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Friesische Macht: Historischer Roman
Friesische Macht: Historischer Roman
Friesische Macht: Historischer Roman
eBook738 Seiten10 Stunden

Friesische Macht: Historischer Roman

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Über dieses E-Book

Über viele Jahrhunderte hat die innere Einheit Friesland so stark gemacht, dass sich sogar fremde Fürsten daran die Zähne ausgebissen und sich blutige Nasen geholt haben. Doch die Friesische Freiheit ist Geschichte, das System der frei gewählten Richter gestürzt. An seine Stelle sind machtbesessene Häuptlinge getreten, große Grundherren, die sich erbittert bekämpfen. Am Ende wollen alle nur eins: in Ostfriesland herrschen. Also führen sie ihre Kriege, die tom Brok und die Ukena, die Allena und die Wiemken, sie überziehen die Halbinsel mit ihren grausamen Fehden. Wer wird übrigbleiben?
SpracheDeutsch
HerausgeberGMEINER
Erscheinungsdatum29. Apr. 2020
ISBN9783839265284
Friesische Macht: Historischer Roman

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    Buchvorschau

    Friesische Macht - Lothar Englert

    Zum Autor

    Lothar Englert ist in Brühl/Köln geboren und lebt in Aurich/Ostfriesland. Er war Berufsoffizier, ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter. Neben Satiren, Gesellschafts- und Kriminalromanen hat er vor allem historische Romane veröffentlicht. Besondere Beachtung fand seine dreibändige Ostfriesland-Saga, deren erster Band auf der Spiegel-Bestsellerliste stand.

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    info@gmeiner-verlag.de

    Alle Rechte vorbehalten

    1. Auflage 2020

    (Originalausgabe erschienen 2015 im Leda-Verlag)

    Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

    unter Verwendung eines Fotos von: © Erica Guilane-Nachez / stock.adobe.com

    ISBN 978-3-8392-6528-4

    Widmung

    Für meine Frau Therese

    und

    für Ostfriesland,

    eine Region voller Wärme, Liebreiz

    und Zugewandtheit.

    Zitat

    Wer die Freiheit aufgibt, um die Sicherheit zu gewinnen, der verdient keines davon und wird am Ende beides verlieren.1

    Bei allem, was ihr tut, lasst euch von der Liebe leiten.

    Korinther, 16/14

    1) Dieses Zitat wird so oder sinngemäß Abraham Lincoln und Benjamin Franklin zugesprochen. Es bleibt wahr, auch wenn seine Quelle ungewiss ist.

    Ouvertüre

    Esens, Harlingerland, Frühjahr 1396

    Der Lachs war so zart, dass sie ihn mit dem Löffel essen konnten. Das war auch nötig, denn der britannische Mönch und sein alter Freund, dieser hünenhafte holländische Schollenbrecher, hatten längst nicht mehr den Biss früherer Jahre. Ihre Zahnreihen lichteten sich wie die Bäume eines Waldsaums bei heftigem Sturm. Das Alter kannte keine Gnade, es riss hart an Haaren und Knochen und hinterließ Wüstungen, die auch den Mund nicht schonten. »Gottlob ist das Schlucken nicht von den Zähnen abhängig«, pflegte William bei einem guten Glas Wein zu sagen, und der Lange nickte dann beifällig. Jedenfalls, der Fisch zerfiel auf der Zunge. Er stammte aus der Ems, war etwas kleiner als seine Artgenossen etwa vom Rhein, aber nicht minder köstlich. Die Herrin hatte ihn in einem Bett aus Rainfarn und Zwiebel gedünstet, dann gut mit Salz bestreut, er fächerte sich rosig auf und seine Lamellen überzog ein feiner, silbriger Schmelz. Man aß gut im Hause tom Diek, und niemand schätzte es mehr als seine Gäste.

    »Es ist alles verwachst!«, brummte der lange Adriaan mit Grabesstimme, doch das hinderte ihn nicht, sich ein stattliches Stück von dem Fisch über die Lippen zu schieben. Die anderen schwiegen. Der Dominikaner wischte sich mit dem Mahltuch über das Kinn, und der Hausherr schenkte Wein nach. »Verratzt und verschissen!«, fuhr der Lange fort, undeutlich, denn sein Mund war gut gefüllt. So konnte er nur reden, weil die Herrin die Stube verlassen hatte, Tomma tom Diek kümmerte sich um die Nachspeise, sie hörten sie mit den Mägden nebenan bei der Esse, wie sie mit ihrer warmen Stimme Anweisungen gab. »Hunde sind sie, Hunde und Dreckschweine!«, schob der Hüne nach, indem er erneut zulangte. »Man sollte sie alle in Scheiße ersäufen, am besten in ihrer eigenen, einen nach dem anderen!«

    Magnus tom Diek setzte den Weinkrug ab, als wäre der höchst zerbrechlich, nicht dickwandig und aus gebrannter Erde, um das Getränk kühl zu halten, sondern aus zartem kölnischem Glas.

    »Nun lass das Maulen, mein langer holländischer Adriaan­, und schiebe den Salmon herüber. Er ist nämlich nicht nur für dich!«, rührte sich Bruder William. Er sprach den Namen des Fischs in seiner Mutterzunge, seine Sprache klang nach den vielen Jahren im Lande wie die eines Großbauern, der von irgendwoher zugereist war.

    Der lange Holländer bedachte den Mönch mit einem schrägen Blick, doch seine Augen waren voller Wärme. »Du wirst auf deine alten Tage verfressen, mein Freund!«

    »Die heilige Schrift verbietet es nicht, ordentlich zu essen. Und kalter Fisch schmeckt nach owlshit!«, konterte der Mönch und schob seinen Löffel in das Fleisch. Auch William nutzte die Abwesenheit der Herrin zum sprachlichen Abstecher in die Gasse einer finsteren Vorstadt. »Oilenscheißa!«, schob er nach, lehnte sich genüsslich kauend zurück, schnaufte wohlig und legte seine Hände auf den Bauch, es waren noch immer die eines Kindes.

    »Ich nehme an, dass ihr auf eurer Insel derlei gelegentlich esst. Oder woher weißt du sonst, wie Eulenscheiße schmeckt?«, erkundigte sich Adriaan in beißendem Spott und legte dabei ein Gebiss frei, in dem Löcher gähnten.

    Der Mönch winkte ab und tastete nach seinem Pokal. Es gab ganze zehn davon im Hause tom Diek, Magnus hatte sie von einem venezianischen Flaschner erstanden.

    Jetzt ließ der Schollenherr ein leises Lachen hören. Magnus war froh, dass seine Frau nicht am Tisch saß. »Gemach, Freunde! Ich wundere mich über euch. Ihr könnt wie Fürsten tafeln und wie Gassenvolk reden. Und umgekehrt. Wenn Tomma zurückkommt, seid Fürsten. Sprachlich. Und lasst noch etwas Fisch übrig!«

    Der Lange tat erstaunt, aber seine verwilderte Miene sagte das Gegenteil. »Gibt es da einen Zusammenhang zwischen dem Futter hier und unserer Rede?«

    »Natürlich!«, nickte William verschlagen. »Und wenn er Fürstenzungen will, soll er uns Wurzeln auftischen!«

    Der Holländer war entsetzt. »Was redest du töricht, Mönch?«, während der Hausherr sich sofort erhob.

    »Das kann auf der Stelle geschehen!«, sagte Magnus, und dann lachten sie alle.

    Der Harlinger Magnus tom Diek war eher ein Kaufherr. Anders als seine Vorväter verdiente er sein Silber mit dem Umschlag von Waren, teurem Wolltuch und edlen Pferden, die er auch selber züchtete, und lebte nicht mehr durch den Ertrag seiner Scholle. Immerhin saß er auf eigenem Grund, Land, das die Familie seit Generationen besaß, und das sein Vater Enno an den Brokmannen Ocko tom Brok verloren hatte. Nicht etwa durch schlechte Wirtschaft. Es war ein übles Geflecht von Unglück und Machtgier gewesen, das sich über die tom Diek geworfen, sie gelähmt und gefesselt hatte, und von ihren Feinden, namentlich dem ehrgeizigen Clan der Hylmerisna, kalt genutzt worden war. Auch die Landgemeinde Aurich hatten die sich inzwischen unter den Nagel gerissen. Erst ihm, Magnus, und seinem im letzten Winter plötzlich verstorbenen Bruder Ayderd war es gelungen, das Anwesen in Esens und auch den Hof von Ochtersum mit seinen fetten Äckern und Wiesen wieder in den Besitz der tom Diek zu bringen. Sie hatten Glück gehabt und klugen Handel getrieben, und dann, im Spätherbst anno 93, war Widzelt tom Brok, Ockos Erbe und unehelicher Sohn, in Esens aufgetaucht und hatte die Ländereien zum Kauf angeboten. Für die ungeheure Summe von zweitausend Mark Bremer Silber. Klamm war er gewesen, der Brokmanne, wie schon sein Vater, und das Geld hatte er gebraucht, um Krieg zu führen gegen seine ostfriesischen Feinde, die mit ihm darum stritten, das Land unter ihre Knute zu bringen. Auch wie sein Vater.

    Nur kurz hatten die tom Diek gezögert, dann eingeschlagen, und das Geschäft war gemacht. Natürlich wusste Magnus, wozu der Brokmanne das Silber nutzen würde. Es würde Klingen kaufen, Pfeile und Schuss­bolzen bezahlen, fremde Waffenknechte ins Land holen, die für den Brokmannen fochten, also schmutziges Geld werden, aber das hatte keine Rolle gespielt. Entscheidend war die Gelegenheit gewesen, das Stammland der tom Diek wieder in den Besitz der Familie zu bringen. Anno 95 schließlich war Widzelt tom Brok wieder in Esens erschienen, diesmal hatte er einige seiner Kumpane bei sich, wilde Gesellen, Raubgesindel, Gesocks aus dem Sächsischen, das ehrliche Kaufleute auf See überfiel, um ihnen ihre Habe zu nehmen. Figuren wie Klaus Störtebeker und Michel Gödecke waren darunter, Männer, die nicht zögerten, ihren Willen mit Gewalt durchzusetzen. Und dabei Blut fließen zu lassen.

    »Die passen zusammen wie der Arsch auf den Trichter!«, hatte der Lange in seiner üblichen Art beschieden, knapp, klar und zutreffend.

    Der kleine Mönch hatte es etwas milder ausgedrückt, »Die Kloake zieht das Gewürm!«, hatte William nickend bestätigt, und Magnus hatte zu allem geschwiegen, mit einem Zug um den Mund, der auf vornehme Art zugleich Abscheu und Distanz spiegelte. Ganz so hätte es schon sein Großvater getan, dem Magnus im Übrigen immer ähnlicher wurde.

    Als der Brokmanne an jenem denkwürdigen Sonntag in Esens auftauchte, suchte er Verbündete gegen seinen schärfsten Widersacher im Land, den Rüstringer Edo Wiemken, mit dem er sich nun schlug, der aber deswegen keinen Deut besser war als der Brokmanne. Und wieder waren die tom Brok bereit, für ihre Ziele uralte Tabus zu brechen, Regeln zu verletzen, die den Friesen seit jeher als unantastbar, ja heilig galten. Sie scharten fremde Bewaffnete um sich, wie es schon Keno Hylmerisna für richtig gehalten hatte, boten zur Stärkung ihres Rückens auswärtigen Fürsten brokmannischen Grund zum Lehen an, wie es Ocko tom Brok anno 81 tat, um den Herzog von Baiern auf seine Seite zu ziehen, und ließen Abschaum wie diese Seeräuber sogar in der Kirche von Marienhafe Quartier beziehen. Widzelt tom Brok hatte so entschieden, mit der üblichen flagranten Kälte seiner Sippe, und ein Sturm der Empörung war durch das Land gegangen, freilich ohne an den Tatsachen auch nur ein Jota zu ändern. Und nicht nur das; Widzelt hatte sich mit Folkmar Allena verbündet, dem Osterhusener, der seinen, Widzelts,­ Vater Ocko noch bis aufs Blut bekämpft hatte. Ja, und nun, an diesem Sonntag auf der Tenne der tom Diek, unterstand sich der Brokmanne, eben jenen Bruderschaft anzubieten, eine Kumpanei gegen den Rüstringer Focko Ukena, aber da hatte er auf Granit gebissen. Den Vater konnte man noch zwingen, Enno tom Diek hatte sogar Heerfolge geleistet, aber nur, um das Land der Familie wieder in den Besitz seiner Söhne zu bringen. Das war Geschichte, aus und vorbei, die Harlinger hielten ihre Scholle und Schluss. »Niemals mehr«, hatte Magnus dem Brokmannen beschieden, »nie wieder wird ein tom Diek für Euch zum Eisen greifen!«

    Doch damit war Ostfriesland nicht befriedet. Im Gegenteil. Das Hauen und Stechen war in vollem Gange. »Verfluchte Saubande!«, knurrte der Lange finster, an seinem Kinn klebte eine Fischschuppe.

    »Reg dich ab, Adriaan!«, versetzte der Mönch mit leichtem Lächeln. Seine Augen suchten den schon recht gefledderten Lachs ab, er wählte mit Bedacht ein saftiges Stück und stieß seinen Löffel hinein. »Es war doch klar, dass sie aufeinander einschlagen würden. Jeder Blinde konnte das kommen sehen und sogar ich, ein alter, dicker Seelenpfleger von einer fernen Insel voller Ziegen und Schafe, wie du zu sagen pflegst, hat es vorhergesagt.«

    »Ja doch, Mann, es war zu sehen und zu fürchten, aber das macht die Sache nicht besser, oder wie?!«, fauchte der Holländer.

    »Adriaan hat recht!«, sagte der Schollenherr trocken. Magnus tom Diek langte über den Tisch und zog die Reste des Fischs an seinen Teller. Die Zeit der Holzbretter mit einer Saftrille am Rand war an der Tafel des Harlingers längst Vergangenheit. Heute aß man von gebrannten irdenen Schalen, der Hausherr bezog auch sie aus dem Rheinischen. Magnus beäugte die Fleischfetzen an den Gräten wie ein Huhn, das sich nicht entschließen kann, ein Korn aufzupicken. »Es ist ja nicht nur die Rauferei im Land«, fuhr der Harlinger verstimmt fort, und es war nicht klar, ob die Lage seine Stimmung trübte oder der Fisch, der nun wirklich nahezu verzehrt war. »Ich fürchte, dass die Städte nicht mehr lange zusehen werden. Hamburg und Bremen etwa, andere auch. Und dann, liebe Freunde, haben wir nicht nur den Brokmannen und den Rustringer, die mit ihrem Gesindel aufeinander einschlagen, sondern wir haben fremdes Kriegsvolk am Hals!«

    »Haben wir jetzt schon«, warf der Lange trocken ein, »oder sind dieser Störtebeker und sein Gesocks etwa Friesen?«

    Magnus schüttelte den Kopf. »Das hier ist anders, Adriaan­, glaube mir. Störtebeker und seine Leute fechten einen Krieg auf dem Meer. Wenn die Hamburger kommen und die Bremer, dann tragen ihre Soldaten den Krieg nach Ostfriesland!« Der Lange grunzte unwillig, und Magnus hob wie zur Abwehr beide Hände. »Ja doch, Adriaan, ich weiß, was du sagen willst. Du meinst nicht den Seekrieg der Freibeuter, sondern den von Widzelt gegen Focko. Beide sind schlimm, aber der erste hat üblere Folgen.«

    Mit einem tiefen Seufzer ließ der Mönch den Fisch aus dem Blick. Auch seine Prüfung hatte ergeben, dass von den Gräten kaum noch etwas zu schälen war. William äugte hoffnungsvoll auf den Durchgang zur Esse, dann lehnte er sich zurück. »Erhelle mich, Schollenherr. Was ist der Unterschied zwischen einem Krieg unter Friesen, meinetwegen mit auswärtigem Gesocks, und einem gegen Fremde? Beide finden in unserem Fall auf ostfriesischem Boden statt!«

    Magnus nickte dem Dominikaner freundlich zu. »Stimmt, William. Aber den ersten, weißt du, den haben wir in der Hand. Wir könnten ihn sogar selbst beenden!«

    »Wir? Wer ist wir?«, fragte der lange Holländer mit knarziger Stimme.

    »Mann! Wir, das sind wir. Die Friesen! Hast du es jetzt?«, fuhr ihn der Mönch scharf an. Dass der Lachs nun verspeist war, schien ihn doch mehr zu belasten, als er zugeben wollte.

    Adriaan blieb ruhig, obwohl er fleißig zurückfunkelte. »Aha! Also wir, die Friesen. Gut. Wisse, mein seltsamer englischer Freund, dass ich nicht blöd bin. Könnten, hat Magnus gesagt. Von einem Theorem hat er gesprochen. Wer einen Krieg führt, der kann ihn natürlich auch beenden. Aber dieser verdammte Krieg ist erst zu Ende, wenn einer besiegt ist, hast du das jetzt?«

    Der Mönch nickte brav und seine Miene hellte sich auf, denn soeben kehrte Tomma zurück. Sie trug einen weiteren Fisch, und die Magd hinter ihr balancierte ein Vorlagebrett mit der Nachspeise.

    Adriaan nickte ebenfalls, in seine Augen trat ein stiller Glanz, doch zufrieden war er noch nicht. »Der Unterschied, Schollenherr, der Unterschied!«, knurrte der Lange.

    Magnus nahm seiner Frau den Fisch ab und stellte ihn behutsam auf die Tafel. Der Lachs verströmte einen sanften, frischen Duft nach Salzwiese, würzigem Farn und Seewind. Mit geschickten Händen trennte die Herrin das zarte Fleisch von den Gräten und legte vor, zunächst ein saftiges Stück auf Williams Teller.

    »Der Herr segne dich!«, murmelte der Dominikaner, bekreuzigte sich und begann zu essen.

    Tomma lächelte, sie ließ die Magd das Brett absetzen und schickte die Frau hinaus. Als sie neben ihrem Mann Platz nahm, lächelte sie noch immer, aber ihre Augen blickten ernst. Der Hausherr schien das nicht zu bemerken. Magnus sah den Fisch an, als wäre ihm ein derartiges Wesen in seinem ganzen Leben noch nicht begegnet. Musterte dann die Scheibe auf seinem Teller wie eine Erscheinung, ein absonderliches Naturschauspiel aus feinem Fleisch und zartem Schmelz. »Der Unterschied, Adriaan? Recht einfach zu sehen, scheint mir. Der Seekrieg holt uns die Städte auf den Hals. Und wenn die Hamburger und die Bremer kommen, dann bleiben sie. Das sind keine Gäste, die zur Kirchweih über die Nacht eine Bettstatt suchen. Sondern Herren. Herren, Adriaan!«

    Der Mönch nickte wie einer, dem man das Wort aus dem Mund geklaubt hat. »Darauf hättest du auch selbst kommen können, langer Holländer!«, brummte William.

    Aber Magnus war noch nicht fertig. Der Schollenherr sprach plötzlich bitter, seine Gelassenheit war verflogen wie eine Rauchfahne im Wind. »Fremde Herren, die uns gängeln und Geld kosten werden!« Magnus legte sein Schneideeisen auf den Tisch und langte nach dem rheinischen Pokal. Seine Frau warf ihm einen warmen Blick zu, der Harlinger fing ihn auf und zog ihre Hand an die Lippen. »Sie kommen mit Soldaten. Mit vielen. Das müssen sie, um hier, bei uns in Ostfriesland, das Übel an der Wurzel zu packen. Kriegsvolk will essen und hausen. Sie werden uns zur Last werden, so viel ist sicher.«

    William beugte sich vor. »Täusche ich mich, oder weckt dieser Mist dein Interesse an der Politik?«, fragte der Dominikaner listig.

    Magnus schüttelte den Kopf, wenn auch nur leicht. »Ich sehe vor allem den Schaden als Handelsherr.«

    Und während der Mönch, der mit feinem Ohr zugehört hatte, sich noch über die Wortwahl des Harlingers wunderte, die Einschränkung vor allem hatte er wohl registriert, polterte der lange Holländer los. »Verdammt noch mal, Magnus, ich verstehe, was du sagen willst, aber dem Hintern ist es schließlich gleich, welcher Fuß den Stiefel trägt, der ihn tritt, etwa nicht? Und alles Klagen nützt nicht viel. Entweder wir kämpfen oder wir fügen uns!«

    Danach herrschte eine Weile Stille in der Stube, Adriaan­ wartete, während der Hausherr traurig lächelte, als wüsste er keine Antwort auf den Anwurf des Langen. Er griff nach seinem Messer, das Heft war aus feinem Silber, seine Tomma hatte es ihm zur Heirat geschenkt. Als Magnus tom Diek schließlich den Kopf hob, waren seine Augen scharf und klar, doch der Lange kam ihm zuvor. »Nie wieder, hast du gesagt, wird ein tom Diek für den Brokmannen zum Eisen greifen. Für den Brokmannen. Gut, sage ich. Aber was ist mit dem Schwert gegen ihn? Und seinesgleichen?«

    »Alle auf einmal?«, warf der Mönch spöttisch ein.

    Magnus lächelte knapp. »Für wen? Zu welchem Zweck?«

    Der Holländer grinst zurück, er sah aus wie ein Wolf, der zuschnappen will. »Für deinen Sohn. Und sein selbstbestimmtes Leben!«

    »Mein Sohn ist kein Sklave!«

    Der Lange nickte friedlich, aber seine Stimme war hart. »Noch nicht!«, sagte Adriaan und schielte auf die Nachspeise. Es gab zu Rahm geschlagene Milch, von Honig gesüßt und mit Waldbeeren bestreut. Die Früchte waren getrocknet, sie stammten aus dem Vorjahr, aber das tat dem Schmausen keinen Abbruch. Auch der Hausherr schien weiter nichts sagen zu wollen, er hielt wacker mit, ebenso der Mönch, und dann, in das Schlemmen und Schnaufen hinein, platzte die Herrin mit ihrer Neuigkeit.

    In Marienhafe hatte es einen bösen Zwischenfall gegeben. Seit die Freibeuter mit dem Segen des Brokmannen in der Kirche hausten, war der Pfarrer dort nicht mehr geduldet. Den Verschlag hinter dem Altar hatte er räumen müssen, er hauste nun in einer zugigen Bretterbude auf dem Friedhof. Seinen Esel nutzten die Waffenknechte als Lasttier für Wasser und anderen Proviant. Nun hatte sich der Priester, es war ein Benediktiner aus dem Kloster­ Sielmönken, gegen die Schikanen erhoben. War vor den Störtebeker getreten und hatte ihm sein Brustkreuz gegen die Nase gehalten. Hatte seinen Verschlag in der Kirche zurückgefordert, und verlangt, dass ihm der Esel wieder zur Verfügung stünde. Schließlich müsse er in die Gemeinde, zu seinen Schafen. Und dann hätten ihn die Knechte unter Gegröle und Gelächter auf den Turm der Kirche geschleppt und von dort in die Tiefe geworfen. An seinen Knochen sei nichts mehr heil, er liege auf den Tod.

    Die Freunde sahen sich schweigend an. Mit finsterer Miene schob Adriaan den Napf mit der Nachspeise von sich. »Es ist alles verwachst. Verratzt und verschissen!«, sagte der Lange dumpf. Diesmal widersprach ihm niemand, selbst Tomma nicht, obwohl ihre Augenbrauen hoch in die Stirn gerutscht waren.

    Wie die Frucht des Bodens hat auch die menschliche Tat einen Lebenskreislauf. Ihr erster Atemzug ist die Idee,

    sie gleicht dem Saatkorn, das der Bauer in die Erde legt. Dort ruht sie, neugierigen Blicken verborgen,

    keimt und sprießt.

    Ihr wahres Gesicht zeigt sich erst über Blüte und Reife,

    und mit dem Einfahren der Ernte

    stirbt ihre Wirkung keineswegs.

    Das gilt im Guten wie im Bösen,

    im Kleinen und im Großen.

    Erster Akt (Protasis)

    Aussaat

    Juli 1396 bis September 1398

    1.

    Und die Erde war wüst und leer,

    und es war finster auf der Tiefe.

    1. Buch Mose; 306221.png Bereschit /Genesis 1/2

    Bremen,

    am Tage des heiligen Christophorus, Anno Domini 1396 (Mittwoch, 24. Juli)

    Die Brücke an der Schlachte war bis auf die Stützen noch immer aus Holz, sie war noch immer zu eng und sie würde eines schönen Tages, bemerkte der Lange bissig, unter der Last von Krämern, Bauern und Stadtvolk zusammenbrechen. »Der Zugang zu irgendeinem Kaff am letzten Arsch der Christenheit könnte nicht erbärmlicher sein!«

    »Obacht, langer Holländer!«, warnte Bruder William, »der christliche Erdkreis ist vollkommen, es gibt daran keinen Teil, wie du ihn beschreibst.« Der Mönch lüftete seinen kindlichen Hintern im Sattel und setzte sich zurecht. »Zudem bist du unlogisch. Denn wenn es einen letzten Arsch gäbe, wo auch immer, dann müsste es ja auch einen vorletzten geben, und wo wäre denn der?«

    »In Oldenburg?«, schlug Magnus tom Diek spöttisch vor, aber Adriaan tat so, als hätte er die anderen nicht gehört. »Nehmen Akzise für jeden Dreck, und wo bleiben sie mit dem ganzen Silber?«

    »Man braucht es für Roben und Pfründe«, gab der Mönch lächelnd zurück, doch der Lange knurrte nur. Es klang wie bei einem Hund, dem man den Knochen nehmen will.

    Sie saßen auf ihren Pferden, noch am diesseitigen Ufer des Flusses, und sahen sich das Treiben an. Heute war die Brücke ähnlich bevölkert wie an Markttagen, aber sie ächzte unter einer anderen Last. Denn der Monsignore Giovanni di Medici, ein Gesandter des Papstes in Rom, hielt Einzug in die Stadt. Über seine Mission waren ihm wilde Gerüchte vorausgeflogen, sie hatten sogar Ostfriesland erreicht und verhießen nichts Gutes. Der Papst habe zu einem neuen Kreuzzug aufgerufen, so hörte man, diesmal gehe es gegen die Osmanen, die sich seit der Schlacht auf dem Amselfeld anno 89 ebenso schamlos wie bedrohlich ausbreiteten. Bulgarien gehöre ihnen schon ganz, und sie rückten weiter vor. Es würden auch in den Städten und auf dem Land Truppen ausgehoben, und den Bauern nehme man zudem jedes dritte Stück Vieh, aber das sei erst der Anfang.

    »Wir werden gerupft im Namen des Herrn, schon wieder!«, so hatten Sachsen und Friesen geklagt, »warum geht er nicht an den Rhein, wo die reichen Pfeffersäcke sind!«

    »Ja, was glaubt ihr denn? Da war er schon, und jetzt zuzelt er bei uns!«, antwortete man ihnen.

    Später hatte sich herausgestellt, dass der Monsignore di Medici ›nur‹ Silber sammelte, Geld, er nannte es den Türkenzehnten, und der diente angeblich der Aufstellung eines christlichen Heeres zum Schutz der päpstlichen Residenzen. »Wie? Was heißt denn das: ›nur‹?«, heulte das Volk darauf. »Und was ist da, wo die Pfennige fehlen?«

    Denn die Kette war ja klar. Der Prälat des Papstes Bonifatius IX. schlug sich nicht etwa mit dem kleinen Landvolk herum oder mit dem Gesindel aus den Gassen der Vorstadt, nein, er nahm von dort, wo es am leichtesten zu heben war, nämlich bei den Gilden und Magistraten. Dann bei jenen, die sich großmäulig als Häuptlinge bezeichneten, als landesherrliche Vorleute, und diesen geschah recht, schließlich bei den reichen Großbauern, um die es auch nicht schade war. Aber was fügte sich dann? Alle zuvor Genannten hielten sich ihrerseits schadlos. Sie nahmen, was sie zu geben hatten, wieder von denen, die ihnen zugehörig oder untertan waren. Jedenfalls, die Leute in den Städten zermarterten sich die Schädel und tüftelten an Plänen, und die ostfriesischen Bauern bereiteten sich darauf vor, ihr Vieh in die Hudewälder zu treiben. Es würde, wenn der Tag käme, nicht viel nutzen. Die Vögte der tom Brok, der Ukena und ihresgleichen kannten die Bestände. Gebt euch keine Mühe, Jannes, Wiard­ und Menso, ich weiß genau, wie viele Säue ihr habt!

    Der Lange hatte sofort in eine andere Kerbe geschlagen. Nicht, weil ihn das Problem juckte, sondern nur, um den Mönch zu reizen. »Was heißt denn hier päpstliche Residenzen?«, hatte Adriaan gestichelt, »welche denn, die in Rom oder in Avignon?«, aber William hatte darauf geschwiegen wie das Orakel von Delphi. Der Mönch litt unter dem Schisma wie ein Hund, und jetzt saß er auf seinem Gaul und spähte mit schmalen Augen auf die Schlachtebrücke. Als Dominikaner von der britischen Insel hatte Bruder William seine Schwierigkeiten mit dem Amtsklerus.

    Was er hier sah, würde sein Unbehagen nicht verringern. Der Zug des Monsignore di Medici wurde von einer Reiterstaffel angeführt, die mindestens dreißig Pferde zählte. Die Herren in den Sätteln waren herausgeputzt, als ginge es zu einer Audienz in den Lateran. Dahinter folgte eine starke Fußtruppe mit Hörnern und Posaunen, die mit klingendem Spiel einem Planwagen vorausmarschierten, auf dessen ledernem Dach das Siegel des Bischofs von Rom prangte. Trotz der Wärme waren die Vorhänge geschlossen, aber hinter ihnen musste der päpstliche Bote hocken, wahrscheinlich auf einem Teil seines unterdessen gesammelten Schatzes. Und der war wohl erheblich, denn den Abschluss bildete eine halbe Hundertschaft schwer bewaffneter Panzerreiter, deren letzte Reihe einen wuchtigen Trosswagen zog.

    »Dieser Auftritt vermittelt nicht eben den Eindruck von Bedürftigkeit«, stellte Magnus tom Diek trocken fest, und schob dann gleich nach: »aber das soll er wohl auch nicht.«

    »Du sagst es, Schollenherr!«, antwortete der Mönch. »Es ist wie stets ein Ritt auf dem Schermesser. Der Papst fordert Hilfe und zeigt zugleich, was es zu erhalten gilt.«

    Der Lange fuhr so scharf dazwischen, dass sein Brauner nervös zu tänzeln begann. »So? Was ist denn zu erhalten? Päpstlicher Pomp oder der Bestand der Christenheit?«

    William brachte es fertig, friedlich und zugleich warnend zu lächeln. »Ach, mein guter Adriaan. Ich bin wohl kaum verdächtig, derlei zu rechtfertigen. Aber man kann in diesen Zeiten nicht ohne Bedeckung reisen, wenn man auf Kisten mit Silber sitzt.«

    »Aha. Auch nicht ohne Musik?«, ätzte der Lange gallig zurück, und das Lächeln des Dominikaners vertiefte sich, aber er schwieg.

    Der Harlinger folgte dem Disput ohne äußere Regung. Seine Gedanken kreisten um die Frage, was ihn, Magnus tom Diek, dieses Unternehmen wohl kosten würde. Und wer seinen Beitrag erhob. Käme der Monsignore nach Esens oder würde Widzelt tom Brok seinen Handmann in Marsch setzen, bedeckt durch einen Trupp dieser fremden Waffenknechte? Tauchte Widzelt am Ende sogar selbst auf? Was würde der Brokmanne fordern, und wie viel davon würde er sich unter seinen eigenen Nagel reißen? Magnus sah all das gelassen. Eine Forderung zu stellen und sie durchzusetzen war zweierlei. Dem kleinen Bauern sein Vieh zu nehmen, war schon nicht leicht, er fand Mittel und Wege, den Schaden zu begrenzen. Gleich gar der weitfahrende Handelsherr. Und die Macht des Brokmannen in Harlingen war noch ungefestigt, der hatte genug damit zu tun, in Aurich und zu Hause, im Brokmerland, die Stricke in der Hand zu halten.

    Der lange Holländer wies auf die päpstliche Abordnung. »Wird dich wohl auch ein paar Pferde kosten, Schollenherr!«, nahm Adriaan den Faden wieder auf, ganz so, als habe er die Gedanken des Harlingers erraten, und Magnus nickte stumm. Das Brückentor stand schon offen, und die Spitze der Herrenreiter war bereits im Torhaus verschwunden, als der Zug plötzlich stockte und dann auf der ächzenden Brücke ganz zum Stehen kam. »Oha!«, machte der Lange, und die Harlinger stellten sich in die Steigbügel und reckten ihre Hälse. Dann gerieten die Vorhänge des Plaustrums in Bewegung, eine weiße Hand schob sich nach draußen, und für einen Augenblick erschien der Kopf des Monsignore, um zu schauen, was es denn da für eine Störung gäbe. Das war der Moment, in dem der Mann an der Brücke auftauchte, ein Bote aus der Stadt. Er trug einen braunen Habit, und die Harlinger sahen, dass es ein Mönch war, wohl ein Abgesandter des Erzbischofs von Bremen.

    Der Mann ging an den Musikanten vorbei auf das Plaustrum zu, verhielt am Spalt zwischen den Vorhängen, bekreuzigte sich kurz und deutete einen Kniefall an. Richtete sich auf, und dann sahen ihn die Harlinger auf die Lücke einreden. Die Musik spielte noch, als sich plötzlich das Tuch weiter teilte und der Monsignore auftauchte. Dann hörte man einen hellen, zornigen Schrei, der Gesandte di Medici hatte ihn wohl ausgestoßen, die Musikanten brachen ab, es trat Stille ein, und man verstand, was der Monsignore schrie. »Zurück! Wenden! Es gibt keine Audienz! Der Erzbischof empfängt uns nicht!«

    »Noch nicht, Eure Eminenz!«, hörten sie den Kuttenträger hastig widersprechen, »noch nicht, der Erzbischof ist krank, er liegt schon des längeren, es ist der Darmfluss²!«

    »Oha!«, machte der Lange zum zweiten Mal, aber Magnus hob den Arm, und auf der Brücke ging es schon weiter.

    »Darmfluss? Ist er nicht der rote, dann ist es keine Seuche. Also was kümmert mich seine Scheißerei, sein Geld will ich. Sein Geld, verstehst du das?!«, brüllte di Medici aus vollem Hals, und dann: »Wenden!«, warf den Vorhang zu, sie hörten ihn dahinter noch brüllen und toben, während sich nun vorne das Fähnlein der Herrenreiter wieder in Bewegung setzte. Die Spitze wusste es offenbar besser, man ging gleichwohl in die Stadt, auf die Bequemlichkeit der erzbischöflichen Residenz mochte nach der langen Reise niemand verzichten. Die Musik setzte ein, das Gespann des Plaustrums zog an, und die Panzerreiter ermunterten ihre Pferde. Die Männer sahen dem Zug nach, bis er im Torhaus verschwunden war.

    »Aha!«, knurrte der Lange in kaltem Spott, »hier beißt er also auch schon auf Steine, oder wie?«

    »Gemach, Adriaan!«, versetzte der Dominikaner, »er wird sich das Maul schon füllen.« William sprach nicht unfreundlich, aber in seiner Stimme schwang ein Ton, der die anderen aufhorchen ließ, und Magnus warf dem Mönch einen prüfenden Blick zu.

    Dann nickte der Lange. »Du hast recht. Ansonsten jagt ihn sein Herr mit dem Prügel durch den Lateran!«

    Dazu sagte William nichts, aber seine Mundwinkel kerbten sich ein. Ihr Disput auf der Tenne in Esens kam Magnus wieder in den Sinn. Sie hatten über die Vorbereitung ihrer Reise nach Bremen gesprochen. Über die Einzelheiten hatte Magnus geschwiegen, aber so viel war klar: Der Harlinger wollte ein wichtiges Geschäft abschließen, bei Gaufridus Fabri dem Jüngeren, der dem Vater als Herr des gleichnamigen Geldhauses nachgefolgt war. Der alte Fabri hatte um den Christtag Anno 94 seine scharfen Vogelaugen für immer geschlossen. Der Sohn führte nun das Haus, aber er tat es wie der Alte, nüchtern und spröde, mit der kalten Präzision eines Falken, der auf seine Beute herabstößt, jeder Handel mit diesem Mann war wohl zu bedenken. Magnus tom Diek wollte deshalb den Mönch dabei haben, wie es schon sein Vater Enno zu tun pflegte, es machte sich immer gut, wenn bei den Verhandlungen ein Gottesmann gegenwärtig war, aber der Dominikaner hatte sich gesperrt. War mit allerlei Ausflüchten dahergekommen, hatte von seinem Alter und über seine schlechten Reitkünste gesprochen, und schließlich hatte er die Katze aus dem Sack gelassen. Und hatte dabei fast schroff geklungen.

    »Bei diesem Geschäft will ich dir nicht dienen, Schollenherr«, hatte William spröde geäußert, »weil ich genau weiß, wohin dein Silber schließlich geht.«

    Magnus hatte ihm gerade in die Augen gesehen. »Aha. Gut. Und wohin geht es?«

    »Wohin wohl? In die Kriegskasse der Bremer. Und schließlich in die des Papstes in Rom. Damit aber tust du kein Gotteswerk!«, hatte der Mönch anklagend geantwortet.

    William war wohl nicht recht im Gleichgewicht, denn noch vor wenigen Tagen hatte er die Soldaten der Bremer gelobt; sie trügen dazu bei, das Seeräubergesindel vor den Küsten kurzzuhalten, stutzten damit gewissen Leuten in Ostfriesland die Flügel, und das sei gut. Aber der lange Holländer hatte ihm daraus keinen Vorhalt gemacht, sondern hatte ihm einen seiner Bärenarme über die Schulter gelegt und trocken bemerkt: »Wenn man so dächte, dann dürfte man heutzutage überhaupt keinen Handel mehr treiben!«

    Darauf hatte der Dominikaner heftig genickt und erwidert, er danke Gott dafür, dass er kein Kaufherr sei. Magnus aber war der Hinweis auf die Kriegskasse des Papstes im Sinn geblieben. Stellte der Mönch die Mission des Monsignore di Medici in Frage? Bezweifelte er ihr christliches Ziel? Er hatte nochmals nachgehakt. »Heißt du es nicht gut, wenn Papst Bonifatius das Abendland gegen die Osmanen schützt?«

    Der Mönch hatte mit schmalen Lippen gelächelt. »Natürlich heiße ich alles gut, was die Christenheit schützt. Aber von einer Kirche geleistet, Schollenherr, verstehst du das? Von einer vereinigten! Dieses Geld, das nun in die Schatulle von Bonifatius fließt, wird im Zweifel die Spaltung vertiefen!«

    »Als wenn das am Silber läge!«, hatte darauf der Lange recht unnötig und stichelnd eingeworfen, und Avignon stehe es doch wohl frei, ebenfalls einen Türkenzehnten zu erheben.

    Hier hatte ihn William angesehen wie ein Vater sein schwachsinniges Kind. »So! Und mit welcher Begründung? Wo stehen denn die Osmanen? Auf dem Balkan oder vor Paris?«

    »Indem Bonifatius gegen die Osmanen rüstet, schützt er Avignon, ob er es nun will oder nicht, es ist eine natürliche Folge seiner Politik«, hatte Magnus schließlich in großer Ruhe zu bedenken gegeben, und dann geschlossen: »Aber ich kann dich beruhigen, William, bei diesem Geschäft wird unser Geld nicht fließen. Kein einziger Pfennig Silber. Zum Gegenteil. Es wird am Ende Bremer Geld kosten, und das nicht wenig.«

    »Hach! Politik? Ich denke, du handelst mit Fabri? Wie kommt die Stadt ins Spiel?«, hatte der Lange neugierig nachgestoßen.

    Aber der Harlinger hatte knapp »Wart’s ab!« geantwortet und sich dann lächelnd in Schweigen gehüllt. So war das gewesen, und jetzt hockten sie auf ihren Pferden und spähten auf die Brücke, auch der Mönch linste eifrig. Er war überhaupt nur mitgereist, weil ihn die Herrin darum gebeten hatte.

    Tomma tom Diek hatte großen Einfluss in Esens, nicht nur auf das Gesinde. Sie hielt die Fäden mit leichter Hand, fast unmerklich, und doch war es oft ihr Zupfen, das die Dinge in Bewegung setzte. Tomma führte mit kleinen Gesten oder milden Worten, mit einem Lächeln oder einer sanften, kaum sichtbaren Stirnfalte, ihre kleine Hand, auf einen Oberarm gelegt, hatte mehr Kraft als der Anzug eines vollen Gespanns. Tommas Missbilligung schmerzte ebenso stark, wie ihr Lob anspornte. »Geh mit nach Bremen!«, hatte sie William gebeten, »und gib Acht, dass die beiden nicht unter das Gassenvolk kommen!«

    »Das Gesocks aus der Vorstadt wird sich vor Angst in die Schuhe machen!«, hatte Adriaan spöttisch gekontert, dann angefügt: »Also noch ein Fresser. Was das wieder kostet!«, und gewiehert auf die gleiche Art, wie es der Riesengaul unter seinem knochigen Hintern gelegentlich tat, es klang eher nach Raubvogelgeschrei als nach Pferd.

    Unterdessen hatten die Torposten die Absperrung beseitigt, das Volk strömte auf die Brücke und die Harlinger ermunterten ihre Pferde mit den Sporen. Magnus zahlte den Brückenzoll und sie ritten durch das Torhaus. Die Schildwache war für den hohen Besuch wohl verstärkt worden, ein Trupp formierte sich soeben für den Abmarsch, so gab es erneut Gedränge und die Beutelschneider hatten Arbeit. Die Harlinger auf ihren Pferden waren sicher, aber unten auf der Gasse tasteten die Leute nach ihren Geldkatzen und Brustbeuteln. Nur allmählich löste sich die Menge auf, das Gewühl lichtete sich und aus dem Viertel der Abdecker schlug ihnen der übliche scharfe Gestank entgegen. Nur ein Teil der Kadaver wurde vergraben, vieles warf man noch immer in den Fluss und Magnus schob sich sein Halstuch über Mund und Nase. Stadteinwärts hörte man jetzt die Musikanten des päpstlichen Gesandten spielen, die Kapelle intonierte das Benedictus, es schien so, als sei man doch guter Hoffnung, in Bremen einen gehörigen Schnitt zu machen.

    Die Männer folgten der Musik in Richtung auf den großen Markt. Zwar wurde der Weg jetzt breiter, die Häuser wichen zurück, doch nun drängte sich gaffendes Volk, um den Zug des päpstlichen Gesandten zu bestaunen. Bremen war eine Metropole mit unglaublichen fünfzehntausend Einwohnern, aber ein solches Schauspiel gab es nicht alle Tage. Aus einer Seitengasse schob sich ein Ochsengespann in die Menge, der Bauer fluchte und prügelte seine Zugtiere, es ging gleichwohl recht zögerlich voran, und am Zunfthaus der Stellmacher und Böttcher bog Magnus ab und hielt auf eine Taverne zu. Ein umlaufendes Reetdach bot ausreichenden Schatten und die Harlinger saßen ab. Zwei riesige Wolfshunde lagen dösend vor der Regentonne. Es gab sonst nur einen Gast, vielleicht ein Bauer oder Viehzüchter aus dem Umland, er hockte in der Ecke neben dem Durchgang zum Schuppen für das Feuerholz und linste griesgrämig in seinen Napf. Sein Hornlöffel lag daneben, er hatte ihn wohl noch nicht angerührt. Ein Geruch von feuchtem Stroh und allerlei Kochdünsten stieg den Harlingern in die Nasen.

    Mit einem Mal war im Haus keifendes Schreien und Gezeter, dann stürzte ein schwarzhaariger Bursche ins Freie, dahinter eine Dirne mit offenem Mieder und roter Schärpe um die Hüfte, und ihr folgte der Wirt mit einem armdicken Prügel in der Faust. »Weg! Aus meinen Augen, verdammte Sauzucht! Und lasst euch nie wieder blicken!« Derlei schien öfter vorzukommen, denn die beiden Wolfshunde blieben, wo sie waren, kaum, dass sie die Augen öffneten.

    »Ärger?«, fragte der Lange mit süffisantem Grinsen, und der Wirt glotzte ihn aus roten Augen an.

    »Es ist immer der gleiche Dreck! Sie wollen ihre Hintern unter meinem Dach aneinander reiben, aber zahlen wollen sie dafür nicht. Sollen sie sich auf ihre Dorfmiste legen. Sehe ich aus wie ein Armenhaus?« Dann sah er den Mönch und sein Mund klappte zu wie ein Fischmaul.

    »Ach so!«, sagte der lange Holländer träge, »und ich dachte schon, es ist wegen des Gesandten. Du willst seinetwegen eine saubere Wirtschaft!«

    Der Wirt warf ihm einen scharfen Blick zu, schüttelte den Kopf und verschwand, bevor sie ordern konnten. Aber bald erschien eine junge Magd und Magnus bat um einen Imbiss. Frisch fertig war Lauchgemüse mit Fleisch vom Kapaun, dazu gab es Roggenbrot und dunkles Bier. Sie setzen sich an einen groben Tisch und begannen ihr Mahl. Das Brot war altbacken und steinhart, der Lauch schwamm in einer viel zu scharf gewürzten Brühe und das Fleisch musste man suchen, es waren nur wenige Fasern in den Näpfen. »Wenn er für alles Geld will, was tut er dann damit?«, murrte diesmal Bruder William, der gerne gut aß, und Magnus hob belustigt die Brauen.

    »Was wohl? Er steckt es in seinen Eisenkasten!«, gab Adriaan trocken zurück. Einzig das Bier schmeckte hervorragend, es war kühl und frisch gezapft.

    Der Wirt streckte den Kopf durch die Tür und fragte, ob alles recht sei. Eine Weile antwortete niemand, dann hob der Kerl neben dem Holzschuppen seinen Napf. »Wenn du das deinen Gästen gibst, womit fütterst du deine Viecher? Mit Entenkacke?«

    Der Wirt lief rot an, seine Fäuste ballten sich und nun hoben die Hunde ihre Köpfe. »Was willst du? Habe ich dich gerufen? Also, dann schleich dich und leck mich!«, und der andere stand auf und feuerte seinen Napf quer über den Platz, mit dem Brotkanten verfehlte er den Hausherrn nur knapp, und das war der Moment, in dem sich die Hunde aufsetzten und anschlugen. Beiden Tieren fehlte ein Vorderbein, das sahen die Harlinger jetzt. Die Verstümmelungen waren auffällig, sie glichen sich nahezu vollständig. Der Fremde griff seinen Sack und trollte sich, während die Wolfshunde hinter ihm her lärmten, als ginge die Welt unter. Der Wirt rief die Tiere nicht zur Ordnung, sondern verschwand wieder im Haus. Dann tauchte die Magd auf, brachte mehr Bier und frisches Brot. Einen Topf mit Lauchgemüse stellte sie ebenfalls auf den Tisch, aber niemand rührte ihn an. Als sie allein waren, hob Magnus tom Diek den Kopf, aber der Lange kam ihm zuvor.

    »Schön, wieder in Bremen zu sein«, sagte Adriaan bissig, »es geht doch nichts über die gepflegte Gastlichkeit einer großen Stadt.«

    Der Mönch mümmelte schmollend an seinem Brot, den Napf mit dem Lauch hatte er in einer harschen Bewegung von sich geschoben. »Ich wusste schon, warum ich nicht mit wollte!«, bemerkte Bruder William trocken, und Magnus hob die Hand.

    »Wartet, Freunde. Wir sind nicht hier, um die Vorzüge der Bremer Küche zu prüfen.«

    Der Lange grinste schräg. »Aha. Sondern? Um Geschäfte zu machen. Welche Geschäfte? Solche, die den Säckel der Stadt füllen und die unser englischer Freund hier in seiner schwarzen Kutte nicht mag. Aber du sagtest doch, dass dieser Handel uns keinen Pfennig Silber kosten wird, die Bremer aber wohl. Also, was ist nun damit?« Der Lange tat wie aufgedreht, doch der Konter des Mönchs ließ nicht lange auf sich warten.

    »Wer selber redet, erfährt nichts!«, sagte William mit feinem Lächeln, schielte in den Napf und fischte sich eine dünne Fleischfaser vom Kapaun heraus.

    Magnus tom Diek blieb ernst. Er blickte sich forschend um. Sie waren nun die einzigen Gäste. Hinter der Flechtwand zum Haus war es ruhig, weder vom Wirt noch von seiner Magd war etwas zu sehen, und das war gut, denn der Harlinger wollte keine Lauscher. Die beiden Hunde mit ihren verstümmelten Vorderbeinen dösten im Schatten neben der Eingangstür. Magnus’ Augen kamen zurück und heftete sich auf seine Freunde. »Hört zu. Wir gehen zwar zu Gaufridus Fabri, aber der ist nur mein Kontaktmann. Ihr wisst, dass der Erzbischof von Bremen regelmäßig Pferde bei mir kauft. Und sie dann eine ganze Zeit bei mir lässt, weil in seinen Ställen kein Platz ist.« Der Lange lauschte mit gesenktem Kopf, Williams Augen forschten unter gefurchter Stirn. Magnus nahm einen tiefen Schluck Bier und setzte sich zurecht.

    »Ich werde dem Erzbischof von Bremen also folgenden Handel vorschlagen: Er soll die Weide zur Pacht nehmen, auf der seine Tiere bei mir stehen. Zusätzlich wird ihm freier Zugang eingeräumt. Der Vertrag soll auf zehn Jahre bemessen sein. Danach kann er von beiden Seiten beendet werden, aber nur ich kann ihn verlängern.«

    Jetzt herrschte tiefes Schweigen, der lange Holländer wiegte nachdenklich seinen wuchtigen Schädel, und William hatte plötzlich winzige Schweißperlen auf der Stirn.

    »Das willst du dem jüngeren Fabri vorschlagen?«

    Magnus nickte. »Ja. Ihm, und er soll es dem Erzbischof sagen.«

    »Dann hast du fremde Rechte auf eigener Scholle!«, bemerkte der Lange mürrisch, »derlei hat es in der Geschichte der tom Diek noch nicht gegeben!«

    Der Harlinger sah ihn voller Zuneigung an. »Derlei hatten mein Vater und mein Vatersvater auch nicht nötig. Die Zeiten haben sich geändert, Adriaan.«

    »Wer wüsste das nicht, Schollenherr. Aber was willst du damit bewirken?«, fragte der Lange hitzig und Bruder William lehnte sich zurück, auf seinem Kindergesicht stand nun ein wissendes Lächeln. Einer der Hunde linste zu ihnen herüber, die harsche Stimme des Holländers hatte ihn wohl aufgeweckt, die Magd tauchte auf und brachte weiteres Brot und Bier. Sie warteten, bis das Mädchen im Haus verschwunden war, dann nickte Magnus tom Diek freundlich.

    »Ich muss dir das nicht sagen, Adriaan, denn du weißt es. Widzelt tom Brok streckt seine Hände auch nach Harlingen aus. Seine Sippe will wachsen, und wenn sie kann auch auf unsere Kosten.« An dieser Stelle spie der lange Holländer verächtlich auf den Boden. »Mit diesem Vertrag schiebe ich dem Brokmannen einen Riegel vor sein Spiel.«

    Jetzt richtete der Mönch sich auf, als wollte er zu einer längeren Replik ausholen, aber dann kamen nur wenige Worte über seine Lippen. »Genial!«, sagte William. »Denn damit wird der Erzbischof von Bremen Partei in Harlingen. Wenn Widzelt sich an unserer Scholle vergreift, dann hat er diesen Mann zum Feind.«

    »Du hast nicht zugehört, Mönch!«, fuhr ihn der Lange giftig an. »Er muss nicht unser Land nehmen, er reicht schon, wenn er den Zugang sperrt. Aber ob uns das wirklich frommt, bleibt abzuwarten!« Das letzte galt wieder dem Schollenherrn, doch der sagte nichts dazu. Der Wirt tauchte auf, um die Zeche zu holen, und der lange Adriaan war noch immer geladen. »Was tust du mit deinen Hunden, Mann?«, fauchte er, aber der andere funkelte zurück.

    »Sie sind noch halb wild und streunten viel, und das habe ich ihnen abgewöhnt!«, knurrte der Wirt und warf dann hinterher: »Für die Schenke reicht es trotzdem!« Der Lange grunzte verächtlich, Magnus warf ein kleines Stück Geld auf den Tisch und die Freunde saßen auf.

    *

    Der Besuch bei Gaufridus Fabri dem Jüngeren verlief in einer seltsam frostigen und gereizten Stimmung, die sich nie recht entspannen konnte, obwohl er doch einem Ziel diente, von dem alle ihre Vorteile hatten. Denn auf diese Weise fasste der Erzbischof von Bremen endlich Fuß in Ostfriesland, wenn auch nur durch den Harlinger geduldet, und die tom Diek hatten einen mächtigen Partner im Rücken, sollte Widzelt tom Brok tatsächlich nach Esens marschieren und dort Ansprüche an Grund und Boden geltend machen. Trotzdem, es schien von Beginn an so, als fühlten sich beide Seiten nicht wohl bei der Sache, als fürchtete jeder, er werde in diesem Handel nicht auf seine Kosten kommen. Als hätte der Casus seine giftigen Stachel und Haken, die erst im Verlauf der Zeit sichtbar und schmerzen würden. Also zu spät. Dabei tat der Bremer Makler so, als ginge es um sein persönliches Geld und Wohl, während er doch in Wahrheit nur als Vermittler für Otto II. von Braunschweig-Lüneburg tätig war. Anders als seine Vorgänger auf dem Stuhl des Erzbischofs von Bremen war sich Otto II. zu fein für ein direktes Gespräch mit einem Händler aus der ostfriesischen Provinz, und mochte es selbst der solvente Harlinger sein. Der Kirchenfürst hatte Gaufridus als Filter, das wohl, auch als eine Art Schutzmauer gegen unwillkommene Ansprüche, aber mehr nicht, und der Makler stellte sich an wie ein Abt, dem auf der Kirchweih die Geldkatze geschnitten worden ist. Sie waren also nicht weit vom Eklat, den der Harlinger nur mit kalter Besonnenheit und einiger Mühe abwenden konnte.

    Gaufridus bewohnte das wuchtige Haus seines Vaters im Herzen der Stadt, es war groß und prächtig und ganz aus Bruchsteinen gebaut. Sogar im Sockel war nicht ein einziger Feldkiesel zu finden, und die Holzbalken am Eingangstor schimmerten in gediegenem Glanz. In der weiträumigen Halle plätscherte noch immer der Brunnen, den schon der Vater des Harlingers bewundert hatte. Das Wasser kam über ein Schöpfrad aus der Schlachte, es wurde über Röhren und Kanäle ins Haus getragen. Die Wasserstelle war mehr als beeindruckend, aber noch immer die einzige ihrer Art, obwohl die Pläne des alten Fabri für weitere in der Stadt seit Jahren in den Kontoren lagen. Die Bremer Kaufleute rechneten noch.

    Gaufridus Fabri der Jüngere rechnete auch, obwohl es noch nichts zu rechnen gab, denn der Harlinger hatte noch kein Wort darüber verloren, wie viel Silber sein Plan den Erzbischof von Bremen kosten sollte. Zu rechnen lag in der Natur Fabris, nahezu ständig schien er Zahlen im Kopf zu bewegen, Gewinne zu kalkulieren, Vorteile und Risiken zu prüfen und es ging das Gerücht, er trage sogar am Nachtmantel einen Gürtel mit seiner Geldkatze. Das konnte stimmen oder mochte Gerede sein. Aber wie sein Vater war der Sohn ein eisenharter Mann, im Geschäft unbarmherzig, stets auf seinen besten Nutzen bedacht, zu keiner Nachgiebigkeit bereit, mit Augen kalt und leblos und schon in jungen Jahren mit Vogelklauen, den Krallen eines Raben.

    »Was kostet uns Euer Vorschlag wirklich, doch nur den Krieg mit dem Brokmannen«, sagte Gaufridus spröde, und der Lange entließ ein Schnauben durch seine große Nase, er klang wie sein Riesengaul, wenn dem das Futter nicht behagte. Magnus tom Diek schwieg lange, sein Blick wanderte durch die Halle. Er kannte den Raum von ihrem Besuch bei dem alten Fabri im Frühsommer anno 1380, als sein Vater Enno tom Diek bei dem Bremer Geldhändler um ein Darlehen einkam. Damals war es um fünfzig Mark Bremer Silber gegangen, eine Summe, die Enno dringend zur Deckung einer Schuldlücke brauchte. Das war lange her. Heute kam Magnus nicht als Bittsteller, er hatte ein Angebot. Nicht an Fabri, sondern an den Erzbischof von Bremen, und dessen Geld würde es schließlich kosten.

    Magnus’ Blick streifte die edlen Hölzer, er musterte die kostbaren Kandelaber an den Wänden, die mit armdicken Kerzen bestückt waren, blieb endlich auf den polierten Silberschilden hängen, die das Kerzenlicht auf wunderbare Weise zurückwarfen, dann kamen seine Augen zurück. »Uns?«, fragte der Harlinger, er sprach ohne Spott, und der andere verstand ihn sofort.

    Gaufridus linste ärgerlich aus seinen Vogelaugen. »Ich genieße das Vertrauen des Erzbischofs in besonderem Maße und denke nicht daran, es zu verspielen. Auch wenn das Silber schließlich aus Ottos Schatulle kommt – wie viel übrigens? –, wenn ich ihn schlecht berate, liegt der Schaden schließlich auch bei mir.«

    »Ich denke an fünfzig Mark Bremer Silber per Anno«, gab der Harlinger knapp zurück, und Gaufridus schnappte zu wie der Hecht nach der Fliege.

    »Fünfzig Mark? Ihr seid ja nicht bei Trost, Herr!« Fabri kam sogar auf die Füße und eilte zu seinem Sekretarius am Schreibpult, ganz so, als wolle er den Mann züchtigen. Beugte sich dort über das Pergament unter des Schreibers Händen und las. Denn der Sekretarius führte Protokoll, das war üblich im Hause Fabri, wenn es um Geschäftsgespräche ging.

    »Dafür erhält er drei Grasen Land meines eigenen Grundes für seine Pferde und zu jeder Zeit freien Zugang«, fuhr Magnus ungerührt fort, als hätte der Bremer nicht gesprochen.

    »Fünfzig Mark für drei Grasen Land!«, wiederholte Fabri störrisch und schlug dem Sekretarius auf die Hand, weil er ein Wort nicht lesen konnte.

    »Mit freiem Wegerecht, festgelegt auf zehn Jahre!«, ergänzte der Lange frech, als wollte er sagen, das ist ja nun ein großzügiges Angebot, und Gaufridus funkelte ihn an. Er hatte es deutlich gesagt, es passte ihm nicht, dass Adriaan und der Mönch bei dem Gespräch anwesend waren, aber Magnus hatte sich durchgesetzt. Der lange Holländer sei sein Handmann und der Mönch der Hauskaplan der Familie tom Diek, sie begleiteten ihn bei jedem Handel und hätten das Recht zur Rede.

    Der Bremer Geldmakler kam zu ihnen herüber, setzte sich und griff nach der Wasserkaraffe. Sie war aus rheinischem Glas, reich verziert mit einem Henkel aus schwerem Silber und musste sündhaftes Geld gekostet haben. »Fünfzig Mark!«, sagte Fabri zum dritten Mal, und seine Stimme war voller Vorwurf. »Kein Land auf der Welt kostet so viel!«

    »Dieses schon!«, versetzte der Mönch trocken. »Sein Wert bemisst sich nicht nach der Menge an Quadratfuß, wisst Ihr, sondern an seinem politischen Gewicht. Denn damit gewinnt Euer Herr Grund in Harlingen, wenn auch nur als Pächter.«

    »So ist es!«, betonte Adriaan mit warnendem Beiklang. »Es gibt keinen Anspruch an dieses Land über die Pacht hinaus!«

    Magnus tom Diek hatte schweigend zugehört, auf seinen Lippen stand ein kleines Lächeln. Wie scharf hatte der Lange in der Schenke seinen Vorschlag beurteilt, und wie vorbehaltlos verteidigte er ihn jetzt, fast so, als wären es seine Gedanken, die hier disputiert würden. Und während Magnus über das Gottesgeschenk der Treue nachsann, musterte er den Bremer. Fabri hatte sich gefangen. Er war jetzt wieder der nüchterne Rechner, der scharfe Kalkulierer, einer, der den Preis seiner Ware kennt und entschlossen ist, sie wenn möglich auch teurer zu verkaufen. Der Sekretarius kratzte mit seiner Feder über das Pergament, und Gaufridus sah zu ihm hinüber, es schien, als spräche er zu dem Mann am Pult. »Niemand hat Euch gerufen«, stellte Fabri mit spröder Stimme fest. Er wandte den Kopf und fixierte den Harlinger. »Da Ihr gleichwohl gekommen seid, ist es wohl an der Zeit, über Euren Nutzen zu reden.«

    »Fünfzig Mark Silber«, sagte Magnus tom Diek freundlich, »und eine gedeihliche Verbindung mit dem Erzbischof von Bremen.«

    Der andere hob die Brauen, seine Vogelaugen spähten wie auf ein gestelltes Stück Wild. »Gedeihlich? Für wen? Eure drei Grasen Land ziehen meinen Herrn doch ohne Verzug in einen Krieg mit diesem Bankert.« Es war klar: Er meinte Widzelt tom Brok, denn in Bremen wusste man, dass der Brokmanne seine gierigen Hände nach allem ausstreckte, was er fassen konnte, auch nach Harlingen.

    »Was ängstigt Euch daran?«, fragte der Mönch mit Engelsstimme. »Es wäre doch der Kampf eines hohen Kirchenmannes gegen einen niederen Sünder.«

    Gaufridus Fabri behielt den Harlinger im Blick, ganz so, als sei der Einwand von ihm gekommen. »Es wäre vor allem der Krieg eines Fürsten gegen einen Bauern«, widersprach der Bremer kalt, »also groß gegen klein. Der Große verliert, wenn er nicht gewinnt, und der Kleine gewinnt, wenn er nicht verliert, das solltet Ihr wissen. Und Erzbischof Otto hat einen Ruf zu wahren!«

    Diese Art von Befindlichkeit war Magnus tom Diek neu. Schließlich wäre Otto II. nicht der erste hohe Herr, sei er nun Graf oder Kirchenfürst, der sich in Friesland eine blutige Nase holt und danach seinen üblichen Geschäften nachgeht. Aber der Bremer sah wohl das Ende der Diskussion gekommen, denn nun setzte ein zähes Feilschen ein, das bis zur Dämmerung dauerte. Nach dem Angelusgeläut erschien ein Diener mit Speisen auf einem Servierbrett, doch Fabri fauchte ihn so hart an, dass dem Mann vor Schreck das Blut aus dem Gesicht wich. »Jetzt nicht! Du kommst, wenn ich dich rufe!« Sie einigten sich schließlich auf fünfundvierzig Mark Bremer Silber per Anno, und der Geldhändler erzwang freies Futter für die Pferde, sollten sie in den Herbst hinein auf der Weide stehen müssen. Dann fertigte der Sekretarius zwei Vorverträge, die Magnus tom Diek nach Fabri paraphierte. Er werde das Anliegen beim Erzbischof vorbringen, sagte der Bremer mit kühler Stimme, aber wie der entscheide, sei offen. »Gewiss ist nichts«, schloss Fabri und die Harlinger erhoben sich von ihren Sitzen. In der Vorhalle wartete der Diener mit den Speisen. Sie bedienten sich alle im Stehen, der Lange sogar reichlich.

    2) Durchfall

    2.

    Da machte Gott der HERR den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen.

    1. Buch Mose; 306380.png / Bereschit /Genesis 2/7

    Aurich,

    in der Burg der tom Brok, zwei Tage nach dem Fest Mariae Assumptio, Anno Domini 1396 (Donnerstag,17. August)

    »Frag das Weib, das dich geboren hat!«, sagte Widzelt tom Brok grob, und der junge Mann funkelte den Älteren an. Im Gegensatz zu diesem kannte Keno seine Mutter, denn über Widzelts konnte man nur spekulieren. Eine Schankmagd aus dem Brokmannischen sollte es gewesen sein, vielleicht eine Tomma, gewiss war nur der Vater, Ocko tom Brok, der es mit der ehelichen Treue nicht genau genommen hatte, wie so viele Herren in diesen Zeiten. Immerhin war Ocko ihrer beider Zeuger, wenn auch mit unterschiedlichen Frauen, deren eine, diese Tomma, wohl recht drall und kurzbeinig gewesen sein musste und Widzelt ihr Aussehen mitgegeben hatte, vielleicht aus Rache, denn es hielt sich das Gerücht, der Brokmanne habe sie im Rausch und gegen ihren Willen genommen.

    Kenos Mutter dagegen war Ockos vor Gott angetrautes Weib Folckeldis, in jungen Jahren schlank und schön im Wuchs und mit edlen Zügen, aber mit dem Hang zu keifen und härter als ein Eichenklotz, der einen Mond im Moorwasser gelegen hatte. Keno hatte neben ihrer Gestalt auch die kühne Nase geerbt und ihre hellblauen Augen, und der junge Mann wusste mit letzteren zu funkeln wie ein Meerkristall in der Mittagssonne. So auch jetzt. »Ich kann sie nicht fragen, sie war im nördlichen Eckturm der Burg, als unser Vater erschlagen wurde, ebenso wie ich selbst. Aber wo warst du?«

    »Ich war dort, wo unser Vater uns beide hingestellt hatte. Auf Wache im Torhaus!«, gab Widzelt heftig zurück und wuchtete seinen massigen Körper in die Höhe. »Ich habe dort meine Pflicht getan, verstehst du das, im Gegensatz zu dir. Dich hat die Dame weggeholt, als es brenzlig wurde, sie hat dich mir immer vorgezogen.«

    Keno tom Brok musterte den anderen aus schmalen Augen. Er selbst war noch sehr jung gewesen, gerade sieben Jahre alt, damals, anno 89, als ihr Vater sich im Krieg befunden hatte mit jenem Volkmar Allena, der heute der Verbündete des Halbbruders war. Sie hatten sich mit ihren Heerhaufen gegenübergestanden, der Brokmanne mit seiner Burg im Rücken, aber der Osterhusener Folkmar Allena mit einer Brikole und einer ansehnlichen Schaar Freibeuter auf seiner Seite, alles kampferfahrene Männer, denen die Truppe des Brokmannen, mehrheitlich Bauern und ihre Söhne aus dem Auricherland, deutlich unterlegen war. Das anschließende Gefecht ging wie erwartet verloren, und Ocko hatte sich mit ein paar Leuten in die rettende Burg geflüchtet. Widzelt war dabei gewesen, Guy, der normannische Leibwächter, ein weiterer Gefolgsmann und Enno tom Diek, der Harlinger, den seine Schulden bei Ocko zur Heerfolge verpflichtet hatte. Wenig später hatte der Beschuss der Burg mit der Brikole begonnen, Tag und Nacht war er gegangen, mit wummernden Schlägen gegen Tor und Mauern, und hatte an den Nerven gezerrt.

    Den Gefolgsmann hatte Ocko um Verstärkung nach Aurich geschickt, aber der hatte sich abfangen lassen wie ein grüner Gimpel, und der Entsatz war ausgeblieben. Da waren sie nur noch sechs gewesen in der Burg, er selbst, Keno, mit seiner Mutter im nördlichen Eckturm, der Vater mit seinem Leibwächter, der Harlinger Enno tom Diek und eben der Halbbruder, Widzelt. Und dann hatte der Beschuss plötzlich aufgehört, und sie hatten den Eckturm verlassen und die Toten gefunden, den Vater ohne Kopf und mit zerschmettertem Brustkorb, den Harlinger mit gespaltenem Schädel und Guy mit einer Schwertwunde im Rücken, die offensichtlich tödlich gewesen war. Nur Widzelt lebte noch, aber er hatte geschwiegen wie das Grab, hatte angeblich nichts gesehen, nichts gewusst und deshalb nichts gesagt. Dabei war die Rechnung einfach, und ein Blinder konnte alles sehen. Wenn der Harlinger den Vater erschlagen hatte, was Keno für recht plausibel hielt, und Guy darauf den Harlinger, wer hatte dann dem Leibwächter das Kreuz geöffnet? Doch nur der Halbbruder, wer sonst? Und heimtückisch war es dann wohl geschehen, von hinten, denn der Normanne war ein gefürchteter Schwertkämpfer gewesen, einer, den man im offenen Gefecht kaum besiegen konnte, schon gar kein Widzelt tom Brok, so viel stand fest.

    Also hielt Keno tom Brok seinen Halbbruder für einen Meuchelmörder. Und folglich war seine Frage nicht nur falsch formuliert, sondern auch unvollständig, denn sie musste

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