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Hüter der Nacht: Das Lied Aymurins
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Hüter der Nacht: Das Lied Aymurins
eBook236 Seiten3 Stunden

Hüter der Nacht: Das Lied Aymurins

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Über dieses E-Book

Die Hüter der Nacht um den alten Pukh Son führen ein eintöniges Leben. Daher ist die Aufregung gross, als sie nicht weit vom Oberen Tor auf dem Alten Pass einen Wanderer aus der Menschenwelt finden. Doch der anfänglichen Neugier folgen schnell Misstrauen und Ablehnung, als der Fremde sich als Feh zu erkennen gibt. Wer gibt schon gerne Verrätern Unterschlupf? Als aber der überlebenswichtige Nachschubtrupp aus dem Inneren Khuums ausbleibt, müssen die ungleichen Gefährten ein Zweckbündnis eingehen. Gemeinsam machen sie sich auf den Weg in den Mutterbau.
Die Bedrohung der Welt der Pukh durch die Kämpfer Bachaals gibt den Kontrahenten die Chance, die Gegensätze zu überwinden. Werden sie sie nutzen, um auch den alles entscheidenden Kampf in den Feuern Khuums zu bestehen?
Im zweiten Band von "Das Lied Aymurins" steht Tann im Mittelpunkt eines Geschehens, dessen Wurzeln in "Stillerthal", dem gleichnamigen ersten Band der Fantasy-Reihe, liegen. Ist sein Schicksal vorbestimmt? Wird er sich der Dämonen entledigen können, auf seiner Suche nach dem noch fehlenden Teil des Amuletts …
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Okt. 2020
ISBN9783724524441
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    Buchvorschau

    Hüter der Nacht - Martina Simonis

    Autorin

    Zweiter Gesang

    Hüter der Nacht

    «Wir mögen Handelnde sein, aber wir sind nicht Herren unserer Taten. Manche Sünde trägt goldene Früchte, manche vermeintliche Guttat führt zu Elend und Leid.»

    Son

    Die Hüter der Nacht

    Das leise Blubbern der Glimmflechtsuppe und das gelegentliche Kratzen des Kochlöffels waren die einzigen Geräusche, die den Höhlenraum füllten. Der schwere Topf, der an einem Dreibein über der Feuerstelle hing, schimmerte matt in dem gedämpften Lichtkegel, der durch den kleinen Spalt, der als Rauchabzug diente, ins Innere der Höhle fiel. Das übrige Felsgewölbe lag im grüntrüben Halbdunkel der Glimmflechtmalereien.

    Joril hockte vor dem Kessel und sah zu, wie sich der warme Dampf seines Atems mit dem dünnen Qualmfaden des Feuers vereinigte und durch den Rauchfang in das Weiß des Himmels entschwand. Mit dem Dampf ließ er seine Gedanken aufsteigen, weit über die Wolken. Leicht wie Fledermausflaum schwebte er im endlosen Blau des Himmels und ließ den Blick über die wabernde Wolkendecke unter sich schweifen. Irgendwo dort unten lag es verborgen: Kjell, das verheißene Land.

    Wäre ich doch wie Ygdrasil, dachte er. Ygdrasil würde nicht tatenlos dem Verrinnen der Zeit zusehen. Er würde sein Bündel schnüren und aufbrechen. Würde sich durch das unbewohnte Innere des Berges wagen und nie gesehene Höhlen erforschen. Und am Ende den verborgenen Ausgang finden, an dessen Fuße Kjell lag.

    Aber Joril war nicht Ygdrasil, er war ein Hüter der Nacht und hatte darauf zu achten, dass das, was draußen war, draußen blieb, nicht umgekehrt. Und wer hätte einen buckligen Ygdrasil mit verkrüppelten Händen schon ernst genommen.

    Verdrossen nahm Joril den Kochlöffel und rührte die Glimmflechtsuppe um. Als jüngster Pukh seiner Korja war er für den Küchendienst verantwortlich. Dazu gehörten die Überwachung der Vorräte, das Hegen der Glimmflechtzucht, das Säubern des Geschirrs und die Zubereitung des Mahls, das die Wachzeit beschloss. Mittlerweile konnte er im Handumdrehen ein Feuer entfachen und wusste, wie er die Krokstücke schichten musste, damit sie sauber und fast ohne Qualm abbrannten.

    Um etwas Spannung in seinen Alltag zu bringen, hatte er ein Spiel erfunden. Er holte immer nur so viel Krok von der Darre, wie er zum Kochen brauchte. War die Suppe mit dem letzten verbrannten Krok fertig, hatte er gewonnen. War noch Krok übrig, ging die Sache unentschieden aus. Musste er ein weiteres Mal Krok holen gehen, hatte das Feuer gewonnen.

    Heute sah es nicht gut für ihn aus. Ärgerlich betrachtete er die züngelnden Flammen, die das Krok, das er nachgelegt hatte, schon zur Hälfte aufgezehrt hatten. Das Feuer schien es seinem Magen gleichzutun, es war heute besonders hungrig. Dabei schimmerte die Glimmflechtsuppe noch immer grünlich weiß und weigerte sich, gar zu werden. Er würde um einen zweiten Gang zur Krokdarre nicht herumkommen. Ein einziges Mal hatte er – um zu gewinnen – die Suppe nicht lange genug gekocht, sie glomm noch leicht, als er sie seiner Korja servierte. Alle hatten furchtbare Bauchschmerzen bekommen, und das Krok war so dünnflüssig, dass es nicht zu gebrauchen war. Noch einmal würde er diesen Fehler nicht machen.

    «Verloren!», brummte er unwillig und legte das letzte Stück Krok nach. Gierig verbiss sich das Feuer in dem länglichen Stück und ließ seine Flammen höher lodern.

    Der alte Son, der in seiner Nische saß und Haargarn drehte, hob den Kopf. Er schnalzte kurz mit der Zunge und räusperte sich, wie immer, wenn er etwas sagen wollte.

    «Probleme?», fragte er.

    Joril blickte zu dem Weißrücken hinüber. Sons Schlafnische war als einzige unbemalt. In der ansonsten reich verzierten Höhle wirkte sie wie ein großes schwarzes Auge. Unergründlich und irritierend wie das schwarze Muttermal, das mitten auf Sons Stirn prangte, sodass man nie recht wusste, in welches Auge man blicken sollte. Joril schüttelte eilig den Kopf. Um nichts in der Welt hätte er den anderen von seinem geheimen Spiel erzählt, am allerwenigsten Son.

    «Ich muss nur noch mal hoch, Krok holen, das ist alles.»

    Sons seltsam blicklose Augen bohrten sich durch Joril hindurch, als wäre er Glas. Wie immer, wenn Son ihn ansah, fühlte sich Joril seltsam ertappt, auch wenn er gar nichts angestellt hatte. Außerdem hatte Son ein magisches Gespür für Unausgesprochenes. Joril fand es gespenstig, wie Son zielsicher zum Kern verheimlichter Probleme fand.

    «Was gibt es heute?»

    «Glimmflechtsuppe.»

    «Wieder ohne Beilagen?»

    «Wieder ohne Beilagen», gestand Joril. Son sagte nichts dazu, aber sein bohrender Blick war nicht zu missdeuten.

    «Insektenmehl ist alle», erklärte Joril. «Pukhkraut haben wir noch für jeden eine Ration, die gibt es morgen früh. Dann ist auch das alle. Aber der Nachschubtrupp kommt sicher bald.»

    Joril bemühte sich, zuversichtlich zu klingen, doch Son ließ sich nicht täuschen. Er nickte nachdenklich.

    «Das heißt ab übermorgen nur noch Glimmflechtsuppe zum Früh- und Spätmahl? Da werden Fox und Burin nicht zufrieden sein.»

    «Nein, werden sie nicht», seufzte Joril. Wenn der Nachschubtrupp nicht bald kam, war schlechte Laune unabwendbar.

    «Und wie sieht es mit den Glimmflechten aus? Haben wir davon noch genug?»

    «Sie wachsen und gedeihen», sagte Joril nicht ohne Stolz. «Aber wenn es nur noch Glimmflechtsuppe gibt, könnte es knapp werden.»

    Son nickte.

    «Dann wollen wir hoffen, dass der Trupp bald kommt.»

    Nachdenklich wandte er sich wieder seiner Arbeit zu.

    Zufrieden vor sich hin plappernd, kam Burin aus dem Gang, der zum Mutterbau führte, getapst. Er richtete seine zottige Gestalt zu voller Größe auf und streckte sich. Dann trat er zu Son und präsentierte stolz den leeren Pisseimer.

    «Alles getränkt, wie du gesagt hast, Son. Hab nichts vergessen.»

    Son nickte.

    «Gut gemacht, Burin. Morgen noch die Wohnhöhle, dann sind wir durch für diesen Zyklus. Stell Eimer und Pinsel wieder in die Sammelhöhle, dann kannst du die Ruhzeit einläuten.»

    Das Grinsen auf Burins Gesicht wurde noch breiter, seine kleinen knolligen Augen blinzelten vergnügt. Er gesellte sich zu Joril und ließ sich neben ihm nieder.

    «Hast du gehört, Joril?», verkündete er stolz. «Son sagt, das hab ich gut gemacht!»

    Joril nickte und lächelte. Er mochte Burin. Burin war zwar dumm wie Fledermauskrok, aber er war immer gut gelaunt und hilfsbereit. Burins Lächeln verflog allerdings, als er die leise vor sich hin simmernde Suppe sah.

    «Glimmflechtsuppe», brummte er enttäuscht. «Ist das alles?»

    «Für heute ja. Insektenmehl ist alle. Das gibt’s erst wieder, wenn der Nachschubtrupp da war.»

    «Das ist schlimm!»

    «Was ist schlimm?», fragte Fox, der gerade mit zwei Eimern Abraum aus dem Gang kam.

    «Dass es nur Glimmflechtsuppe zu essen gibt.»

    «Das nennst du schlimm?», schnaubte Fox. Krachend stellte er die Eimer ab und riss sich das Tuch aus feinem Haargewebe, das er sich vor Mund und Nase gebunden hatte, vom Gesicht. Sein rotes Fell war grau von Steinstaub, nur dort, wo er sich mit dem Tuch geschützt hatte, leuchtete es wie die Flammen unter Jorils Kessel. «Schlimm ist was ganz anderes. Der Fels in der neuen Lagerhöhle ist so brüchig, dass es staubt, als würde man Chalk hauen.»

    Er trat neben Joril und warf einen skeptischen Blick in den Kessel.

    «Gar sieht anders aus. Spät dran wie immer, was Joril? Hast mal wieder deine Krallen gewärmt anstatt zu kochen?» Laut schnaufend packte er die Eimer und hievte sie hoch. «So wie das glimmt, hab ich noch genug Zeit, um den Abraum wegzubringen und ne Runde kroken zu gehen. Drin sieht man sowieso kaum mehr die Hand vor den Augen, das muss sich erst setzen, bevor ich weitermachen kann.»

    Joril rührte schnell die Suppe um und schichtete mit dem Schürhaken die glühenden Krokstücke auf, um zu zeigen, dass er nicht untätig war.

    «Wenn du kroken gehst, kannst du was Krok aus der Darre mitbringen? Ich brauche noch ein paar Stücke.»

    «Wieso sollte ich dir Krok mitbringen?», fauchte Fox. «Hol sie dir selbst, laufen kannst du ja.»

    Joril zuckte zusammen. Dass Fox ständig schlecht gelaunt war und dass man es ihm nie recht machen konnte, damit hatte er sich abgefunden. Aber warum musste Fox ihn immer wieder spüren lassen, dass er ein Krüppel war?

    «Ich habe nur Sorge, dass das Feuer ausgeht, während ich weg bin. Wenn ich es wieder neu anfachen muss, dauert es länger.»

    «Und das wäre schlimm!», kam Burin ihm zu Hilfe. «Ich hab Hunger!»

    «Meinst du, ich hab keinen Hunger?», zischte Fox ihn wütend an. «Ich habe die ganze Wachzeit hindurch Stein gehauen, mir hängt der Magen in den Kniekehlen! Wenn du was zu Essen willst, geh doch du das Krok holen.»

    Burin rollte mit den Augen.

    «Ich geh da nicht hoch!»

    Burin hatte panische Höhenangst, ein Gang auf die Darre war Höchststrafe für ihn.

    «Dann schick Hamil und Kamil. Wo sind die beiden eigentlich?»

    «Sie haben gesagt, sie wollten vor der Ruhzeit noch einmal auf Patrouille gehen.»

    «Und das glaubst du? Die sind doch nur raus, um sich noch mal einen zu wichsen!»

    Ein kurzes Schnalzen mit der Zunge gefolgt von einem leisen Räuspern ließ die Streithähne verstummen. Der alte Son hatte sich von seiner Koje erhoben. Er legte die Haarfäden beiseite, griff sich seine Krücken und schleppte sich auf seinen tauben Beinen zu ihnen herüber, die Füße wie Todholz über den Boden schleifend. Als er bei Fox angekommen war, richtete er sich auf und sah ihn mit seinen schwarzen, unergründlichen Augen an.

    «Fox, du arbeitest mehr als wir alle, das wissen wir. Wir wissen auch, dass es nicht leicht ist, der Einzige mit Verstand und gesunden Gliedmaßen zu sein. Es bedeutet große Verantwortung. Nimm sie an!»

    Fox schaute betreten auf den leicht schwankenden Son, dann zuckte er mit den Schultern.

    «Ja, hab schon verstanden», brummte er. «Brauchst nicht noch mehr zu sülzen. Ich bringe was Krok …»

    Weiter kam er nicht. In diesem Moment stürzten Hamil und Kamil in die Höhle und wedelten aufgeregt mit ihren kurzen Stummelarmen.

    «Wir haben was gefunden!»

    «Einen Wanderer …»

    «… auf dem alten Pass!»

    «Jenseits vom Kesselfels …»

    «… wo wir lange nicht mehr waren.»

    «Wir sind sicher …»

    «… es ist ein Pukhjäger!»

    «Es gibt sie wirklich!»

    «Er ist riesig!»

    «Und seine Haut …»

    «… ist ganz kahl …»

    Sprachlos und mit offenem Mund starrten die Pukh die Zwillinge an, deren Fell sich vor Aufregung sträubte. Seit Pukhgedenken war niemand mehr auf dem alten Pass gesichtet worden, die Hüter der Nacht bewachten einen vergessenen Weg. Und gerade hier sollte plötzlich ein Mensch auftauchen? Aufgeregt scharten sich Fox, Burin und Joril um die Zwillinge. Jeder wollte mehr wissen und überschüttete die beiden mit Fragen, die unbeantwortet blieben, weil die beiden nicht wussten, wem sie zuerst antworten sollten. Es war der alte Son, der dem Tumult ein Ende setzte. Er klopfte mit seiner Krücke auf den Boden und räusperte sich. Sofort verstummten die Pukh. Son war der Älteste in der Korja. Keiner wusste, wie alt Son war, er war schon immer hier gewesen, schon als Burin, der Zweitälteste, in die Korja kam. Seinem Wort wie seinem Schweigen folgte man. Als Stille eingekehrt war, wandte er sich an Hamil und Kamil.

    «Ihr habt einen Wanderer gefunden?»

    «Ja!»

    «Und ihr seid sicher, dass es ein Mensch ist?»

    «Ja doch! Er sieht genau so aus, wie es in den alten Erzählungen heißt: riesig groß mit einer Haut so glatt wie Kiesel.»

    «Habt ihr gefragt, was er auf dem Pass will?»

    Hamil und Kamil schüttelten die Köpfe.

    «Nein, das ging nicht.»

    «Er liegt einfach da …»

    «… und rührt sich nicht.»

    Son runzelte die Stirn.

    «Lebt er oder ist er tot?»

    Hamil und Kamil sahen ihn betreten an.

    «Das wissen wir nicht», gestanden sie. «Wir haben ihn nicht angefasst.»

    «Dann müssen wir ihn in die Höhle bringen», entschied Son. «Vielleicht lebt er noch. Er wird erfrieren, wenn wir ihn liegen lassen.»

    «Na und?», grollte Fox. «Nur ein toter Pukhjäger ist ein guter Pukhjäger!»

    Son sah ihn tadelnd an.

    «Die Menschen, die den Alten Pass begehen, jagen keine Pukh mehr. Nicht seit der Allianz!» Dann warf er den Blick in die Runde.

    «Fox und Burin, ihr begleitet die beiden nach draußen und bringt den Wanderer her. Joril, du bleibst hier, kümmerst dich um die Suppe und machst die Gästekoje sauber. Wir brauchen einen Platz, wo wir ihn hinlegen können.»

    Traurig sah Joril den Vieren nach, die aufgeregt nach draußen eilten.

    «Es tut mir leid», sagte Son leise. «Einen musste es treffen. Das nächste Mal bist du dran!»

    Welches nächste Mal?, dachte Joril verstimmt, als er Besen und Kehrschaufel holte, um den Staub und Dreck, der sich in der Gästekoje angesammelt hatte, wegzufegen. Ich wette, es wird kein nächstes Mal geben. Ich werde hier in der Höhle vergammeln, bis ich alt und weißscheckig bin wie Son.

    Der Länge nach ausgestreckt lag der Wanderer in der Gästekoje. Neugierig standen die Pukh vor der Nische und bestaunten Hamils und Kamils Fund. Selbst liegend wirkte er riesig. Er füllte die Koje, die für zwei bis drei Gäste ausgelegt war, komplett aus, stehend hätte er sicher mit der Hand an die Höhlendecke fassen können. Der Körper des Fremden war mit Tüchern verhüllt, nur Kopf, Hals und Hände waren unbedeckt. Die Haut dort war nackt und schimmerte dunkelgrün im Licht der Glimmflechtmalereien. Die einzig sichtbare Körperbehaarung war das lange Haar, das den Kopf umfloss.

    Wie alle Pukh kannte Joril die alten Geschichten über die Menschen, über ihre Riesenhaftigkeit und ihre verzehrende Gier nach Fleisch. Und wie alle Pukh hatte er sich ausgemalt, wie die Pukhjäger wohl aussahen. Grob, derb und hässlich hatte er sie sich vorgestellt, mit verzerrten Gesichtszügen, wie es zu ihrer Gesinnung passte. Doch der Wanderer, der ausgestreckt in der Koje lag, war nichts davon. Alles an ihm war feingliedrig und ebenmäßig, auf seinem Gesicht lag Ruhe und Frieden. Joril hatte noch nie ein so schönes Wesen gesehen.

    «Ist er tot?», fragte er leise.

    Son ließ sich Zeit mit der Antwort. Nachdenklich ließ er seine Hand über den schlanken Körper des Fremden gleiten

    und legte testend zwei Finger auf die Halskuhle.

    «Ja, er ist tot», sagte er schließlich.

    «Wie schade», flüsterte Joril.

    «Hast du Fledermauskrok im Hirn? Sei froh, dass er tot ist, so richtet er kein Unheil an», fauchte Fox. «Außerdem, was schert uns das?»

    «Wir hätten etwas über die Außenwelt erfahren können», verteidigte sich Joril.

    «Ich kann dir alles über die Außenwelt erzählen, was du wissen musst. Wenn es schneit, siehst du keinen Eisstrom. Ist der Himmel bewölkt, liegt er kalt und grau im Talgrund, scheint die Sonne, schimmert er so grell, dass du nicht hinsehen kannst. Mal braust der Wind, mal geht eine Mure ab. Mehr passiert da draußen nicht.»

    «Aber diesmal ist etwas passiert!», trumpfte Hamil auf.

    «Genau! Wo Hamil recht hat, hat er recht», sprang Kamil seinen Zwillingsbruder bei. Sie würden sich ihren Fund nicht von Fox kleinreden lassen. «Was er wohl auf dem Alten Pass wollte?»

    Fox zuckte nur mit den Schultern.

    «Kann uns egal sein. Die Frage ist: Was machen wir mit ihm?»

    «Essen», schlug Burin vor und rieb sich den Bauch. «Fleisch ist gut! Ich hab mal Fledermaus gegessen. Vielleicht schmeckt er ähnlich.»

    Fox spie aus.

    «So was esse ich nicht!»

    «Nur ein kleines bisschen? In die Suppe?», bettelte Burin.

    «Burin!» Tadelnd richtete Son seine unergründlichen Augen auf Burin. «Kennst du nicht die Geschichte?»

    Son schloss die Augen und begann mit leiser, eindringlicher Stimme zu erzählen.

    «Am Anfang war alles eins, und alles war Aoum, und es gab nichts außerhalb Aoums, denn Aoum war grenzenlos. Lange Zeit lebte Aoum und war zufrieden, der Freude in seinem Inneren nachzuspüren. Doch die Freude wurde übermächtig und wollte geteilt werden. So erträumte Aoum in der ersten Nacht Sol, die Herrin des Lichts, damit die Freude sichtbar würde. In der zweiten Nacht erträumte Aoum Sal, das ewige Gewoge. In der dritten Nacht erträumte Aoum Seller, den Herren aller Stofflichkeit. Dann sagte Aoum zu seinen Kindern: ‹Geht und träumt eine Welt, damit ich gesehen werde.› Und Sol, Sal und Seller gingen hin und erträumten Ur. Seller erträumte das Erdreich, Sals Traum schuf Bewegung und Wind, und Sol erträumte die Sonne. Doch das nackte Ur zeigte noch nicht das Wesen Aoums. Und so schufen sie mächtige Berge und rauschende Flüsse, um das Land zu gestalten, und schmückten die Erde mit allerlei Pflanzen. Zum Schluss setzten sie Tiere hinein, damit Ur bevölkert werde.

    Zufrieden wanderte Aoum durch das Land Ur und bestaunte dessen Schönheit. Als Aoum müde wurde, setzte es sich an den Rand einer Quelle und dachte nach. Aoum

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