesse begleitet. »Der große Schwurgerichtssaal ist überfüllt von einer sachverständigen und interessierten Hörerschaft«.⁸ In der Berichterstattung wird insbesondere auf das Auftreten des »Abgesandten« der evangelischen Kirche, Schreiner, eingegangen. Pfarrer Schreiner, so heißt es da, »hält sich für verpflichtet, zunächst festzustellen, daß er sein Gutachten nicht auf Grund kirchenbehördlicher Instruktionen abzugeben gedenkt«.⁹ In einer anderen Zeitung wird unter dem Titel Kirchenvertreter gegen Kunst u. a. berichtet: »Pfarrer Schreiner erklärte, das Kreuz sei für jeden Christen die Grundoffenbarung Gottes, und wer es verächtlich mache, beschimpfe damit die kirchliche Gemeinschaft. Allerdings sei an dem Urteil eines weltlichen Richters über diese Dinge die Kirche an sich in viel geringerem Maße interessiert als der Staat.«¹⁰ Für den Gutachter Schreiner steht außer Zweifel, dass die Tendenz der Bilder und der Eindruck, den diese erwecken, »das religiöse Gefühl des Christen und die Einrichtungen der Kirche aufs tiefste verletzen und dadurch eine Schädigung der Volksgemeinschaft heraufzuführen geeignet sind«.¹¹
Von den anwesenden Pressevertretern wird über diesen Prozess und seinen Verlauf mit großer Öffentlichkeitswirkung berichtet. Dabei wird auch immer wieder Pastor Dr. Lic. Helmuth Schreiner erwähnt. Eben dieser sollte nur ein halbes Jahr später den Ruf an die Theologische Fakultät der Universität Rostock auf die