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Ich bin doch nicht zum Leiden geboren
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eBook313 Seiten4 Stunden

Ich bin doch nicht zum Leiden geboren

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Über dieses E-Book

Dies ist kein Roman! Dies ist eine Erzählung - wie es war und wie es hätte sein können (ja, beides), in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in der Bundesrepublik Deutschland, in der Jugend von Hubert, dem deutschen Flüchtlingskind, dem Stehaufmännchen, das die Opferrolle ablehnte, die das Leben ihm bereithielt. Geschildert wird die schwierige Suche nach einem Weg hin zum freien Sein, ohne Pflichten aber mit gesellschaftlicher Anerkennung, während seines Heranwachsens in der Kleinstadt Coburg im nördlichen Bayern und zweier Reisen nach Frankreich und Italien. Ganz nebenbei werden geschichtliche, kulturelle und politische Ereignisse beleuchtet, die für die Epoche wichtig waren.
SpracheDeutsch
HerausgeberLeichtfus-Verlag
Erscheinungsdatum15. Juni 2019
ISBN9783966616676
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    Buchvorschau

    Ich bin doch nicht zum Leiden geboren - Peter Leichtfus

    Flüchtlingskind.

    Eins

    Hubert Shmale war ein deutscher Junge, soviel war ihm klar.

    Natürlich entsprach das einem Zufall. Er hätte mit seinem feinen, blonden Haar, seinem großen runden Kopf, seinen offenen Gesichtszügen und seiner hellen Haut auch Pole, Russe oder Angehöriger jedweden mittel- oder nordeuropäischen Volkes sein können. Seine Familie war aber eine deutsche - das hatte er seine Mutter oftmals versichern hören - und zwar von beiden Zweigen her, dem mütterlichen und dem väterlichen.

    Tatsächlich liegt die Heimatstadt seiner Eltern, Breslau, heute in Polen und trägt den polnischen Namen Wrocław, aber - so sagten jedenfalls die Eltern und alle Onkel und Tanten - bis zum Zweiten Weltkrieg war sie immer eine deutsche Stadt gewesen, war es von Rechts wegen immer noch und würde es eines Tages auch tatsächlich wieder sein, wenn es Gerechtigkeit gab.

    Die Mutter schien auch ein bisschen besorgt zu sein über den Nachnamen „Shmale, der seltsamerweise kein „c zwischen dem „S und dem „h trug, so wie es die deutsche Orthographie eigentlich vorsah. Vor kurzem hatte der Lehrer des Jungen sie gefragt, ob die Familie angelsächsischen Ursprungs sei, was die Mutter vehement verneint und anführt hatte, dass es ihr ein Rätsel sei, wann und wo sich das verdammte „c" verloren habe.

    Dieses Geschwätz war Hubert herzlich egal. Er war 1958 in Coburg geboren worden, einer Kleinstadt im Norden Bayerns, wohin 1945 seine Mutter mit einer einjährigen Tochter geflüchtet war, wo sein Vater 1946 - aus russischer Gefangenschaft kommend - die zu Kriegszeiten geheiratete Frau wieder gefunden hatte, wo 1947 noch eine Tochter zur Welt gekommen war und wo die Familie ein neues Zuhause in einer dieser bescheidenen Genossenschafts-Wohnungen gefunden hatte, die nach dem Krieg hochgezogen worden waren.

    Als einziger Sohn war Hubert der ganze Stolz seines Vaters. Schade nur, dass der Stammhalter ein bisschen weich und nicht sehr tatkräftig war. Am liebsten lag er auf dem Sofa, las Geschichten über Abenteuer in fernen Ländern und aß dabei gesalzene Erdnüsse. Der Vater hätte gern einen Sohn gehabt, der zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl, schnell wie ein Windhund und flink wie ein Wiesel war. So wie er selbst, als deutscher Soldat, eben hätte sein sollen und wollen und nicht gewesen war.

    Ihm gefiel die Brille, die der Junge wegen seiner Kurzsichtigkeit schon tragen musste, gar nicht. Außerdem war sie zu teuer gewesen.

    «Ein neunjähriger Junge muss Sport treiben!», sagte der Vater.

    «Warum nicht! - Was könnte ich denn machen?»

    «Spiel Fußball, wie jeder normale Junge, vor ein paar Jahren waren wir Weltmeister.»

    «Dann brauche ich aber richtige Fußballschuhe, mit meinen Turnschuhen geht das nicht gut.»

    «Na gut, am Samstag gehen wir welche kaufen.»

    Der Junge hatte nichts gegen den Vorschlag. Einige verschwommene Bilder stiegen vor seinem geistigen Auge auf. Er sah sich freudestrahlend auf den Schultern seiner Mannschaftskameraden sitzen, die ihn, den Schützen des entscheidenden Tores, zur Tribüne trugen, um den Pokal entgegenzunehmen, während die Fans wie verrückt jubelten und applaudierten. - Er lag eben viel vor dem Fernseher.

    Die Fußballschuhe, die sie am Samstag darauf gekauft hatten, waren ihm ein wenig unbequem vorgekommen, als er sie in dem Laden anprobiert hatte, wahrscheinlich wegen der Stollen in der Sohle, aber der Verkäufer hatte gesagt, dass das so sein müsse, denn sie waren zum Laufen auf Rasen gemacht und nicht auf der Auslegeware eines Sportgeschäfts. Sie waren von Adidas. Die Sportmarke, die damals schon damit begonnen hatte, den Weltmarkt für Fußballschuhe zu erobern, besaß eine Fabrik in nur achtzig Kilometer Entfernung.

    Der Vater beobachtete vom Wohnzimmerfenster aus den Sohn, wie der in Richtung Sportplatz schritt und dabei aussah wie ein Fußballspieler aus dem Bilderbuch. Die Brille hatte er zuhause gelassen, damit sie nicht kaputt ging. Der Mann spürte eine immense Genugtuung in sich aufsteigen. Sein Sohn würde es all diesen Lümmeln und ihren herablassenden Vätern zeigen, was Talent und Hingabe zu leisten imstande waren.

    Der Sportplatz - niemand wäre auf die Idee gekommen, ihn als Rasen zu bezeichnen - besaß lediglich einen Hauch von Grün an seinen Außenseiten. Der Rest war Sand und harte Erde. Wie jeden Nachmittag hatten sich hier etwa zehn Burschen aus der Nachbarschaft versammelt, die aber noch nicht spielten, sondern diskutierend zusammenstanden. Nur die beiden Ältesten trugen richtige Fußballschuhe, die anderen normale Turnschuhe.

    Als er hinging hörte Hubert, dass sie keinen Torwart hatten. Und als er fragte, ob er mitspielen dürfe, sagten sie ihm natürlich, dass er sich ins Tor stellen solle. Das gefiel ihm nicht besonders, aber als Neuling konnte er sich nicht gleich querlegen und so fand er sich zwischen den Pfosten wieder.

    Immer wenn sie nicht genug Spieler waren, um mit zwei vollzähligen Mannschaften das ganze Fußballfeld zu nutzen, wählten sie zwei Teams, die zwar gegeneinander, aber auf ein und dasselbe Tor spielten. An diesem Tag gelang es beiden, viele Tore zu schießen. Hubert war kein guter Torhüter. Von Anfang an weigerte er sich, sich auf die Erde zu werfen. Das tat zu weh. Darüber hinaus hatte er allerdings auch nicht viel Erfolg mit anderen Paraden. Aber letztendlich liegt das Glück des Fußballers im Toreschießen und so waren alle, außer Hubert, glücklich, denn jeder hatte mehrere Tore geschossen, von denen er später erzählen konnte.

    Als die Jungen nach Hause gingen, waren sie großzügiger Stimmung und daher trösteten sie den Torwart ein bisschen und sagten ihm, dass er für das erste Mal gar nicht so schlecht gehalten habe und dass alles nur eine Frage von mehr Training sei und dass er einfach den Mut haben müsse, sich zu schmeißen. Dadurch verbesserte sich seine Laune ein wenig.

    Am nächsten Tag stand das zweistündige Training der D-Schüler-Mannschaft der Abteilung Fußball der TSG Creidlitz an. Creidlitz war der Name des Stadtviertels. TSG stand für Turn- und Sportgemeinschaft. Der Vater hatte ihn in dem Verein angemeldet. Das Training fand auf dem Sportplatz statt und wurde von einem gewissen Kurt geleitet, einem Mann in den Vierzigern, der schon einen kleinen Bierbauch hatte und in der Abteilung Tischtennis aktiv war. Da waren schon mehr Jungen, beinahe genug, um zwei vollzählige Mannschaften zu bilden.

    Der „Trainer", der sich eine Pfeife um den Hals gehängt hatte, schickte die Burschen zum Einlaufen, damit sich die Muskeln aufwärmten.

    Nach zwei Runden um den Platz pfiff er dreimal und rief: «Genug jetzt! Spielen wir! Wer geht ins Tor?»

    Alle die, die schon am Vortag gespielt hatten, sahen in Richtung Hubert.

    Man konnte auch so etwas wie «Hub…» hören.

    Daraufhin sah auch Kurt ihn an: «Na gut, Hubert macht den Tormann, ist ja auch höchste Zeit, dass wir einen finden, am Samstag ist das erste Punktspiel.»

    Damit war die Angelegenheit entschieden. Zwei Mannschaften wurden gebildet, der „Trainer" stellte sich ins Tor der anderen und das Spiel begann.

    Kurts Team schloss gleich seinen ersten Angriff mit einem Tor ab.

    «Schmeiß dich, Mann!», schrien die Mannschaftskameraden.

    Kurze Zeit später, als einer aus Huberts Abwehr ihm den Ball zurückpasste, damit Hubert ihn aufnähme und abschlüge, ließ er ihn durch die Finger gleiten und … zweites Tor. Da war das Geschrei schon groß, aber immer noch ein Säuseln, verglichen mit dem, das sich erhob, als die Tore Nummer drei und vier fielen: das dritte war ein verunglückter Schuss, der langsam aufs Tor zurollte und den Hubert wegschlagen wollte, aber nicht traf und dabei irgendwie hinfiel, während ihm beim vierten der Ball entwischte, als er ihn aus der Luft fangen wollte. Kurt musste schnell über das ganze Spielfeld gelaufen kommen, um die Kameraden davon abzuhalten, dem Tormann eine Abreibung zu verpassen.

    «Was für einen Scheiß machst du denn da? Was ist denn los? Kannst du nichts sehen? Hast du nicht sonst eine Brille auf? Wo ist die denn?»

    «Zuhause! Die kann kaputtgehen. Mein Vater hat verboten, dass ich sie zum Fußball aufhabe.»

    «Das darf doch nicht wahr sein! - Ich werde mit deinem Vater sprechen.»

    «Aber ich will doch gar nicht ins Tor.»

    «Das sehen wir dann noch. Erstmal brauchen wir dieses Wochenende einen Torwart. Da fangen die Punktspiele an.»

    Nach dem Training ging Kurt mit nach Hause zu den Shmales. Er erklärte dem Familienoberhaupt, dass es beim Fußball unabdingbar sei, dass ein Spieler gut sehen könne und dass er andere Spieler kenne, die eine spezielle Sportbrille trügen. Dem Vater konnte man ansehen, dass er sich ein bisschen schämte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als mit dem Kauf einer Sportbrille einverstanden zu sein.

    Zum Glück hatte der Optiker Huberts Sportbrille noch rechtzeitig bis zum Beginn des Punktspiels fertig. Herr Shmale hatte darauf bestanden, das billigste Modell zu kaufen, ein Monstrum aus schwarzem Plastik, das von einem gleichfalls schwarzen, elastischen Gummi an den Kopf gepresst wurde und das dem Sportler, der es trug, das Aussehen eines gigantischen Insekts verlieh. Der Junge fühlte sich nicht wohl. Die Rolle des Torhüters gefiel ihm nicht, aber er wusste auch nicht, wie er sich aus diesem Schlamassel befreien sollte. Ihm war es wichtig, dass die anderen ihn mochten, vor allen sein Vater. Na gut, dachte er, ich werde tun was ich kann, aber auf die Erde schmeiße ich mich nicht.

    Am Samstagnachmittag sollte das Spiel um drei Uhr beginnen. Es war schon zwei. Hubert zog sich zuhause den Torwartdress an. Sie hatten ihm ein schwarzes, langärmliges Unterhemd mit einer weißen Nummer 1 auf dem Rücken gegeben. Dazu dicke, schwarze Handschuhe und ein Paar Knieschützer, die einmal weiß gewesen waren. Mit seinen Adidas-Schuhen und der Sportbrille sah er aus wie eine humanoide Wespe in Schwarzweiß. Es war aber nicht Fasching.

    Der Vater sagte, mit Anerkennung in der Stimme: «Du bist ein kleiner Toni Turek», worauf der Sohn nichts zu antworten wusste.

    Toni Turek war der Name des Torhüters, der mit seinen Paraden den 3-zu-2-Sieg der Nationalmannschaft im Endspiel der Weltmeisterschaft 1954 in der Schweiz sichergestellt hatte. - Ein wahrer Held!

    Etwas später sah man die beiden Seite an Seite zum Sportplatz schreiten, wo sich schon Kurt und die meisten Spieler, sowie die gegnerische Mannschaft, eingefunden hatten. Das war der FC Rossach. Hubert kamen die Burschen vom FC ein bisschen größer vor, als die aus seinem eigenen Team.

    Neben den Sportlern gab es auch Zuschauer. Ungefähr fünfzig standen schon entlang der Seitenlinie, auf einer Art Hochweg mit Geländer, den die Gemeindeverwaltung angelegt hatte, damit die Leute besser aufs Spielfeld sehen konnten. Und es kamen immer noch mehr, darunter einige Frauen, meist Mütter von Spielern. Frau Shmale war aber nicht mitgekommen - vielleicht weil sie vorausgesehen hatte, was passieren würde, vielleicht auch nur, weil sie sich nicht für Fußball interessierte.

    Das Spiel begann.

    Hubert stand im Tor und schwitzte. Gottseidank hatte sich sein Vater nicht dahinter gestellt, um ihm Anweisungen zu geben. Der deutsche Spätsommer hatte sich diesen Tag ausgesucht, um mit seiner Schönheit zu prahlen. Durch die Hitze liefen die Brillengläser an und der Tormann wider Willen versuchte mit einer nervösen Geste beider Hände das Problem zu lösen. 

    Der FC fuhr seinen ersten Angriff…, aber der Schuss ging daneben. Ein Gefühl der Erleichterung machte sich in der Brust des Jungen breit - es sollte für die nächsten zwei Stunden das einzige bleiben.

    In der Folge sahen die Zuschauer kein Fußballspiel, sondern eine Schlachtung der Heimmannschaft. Die permanenten Angriffswellen der Rossacher überrollten, gleichsam in einem andauernden fußballerischen Tsunami, die Creidlitzer Elf mit ihrem armen Torhüter und fast immer schoss der Gegner ein Tor. Eine Verteidigung schien nicht zu existieren. Auch Angreifer schien die TSG nicht zu besitzen, denn nach jedem Wiederanpfiff war es nur eine Frage von Sekunden, bis die Gastmannschaft den Ball zurückerobert hatte und ihn bis zum nächsten Tor nicht wieder hergab. Nach der ersten Viertelstunde setzte sich der Rossacher Tormann an einen seiner Pfosten und begann demonstrativ zu gähnen. Zu diesem Zeitpunkt führte seine Mannschaft schon 4 zu 0.

    Sein Gegenüber schwitzte währenddessen Blut und Wasser. Teils verschuldete er die Tore und teils nicht. Manchmal beging er offensichtliche Fehler, wie zum Beispiel sich nicht zu schmeißen oder sich in der Entfernung zu irren, aber manchmal hätte auch ein Supertorwart die Bälle nicht halten können. Das Schlimmste war das Geschrei, die Beschwerden und die Vorwürfe der Mannschaftskameraden auf dem Spielfeld. Seine fortdauernde Weigerung, sich zu schmeißen, stempelte Hubert zum Schuldigen an dem grauenvollen Geschehen.

    Sogar während der Halbzeit gingen Kurt und die Anderen ihm auf den Geist mit ihrem Geschimpfe. „Feigling und „Warmduscher gehörten noch zu den feineren Ausdrücken, mit denen sie ihn belegten. Ein herber, männlicher Geruch lag in der Luft der Umkleidehütte. Im Spiel stand es 11 zu 0.

    Hubert der erschöpft, verstört und eigensinnig auf einer Bank saß, hatte nicht die Kraft, sich gegen ihre Vorwürfe zu wehren. Er hätte ihnen seinen Teil der Wahrheit sagen können, nämlich dass die ganze Mannschaft eine einzige Gurkentruppe war, dass das Spiel sogar mit Toni Turek im Tor wohl 5 zu 0 stehen würde, dass auch die anderen Spieler seiner Mannschaft den Ball nicht von A nach B passen konnten und dass er schließlich nie hatte Torwart sein wollen… Er hatte Angst, dass sein Vater in die Hütte käme, aber dieser erschien nicht.

    Die zweite Halbzeit war nicht viel anders als die erste. Der FC schoss weiterhin Tore, und jeder Spieler der Gäste forderte lautstark, dass man ihm den Ball überlasse, um „Seins" zu machen. Erwähnenswerten Widerstand gab es nicht. Am Ende stand es 23 zu 0. Die Schmach war eine totale.

    Die Zuschauer hatten die Tragödie zunächst mit Unglauben und später mit sichtbarem und hörbarem Vergnügen verfolgt. Viele hatten sich köstlich amüsiert und massenhaft Kraftausdrücke hereingerufen. Einige Wenige waren schon vor dem Schlusspfiff nach Hause gegangen, um die Demütigung nicht weiter ertragen zu müssen. Unter ihnen befand sich Vater Shmale, für den eine Welt zusammen gebrochen war. Die Familienehre schien ihm verloren. Er würde in dem Metallbetrieb, in dem er als Stanzer arbeitete, einiges auszuhalten haben.

    Hubert schleppte sich gesenkten Kopfes nach Hause, so wie er war, ohne zu duschen oder sich umzukleiden. Er wollte nur flüchten und sich in einem Erdloch verstecken. 

    Zum Glück war die Mutter da. Sie nahm ihren Sohn und steckte ihn in die Badewanne, damit der für einige Zeit seine Wunden lecken konnte, ohne dass der Vater dazwischen funkte.

    Als der Junge aus dem Bad kam, wartete jener schon im Wohnzimmer.

    «Du bist ein blindes Huhn mit zwei linken Füßen! Wie soll ich bloß einen Mann aus dir machen? In Russland waren solche wie du die Ersten, die krepiert sind.»

    Ohne Umschweife war der Vater zur Sache gekommen. Der Junge sagte nichts. Seine Augen wurden feucht.

    «Ein Junge heult nicht!»

    Der Sohn kannte diesen Satz schon. Er stand wie in Stein gemeißelt zwischen dem Kind und seinem Erziehungsberechtigten.

    «Ich will kein Tormann sein!»

    «Was willst du dann?»

    Der Junge überlegte einen Augenblick.

    «Ich könnte Tischtennis spielen», kam es zaghaft von seinen Lippen.

    «Pingpong?! Ach du Scheiße! – Einen neuen Schläger kaufe ich dir aber nicht».

    «Das brauchst du auch nicht, der, den ich habe, ist noch gut».

    Ihre Blicke trafen sich und beide schienen erleichtert.

    Zwei

    Nach seiner Erfahrung mit dem Fußball war Hubert etwas niedergeschlagen. Nicht nur sein Vater hielt ihn für einen Weichling. Auch die Schulfreunde hörten nicht auf, ihn mit Ausdrücken wie Weichspüler, Weichei, Hühnchen, Mehlsack, Fleischkloß, Warmduscher und dergleichen mehr zu verspotten. Ihre Fantasie bei der Erfindung solcher Bezeichnungen schien grenzenlos. Und all das nur, weil er sich als Tormann nicht hatte schmeißen wollen. Sie waren wie eine Meute von Jagdhunden, die das bereits angeschossene Wild endgültig zur Strecke brachten.

    Auf dem Sofa liegend dachte der Junge darüber nach, wie er seinen guten Ruf wiederherstellen konnte. Er steckte sich ein paar Erdnüsse in den Mund und fing an zu kauen. So kamen ihm immer die besten Ideen. - Aber diesmal nicht! Ihm fiel nichts ein, was er vielleicht hätte tun können.

    Er war allein zuhause. Der Vater lag mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus und die Mutter war ihn besuchen gegangen. Er schaltete den Fernseher ein. Da lief ein Film mit Lino Ventura und Jean-Paul Belmondo. - Das waren echte Männer. Niemand würde sich trauen, sie mit den Namen zu belegen, die Hubert zugerufen wurden. Er warf sich noch eine Handvoll Erdnüsse ein. - Belmondo saß an einem Pokertisch und rauchte eine Zigarette, während er ein Vermögen gewann. Lino Ventura war der Besitzer des Etablissements. Von der Bar aus betrachtete er die Spieler. Er hatte einen Zigarillo zwischen den Lippen.

    Plötzlich wusste der Junge was er tun konnte. Er würde auch rauchen - so wie die Beiden. Das würde ihn zu einem harten Mann machen. In seinem Alter rauchte niemand. Er war erst neun. Einige ältere Burschen taten es und er würde es ihnen gleichtun. So würde er den Respekt seiner Freunde zurückgewinnen.

    Einer von den Größeren, die rauchten, war Klaus Schubert, der mit seiner Mutter in dem Haus schräg gegenüber wohnte. Am nächsten Tag nach der Schule ging Hubert hinüber. Er wusste, dass die Mutter nicht da sein würde, weil sie berufstätig war.

    Klaus bat ihn in die Küche und fragte ihn, ob er ein paar Rühreier mitessen wolle. Auf dem Herd stand eine Pfanne, daneben ein Karton mit zehn Eiern und ein Würfel Margarine. Hubert war beeindruckt. Der Mann konnte sogar kochen.

    «Ja, mach mir auch ein paar, die esse ich gern», antwortete er.

    Klaus entzündete das Gas mit seinem Feuerzeug. Elegant schlug er am Pfannenrand Eier auf, nachdem ein Batzen Margarine geschmolzen war. Man sah, dass er das nicht zum ersten Mal machte. Nach dem sechsten Ei überlegte er kurz und fügte ein siebtes hinzu. Er war nicht geizig. Er streute Salz darüber und begann zu rühren.

    «Sag mal, hast du Zigaretten?», fragte Hubert.

    «Klar, hab´ ich! - Eine Packung Overstolz.»

    «Gibst du mir eine? - Ich will rauchen.»

    «Hier nicht! - Meine Mutter killt mich, die riecht das, egal wie lange ich lüfte. Die ist schlimmer als ein Spürhund. - Wir können dann in den Wald gehen, da gebe ich dir eine.»

    Die Eier waren fertig. Klaus legte sie auf zwei Teller, reichte einen davon an den Freund weiter und dachte dabei: der Kleine hat Mut, kaum aus den Windeln und schon will er rauchen.

    «Nimm dir Brot!», sagte er.

    Die Beiden aßen mit Appetit. Die Eier waren köstlich, sie schmeckten besser als zuhause. Die Bewunderung, die Hubert für Klaus empfand wuchs noch.

    Nach dem Essen gingen sie in den Wald, der die Stadt umgab wie das Meer eine Insel umgibt. Die Ausläufer des Thüringer Waldes erstrecken sich dort bis ins Fränkische hinein. Eine wunderschöne, hügelige Gegend, die dazu einlädt, auf  Spazierwegen in strahlendem Grün, die Lungen mit frischer Luft zu füllen.

    Die Jungen hatten aber keinen Sinn für diese Schönheit. Für sie war der Wald etwas Alltägliches, wie das Stadtviertel, in dem sie lebten oder der Himmel darüber. Sie nutzten ihn als Versteck, wenn sie etwas Verbotenes oder Intimes tun wollten. In diesem Fall war es das Rauchen.

    Klaus führte den Jüngeren zu einer verborgenen Stelle, wo eine kleine Höhle im Waldhügel lag, die sicherlich der verlassene Bau eines Fuchses oder Dachses war. Der Boden dort war von Zigarettenkippen übersät. Bäume und einige Steine umstanden einen Raum, der mit Gras und Blättern wie gepolstert wirkte.

    Sie setzten sich, den Rücken an Baumwurzeln gelehnt. Klaus zog eine Elfer-Packung Zigaretten aus der Hosentasche und bot an. 

    «Nimm eine! Die sind mit Filter. Du rauchst zum ersten Mal, oder?»

    «Ja.»

    «Schau her, so zündet man sie an. Du musst die Luft einsaugen».

    Er gab sich Feuer und machte drei Züge. Dann reichte er das Feuerzeug an den Freund weiter.

    «Zünd sie dir selber an, damit du’s lernst.»

    Hubert steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen, knipste das Feuerzeug an, hielt die Flamme ans andere Ende und begann zu saugen. Vorsichtig füllte er sich den Mund mit Rauch, ohne zu inhalieren. -  Scheußlich! Das schmeckte nur trocken und unangenehm. Nicht feinherb oder würzig, wie er es sich vorgestellte hatte.

    «Du musst inhalieren», wies Klaus ihn an.

    «Inhalieren, was ist das denn?»

    «Den Rauch einatmen, damit er in die Lunge kommt, bevor du ihn wieder ausstößt.»

    Die Lunge, dachte der Junge, ich glaube das ist etwas im Bauch drinnen. Er machte einen Zug, inhalierte und es geschah was geschehen musste: Ein schrecklicher Hustenanfall überkam ihn. Der Husten schüttelte ihn dermaßen durch, dass ihm die Zigarette aus der Hand fiel. Schnell hob Klaus sie vom Boden auf.

    «Vorsicht! Das Gras kann Feuer fangen!»

    Als der Kamerad sich ein bisschen erholt hatte, gab er ihm die noch brennende Zigarette zurück in die Hand.

    «Das Husten ist normal. Die Lunge muss sich an den Rauch gewöhnen. Mir ist das auch passiert - und allen Andern. Inhalier nochmal!»

    Hubert schaute ihn entsetzt an, aber der schien es ernst zu meinen. Harte Männer haben es auch nicht leicht, kam dem Raucherlehrling in den Sinn, während er sich auf den nächsten Zug konzentrierte. Diesmal musste er schon weniger husten.

    «Siehst du, das wird schon besser. - Schau mal!» Klaus zog an seiner Zigarette und als er den Rauch wieder ausstieß, hatte dieser die Form eines Ringes angenommen.

    «Boah! Wie geht das denn?»

    «Das ist Kunst. Wenn du besser geworden bist, dann zeige ich´s dir, aber heute ist´s noch zu früh.»

    Schweigend rauchten sie ihre Zigaretten. Die Stille wurde nur vom Zwitschern der Vögel, vom Knacken der Bäume und von gelegentlichem Rascheln unterbrochen, das von kleinen Tieren stammen musste. Dann und wann gesellte sich ein unterdrücktes Husten zu den idyllischen Geräuschen des Waldes. Wind wehte nicht.

    Als die Beiden

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