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Was fehlt, wenn uns die Tiere fehlen?: Eine theologische Spurensuche
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Was fehlt, wenn uns die Tiere fehlen?: Eine theologische Spurensuche
eBook360 Seiten4 Stunden

Was fehlt, wenn uns die Tiere fehlen?: Eine theologische Spurensuche

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Über dieses E-Book

Mit dem drohenden Verschwinden der Tiere steht weit mehr auf dem Spiel, als es die naturwissenschaftlichen Diskurse andeuten: Es geht nicht allein um eine Krise versiegender Rohstoffe oder um den Verlust ökologischer Einflussfaktoren, sondern um eine existentielle Erschütterung, die das Verhältnis zwischen Menschen und (anderen) Tieren in grundsätzlicher Weise betrifft. Die Autorin beleuchtet daher die tieferliegenden theologischen und metaphysischen Gründe jener Angst vor einer Welt, die für die Wirklichkeit der Tiere keinen realen wie gedanklichen Ort mehr hat: Woher rührt das Unbehagen angesichts einer Tierindustrie, die den milliardenfachen Tod von Tieren zum gnadenlos durchexerzierten Normalfall gemacht hat? Welche Folgen hatte die radikale Pro-fanisierung von Tieren, die in der antiken Welt noch nahezu gottgleichen Status innehatten? Was also fehlt, wenn uns die Tiere fehlen?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum8. Sept. 2020
ISBN9783791761886
Was fehlt, wenn uns die Tiere fehlen?: Eine theologische Spurensuche

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    Buchvorschau

    Was fehlt, wenn uns die Tiere fehlen? - Simone Horstmann

    Anmerkungen

    Was fehlt, wenn uns die Tiere fehlen?

    Zur Einleitung

    Unter den lebendigen Eindrücken seiner Forschungsreisen verfasst Charles Darwin 1837 einen Notizbucheintrag. Sein eigentliches Hauptwerk „Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl" liegt zu diesem Zeitpunkt noch in entfernter Zukunft; es erscheint erst 22 Jahre später und begründet jenes Paradigma, das wir seither mit Darwin in Verbindung bringen: die Evolutionstheorie.

    Doch bereits Darwins knapper Eintrag von 1837 ist spektakulär, wenn auch erst auf den zweiten Blick. Denn zunächst wirkt die Notizbuchseite schlicht chaotisch: Sie enthält neben kurzen Randnotizen lediglich die Phrase „I think" – „Ich denke", gefolgt von einer knappen Skizze, die bereits zu diesem frühen Zeitpunkt einen zentralen Gedanken seiner später zum System ausgearbeiteten Evolutionstheorie aufnimmt: den ‚Baum des Lebens‘, der die Abstammungslinien verschiedener Spezies abbildet. Dieser ‚Baum des Lebens‘ hat weder ein Zentrum noch eine deutliche Hierarchie, ihm fehlt ganz augenscheinlich die ‚Krone der Schöpfung‘. Während die Jahrhunderte und Jahrtausende vor Darwin das Verhältnis der unterschiedlichen Spezies dieser Erde noch als eine hierarchische Kette bzw. Stufenabfolge – eine scala naturae – verstanden haben, so fällt eben dieser hierarchische Ordnungstypus zur Erklärung der Naturprozesse und des Verhältnisses der verschiedenen Arten untereinander bei Darwin nahezu vollständig aus.

    Die Ahnung einer urtümlichen Nähe

    Die Verästelungen in seiner Skizze verlaufen sich hin zu vorläufigen Endpunkten, die Darwin mit Buchstaben markiert hat: Sie dürften konkrete Spezies bezeichnen, mit denen er sich zu dieser Zeit beschäftigte. Darwin selbst war offensichtlich klar, dass eine derartige Beschreibung des Lebens und des Zusammenhangs verschiedener Arten einen Paradigmenwechsel gegenüber dem bisherigen Denken der Biologie bedeutete – und durchaus einem regelrechten Schock für die überkommene Biologie gleichkam. Er beschreibt die Entwicklung des Lebens nicht mehr linear und zielgerichtet, d. h. nicht mehr teleologisch in dem Sinne, dass die – von nun an nur noch vorläufigen – Endpunkte der Verästelungen Spezies beschreiben, auf die hin der vorherige Verlauf der Entwicklung zwangsläufig angelegt wäre, so wie man zuvor insbesondere vom Menschen als einer unveränderlichen, immer schon gottgewollten und daher auch unveränderlichen Spezies gedacht hatte. Darwins Verständnis der Evolution des Lebens stellt uns den Ausschnitt eines riesigen Netzes vor Augen, das die unterschiedlichen Arten miteinander verbindet und in dem keine Spezies in grundlegender, essentieller Art und Weise von den anderen getrennt ist.

    Neben dem ‚Baum des Lebens‘, der in dieser knappen Skizze der später umfassend ausgearbeiteten Evolutionstheorie vorausgreift, ist aber eine weitere Eigenheit dieser Notizbuchseite bemerkenswert. Und anders als die Skizze vom ‚Baum des Lebens‘ übersieht man diese Eigenheit womöglich – zumindest hat selbst die Wissenschaftsgeschichte ihr bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Denn Darwin leitet seine Notiz zunächst ganz unauffällig mit den Worten „I think" – „Ich denke" ein; unmittelbar danach jedoch bricht sein Nachdenken scheinbar unvermittelt ab. Der Satz endet, noch bevor er wirklich begonnen hat, weil das, was dann folgt, derart unerhört und neu ist: Es gibt im Reich des Lebendigen keine substantiellen Unterschiede zwischen den einzelnen Wesen. Sie unterscheiden sich, aber lediglich graduell. Das Leben, das sie miteinander teilen, gleicht jenem verzweigten Netz, das Darwin 1837 zeichnet.

    Jenseits der Sprache

    Der abgebrochene Satz bezeugt, dass diese Einsicht selbst für den jungen Darwin kaum fasslich schien. Keine Worte erklären hier das Gemeinte, lediglich ein Bild, eine kleine Strichzeichnung. Unser gewohntes Wahrheitsmedium, die Sprache mit ihrer eigenen menschlichen Logik, versagt hier zunächst – Darwin muss allem Anschein nach das Ausdrucksmedium wechseln, um sich – zunächst wohl auch sich selbst gegenüber – noch irgendwie verständlich machen zu können. Seine Sprache weicht dem bildhaften Eindruck von der Nähe und Verwandtschaft aller lebendigen Wesen. Und Darwins Erschrecken, das sich im Abbruch des gerade begonnenen Satzes ausdrückt, ist möglicherweise auch das Erschrecken eines Theologen: Bevor Darwin sich auf seine biologische Laufbahn eingelassen hat, studierte er einige Zeit auch Theologie in Cambridge. Und obwohl er rasch mit der Theologie brach, mag man darüber spekulieren, ob sein Staunen, das sich in der Skizze von 1837 ausdrückt, nicht auch theologische Wurzeln hat.

    Wer heute – mehr als 180 Jahre nach Darwins Notizbucheintrag – nach dem Verhältnis des Menschen zu den anderen Tieren fragt und auf dieses Netz der vielfältigen Verwandtschaften blickt, erfährt das Artensterben, den Verlust der Lebensräume von Tieren, ihr leises und oft nahezu unmerkliches Sterben, als einen familiären Verlust, zumindest als eine eigentümliche Erschütterung, für die uns heute die Worte ebenso fehlen, wie sie Darwin 1837 bereits zu fehlen schienen. Was genau also drückt sich aus in unseren Klagen über das Sterben und Aussterben jener unzähligen Tiere und Tierarten? Seit es die Menschen gibt, haben sie sich stets in einer Umgebung wiedergefunden, die von anderen Tieren bevölkert war. Die Hand, die wir heute über den Kopf eines Hundes gleiten lassen, wiederholt wohl eine der ältesten Erfahrungen des Menschen. Lange bevor es den Menschen als solchen gab, gab es immer schon andere Tierspezies.

    Seit dem sich in den letzten Jahren ein Bewusstsein dafür durchgesetzt hat, dass mit der ökologischen Katastrophe die Möglichkeit der völligen und unwiederbringlichen Vernichtung vieler tausender Tierarten in greifbare Nähe rückt und vielfach bereits eingetreten ist, fragen viele Menschen danach, wie unser Umgang mit Tieren sein soll. Was bedeutet uns das Aussterben einer Art? Warum schmerzt es uns so sehr, jede Minute einen neuen, unwiederbringlichen Verlust beklagen zu müssen?

    Menschen als „Inter Spezies"-Wesen

    Viele neuere Lebensentwürfe und soziale Bewegungen verstehen sich als dringend nötige Antworten auf die Folgen des Anthropozän. Neue Allianzen von Tier und Mensch werden sichtbar. Sie alle fürchten aus gutem Grund das, was noch nie war: die entsetzliche Möglichkeit einer zukünftigen Menschheitsgeschichte ohne die anderen Tiere.

    Wir dürfen wohl annehmen, dass die Tiere dem Menschen nicht nur ein Apriori, die Bedingung aller Erfahrung, sondern zugleich die prima experientia, die erste und vielleicht fundamentalste Erfahrung waren. So betrachtet gab es den Menschen immer nur als Interspezies-Wesen: Er existierte und existiert bis heute nur als Wesen „inter-spezies, also „zwischen den (anderen) Spezies, ganz so, wie Darwins Skizze es erahnen lässt: umgeben und in der erlebten Nähe zu anderen lebendigen Tieren. Damit ist nicht der Versuch gemeint, ein weiteres Mal ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen formulieren zu wollen. Vielmehr geht es um die Erfahrung, dass etwas in den (anderen) Tieren in uns älteste Resonanzen auslöst und uns an eine urtümliche Nähe erinnert. Lange bevor die Rede von den Interspezies-Beziehungen zu einer normativen Forderung der neueren ökologischen Ethiken im Angesicht des drohenden Verschwindens unzähliger Arten und Individuen wurde, war sie eine angemessene Umschreibung für das menschliche Dasein zwischen den anderen Lebewesen. Dieses Buch ist daher auch eine Spurensuche: Es fragt in sechs unabhängig voneinander lesbaren Essays nach den vielfältigen Beziehungen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Tieren, nach der Dimension, der Wirklichkeit und Fassbarkeit des „Inter" der Interspezies-Beziehungen.

    Die Litanei von der insektenfreien Windschutzscheibe

    Aus dieser Perspektive heraus fällt zugleich auf, dass die heute üblichen Klagen gerade dieses Moment der Verbundenheit außen vor lassen: Zwar kommt heute kaum ein Gärtner ohne den materialgewordenen Entschuldigungsgestus eines „Insektenhotels aus – ein letztes, beschauliches (und meist vollkommen fehlkonstruiertes) Refugium für jene Wildtiere, deren Namen wir längst vergessen haben, bildet nicht selten einen Ausdruck für die dem Menschen offenbar eigene Synthese aus Tatendrang und Hilflosigkeit. Und welche Großstädterin weiß heute nicht die „Litanei von der insektenfreien Windschutzscheibe zu rezitieren? Heute, so besagt diese omnipräsente Klage, kleben kaum noch tote Insekten an den Windschutzscheiben der Autos, mit denen wir zuvor unseren kilometerweiten Weg zur Arbeit und zurück hinter uns gebracht haben. Diese Klage übersieht einerseits nur allzu oft, dass sie mit dem beklagten Symptom auch zumindest eine Ursache für selbiges andeutet; andererseits liefert sie mit der „Windschutzscheibe eine grundehrliche Metapher, die Auskunft über das vorherrschende Verhältnis zwischen uns und den anderen Tieren gibt: Wir stehen ihnen demnach wie von einer gläsernen Scheibe getrennt gegenüber; von Verbundenheit kann hier keine Rede sein, obwohl die Metapher genau dies ja zugleich als einen Mangel beklagt. Wogegen richten sich also Versuche wie diese? Was genau fehlt, wenn uns die Tiere fehlen? Die „Litanei von der insektenfreien Windschutzscheibe scheint jedenfalls darauf hinzudeuten, dass dieses Fehlen bereits real und greifbar geworden ist, und uns aber zugleich auch – fatalerweise – jene Mittel abhandengekommen sind, mit denen wir dieses Fehlen angemessen beschreiben können.

    Aus diesem Grund ist es ein zentrales Anliegen dieses Buches, das „Fehlen" der Tiere so zur Sprache zu bringen, dass es sich von den vorherrschenden Problembeschreibungen abhebt: Weder geht es hier um eine rein ökologische Betrachtung, die das Aussterben von Arten in das große Kalkül der Ökologie einbeziehen muss und als einen gesamtökologisch fatalen Schwund an Biodiversität deutet; noch geht es um eine letztlich ökonomisch gefärbte Variante dieses ökologischen Paradigmas, die vor einer Krise versiegender tierlicher Rohstoffe warnt. Ziel des Buches ist es vielmehr, die Angst vor einem Verlust der Tiere – als Individuen, als Arten, als den ganz Anderen und den ganz Vertrauten – in ihrer existentiellen Bedeutung zu erfassen.

    Zum Stellenwert von (Tier-)Erfahrungen

    Dies kann aber nur gelingen, wenn unsere Erfahrungen mit anderen Tieren einen anderen Stellenwert einnehmen, als dies bislang zumeist der Fall ist. Eben darauf hatte ja bereits die so verbreitete Metapher der Windschutzscheibe hingewiesen: Der von ihr bildlich zum Ausdruck gebrachten Trennung zwischen den Menschen und den anderen Tieren entspricht auch eine grundlegende Erfahrungsskepsis, die unser Selbstverständnis als moderne Menschen prägt. Daher lässt sich einerseits auch bezweifeln, dass eine Untersuchung des Mensch-Tier-Verhältnisses gültige Ergebnisse produzieren kann, sofern sie mit der vordarwinschen Trennungslogik einer fundamentalen Differenz zwischen Tieren und Menschen eine Grundbedingung als unhinterfragbar voraussetzt, die historisch offenkundig kontingent ist. Andererseits ist die Einsicht in die uns prägende Erfahrungsskepsis auch deswegen wichtig, weil wir tagtäglich Erfahrungen mit anderen Tieren machen (könnten), denen wir nicht selten eine existentielle Bedeutung zuschreiben, dann aber schnell vor dem vermeintlichen Dilemma stehen, dass wir diesen Erfahrungen gleichzeitig zutiefst misstrauen. Und schon gar nicht gelten diese Erfahrungen als wissenschaftsfähig – wer heute über die Erfahrung etwa der Freundschaft mit Tieren sprechen will, dem empfiehlt die traditionelle Wissenschaft womöglich, dies doch besser an anderer Stelle zu tun. Einzig im privaten Rahmen gestehen wir uns diese Erfahrungen zu, und die etablierten Sprecherpositionen unserer Gesellschaft ermutigen ganz in diesem Sinne dazu, Erfahrungen wie diese besser auf anderen Kanälen zu verbreiten: Man solle dann besser ein Bild malen oder ein Gedicht verfassen, um einer Tier-Erfahrung Ausdruck zu verleihen; für wissenschaftliche Belange scheinen sich diese Erfahrungen hingegen immer schon disqualifiziert zu haben.

    Für unser Verhältnis zu den anderen Tieren ist diese Strategie der Veruneigentlichung der Erfahrungen höchst bedenklich. Denn auch der wissenschaftliche Blick bedarf zur Erfassung von Subjekten einer dezidiert subjektiven Perspektive! Damit wird nicht zuletzt der Tatsache Rechnung getragen, dass Menschen kein „zuschauerhaftes Verhältnis zur Wirklichkeit" (Th. W. Adorno) haben, sondern sich zumeist als Teilnehmende und Mitagierende einer gemeinsamen Lebenswelt verstehen, in der immer auch Tiere vorkommen. Damit Tiere auch zukünftig darin vorkommen können, ist es womöglich entscheidend, nicht allein quantifizierbare Daten in die aktuell so gern geführten Nachhaltigkeitsdebatten einzuspeisen, sondern das qualitative Bedeutungswissen von Menschen in ihren Beziehungen zu anderen Lebewesen auch wissenschaftlich zu rehabilitieren. Aus eben diesem Grund changiert dieses Buch beständig zwischen einer Verortung seiner Frage innerhalb der verschiedenen wissenschaftlichen Diskurse einerseits und einer erfahrungsbezogenen, mitunter erzählerischen und essayistischen Form. Diese ungewohnte Herangehensweise soll den fälschlichen Schluss vermeiden, dass wir die ökologischen Gefährdungen dieser Tage nicht nur als den Anlass, sondern als den Grund einer Neubestimmung des Mensch-Tier-Verhältnisses verstehen. Die bloße Feststellung, dass (andere) Tiere bedroht sind, genügt noch nicht, um zu begründen, warum eine solche Neubestimmung notwendig ist. Vielmehr brauchen wir ein Argument, das verdeutlichen kann, was genau mit dieser Bedrohung auf dem Spiel steht. Was also fehlt, wenn (uns) die Tiere fehlen?

    Das tote Tier

    Ihr graubraunes Fell war makellos. Ein verheißungsvoller Aprilwind strich darüber und teilte es so, dass das weiße Unterfell sichtbar wurde. Während ich mich zu der Maus auf die moosbewachsene Waldlichtung kniete, musste ich daran denken, dass ein solch perfektes Fell schon bei gesunden Mäusen selten zu finden ist. Meist sind die Tiere, wenn auch nicht überdeutlich, doch erkennbar von ihrer Umwelt und bisweilen von ihrem Alter gezeichnet. Wer nach einem futterlosen Tag bereits dem Hungertod nahe ist, mag andere Sorgen haben als ein glänzendes Fell. Die kleine Maus vor mir jedoch schien äußerlich perfekt.

    Mein Hund war beim Spaziergang durch den Wald auf sie gestoßen. Wie immer lief er mehrere Meter vor mir her, sodass ich mit einigen Schritten Abstand nur beobachten konnte, wie er kurz an etwas auf dem Boden roch und dann weiter trottete. Ich blieb stehen, erkannte die Maus und hockte mich vor sie, ließ sie nicht aus den Augen. Ich konnte nicht sofort erkennen, ob sie tot war oder lebte, zumindest so gerade noch. Vorsichtig berührte ich die Tasthaare an ihrer Nasenspitze. Keine Reaktion. An ihr gab es keinerlei äußerlich erkennbare Verletzungen, keine Wunden oder Bissspuren, wirklich nichts, was etwa auf einen Angriff durch ein anderes Tier hingedeutet hätte.

    Etwas an der Situation ließ mich plötzlich unsicher werden. Mir fiel auf, wie sehr ich mich für so vieles schämte, was ich gerade dachte – dass ich mich überwinden musste, sie zu berühren, aufgrund einer diffusen, frühkindlichen, vielleicht nie wirklich ausgesprochenen, aber auch deswegen umso wirkungsvolleren Regel: Fasse nichts Totes an. Ich schämte mich auch, als ich einige Blüten und Zweige neben ihr drapierte. Was sollten andere Waldspaziergänger denken, wenn sie das sahen? Kein Grab, eher eine Aufbahrung der Leiche. Dann wieder: Die Scham, sich zu schämen, es war doch gut gemeint. Aber wie war es eigentlich genau gemeint?

    Ich bin aufgewachsen in einer Tradition, in der solch eine Situation stets von den schulmeisterlichen Worten eines Großvaters begleitet wurde, die im getragenen Ton einer Moll-Melodie über den Lauf der Dinge, das Geborenwerden und Sterben, Entstehen und Vergehen sinnierten. Dieser Großvater ist prototypisch, wir alle kennen ihn. Er begleitet seine Enkelkinder durch den Wald, lehrt die Zusammenhänge der Natur, er spricht die Vertonungen der endlosen Tierverfilmungen, kommentiert zurückgelehnt das Zerfleischen eines Zebras durch afrikanische Löwen. Noch während sie ihre Reißzähne in das zuckende Fleisch rammen, spricht der Großvater die tröstenden Worte, die große Erzählung vom Kreislauf der Natur. Bis heute weiß ich, dass es mir und allen aufgegeben ist, einen Reim darauf zu finden. Während ich auf dem Waldboden neben der toten Maus in der Hocke saß, fand ich keinen. Bestenfalls war da ein kleiner Binnenreim, die Wiederholung von etwas Größerem, das noch fehlte. Die großen Erzählungen der Natur ließen mein Bestattungsflorilegium tatsächlich wie das Werk eines weltfremden Kauzes erscheinen. Ich war in diesem Moment sicher: Wenn ich mich umdrehen würde, gerade in diesem Moment, ich müsste dort die zigtausend Vorgänger dieser Maus sehen, ihre Myriaden an längst toten Verwandten. Wie eine Mauer würde die Masse der Toten hinter mir jenes Recht einklagen, das ich nun jener einen winzigen Maus und ihrem Tod zugestand.

    Die Individuen in dieser Mauer schienen dem Großvater Recht zu geben. Sie bezeugten, dass auch der Aufstand gegen den Naturverlauf einstmals vor eben dieser Natur zu kapitulieren hätte. Ich habe mich an diesem Tag nicht umgedreht. Hermes, mein Hund, war daran wie so oft schuld, aber es war auch meine Entscheidung. Und es war das makellose Fell der kleinen Maus. Erst als wir den Wald bereits hinter uns hatten, fiel es mir plötzlich ein: Corpus incorruptum – der unverweste Leichnam – ist ein Kriterium kirchlicher Heiligsprechungsverfahren. Die kleine Maus war dem Kreislauf der Natur nicht entkommen, sie war ganz eindeutig tot. In ihrem perfekten Fell aber sah ich den Beginn einer neuen, unerzählten Geschichte: vom schlimmsten Raubtier schlechthin, das seine Beute urplötzlich verschont.

    Religion beginnt im Ernste doch erst dort,

    wo aller Grund vorhanden scheint, sie aufzugeben.

    JOSEPH BERNHART

    „Es hat den Tod als Tod weder vor sich noch hinter sich"

    Tiere sterben. Aber erst seit Kurzem, könnte man meinen: Es ist noch nicht lange her, dass die deutsche Sprachkonvention diesen Ausdruck fein säuberlich vermied. Tiere konnten zwar verenden oder vergehen – das Sterben hingegen war zumindest dem Begriff nach dem Menschen vorbehalten. Schon häufiger habe ich mich gefragt, ob diese linguistische Version des eschatologischen Vorbehalts möglicherweise tatsächlich dafür Sorge trug, dass dem einen oder anderen das Sterben leichter fiel – wenn der Tod nahte, eine letzte Unruhe über den Menschen kam, aber zumindest dies eine als Hoffnung blieb: Ich bin kein Tier. Dass der Mensch stirbt, das Tier aber verendet, heißt ja schließlich: Der Tod bedeutet beiden etwas grundsätzlich anderes. Das Sein der Tiere ver-endet an der Todesgrenze, hinter ihm schließt sich für immer eine Tür. Menschen sterben – man höre nur dem Rhythmus der beiden Wortsilben nach: Ein anfängliches Stolpern, ein kurzes Innehalten ist ihnen der Tod – st…! – aber es folgt dann doch noch etwas, und die Tür fällt niemals so ganz ins Schloss, weil der Mensch immer noch einen Fuß dazwischen bekommt. Unsere Sprache hat lange keinen Zweifel daran gelassen, dass Menschen und Tiere ein Abgrund trennt. Tiere werden geworfen, sie fressen, vegetieren vor sich hin, werden erlegt oder verenden schließlich.

    Arthur Schopenhauer hat als einer der ersten kritisch auf diese theriophobe, also tierfeindliche Färbung unserer Sprache hingewiesen, das war vor knapp 200 Jahren.¹ Und in der Tat gibt es gute Gründe, eine derartige Sprachnorm zu kritisieren, die sich in immer neueren Variationen bis heute durchhält. Eine solche Kritik hat es allerdings auch mit mächtigen, bis heute wirksamen Gegenstimmen zu tun: Der deutsche Philosoph Martin Heidegger etwa hat mit Vehemenz jenen fundamentalen Unterschied zwischen Tieren und Menschen stark machen wollen – und dies gerade an den vermeintlich unterschiedlichen Arten ihres Sterbens festgemacht:

    „Die Sterblichen sind die Menschen. Sie heißen die Sterblichen, weil sie sterben können. Sterben heißt: den Tod als Tod vermögen. Nur der Mensch stirbt. Das Tier verendet. Es hat den Tod als Tod weder vor sich noch hinter sich."²

    Mit diesen Worten bringt Heidegger den aus seiner Sicht entscheidenden Unterschied zwischen Tieren und Menschen auf den Punkt: Während der Tod des Menschen metaphysische Qualität besitze, sei der Tod der Tiere bedeutungslos. In seinen knappen, apodiktischen Sätzen scheint er diesen Unterschied mehr zu behaupten denn argumentativ zu belegen. Gefährlich ist seine Sichtweise dennoch: Wer wie Heidegger vom Verenden der Tiere spricht, ihrem Sterben also lediglich eine chronologische Bedeutung, aber keine darüber hinausreichende existentielle oder gar metaphysische Relevanz zuerkennen will, verwehrt ihnen letztlich ihren Tod. Darin dürfte eine besonders perfide Strategie liegen, das Leben der Tiere zu diskreditieren – jener Tiere, die einerseits immer noch Sinnbild einer menschengemachten Vernichtung sind, und denen andererseits auch im Gefolge einer Sprachnorm á la Heidegger nicht zugestanden wird, wirklich zu sterben. Die Moderne wird sich daher zu Recht die Frage gefallen lassen müssen, ob sie überhaupt noch in der Lage ist, den massenhaften und industriellen Tod der Tiere zu glauben, ihn wirklich als jenes Grauen anzuerkennen, das er ist.

    „Statt Todeswirrnis – Reinlichkeit und Ordnung"

    Allen Einflüsterungen über das bloße Verenden der Tiere zum Trotz gibt es in unserer Erfahrung eben doch immer wieder diesen Blick toter Tiere, ihren bloßen Anblick. Eine urtümliche Erschütterung, die wir nur zu gern von uns abschütteln würden – denn der Blick sterbender Tiere vermag uns zu berühren, an allen abstrakt-rationalen Erwägungen vorbei trifft er uns doch immer wieder ganz unvermittelt. Die polnische Schriftstellerin Wisława Szymborska hat diesem Anblick toter Tiere in ihrem Gedicht „Von oben betrachtet" poetisch Ausdruck verliehen.³ Auch ihr Blick als Dichterin ist also zunächst ein Blick von oben, aber doch nicht jener abstrakt-distanzierte Blick eines Martin Heidegger. „Ein toter Käfer liegt auf dem Feldweg heißt es in Szymborskas Gedicht zunächst ganz abgeklärt und sachlich, die Beinchen des Käfers liegen sorgfältig, fast noch heile und scheinbar intakt „über dem Bauch gekreuzt. Und doch: Es ist gerade dieser Anschein von Ordnung, der das Grauen des Todes überhaupt erst in seiner Tiefe zugänglich macht. „Die Trauer teilt sich nicht mit, wendet das lyrische Ich zunächst noch gegen dieses erste Erschrecken ein, ihre Reichweite sei lediglich „streng lokal von der Quecke zur Minze, gerade weil der Tod des Tieres derart ordentlich anmutet: „Statt Todeswirrnis – Reinlichkeit und Ordnung." Dann erkennt das lyrische Ich aber doch, dass dieses scheinbar gezähmte Grauen, das die Ordnung des tierlichen Todes anzudeuten scheint, dem säuberlich trennenden Denken des Menschen entspringt: Die Tiere

    „[…] krepieren sozusagen den seichteren Tod, / verlieren – wir wollen es glauben – weniger Welt und Fühlen, / verlassen – so will uns scheinen – eine weniger tragische Bühne."

    Und nur kurz darauf heißt es dann von dem toten Käfer: „Er liegt, als wäre ihm nichts von Bedeutung passiert." Diesem Mantra eines bedeutungslosen Sterbens und Verschwindens der Tiere folgt unsere Gesellschaft bis heute. Mögen Darwin und mit ihm die neueren Evolutionstheorien die Grenze zwischen den Arten noch so sehr eingeebnet haben, spätestens wenn es ans Sterben geht, zelebrieren wir bis heute die doppelte Metaphysik eines bedeutungslosen, weil tierlichen Todes auf der einen und den metaphysischen Staatsakt menschlichen Sterbens auf der anderen Seite. Inwieweit sich durch die zunehmenden Möglichkeiten und Formen von Tierbestattungen eine Trendwende abzeichnet, bleibt abzuwarten.

    Es ist daher aufschlussreich, die Gründe für die Instandsetzung und die jahrhundertelange, penible Wartung dieser fundamentalen Grenze zu suchen, über die keine Brücke zu führen scheint. Was genau schützt eine solche Sprachnorm, die den Menschen das Sterben exklusiv zuspricht und damit zugleich andeutet, dass dieses

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