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Fehlalarm!: Die Panikmacher der Null-Risiko-Gesellschaft
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eBook363 Seiten4 Stunden

Fehlalarm!: Die Panikmacher der Null-Risiko-Gesellschaft

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Über dieses E-Book

Mit spitzer Feder geißelt der Autor in diesem Buch die systematische Panikmache in unserer Gesellschaft und die Praktiken der berufsmäßig "Besorgten", die uns eine Null-Risiko-Gesellschaft vorgaukeln wollen. Eine solche aber kann und wird es nie geben.Angst hat man nicht, Angst wird einem gemacht. Wie, von wem und wozu, das steht in diesem Buch.
SpracheDeutsch
HerausgeberSeifert Verlag
Erscheinungsdatum10. Aug. 2020
ISBN9783904123433
Fehlalarm!: Die Panikmacher der Null-Risiko-Gesellschaft

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    Buchvorschau

    Fehlalarm! - Leopold Stummer

    gehetzt.

    1

    Einleitung, ­Verständnishilfe und allgemeine ­Beschreibung der Problematik

    In den entwickelten Gesellschaften westlichen Typs lebt heute die überwiegende Anzahl der Menschen länger, gesünder und in besseren materiellen Verhältnissen als jemals zuvor. Diese Aussage kann so von den meisten Menschen nicht ohne weiteres anerkannt werden. Die Frage: »Warum geht es gerade mir so schlecht, obwohl es doch allen so gut geht?« ¹, verlangt nach einer individuellen und überzeugenden Antwort.

    Perfektes Glücksgefühl ist nicht auf Dauer zu erzielen, wahrscheinlich nicht einmal durch eine Elektrode im Gehirn, die permanent das Lustzentrum reizt. Im Tierversuch ² hat sich erwiesen, dass derart »beglückte« Tiere auf Nahrungsaufnahme, Trinken, soziale Interaktion (z. B. Sex), etc. völlig vergessen – es handelt sich also eigentlich um die ultimative Droge.

    In der Realität gilt aber das Gegenteil: Immer passt irgendetwas nicht. ³ Und da man sich selbst nur ungern als zimperlich, mimosenhaft oder verweichlicht sehen will, muss die Misere, die uns plagt, außerhalb unseres Selbst und auch einigermaßen beeindruckend sein.

    In alter Zeit waren die Erklärungsmodelle fürs Unwohlsein relativ einfach. In jeder Mythologie gibt es dafür einen Haufen Götter, deren Spektrum an Merkmalen von »zu schrägen Scherzen geneigt« bis »typischerweise bösartig« reicht. Besonders die letztgenannte Sorte durch Showdarbietungen, Opfer, Immobilien, Tempelprostituierte, etc. etc. ruhig zu halten, war die Aufgabe von Priestern. Ihr Marketingargument lautet: »… gib uns einen Anteil von deinen Gütern (z. B. 10% von allem), und wir sorgen absolut zuverlässig (!) dafür, dass Gott die Sonne morgen wieder aufgehen lässt.« Dies erweist sich bis heute als bequeme und sichere Einkommensquelle. Außerdem beruhigte die Priesterschaft, sie würde sich für einen geringfügigen Aufpreis persönlich um gesteigerte Fruchtbarkeit von Vieh und Weibern kümmern.

    Der noch immer sehr weit verbreitete Gott Jahve ben ­Sinai ist dafür ein gutes Beispiel. Insgesamt sind in der Bibel über tausend Gewaltakte von Gott gegen Menschen verzeichnet worden, im Vergleich dazu nur ca. 600 von Mensch gegen Mensch. [1] Obwohl er als Monotheistengott natürlich alles immer selber machen musste, sind die einschlägigen Berichte voll von Naturkatastrophen, kollektiven und individuellen Racheakten, verordneten Massakern, Genoziden und überaus schrägen ⁴ Anordnungen.

    Zusätzlich gab es früher tatsächlich viele echte Desaster: Kriege, Seuchen, Hungersnöte, Massenspinnereien wie Hexenjagden, Kreuzzüge o. Ä., mangelnde Rechtssicherheit, … ja, sogar echte, leibhaftige Wölfe (Canis lupus). In Zeiten, da ein Schluck Wasser, eine kleine Verletzung oder ein loses Wort zu einem (von Gottes Gnaden) Höhergestellten leicht tödliche Folgen haben konnte, war eine Begründung für subjektives Unwohlsein wohl nicht sehr schwer zu finden.

    Aufklärung, bürgerliche Revolution, säkulares Weltbild, Aufstieg der Naturwissenschaften – alle diese »Neuerungen«, obwohl vielfach bis heute heftig bekämpft, führten langsam (sehr, sehr langsam!) zu einer Änderung der Verhältnisse. Es begann vielen Menschen besser zu gehen, zumindest in jenen Regionen, in denen die genannten Einflüsse auch tatsächlich wirksam wurden. Natürlich galt es, noch einige von Gottes Gnaden stammende Fragen zu klären, einige Ideen wurden missverstanden, viele Widerstände mussten (und müssen noch) überwunden werden, aber im Großen und Ganzen rührte sich doch ein bisschen was. Die Menschen wurden (an diesen Orten) gesünder, besser genährt, relativ weniger oft in Kriegen vernichtet, und darum auch älter.

    Zufriedenheit oder womöglich sogar Glücksgefühle treten zwar immer wieder auf, sind aber leider meist von kurzer Dauer. Schließlich wird man auch nach einem köstlichen Essen wieder hungrig, nach einem noch so ruhigen Schlaf wieder müde, nach einem besonders befriedigenden sexuellen Erlebnis wieder … usw. Es bleibt nicht! Und das scheint auch noch naturgesetzlich zu sein. Wie bei allen unvermeidbaren unangenehmen Wahrheiten – z. B. der Gewissheit der eigenen Sterblichkeit – setzen Ablenkungs- und Verdrängungsmechanismen ein, die uns vor der ungeliebten Wirklichkeit zwar nur scheinbar bewahren, diese aber zumindest verdaulicher machen.

    Begreiflicherweise ist dort, wo sich ein Markt entwickelt – in unserem Fall der Bereich rund um das psychische Bedürfnis nach eingebildetem Schutz vor aufgebauschten Gefahren – ist die Versuchung groß, diesen Markt auch zu bedienen. Wenn man ein Wirtschaftsvolumen betrachtet, das von Esoterik (allgemeine, individuelle Lebensangst) über Religion (zuzüglich Sekten), privatem und öffentlichem Sicherheitsapparat, bis hin zu weltraumgestützten Überwachungsgeräten und dem gesamten militärisch-industriellen Komplex reicht, dann kann man wohl sagen, dass wir uns unsere Ängste etwas kosten lassen. Dieses Potential nicht auszuschöpfen wäre für jeden unternehmerisch gesinnten Geschäftsmann ⁶ geradezu unverzeihlich.

    Über die individuelle Psyche hinaus existiert aber auch ein sozusagen naturgegebenes öffentliches Interesse an permanenter Panik. Ein anschauliches historisches Beispiel für diese These sind die »Pestregimina« des 14. und 15. Jahrhunderts. Die wiederkehrenden Pestepidemien waren bei einer geschätzten Sterblichkeit von 30–50% ganz sicher keine eingebildete oder übertriebene Bedrohung. Vermutlich hätte eine moderne technisierte Zivilisation wie die unsere kaum bessere Aussichten, eine Katastrophe dieser Dimension zu absorbieren, als die Gesellschaft des Spätmittelalters

    Von den verschiedenen »Experten« wurden Miasmen, Sternenkonstellationen, Ketzer, Juden, Sündhaftigkeit oder ganz allgemein der Zorn Gottes als Ursache der Seuche identifiziert. Empirisch hat sich mit der Zeit dann trotzdem erwiesen, dass bestimmte Maßnahmen einen gewissen – wenn auch geringen – Schutz bieten können. Solche Vorkehrungen wurden zunächst von oberitalienischen Städten angewandt und ständig verbessert (d. i. verschärft).

    Obwohl von vielen der »Experten« abgelehnt, wurden umfassende Verhaltensregeln gegen die drohende Pest, wie beispielsweise die rigorose Kontrolle von Personen- und Warenverkehr, durch die (zu Recht) verängstigte Bevölkerung als sinnvoll akzeptiert, vielerorts rundheraus gefordert, gelegentlich sogar befolgt. Allerdings wurden dann später auch eben diese massiven Eingriffe in vorher private Lebensbereiche häufig als unangenehm, unangemessen und unzumutbar empfunden.

    Neben der Beliebtheit des Prinzips »… die Regeln sollen nur für die anderen gelten, aber nicht für mich …« bemerkten viele, besonders die »einfachen« Menschen, dass die ursprünglich erwünschte obrigkeitliche Fürsorge ein wenig über das Ziel hinausgeschossen und kaum wieder abzuschütteln war. Gesundheitsbehörden waren gegründet worden und erhielten umfassende Befugnisse, oft zu Lasten der schon vorher etablierten Obrigkeit (die davon natürlich auch keineswegs begeistert war). Gewerbe und Handel wurden reglementiert und kontrolliert, Todesfälle registriert, Leichenschauen durchgeführt, Pässe ausgestellt, Quarantänen verhängt, etc. – und das alles natürlich auf Kosten der Betroffenen. »Auf Kosten« ist hier auch durchaus wörtlich zu nehmen, da die umfassenden Kontrollmaßnahmen und der wachsende bürokratische Apparat mit empfindlichen Sondersteuern finanziert wurden.

    Manche Historiker sehen in diesen bürokratischen Maßnahmen eine Keimzelle des Zentralismus der Neuzeit. »Von Geburt bis zum Tode begann der Staat nun, viele Aspekte des Alltagslebens zu inspizieren, zu verzeichnen und zu kontrollieren. Nicht die Pest wurde kontrolliert, sondern die Gesellschaft; die Sorge um die Gesundheit wurde zur Ausrede für Ordnungsmaßnahmen. Das Staatswesen (das die Bedürfnisse der Spitze befriedigte) musste erhalten werden – nicht etwa das einzelne Individuum, auch wenn es zu tausenden zu Grunde ging« [2]. Klarerweise wurden Bürokratie, Behörden, Einschränkungen, Kontrollen und all die anderen Maßnahmen keineswegs abgeschafft, wenn die Pest erst einmal erloschen war. Erfahrungsgemäß werden Kontrollmechanismen eben immer nur ergänzt, nie jedoch freiwillig verringert. Zeitgenössische Analogien, z. B. zu Terrorangst und »homeland security«, sind leicht erkennbar.

    Noch ein Faktor kann als allgemeines Merkmal einer Massenneurose gelten. Lang tradiertes falsches »Wissen« erweist sich als ungeheuer zählebig. Die biblische Schöpfungsgeschichte, Homöopathie, »Schwingungen«, Astrologie, Area 51, Atlantis und noch hunderte andere Absurditäten beweisen, dass die auf Tatsachen begründete Vernunft bei einer erstaunlich großen Zahl von Menschen ohne Wirkung bleibt. Dem jeweiligen Aberglauben widersprechende Forschungsergebnisse werden ignoriert oder als von finster-korrupten Gegnern ⁷ verbreitete Lügen diskreditiert. Dass die Wurzeln des betreffenden Wahns oft Jahrhunderte oder Jahrtausende alt und durch nichts bewiesen (oder beweisbar) sind, gilt den »wahren Gläubigen« sogar als Qualitätsmerkmal – auch wenn sie ihren eigenen Blinddarm dann doch nicht mit traditionellen assyrischen Naturheilmethoden ⁸ behandeln lassen wollen.

    Es scheint so, als sei jede These, sobald sie einmal von einer ausreichend großen Zahl von Mitmenschen für wahr gehalten wird, sowohl unwiderlegbar als auch unsterblich. Glücklicherweise ist es nicht ganz so schlimm, allerdings dauert es mitunter sehr lange, bis sich die bessere Erkenntnis durchsetzt – es erfordert viel Mühe von den Verkündern der Wahrheit, und es bleibt immer ein Rest an völlig unbelehrbaren Stur- bzw. Schwachköpfen. Letzteren sollte man großflächig ausweichen, sie sind keine angenehmen Gesprächspartner.

    Eine Gesellschaft in Angst neigt nicht nur zur Irrationalität, sondern ist vor allem leichter zu beherrschen. Individualität, Rationalität, Ökonomie, Bürgerrechte usw. werden der versprochenen oder vermeintlichen Sicherheit gerne geopfert. Möglicher Erklärungsbedarf für einen obrigkeitlichen Eingriff kann mit dem Hinweis auf die Sicherheitslage zuverlässig befriedigt werden. Es besteht also, abgesehen von den kommerziellen Interessen kleiner Gruppen, wie Sicherheitsindustrie, Medien, usw., auch ein übergeordnetes politisches Interesse daran, die Angst niemals schwinden zu lassen. Die (propagierte) allgemeine Bedrohung ändert gelegentlich ihr (vermeintliches) Aussehen, es darf aber nie der öffentliche Eindruck entstehen, sie sei plötzlich gar nicht mehr da, weil sich die Menschen sonst womöglich dem Nächstliegenden zuwenden würden; vielleicht sogar der Frage: »Ich hab das nicht bestellt, wieso soll ich dann dafür bezahlen?

    Augenscheinlich besteht also ein individuell-psychologisches, ein gruppenspezifisch-kommerzielles und ein allgemein-gesellschaftspolitisches Bedürfnis nach Panik.

    Immer wieder tauchte in verschiedenen Epochen und unterschiedlichen Krisen die tröstliche Devise auf: »… esst, trinkt und vergnügt euch, denn wahrscheinlich werden wir morgen alle sterben!« ⁹ – So aufbauend diese Maxime in vielen Situationen auch sein mag, setzen wir hier zeitgemäß dagegen: »… esst, trinkt und vergnügt euch, denn wahrscheinlich werden wir auch morgen essen, trinken und uns vergnügen«. – Mit ein bisschen Glück, und wenn wir uns den Spaß nicht vermiesen lassen.

    2

    Exkurs – Zwei ­Geschichten von dem Jungen, der ­immer »Wolf! Wolf!« rief

    Zur Illustration der Panikmacher-Problematik soll eine alte Geschichte dienen. Die ursprüngliche Erzählung des griechischen Dichters Aesop (620–560 v. Chr.) ist vielleicht vielen vertraut:

    Es war einmal ein Junge, der sich langweilte. Offenbar war in der »guten alten« Zeit der legalen Kinderarbeit – der Junge war Schäfer von Beruf – Langeweile bei Jugendlichen schon bekannt, sogar ohne Spielkonsolen, Kabel-TV und Internet. Um seine idyllisch-pastorale Tätigkeit etwas abwechslungsreicher zu gestalten, alarmierte besagter Junge die Bewohner seines Dorfes wegen eines (fiktiven) Angriffs von Wölfen auf die Schafherde, die seiner Obhut anvertraut war. (Ganz offensichtlich litt der Junge unter einem Defizit an Aufmerksamkeit und Anerkennung durch seine Mitmenschen, vermutlich die Schuld seiner Eltern.) Das Dorfkollektiv, besorgt um die kommunalen Ressourcen und deren ökonomische Nutzbarkeit, rüstete sich mit »geeigneten Maßnahmen« und stürmte engagiert dem drohenden Desaster entgegen.

    Anstatt aber freudige Erleichterung darüber zu empfinden, dass die drohende Gefahr ohne schlimmere Folgen als Atemlosigkeit, Schweißausbrüche und Erschöpfungssymptome abgewendet werden konnte, murrten die Bürger über den gelungenen Test ihrer Einsatzbereitschaft. Ja, manche von ihnen bedachten unseren Jüngling mit zornigen Worten oder bedrohten ihn gar mit Schlägen! (Ja, ja, es war wirklich eine wilde, barbarische Zeit!)

    Wenig später – wir wissen nicht, ob wegen abermals eingetretener Langeweile oder um die Effizienz des Alarm­einsatzes der Bürger durch Wiederholung des Manövers »Wolfswehr« ¹ zu verbessern – rief der Bursche abermals »Wolf! Wolf!«, und von Neuem starteten die Bürger ihren (humanitären, friedenssichernden) Rettungseinsatz. Wiederum wurde keinem Tier ein Haar gekrümmt, und wiederum ließen es die Dorfbewohner (obwohl zum Teil selbst Schafeigentümer) an Verständnis und Empathie gegenüber unserem jungen Schäfer mangeln. Vielmehr machten einige von ihnen – wir erinnern uns, es handelt sich um griechische Landbevölkerung um ca. 600 v. Chr. – Anstalten, ihre bereits geäußerten Versprechungen bezüglich etwa zu verabreichender Prügel in die Tat umzusetzen.

    Usw. usw. – in einer Verfilmung würden jetzt einige Blätter eines Abreißkalenders im Winde davonfliegen …

    Nun, eines Tages, im flirrenden Licht der Mittagssonne, unhörbar durch den Lärm der Zikaden und die friedvollen Schalmeienklänge ² unseres Hirten, erscheint: der Wolf!

    Der Junge schreit auftragsmäßig aus Leibeskräften. Er versucht, die lethargische Öffentlichkeit aufzurütteln, um unverzüglich zweckdienliche, solidarisch-kollektive Abwehrmaßnahmen zu organisieren. Der Wolf jedoch kommt seiner natürlichen Bestimmung nach, verhält sich artgemäß, folgt seinem Instinkt und reißt ein Schaf.

    Da bekommt es der Junge mit der Angst zu tun. Würde er seinen ruhigen Job als Hirte verlieren, so müsste er sich womöglich wesentlich anstrengenderen Tätigkeiten widmen. Zwar könnte die durch das verschwundene Schaf entstandene Verbindlichkeit gegenüber dem Schafseigentümer durch seinen eigenen Verkaufspreis als Sklave abgedeckt werden, die Sklaverei ist schließlich auch ein krisensicherer Job und immer noch besser als gar nichts; … aber trotzdem!

    Die Verzweiflung des Jungen war beträchtlich. Aber wieso war das bisher so zuverlässige und dank seiner früheren Probealarme auch ausreichend trainierte Hilfskontingent an hochgerüsteten und -motivierten Dorfbewohnern ausgeblieben? Bittere Vorwürfe über die nachlässig-ignorante Haltung der Landbevölkerung kamen über seine Lippen, als er den Hügel zum Dorf hinauflief. Die Bürger aber sagten: »Warum hast du denn schon früher ›Wolf! Wolf!‹ gerufen, als noch weit und breit keiner zu finden war? Wir haben unsere Motivation inzwischen längst verloren, weil wir uns wie Idioten vorgekommen sind. Außerdem war unsere Aufmerksamkeit durch ein Übermaß an Ablenkungen – Symposien, Satyrspiele, Tragödien und ganz besonders von den soeben eingetroffenen Berichten von den olympischen Spiele – erlahmt.«

    Das Dorfoberhaupt, ein alter weiser Mann, meinte schließlich zu dem Jüngling: »Nimm es nicht tragisch, wir werden dir kein Leid zufügen. Merke dir aber – wer einmal lügt, dem glaubt man nicht! Ruf nur dann um Hilfe, wenn diese auch wirklich notwendig ist. Die Menschen werden sonst nicht mehr auf dich hören, dir keine Hilfe bringen und dich für einen Wichtigtuer und Lügner halten.«

    So ähnlich ³ sprach der alte und überaus weise Dorfvorsteher. Allerdings hat Aesop die wahre Geschichte aus didaktisch-/propagandistischen Gründen für seine Erzählung abgeändert. Offenbar wollte er seine Ruhe finden und das dauernde »Wolf! Wolf!«-Geschrei abstellen. Die ursprüngliche Geschichte ging nämlich so:

    … Als der Junge in begreiflicher Erregung ins Dorf gelaufen kam, nachdem der Wolf tatsächlich (!) ein Schaf gerissen hatte, nahm ihn der (in Wirklichkeit etwas weniger alte & weise) Dorfvorsteher beiseite und sprach:

    »Ich danke dir, dass du uns auf die intolerable Bedrohung durch die Wölfe aufmerksam gemacht hast. Diese ungeheure Gefahr ist von meinem unfähigen Vorgänger sträflichst vernachlässigt worden. Ich werde sofort einen Ausschuss der Dorfwichtigsten einberufen und mit ihnen Wolfabwehrmaßnahmen beschließen.« Und er eilte davon, um unverzüglich die Tagesordnung für die Sitzungen des Planungskomitees auszuarbeiten.

    Der tiefere Grund für diesen unüblichen Eifer war, dass der Dorfvorsteher sein karges Gehalt ziemlich regelmäßig durch Zugriff auf die dörflichen Vorratslager zu ergänzen pflegte, eine Gewohnheit, die bei manchen Bewohnern schon zu kritischem Stirnrunzeln geführt hatte. Einige stellten offen die Frage, ob so ein Dorfvorsteher heutzutage überhaupt nötig sei, und selbst wenn – ob dieser spezielle denn auch der richtige für dieses Amt sei? Auch hatte er erst in der vorangegangenen Nacht großen Gefallen an der überaus jungen Tochter eines angesehenen Dorfindustriellen (und Schafbesitzers) gefunden. Es schien ihm deshalb dringend notwendig, den Dorfbewohnern seine nimmermüde, oft zu Unrecht kritisierte und dem Dorf aber stets zum Vorteil gereichende Tätigkeit zu »kommunizieren«.

    Die Klatschweiber (des einen, des anderen und beiderlei Geschlechts) stürzten sich sofort auf unseren armen Jungen. »Was ging dir durch den Kopf, als du den Wolf sahst? Wann hast du deine Mutter zuletzt besucht? Glaubst du, dass der Dorfvorsteher genug gegen Wölfe unternimmt? Wie sehr liebst du eigentlich dein ›Lieblingsschaf‹? – Und war es gerade dieses, das der Wolf geholt hat? Hast du den Wolf womöglich durch dein Verhalten provoziert oder hast du vielleicht immer schon etwas gegen Wölfe gehabt? Von welchem Schneider stammt dein Faltenröckchen? Wirst du deine Geschichte im Amphitheater aufführen lassen? – Und wer soll die Regie übernehmen?« So fragten sie durcheinander, bis der Junge vor lauter Verwirrung nur mehr blöde grinsen konnte und alle weiteren Auskünfte von einem rasch herbeigeeilten, erfahrenen »Freund« gegeben werden mussten.

    Bei dieser Gelegenheit wurde natürlich auch vielfach bemerkt, wie sportlich, gut aussehend und gebräunt der Körper des jungen Schäfers war, der nun unter anderem auch schon selbst überlegte, ob er mit seinen Schalmeienklängen nicht eine Konzerttournee durch die Nachbardörfer machen sollte – jetzt, wo er doch endlich prominent war.

    Vor die mittlerweile auf der Agora versammelte große Menschenmenge traten nun auch gemessenen Schrittes die Experten – Leute also, die schon selbst einmal von einem Wolf gehört oder sich über einen solchen Gedanken gemacht hatten, oder aber solche, die zwar keine Ahnung hatten, was ein Wolf überhaupt ist, aber ein dringendes Bedürfnis fühlten, den zahlreich versammelten Leuten eine Rede zu halten und ihnen zu erklären, was denn das eigentliche Problem bei der Sache sei.

    Alle waren sehr zufrieden, dass ihr zuvor überaus langweiliges Leben im idyllischen griechischen Bergdorf um 600 v. Chr. plötzlich so interessant, ja geradezu aufregend geworden war. Einige regten sich auch wirklich sehr heftig auf, aber da erschien der Dorfrat und verkündete, zur Erleichterung (fast) aller, die soeben beschlossenen »Sofortmaßnahmen«:

    Die vier bereits vorhandenen Dorftrottel wurden unverzüglich zu Wolfssicherheitskräften ausgebildet, auf Gott Pan ⁴ vereidigt und zu einer Anti-Wolf-Einsatztruppe zusammengestellt. Weitere Dorftrottel aus der Umgebung würden in Kürze zur Verstärkung angeworben werden. Der Zimmermann des Dorfes freute sich insgeheim sehr, denn das Angebot, das er selbst im Dorfrat gemacht hatte, nämlich hohe, mehrfache Zäune und Wachtürme rund um die Schafsweide zu errichten, war ohne das sonst ortsübliche Feilschen sofort angenommen worden. (Er war deshalb sogar bereit, über die seiner Tochter vom Dorfvorsteher in der vergangenen Nacht angetane Schmach zu schweigen.)

    Ein etwas sonderbarer Dorfbewohner, dessen sonstige Aktivitäten oft belächelt oder sogar offen verspottet worden waren, versprach unter großem Applaus der Anwesenden, sich unverzüglich an die Entwicklung eines neuartigen »Wolf-B-Gone®«-Sprays zu machen, der, sobald er einmal fertig wäre, wirklich alle (!) ihrer Probleme lösen würde.

    Natürlich wurden die angekündigten Sofortmaßnahmen auch unverzüglich umgesetzt. Die Schafe mussten sich jetzt, bevor sie die Weide betreten durften, genauestens von den »Sicherheitskräften« auf Wolfsspuren durchsuchen lassen. Besonders streng wurde darauf geachtet, dass keine »Wölfe im Schafspelz« ⁵ durch die Kontrollen kommen konnten. (In Ermangelung von Röntgenanlagen wurden die Tiere von zwei Bewachern einfach gegen die Sonne gehalten). Alle Gegenstände, ganz besonders das störende Fell (unter dem ja ein Wolf hätte versteckt sein können), mussten sicherheitshalber von den Schafen abgelegt werden. Die Schafe mussten sich deshalb vor dem Betreten der Weide jedes Mal gemäß den geltenden Sicherheitsvorschriften frisch scheren lassen, eine Maßnahme, die von dem Pressesprecher des Dachverbandes der Schafscherer mit »endlich fällig« kommentiert wurde.

    Patrouillen und Beobachter auf den Wachtürmen bemerkten jede kleinste Unregelmäßigkeit in der Umgebung und verzeichneten diese sofort. (Da die ehemaligen Dorftrottel ja nicht besonders gut schreiben konnten, ritzten sie Zeichen in ihre hölzernen Sitzbänke – von da her stammt der Ausdruck »Datenbank«.)

    Missliebige Dorfbewohner, die aus anderen, weiter zurückliegenden Gründen schon hinreichend verdächtig waren, wurden häufig der Lykantophilie beschuldigt. Entsprechend motivierte anständige und einfache Leute, zusammen mit den inzwischen überaus zahlreichen Sicherheitskräften, besuchten gelegentlich solche Bewohner in ihren Hütten, wo sie die Möbel und das sonstige Inventar zerschlugen, um möglicher Kooperation oder auch nur Duldung von Wölfen in deren Behausungen entgegenzuwirken. Begründet wurde diese Maßnahme damit, dass den Wölfen jede Gelegenheit zum Verstecken genommen werden sollte und die potentiellen Lykantophilen somit vor sich selbst geschützt, überzeugt, befriedet und befreit werden würden.

    Bald musste jeder, der ein öffentliches Amt im Dorf innehaben wollte (und wer wollte das nicht, in wirtschaftlich schweren Zeiten?), einen Eid ⁶ ablegen, dass er niemals, weder zu früherer Zeit noch hinkünftig, Sympathie, Duldung, Toleranz, Billigung o. Ä. gegenüber Wölfen und wolfsähnlichen Individuen oder Organisationen hatte oder haben würde. Besonders wichtig war das Ablegen dieses Eides für Schauspieler wegen deren Vorbildwirkung für die Dorfjugend. Sämtliche verfügbaren Epen und anderen Schriftwerke wurden auf vermeintlich wolfsfreundliche Passagen durchsucht und entsprechend korrigiert. ⁷

    Es ergaben sich natürlich auch einige unbedeutende Anfangsschwierigkeiten. Der Schäferjunge war nach dem Abebben seiner Popularität entlassen worden, weil er nicht die für Sicherheitskräfte notwendige »innere Einstellung« nachweisen konnte. Die Rechnungen des Zimmermanns für Sicherheitsanlagen, der Unterhalt der vielen Wächter und besonders die mit den zahlreichen Koordinierungs- und Expertentreffen verbundenen Spesen führten dazu, dass die Schafherde nach und nach, ein Tier nach dem anderen, verkauft werden musste. Die danach eingetretene kurzfristige Finanzierungskrise wurde nach eingehender Beratung des Dorfrats durch eine Wein- & Olivensolidarabgabe gelöst. Schließlich war es ja auch gerechterweise nicht einzusehen, warum nur die (inzwischen Ex-)Schafzüchter Opfer für die Abwehr der grausamen Bedrohung zu bringen hätten.

    Einige dieser Ex-Schafzüchter – darunter besonders der Zimmermann – maulten, wozu die Sicherheitsmaßnahmen überhaupt noch gut seien, wo es doch gar keine Schafe mehr gäbe. Diesen unqualifizierten Kritikern wurde entgegengehalten, dass »der (allerdings nicht einzige) Preis der Freiheit ständige Wachsamkeit sei«, »man ja nie wissen« könne, und »außergewöhnliche Zeiten auch außergewöhnliche Maßnahmen erfordern« würden. Außerdem hatte der Zimmermann sich bekanntlich ohnedies schamlos an den überhöhten Preisen seiner Zäune und Wachtürme bereichert (und seine Tochter soll Gerüchten zufolge ein amoralisches Flittchen sein).

    Die auch schon früher eher seltenen Wölfe erwiesen sich übrigens als erstaunlich flexibel. Durch Krach und Hektik der örtlichen Sicherheitsmaßnahmen stark belästigt, verlegten sie ihr Aktionsgebiet und änderten ihr Beuteschema: Sie beschränkten hinfort ihre Diät auf kleine Schweinchen (3), Geißlein (7), Rotkäppchen & Großmutter (je 1), etc. ⁸ Gelegentlich wirkten sie später auch in Filmen (Disney™, Warner™, …) und Gameshows mit (z. B.: Wolf, Ziege, Kohlkopf – und im Ruderboot nur Platz für zwei).

    Wenn diese Art des Nahrungserwerbs auch nicht immer erfolgreich war, so erfreuten sich die Wölfe doch eines gesicherten, stressfreien und weitestgehend unbehelligten Daseins. Die wenigen Reibereien mit Menschen verliefen zwar mitunter gewalttätig, waren dafür aber sehr selten (z. B. die fatale Begegnung mit dem Jäger nach dem Verzehr von Großmutter und Rotkäppchen).

    Die meisten Berichte über solche Begegnungen waren außerdem stark von den Humanmedien geprägt, und daher durch den Anti-Wolf-Aktivismus propagandistisch dahingehend beeinflusst, dass die Wölfe immer als Verlierer dargestellt wurden. Alles andere wäre Defätismus, Subversion oder schlichtweg Verrat gewesen.

    Als schließlich längere Zeit keine Wölfe mehr aufzutreiben waren und das Interesse und die Motivation der Bevölkerung schon wieder nachzulassen drohte, ⁹ kam es zu einer erneuten Krise. Der Rat der Dorfwichtigen bemerkte an winzigen, beinahe ätherischen Anzeichen, dass die durch Wölfe verursachte zivile Ausnahmenotfallsituation kaum mehr jemanden interessierte. Kürzung der Spesen und Rücknahme der Abwehrmaßnahmen schwebten sozusagen fast greifbar über der Agora.

    Nach nächtelangen Beratungen gelangte der Dorfrat zu dem Schluss, dass wohl ein geändertes Bedrohungsszenario eingetreten sei. Die Experten wurden befragt, ob es nicht vorstellbar wäre, dass z. B. auch Bären Schafe fressen könnten. Die flexibleren der Experten riefen sofort: »Ja! Ja! Bär! Bär!« – Es müssten unverzüglich Maßnahmen gegen diese noch viel größere Gefahr getroffen werden. Die dämlicheren Experten bestanden darauf, zuerst einmal das Wolfsproblem grundsätzlich, endgültig und ein für alle Mal zu lösen. Natürlich gerade nach eben derjenigen Methode, deren Entwicklung sie demnächst, bei nur geringfügiger Erhöhung ihrer Mittel, vervollkommnen würden.

    Es kam alles, wie es kommen musste: Alte und neue Bärenexperten warnten eindringlich vor den lange verkannten Risiken durch die immanente Bärenplage (bzw. den lange unbekannten Risiken, hatte doch niemand in dieser Gegend jemals einen Bären gesehen!). Die Klatschweiber erzählten jedem immer wieder von den überaus schrecklichen Gefahren. Der Dorfrat dankte den Experten für die zum Glück noch rechtzeitig erfolgten Warnungen und versprach, unverzüglich Maßnahmen einzuleiten. Die Wolfssicherheitskräfte bildeten sofort eine »Sonderkommission Problembär«, der Zimmermann erklärte, wie die Zäune um die (mittlerweile schaffreie) Weide bärensicher verstärkt werden könnten, usw. usw.

    Kurzfristig drohte der »WolfBuster 600®« – ein verbessertes Nachfolgeprodukt des (zwar bewährten, aber trotzdem wenig eleganten und inzwischen auch schon veralteten) »Wolf-B-Gone®«-Sprays – zum kommerziellen Flop zu werden. Der immer noch etwas sonderbare, aber inzwischen steinreich gewordene Dorfbewohner, dessen sonstige Aktivitäten inzwischen nicht mehr belächelt oder gar offen verspottet, sondern nach Möglichkeit imitiert wurden, konnte jedoch glücklicherweise durch ein sofort vermarktetes Upgrade sein Produkt zum »Bearliminator Extended 599®« und damit zum überhaupt-noch-nie-dagewesenen Kassenschlager verbessern.

    Die Dorfbewohner hätten nun zufrieden sein können, allerdings waren sie – ohne es selbst zu bemerken – in eine Art Spirale geraten. Na ja, einige merkten es natürlich schon, aber je nach charakterlicher Veranlagung

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