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Wende abgewendet: Wir wollten euch nicht erkennen
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Wende abgewendet: Wir wollten euch nicht erkennen
eBook468 Seiten5 Stunden

Wende abgewendet: Wir wollten euch nicht erkennen

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Über dieses E-Book

Potsdam 1989. Mike, nicht Maik, flüchtet an dem Tag aus seinem Betrieb, dem VEB Maschinenbau Karl Marx Babelsberg, als die ersten Botschaftsflüchtlinge mit dem Zug aus Prag über Dresden nach Lübeck ausreisen dürfen; wovon er erst nach seiner U-Haft erfährt. In seinem Potsdam immer um ein passables Miteinander bemüht, wollte er einfach nur gefallen, zurechtkommen bei den Pionieren und - abnehmend begeistert - in der FDJ. Und an die Potsdamer Kinder- und Jugendsportschule. Doch einiges geht schief. Er muss sich schließlich 'in der Produktion bewähren'.
Seine und Bärbels Lebensgestaltung, die als Künstlerin zunächst Erfolg haben durfte, die des Vorsitzenden der Potsdamer Kleingärtner, der fast aus der SED ausgeschlossen worden wäre, des romantische Jugendredakteur von DT64 und des zuletzt leicht zweifelnden Jung-Stasi offenbaren ein Land, dessen Knospen stolz sein konnten, aber in den Umbrüchen nicht blühen durften.
Für die Menschen in Mikes Deutschland gilt nach dem Kommando der D-Mark nicht mehr, was vorher galt.
Die Zerschlagung seines Betriebes und das Scheitern eines Miteinanders der Kulturen wendet Mikes Teilnahmslosigkeit in einen leidenschaftslosen Drang zur Enthüllung des Schreckens. In Hamburg erkennt er, dass im gebrochenen Glauben an das Wohlstandsversprechen der Jammer bereits keimt; der den 'Ossis' gerne vorgehalten wird. Noch in der edlen. Pose blühender Wohlhabenheit fürchten sie ihre Wende. Die Umbrüche in seiner Heimat fallen in eine Zeit der bleiernen westlichen Naivität.
Wird nach der Dämmerung die Sonne wieder scheinen?
Können die Scherben des herabgefallenen Porzellans neu zusammengefügt werden und zurückspringen auf den Tisch?
Kann die Richtung der Zeit umgedreht werden?
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum29. Juli 2019
ISBN9783740795214
Wende abgewendet: Wir wollten euch nicht erkennen
Autor

Udo Stähler

Udo Stähler lebt seit 1999 in Potsdam. Erste ausführliche Gespräche mit Menschen aus der DDR führte er im Spätherbst 1989 auf Einladung von Kombinaten als Diplom-Volkswirt und Vertreter einer Westberliner Bank am Rande von Informationsveranstaltungen über Marktwirtschaft. Danach privat und später auch als Sanierer bei schiefgelaufenen gewerblichen Immobilienfinanzierungen in Nordost- und Mitteldeutschland. Heute ist er Privatier und Autor.

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    Buchvorschau

    Wende abgewendet - Udo Stähler

    Danke an Heike E. Emma, meine Frau, in deren Gesicht ich lesen konnte, wenn sie mein Manuskript bewegte oder auch nicht.

    Udo Stähler lebt seit 1999 in Potsdam. Erste ausführliche Gespräche mit Menschen aus der DDR führte er im Spätherbst 1989 auf Einladung von Kombinaten als Diplom-Volkswirt und Vertreter einer Westberliner Bank am Rande von Informationsveranstaltungen über Marktwirtschaft. Danach privat und später auch als Sanierer bei schiefgelaufenen gewerblichen Immobilienfinanzierungen in Nordost- und Mitteldeutschland. Heute ist er Privatier und Autor.

    Inhaltsverzeichnis

    Flucht nach vorn

    Die Hausherren von morgen

    Die Gesellschaft engagiert

    Gegenwind den Lüften

    Letzte Wendesignale

    Die Zeit beschleunigt

    Die Schrecken des Umbruchs

    Schaut her

    Dämmerung oder Morgenlicht

    Die letzte rote Linie

    Anmerkungen

    Flucht nach vorn

    Als Mike –nicht Maik– erkennt, dass der Schraubstock den Hauptwachtmeister am Kopf getroffen hatte, kann er hoffen, nun unter der Obhut der zuständigen staatlichen Organe wieder eine Zukunft zu haben.

    Mike drohten unabsehbare Erniedrigungen, als Günter Middach, der Vorsitzende der Konfliktkommission des VEB Maschinenbau Karl Marx Babelsberg mit sägender Stimme aus rotem Kopf ihn just eben auf sein gefälliges Eingestehen und Anerkennen seiner Verletzungen der sozialistischen Moral und Ethik, der Arbeitsdisziplin und – wenn auch geringfügig – der Strafgesetze hin brüllte. Das sozialistische Kollektiv erschien Mike immerfort als Konferenz oder Kommission zur Bedrohung seines guten Willens und seiner Einstellung. Oder hatte er das Kollektiv bedroht? Seine Verfehlungen seien hinsichtlich ihrer Gesellschaftsgefährlichkeit nicht vor den Strafgerichten zu verhandeln, sondern vor der Konfliktkommission des VEB Karl Marx. Diese Kommission könne in Anwendung des Erlasses des Staatsrats zur Gestaltung einer Arbeitswelt mit gegenseitiger Achtung und Toleranz die zur Wiederherstellung derselben erforderlichen Maßnahmen beschließen und deren Umsetzung anordnen. Mike, Aktivist des Genügsamen und Schlendrian der eingeforderten Begeisterung, konnte einer Hinnahme gesellschaftlicher Strukturen und Erwartungen deutlich mehr abgewinnen als der Unterordnung unter Kommissionen, die von aufrechten Kommunisten gegen ihn geführt wurden. Er hatte alsdann dringend den Wunsch, sich letzteren zu entziehen und seine weitere Erziehung zu einem lauteren Rädchen im realsozialistischen Getriebe durch ausreichende Erhöhung seiner Gesellschaftsgefährlichkeit doch lieber den dafür von den Strafgesetzen der DDR autorisierten zuständigen Organen zu unterstellen.

    Die Sitzungen der Konfliktkommission des VEB Maschinenbau Karl Marx Babelsberg fanden regelmäßig statt in der Werkshalle, die für die Reparatur der Autodrehkräne – der fortschrittlichste ist der ADK 80 – zur Schande der Werktätigen meistens ausgelastet war. Der Name der Halle, offiziell ‚Werkteil Endkontrolle‘, im defätistisch unterschlängelten Geplauder ausgerechnet auf der Straße der Besten vor der Kantine auch Halle der Reparatur des Fortschritts geflüstert, war nahezu geheimnisumwittert; insbesondere nach der Eingliederung des VEB in die TAKRAF, was alles erhöhte, ob Ehre oder Unehre. Die im ‚Werkteil Endkontrolle‘ tätigen Vietnamesinnen, aber auch die Produktionsarbeiter, waren bestrebt, möglichst unbemerkt zur Planerfüllung zu schleichen, um die die Planziele missachtende Unzuverlässigkeit der Autodrehkräne zu beheben.

    Der größte Stolz jedes Werktätigen war die Mitarbeit an der Produktion des ADK80, was nebenbei bemerkt auch Privilegien bedeutete. Da nicht sein durfte, was aber war, dass es unerwarteten Reparaturbedarf gab, überstülpte den Werksteil Endkontrolle das Flair der Gefängnisabteilung des VEB Maschinenbau Karl Marx Babelsberg. Die Notwendigkeit dieser geheimnisumwitterten Werksteile allein lenkt unsere Aufmerksamkeit auf das noch viel größere Geheimnis der Entwicklung der sozialistischen Persönlichkeit als Fundament des Fortschritts. Die Realität des Werksteils Endkontrolle – nicht seine Existenz – vor den Konterrevolutionären zu verbergen, so eine Parole des Brigadiers Middach, sei Pflicht jedes aufrechten Antifaschisten und sporne an, Hinweise auf unzureichend entwickelte Begeisterung für die Sache des Friedens im Keim zu erkennen, anzuzeigen und zu ersticken. Der Ort der Sitzungen der Konfliktkommission war daher auch Mahnung an die Genossinnen und Genossen, ja an alle bei Karl Marx Werktätigen, dass die real existierende Halle allein bereits ihre mangelnde Kampfbereitschaft für Fortschritt und Freiheit dokumentiere. Nun als VEB im Kombinat der TAKRAF fühlten sie sich im Größeren verpflichtet, die von der staatlichen Plankommission nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen ermittelten und alsdann berechtigt geforderten Stückzahlen der von den fortschrittlichsten Kadern der DDR-Ingenieure optimierten Drehkräne mit neu entwickelter Mikroelektronik auf die Straße zu bringen. Welcher Ort könnte also geeigneter sein für die Fehlerdiskussion und für Selbstkritik. Schon ein Schluck zu viel aus der Pulle, sei es die mit Bier oder die der individualistischen Verlockung, wäre der Anfang, die historische Mission der Arbeiterklasse dem Gespött der Konterrevolutionäre preiszugeben.

    Nebenbei und nur der Vollständigkeit halber. In der Reparaturhalle können sich mehrere Menschen unterhalten, ohne zu brüllen; mit Ausnahme des Middach, wie wir schon bemerken konnten.

    Alldieweil donnerte dieser mit erhobenem Arm Mikes Kaderakte schwenkend weitere Unterstützungen für seine Befürchtungen hinsichtlich der unzureichenden Festigung des Klassenstandpunktes eines derartigen Individuums sowohl aus den Notizen des Freundschaftsrates der POS in Potsdam als auch aus den Vermerken der Vorsitzenden der Lernkonferenzen auf Pioniernachmittagen in die Ohren des Delinquenten und der Kommissions-Mitglieder. Selbige Vorsitzende – eine Genossin Margot – war inzwischen zu wichtigeren Aufgaben von der Partei gerufen worden. Mit ihrem Namen ereilte Mike eine Erinnerung an 1981, da sein Engagement bei den Pionieren vor dem erwarteten Übergang in die FDJ abnehmend begeistert zu werden sich erdreistete. Die Pioniere waren ein Ort des munteren Raufens, des freudigen Helfens, der Solidarität und des Zuspruchs, soweit die Genossin Margot einmal aus der Erinnerung genommen wird, nun aber doch nicht genommen werden konnte, sondern ganz im Gegenteil, Mike acht Jahre später erneut anspornt, zu flüchten. Die seinerzeitige Flucht aus einer Fehlerdiskussion der Lernkonferenz wird an anderer Stelle noch auszuführen sein. Gedacht, getan: Mike schnappte sich zur Erhöhung seiner Gesellschaftsgefährlichkeit die Vorder- und Klemmbacke mit Führungsschiene eines Schraubstocks, ein Teilstück eines von ihm selbst zwecks Reparatur demontierten und zur Seite gestellten S80, und rannte, diesen Stahl unter dem Arm, los. Das Überraschungsmoment war ausreichend gründlich, den Blitzen des Middach den Donner zu nehmen und bei den Mitgliedern der Konfliktkommission die Ahnung ihres mit zunehmender Erhöhung der Gesellschaftsgefährlichkeit des Mike sich einstellenden Machtverlustes gewisser werden zu lassen; und sowohl schnell aus der Halle zu entschwinden als auch dabei zu überschlagen, ob dieser Diebstahl von Volkseigentum ausreicht, von der Staatsanwaltschaft gerettet zu werden.

    Die weitere Flucht durch das Haupttor in Richtung der Haltestelle des Oberleitungsbusses, der von Drewitz kommend Mike zum Bahnhof Babelsberg fahren könnte, hätte bereits enden müssen, bevor der O-Bus erreicht war, weil der am Tor gerade stehende Leiter der Betriebskampfgruppe ein ähnlich hohes Interesse an der Ausbildung sozialistischer Persönlichkeiten hatte wie Middach; und diesen entsprechend dazu zu ermuntern ein alarmierendes hejjjj hinter einem rennenden Mike mit Schraubstock-Torso hinreichend gewesen wäre. Also hechtete Mike unter durchaus olympischen Trainingsbedingungen, der Torso des Schraubstocks war nicht der größten Einer, aber eben doch mehr als eine Hantel für Fortgeschrittene, über den Hof, vorbei an den auf die Vorderachsen wartenden Hinterachsen des W50 und den für Tauschgeschäfte unverzichtbaren und frisch organisierten Anhängersteuerventilen und Bremskraftreglern zur Mauer.

    Inzwischen war die kurzfristig eingekehrte kontemplative Atmosphäre in der Konflikthalle einem kämpferischen Verfluchen gewichen. Das Hallentor wurde aufgerissen und der Äther angefüllt mit wütendem Skandieren, das alle Erwartungen an Beschimpfungen, die den wissenschaftlichen Fundamenten des Sozialismus gerecht werden, aus den Rahmen sprengte. Die Fans der Betriebssportgemeinschaft Sektion Herren-Fußball, hätten sich davon für später eine Schallwelle mitnehmen können, wenn ihnen beim berechtigen Ausbrüllen von Enttäuschungen die Puste ausging.

    Der Schraubstock flog voran. Nicht olympiareif, aber über die Mauer und das mit reiner Muskelkraft. Mike flog dem Wurfgeschoß hinterher, überrascht von der Sprungraft, die er in dieser Situation aufbringt, seine Sprunggelenkverletzung – wir erfahren später noch mehr – wurde quasi übersprungen. Sein unbeschwerter, gar gazellenhafter Sprung war es, der ihm gestattete, festgeklammert an dem Schindelfirst der Mauer den Landeplatz des Schraubstockes zunächst entspannt zu sondieren.

    Holla.

    Mike wünscht sich aufrichtig, dass ihn der Hauptwachtmeister genauso beschimpfen möge wie der Vorsitzende der Konfliktkommission am Tor der Sektion Reparatur der Kritik. Doch da der Hüter des Gesetzes nichts zu sagen hat, hört Mike vom Brigadeführer zur Endkontrolle der fortschrittlichsten Autodrehkräne mit der ganzen Kunstfertigkeit, die nur den mit allen Wassern des strömenden Materialismus gewaschenen Kämpfern der nicht klagenden oder zweifelnden, sondern ranklotzenden Generation unserer Väter möglich ist, seinen Ausschluss aus der Gilde der Kommunisten; mit der theoretischen Konsequenz natürlich, damit aus dem Vollstreckungswillen eben des selbigen Genossen geworfen zu sein. Doch was heißt schon theoretisch, ‚nur weg‘ ist Mikes letzter Gedanke, bevor er straßenseitig von der Mauer rutscht.

    Unter dem Dach der staatlichen Organe

    sieht der Hauptmann des Volkspolizeikreisamtes Mike scheel an

    Auf Groma Optima Erika sucht Laikmeier die Tasten zur Protokollierung der Verletzungen der sozialistischen Moral und Ethik, die Mike noch zu gestehen hätte.

    „Wer klaut einen demontierten Schraubstock?"

    Spricht er zu Erika.

    Da die Maschine nicht antwortet, erhebt er seine Augen von der Tastatur, bemüht mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger die Kopfpartie zwischen linker Schläfe und Stirn oberhalb der gleichseitigen Augenbraue, was die Motivsuche auch nicht voranbringt. Laikmeier hat das Opfer, die Tatwaffe und den Täter. Doch diese noch unbeantwortete Frage verwirrt ihn. Das unklare Motiv behindert sozusagen die Ermittlungen. Der Hauptwachtmeister kann nicht das Ziel gewesen sein. Welches Motiv steckt hinter der Tatwaffe? Er wendet sodann seinen Blick zu Mike, um ein dem Tonfall des Middach verwandt röhrendes „ODER WIE?" folgen zu lassen. Das Anliegen des Hauptmanns nicht erkennend kann sich Mike nicht entschließen, den Gedankengang eines örtlichen Subjekts der Staatsmacht des Volkes der DDR zu unterbrechen.

    „Verstehe. Der Herr spricht nicht. Was zu verbergen. Hier geht’s um mehr, als was ich aus deiner Personenkennzahl schon weiß."

    Mike hofft, dass er den Hauptmann eigentlich auf seiner Seite hat. Der harsche Ton ist geübte Verhördramaturgie, die das Bemühen des Hauptmanns nur unterstreicht, den Auftrag der Volkspolizei auszuführen, bei Verstößen gegen die Strafgesetze die Bestrafung durch Verhaftungen und Vorstellungen bei der Staatsanwaltschaft in die Wege zu leiten. Alle Weiterungen seiner noch in der Zuständigkeit der Konfliktkommission liegenden Vergehen, die ihn der Staatsanwaltschaft näherbringen und dadurch der sozialistischen Menschwerdung, der wahren Vervollkommnung eines Bauteils in der Maschine des Kommunismus für Middach indisponibel machen, öffnen den Türspalt, die Zukunft anblinzeln, sie zu schauen und wieder an ihr teilhaben zu können.

    „Jetzt sag‘ schon. Du hast bei Karl Marx dein wahres Gesicht gezeigt. Die Bewährung in der Produktion war deine Chance. Mit deinen weiteren Unverfrorenheiten hast du gezeigt, dass du unseren Staat nicht respektierst."

    „Bitte um Nachsicht, ich habe meine Arbeit gemacht. Alle waren zufrieden. Nur der Brigadeführer Middach hatte ein Problem."

    „Genosse Middach ist ein verdienter Brigadier und außerdem ein guter Genosse, der seine Kräfte immer in den Dienst der Erhöhung der Effektivität, des wissenschaftlichen Fortschritts und des Wachstums der Arbeitsproduktivität stellt."

    Wir verstehen, dass Mike nicht zulassen will, vom Hauptmann Laikmeier wieder in die Hände des von diesem Kriminalen scheint’s arg geschätzten Middach rückübersandt zu werden. Seine mangelnden Erfahrungen in zielgruppengerechter Verletzung des Regelwerks – Konfliktkommission nein, Staatsanwaltschaft ja – machen Mike nervös.

    „Was soll ich tun?"

    Diese unüberlegte Frage könnte als Auftragsersuchen verstanden werden, was nicht in den Erwartungen der Volkspolizei bei vertraglich weniger inoffiziellen Mitarbeitern liegt. Sie ist demnach schwer, bestenfalls gar nicht zu verstehen; den Hauptmann gar provoziert sie. Offensichtlich. Der Vorgriff mit Daumen und Mittelfinger zur Stirn gibt Mike Ahnung. Das folgende Röhren Gewissheit. Die staatlichen und die betrieblichen Organe, hier das Volkspolizeikreisamt und die Konfliktkommission, deren Ziel die Entwicklung des sozialistischen Menschen ist, haben nicht nur die gleiche Tonlage.

    „Ich lass mich von so einem Nichts von Individuum nicht vorführen!"

    Holla.

    Eben die verblüffende Rettungsaussicht durch den unbeabsichtigten Angriff auf den Hauptkommissar, jetzt die saumselige Zuführung des Hauptmanns an die Staatsanwaltschaft. Konnten Middach und Laikmeier ihn beide nicht verstehen? Praktisch und wichtig für uns an dieser Stelle des Geschehens ist, dass nicht entscheidend ist, was wir sagen, sondern was der Andere hört. Laikmeier kann nicht verstanden haben, was Mike meinte, als er fragte, was er tun solle. Er will ein Geständnis und keine Verpflichtungserklärung. Genosse Middach will den Klon einer sozialistischen Persönlichkeit, nicht diesen Versager von der Kinder- und Jugendsportschule. Middach sieht Mike immer noch im Trainingsanzug dieser elitären Zöglinge, die noch nie richtig gearbeitet haben; sich aber für was Besonderes halten. Hauptmann Laikmeier erkennt eine Missachtung seiner Autorität, die Mikes Eigenwilligkeit offenbart. Also Starrsinn des Verdächtigen, der mit verschränkten Armen die berechtigten Anliegen eines staatlichen Organs ignoriert.

    Der Schulterschluss der am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt Beteiligten, hier der Genossen Laikmeier und Middach, ist nur vordergründig. Hinter dieser honigsüßen Parole der Einigkeit stehen in Wahrheit die nicht systematisch miteinander kommunizierenden zuständigen Organe. Beim Menschen analog; der ist quasi das Kollektiv seiner Organe. Schon früh hatte Mike erfahren, dass auch Mund und Ohr nicht systematisch miteinander kommunizierende Organe sind. Das Ohr von Hauptmann Laikmeier, dessen Fortpflanzungsorgane an der Entscheidungsfindung erheblich beteiligt sind, liefert für die Handlungsempfehlung eben nur einen Teil der relevanten Informationen an die zuständige Kommission im ventromedialen präfrontalen Cortex des Gehirns. Zwischen ‚gehört‘ und ‚entschieden‘ erfolgen aufwendige Abstimmungen mit den weiter einzubeziehenden Organen. Eine hohe Priorität der Fortpflanzungsorgane geht bei der Entscheidung immer einher mit einem entsprechend hohen diesbezüglichen Stimmenanteil. Der Anlass hier: Missachtung des Laikmeier, der die Staatsmacht repräsentiert. Das Ergebnis hier: Der soll mich mal kennenlernen. Bei ebenfalls Dicke-Hose-Middach wird dieser bei Laikmeier äußerst komplexe Vorgang inzwischen auf dem kleinen Dienstweg erledigt. Die zuständige Kommission für emotionale Bewertungen hatte ihre Abstimmungsprozesse Jahre vorher – Middach hat immerhin noch an der Hand der misstrauischen Patriarchen die ersten Pflöcke für den Aufbau des Sozialismus eingesteckt – schon verschlankt. Also Ohr an Mund: brüll ihn fertig.

    Wir werden angesichts der cum grano salis weitgehend gleichen Ergebnisse der Entscheidungsfindung bei den für die Erziehung sozialistischer Persönlichkeiten eingesetzten unterschiedlichen Organen und der dort in Verantwortung stehenden Genossinnen und Genossen der Erzählung vorgreifend bereits hier feststellen, dass mit Blick auf eine gesamtgesellschaftlich optimierte Ressourcenverteilung der Einsatz des Laikmeier bei der Untersuchung der Gesellschaftsgefährlichkeit des Mike eine Verschwendung komplexen Denkvermögens ist. Warum sitzt so eine Koryphäe im VPKA?

    Ein einfaches Geständnis hätte Mike alle Sorgen abgenommen. Ein bisschen guter Wille – wir bemerkten gleich zu Anfang, dass er seinen bedroht sieht und können also erwarten, dass er ihn dann auch zeigt – wäre vom Hauptmann allein ohne Einschränkung für gut gehalten worden, von diesem alten Kantianer. Dass nochmal von wegen Koryphäe.

    Andererseits. Wenn der Herr Hauptmann jetzt anfängt zu spekulieren, was hinter dem Schraubstock an weiteren konterrevolutionären, wenn nicht gar revolutionären – wir befinden uns 1989 schließlich schon im Frühherbst einer Umwälzung, manche sprechen gar von einer Revolution, wir sind da noch zurückhaltend – Bedrohungen stecken könnte, dann wird der Abstand zur Konfliktkommission zwar größer, vielleicht schon wieder gefährlich groß. Denn die Mike seitens der staatlichen Organe mittlerweile heikler einkreisende Fürsorge hat nicht nur etwas Befreiendes, wie wir gesehen haben, sondern auch etwas Beunruhigendes. Da die Volkspolizei gehalten ist, möglichen Gefahren für die sozialistische Gesellschaft vorzubeugen, also quasi prophylaktisch diese zu beseitigen und zielgerichtet den Kampf zur Verhütung und Aufklärung von Straftaten sowie anderen Rechtsverletzungen zu führen, ist eine vorauseilende Unterstützung der Staatssicherheit wahrscheinlicher als eine halbherzig vollstreckte Zuführung.

    Gerade weil wir fürchten, dass Mike bei der Erhöhung seiner Gesellschaftsgefährlichkeit übers Ziel hinausschießen könnte, ist die immer noch bestehende Chance zur Rettung durch das VPKA zugleich das Risiko, von Laikmeier knochenhart mit dem Sonderzug nach Bautzen deputiert zu werden. Mike wird die Kuh nur vom Eis kriegen, wenn Laikmeier in ihm einen Bündnispartner erkennt; er muss es nur schlauer anstellen.

    „Ich möchte, Herr Wachtmeister, das Ganze aufklären."

    „Genosse."

    „Genosse Hauptwachtmeister. Natürlich."

    „Hauptmann."

    Irgendwas läuft hier schief mit dem Bündnis.

    „Der Schraubstock. Was wolltest du damit?"

    „Der Genosse Middach hat mich erschreckt. Angebrüllt."

    „Ich habe dich nicht gefragt, was der gemacht hat, sondern was du mit dem Schraubstock wolltest."

    Untertrieben wäre, jetzt von einem gereizten Tonfall des Laikmeier zu sprechen. Mike musste erst mal hinterschlucken.

    „Ich hatte zum 40. Jahrestag unserer Republik dem Vorsitzenden des Verbandes der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter Stahnsdorf einen Schraubstock versprochen. Darum war ich auch vor der Konfliktkommission …"

    Laikmeiers Vorgriff mit Daumen und Mittelfinger zur Stirn – wir kennen diese Dramaturgie bereits – und ein mit vorgebeugtem Oberkörper entsetzlich leise gepresstes „du hast wohl auf der Bummi geschlafen," brachte Mike dem Sonderzug ein großes Stück näher. ‚Jetzt bloß nicht übers Ziel hinausschießen‘ war sein letzter Gedanke. Wir hatten auf diese Gefahr bereits hingewiesen.

    Die Reisetätigkeit des Werktätigen Mike führt ihn, da er von Hauptmann Laikmeier dabei ertappt wurde, auf der Bummi geschlafen und sich nicht rechtzeitig aus seinen diesem Kinderheft geschuldeten Allmachtsträumen befreit zu haben, glücklicherweise in die Untersuchungshaftanstalt Brandenburg, damit die zuständigen staatlichen Organe seine Tatmotive gründlicher recherchieren können.

    Unter dem Dach der Partei

    wird Thomas wieder eine Beziehung haben

    Der Kreisvorstand in Düsseldorf-Lierenfeld, der in Vertretung und Gestalt des Vorsitzenden Michael mit proletarisch und promilleretuschierter Stimme unseren Thomas gerade vor dem Hintergrund der von Stimme der DDR gehörten reaktionären Aktivitäten im Vorfeld des 40. Jahrestages der DDR auf die Bedeutung seiner Gesänge für die sozialistische Moral und Ethik, der Parteidisziplin und – wenn auch geringfügig – der Stimmengewinne bei den Wahlen zum Stadtrat hin scharmutzierte, wurde Instanz der Bedrohung, als sich anzudeuten begann, dass die Bedeutung der Arbeiterlieder des Bürgersohnes Thomas für die Fortschritte der Arbeiterbewegung in Düsseldorf von dem dafür zuständigen Gremium des Kreisverbandes kritisch zu untersuchen sei. Sie zu überzeugen, dass Thomas nicht nur als Barde, sondern als Klassenkämpfer mit allen seinen Kräften zur Verfügung stehe, sei baldige Pflicht. Zurückliegende Verdienste des Thomas – wir erfahren noch, dass er im Schlepptau einer dahingehend verdienten Genossin immer brav seine Pflicht getan hat – werden von den Düsseldorfer Kommunisten grundsätzlich nicht gewertet, wenn aus höherem Anlass, der uns hier unbekannt bleiben wird, die Klinge des Schwerts für den Klassenkampf, denn nur damit ist ein Mitglied ein kämpfendes, auf den Schleifstein soll. Thomas hatte alsdann dringend den Wunsch, seinen Standpunkt als Kämpfer für die Arbeiterklasse durch ausreichende Erhöhung seiner Klassenkampftauglichkeit – auch ohne Gitarre – dem vom Vorsitzenden vorgeschlagenen und in den Statuten vorgesehenen Gremium unter Beweis zu stellen.

    Die Sitzungen der Düsseldorfer Kommunisten und ihrer Gremien finden regelmäßig im Zentrum des Ortsteils Lierenfeld statt, wo auch Sabine wohnt und arbeitet. Thomas wohnt bei seinen Eltern in Kaiserswerth, die Mutter ist Inhaberin eines Kosmetikstudios und der Vater als Unternehmensberater unterwegs. Sabine und Thomas gemeinsam ist der Blick auf eine Kirche. St. Michael im Zentrum von Lierenfeld und St. Suitbertus in Kaiserswerth. Da zu dieser Zeit die Organisation der Kommunisten eine überschaubare Ausdehnung sowohl hinsichtlich der Anzahl der Mitglieder als auch hinsichtlich der von den Mitgliedern zu befreienden Fläche des Rheinlandes hatte, reicht als Tagungsraum ein kleines, aber ordentlich renoviertes Ladenlokal; mit Blick auf die Kirche St. Michael wohlgemerkt. In der darüberliegenden Wohnung unter dem Dach wohnt Sabine, die auch Geschäftsführerin ist dieses standfest gegenüber den Veränderungen des Lebens der Menschen, der Umwälzungen der gesellschaftlichen Strukturen und der Stimmungen der arbeitenden Bevölkerung gebliebenen Hirten des Proletariats. Die Genossinnen und Genossen schöpfen ihre Stärke aus der Tradition und der Programmatik ihrer Vorgänger in der Weimarer Republik. Geblieben ist die feste Überzeugung, das Übel an der Wurzel zu packen und auf Grundlage ihrer bewährten Postamente des wissenschaftlichen Sozialismus den Klassenkampf zu exemplifizieren und Spannkraft daraus abzuleiten.

    Der mit modernen Sitzmöbeln und grauen Konferenztischen funktional ausgestattete und mit dem Plakat von Marx, Engels und Lenin „Unsere Krisenberater sowie von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht „NIE WIEDER KRIEG! mit einem Kontext von Historie und Ermahnung beflügelte Sitzungsraum duftet dank der frisch geschnittenen Orangen und Äpfel, die Sabine auf den Tischen dekorativ den Genossinnen – eigentlich gab es nur eine weitere – und Genossen unter die Nasen stellte, mehr nach Genuss als nach Ärgernis, nämlich nötigenfalls der Entfernung bürgerlich Kontaminierter aus dem reinen Kommunismus. Diese der Wärme förderliche Atmosphäre zeigt, dass Sabine heruntergefahrene Temperaturen als historisch bewährte klimatische Voraussetzung für ideologische Sauberkeit erst noch lernen muss. Und ihr noch der Schneid fehlt, die zu Thomas‘ Selbstkritik gekommenen Genossin und die Genossen im Dialog in ein sogenanntes diskursives Gesprächsklima zu extemporieren. Wir bereiteten schon darauf vor, dass das Charakteristische des Düsseldorfer Kommunismus sein fester Klassenstandpunkt ist. Das Studium der Schriften, insbesondere von Wladimir Iljitsch Lenin, die Operationalisierung des auf der Grundlage des wissenschaftlichen Sozialismus erarbeiteten Parteiprogramms und die objektive Analyse der Bedingungen des Klassenkampfs geben die revolutionäre Kraft, im dunklen Wald bürgerlicher Verwirrungen sich vom Licht dieser Erkenntnis leiten zu lassen und herumflatternden konterrevolutionären Eintagsfliegen zu widerstehen. Da der Düsseldorfer Kommunismus auch rein geblieben ist von den alltäglichen Verschmutzungen des realen Sozialismus, also quasi das Ideal im Zölibat lebt, kämpfen sie nicht nur für die Arbeiterklasse, sondern auch für die Erhaltung des unbefleckten Daseins der Vorhut der Arbeiterklasse auch in der DDR. Und sind daher sowohl Verehrer als auch Gralshüter des Glaubens der Partei auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs; den zu erhalten nebenbei zugleich ihre Existenzbedingung ist, womit wir eine weitere große Einigkeit der deutsch-deutschen Internationale erkannt haben.

    Der Genosse Middach aus Potsdam unterscheidet sich in der Denke und der Wortwahl von seinen Düsseldorfer Genossinnen und Genossen nur, wenn über Dinge des täglichen Lebens gesprochen würde. Middach würde seine Stulle niemals in Alufolie einwickeln, denn falls vorhandenes Silberpapier fixierte bereits das Spaltmaß der Drosselklappe seines Vergasers; ein derart wertvoller Rohstoff verdient bei Middach einen Respekt, den die Düsseldorfer nur toten Revolutionären entgegenbringen. Auf Parteiversammlungen wiederum, beim Austausch von Losungen und von Forderungen an die sozialistische Moral und Ethik haben beide die gleichen Phrasen zur Hand. Wir werden an anderer Stelle noch auf die Diskussion in den 80er Jahren zu sprechen kommen, die zeigt, dass die von der Sowjetunion, insbesondere die von ihrem Staatspräsidenten ausgelöste ‚Glasnost‘ den Klassenstandpunkt der Düsseldorfer nicht ins Wanken bringt; als die eisernen Vorhänge bereits Rost ansetzten und Überzeugungen zu flattern begannen.

    Unser sozialistischer Bänkelsänger, dem es immer wieder gelingt, die Herzen der Genossinnen und Genossen – einige seiner aufgeschlossenen Kommilitoninnen nicht zu vergessen, wenngleich bei dieser Zielgruppe der Klassenkampf eine andere Bedeutung hat – aufzureizen, tritt also vor das zuständige Gremium, Zeugnis abzulegen von seiner Klassenkampftauglichkeit.

    Wir wissen, so weiß der Vorsitzende Martin das Gremium einzuschwören, dass Mike bereits „unsre soschalissische Arbeiterjugend mit kräftiger Stimme und kämpferischem Klang deiner Gitarre und auch zu unser aller Freude, das muss ja auch ma gesach wern, Kampfgeist zeijest, wenn wir die Lieder der Arbeiterbewegung im Stadtwald sangen."

    Er eröffnet alsdann mit allen Formalitäten, die die Geschäftsordnung vorschreibt, die Sitzung.

    „Heute möchten wir hören, wie fest du dich mit den Zielen unserer Partei verbun’n fühlst. Frieden, Arbeit und Solidität sind noch heute unsere Ziele und die Feste unserer Glaubwürdigkeit. Die Irritationen des Eurokommunismus konnten uns ebenso wenig erschüttern wie die jüngsten konnerrevolusionären Aktionen gewissenloser Elemente bei unseren soschalissischen Brüdern im Rat für genseitige Wischafshilfe."

    Thomas, der aufgestanden war, muss sich setzen.

    „Die nach meinen Informationen höchste Anstrengungen unternehmen, das Boot auf Kuss zu halten. Auch das zeigt, dass ein fesser Klassenstandpunkt unversichbar iss, die Linie zu erkennen. Und dann aufrecht den richien Weg zu gehen."

    Noch während Thomas runterschluckt, was er da soeben zu hören nicht glauben kann, mit diesen konterrevolutionären Elementen in einen Zusammenhang gestellt zu werden, spricht also Kathrin, die als junge Frau einmal Abgeordnete in einem Stadtteilparlament war; kampferprobte Genossin also.

    „Vor dem Faschismus waren wir die größte Fraktion im Düsseldorfer Stadtrat. Bei der ersten Kommunalwahl nach dem Krieg waren wir mit 12,3 Prozent drittstärkste Fraktion. Seit 1984 für 20 Jahre im Rathaus Gerresheim vertreten, von 2004 bis 2009 auch in Eller. In Gerresheim war ich anfangs dabei. Mein Standpunkt hat mich vorangebracht. Ich kann nicht Gitarre spielen. Ich stehe vor den Fabriken. Ich erwarte von allen Genossinnen…"

    „…und Genossen, ja Kathrin. Wir kennen deine Verdienste."

    Martin, der seines Erachtens schon genügend auf die Rahmenbedingungen und Voraussetzungen des Klassenkampfes hingewiesen hatte, deren konservative Wurzeln die Garantie für Standfestigkeit und Wachstum sind, wendet sich an Thomas.

    „Wir wollen dem Übel an die Wurssel gehen."

    Sein Blick in die Runde steigert die Entspannung.

    Bevor Thomas naseweisen kann, rettet ihn Sabine, was uns zeigt, dass es immer wieder die Liebe ist, die den wissenschaftlichen Sozialismus aus dem Proklamieren in die Praxis hilft.

    „Vielen Dank Kathrin, vielen Dank Martin. Wir haben jetzt ausführlich Thomas dargelegt, was die Partei der Arbeiterklasse heute erst recht für eine Bedeutung hat. Und wo unsere Pflichten liegen. Wir sind es, die die Arbeiterklasse vor der Ausbeutung durch das Kapital schützen. Wir vertreten ihre Interessen."

    Beifall.

    „Wir haben dir, Thomas, unsere Standpunkte dargelegt. Bevor wir nun zum Ergebnis kommen, fordere ich dich auf, uns zu sagen, was wir von dir erwarten dürfen."

    Tomas weiß, dass er weder Kathrin noch die Schaumschläger des Gremiums durch theoretische Statements überzeugen kann. Die wollen auch nicht wissen, ob er den wissenschaftlichen Sozialismus kann, die wollen wissen, ob er das sagen wird, was sie immer schon geglaubt haben. Wir dürfen jetzt nicht an Inquisition und auch nicht an ein Selbstkritikgremium denken; und auch nicht an Psalmen der Klassiker, was unzulängliche Analogien zur Glaubenskongregation der katholischen Kirche nahelegen würde. Auch von einem Abschwören, wie wir es von sektiererischen Gruppen kennen, rät die Regie ab. Nein. Thomas muss seinen Standpunkt vertreten.

    Sein akademischer Background beunruhigt uns ausreichend, er könne, um als Klassenkämpfer anerkannt zu werden, ein Proseminar ‚Wissenschaftlicher Sozialismus I‘ im Kreis dieser standhaft Ahnungslosen exerzieren. Doch er will diese aufgeblasene Attitüde wettmachen durch den Trugschluss, die Herzen der Genossinnen und Genossen gewinnen zu können – ohne Gitarre. Im Schatten des Dünkels blüht die Blindheit. Hier wie da.

    „Liebe Genossinnen und Genossen, gerne habe ich schon als Jugendlicher mit Überzeugung Gitarre gespielt. Nicht irgendwo, nicht um des Spielens willen. Um der Freiheit willen, für die Freiheit der Arbeiterklasse. Nicht die Herkunft entscheidet, wofür wir kämpfen. Der Verstand tut es. Schaut auf Engels."

    Die unbewegten Gesichter zeigen ihm, dass der Schulterschluss mithilfe dieses großen Zeugen nicht gelingen will. Die Genossin und die Genossen bleiben ein versteinertes Gremium. Nur Sabine vermag ihre Anteilnahme hinter den warmen Äuglein in einem streng linierten Gesicht nicht zu verbergen.

    „Mit Überzeugung Gitarre spielen heißt, dem Kampf Musik zu machen."

    Sabine jetzt anzuschauen, ist ein Fehler, den zu begehen, Thomas nicht versäumt. Die Zweifel der Genossinnen und Genossen an seiner Klassenkampftauglichkeit als Herzensangelegenheit einzuschätzen, offenbart ein grobes Missverständnis der Funktion der Organe in westlichen Gesellschaften. Die Merksätze des wissenschaftlichen Sozialismus schützen die wahre Arbeiterpartei vor Zweifeln an ihren Standpunkten. Schon Marx hatte in seiner Deutschen Ideologie die selbsternannten ‚wahren Sozialisten‘ als esoterisch gebrandmarkt. Und daher wird Thomas klar, dass dieses Gremium nicht gegen ihn gerichtet ist. Nein. Nur die skeptische Haltung gegenüber bürgerlichen Quereinsteigern – wenn auch mit gutem Willen – und die Verpflichtung auf den historischen Materialismus bewahrt den wissenschaftlichen Sozialismus vor diesen ‚wahren Sozialisten‘.

    Thomas hatte bereits anlässlich einer Vernissage der Düsseldorfer Kommunisten für die DDR-Künstlerin Bärbel eindringlich darauf hingewiesen, dass ihre Pinselführung nur auf der Linie des wissenschaftlichen Sozialismus wirkmächtig sein könne. Wir werden die Szene beizeiten ausmalen, doch nun werden die Düsseldorfer Genossinnen und Genossen dies in anderen Worten zu hören haben.

    „Doch nicht nur das, Genossinnen und Genossen. Der dialektische Materialismus ist kein Notenblatt. Er ist die strategische Grundlage unseres historisch bedeutsamen Weges zu Frieden und Freiheit…"

    Die weiteren Ausführungen des Genossen Thomas gehen von nun an bei einschlägigen Assoziationen im allgemeinen Laudatieren des radikal wissenschaftlichen Ansatzes und der Zustimmung unter. Martins Schlusswort können wir nachlesen in einem beliebigen Schlusswort eines beliebigen Sitzungsprotokolls der kommunistischen Internationale zwischen 1982 und heute.

    Die Reisetätigkeit des Genossen Thomas wird ihn erneut zu den Genossinnen und Genossen nach Berlin (DDR) und Potsdam führen, die von ihm als Jungkommunist besucht worden zu sein schon einmal die Ehre hatten.

    *

    Mike aus Potsdam flüchtet im Herbst 1989 vor den Ritualen der sozialistischen Menschwerdung, die Brigadier Middach stets mit Demütigungen arrondierte. Wie konnte es so weit kommen? Mikes Flirts mit dem Ei des Kolumbus vom Kindergarten bis zur Bewährung in der Produktion scheiterten an seinen weit auseinanderliegenden Zielen. Nicht ins Fettnäpfchen treten und als Sport-Ass Karriere machen; beides gemeinsam klappte nicht.

    Die Schrecken des Umbruchs werden Mike nach seiner U-Haft die Augen öffnen. Verschlossen hatte er sie bei den vorausgehenden objektiv staatsfeindlichen Umwälzungen. Und kann nur hinterschlucken, dass nicht mehr gilt, was vorher galt. Standpunkte zerbrechen wie herabstürzende Tassen. Die freiheitsdürstende Strömung erstarrt nach der Öffnung der Grenze zur BRD wie Lava.

    Thomas. Der aufrechte Kommunist, ist die Vorahnung der westlichen Pose, die mit dem Mythos des Wohlstandsversprechens im Nacken und der Ikone DMark auf dem Opfertisch Mikes Heimat den Respekt verweigern wird. Er wird von der roten Linie des reinen Kommunismus unseren Mike so wenig erkennen, wie einige von Mikes prominenten Genossen aus seiner Heimat; die uns hier und da begegnen werden. Aus Hamburg wird Mike mit dem Blick durch das Tor zur Welt verstehen, dass von dort seine Heimat – diesmal von der gelben Linie des reinen Wirtschaftsliberalismus – auch nicht erkannt werden kann.

    Wird es im Morgenlicht nach den Umbrüchen gelingen, die Scherben des zerschlagenen Porzellans neu zusammenzusetzen? Die in der Dämmerung nicht zueinander finden durften. Und können sie zurück springen auf den Tisch? Wird die Richtung der Zeit umgekehrt werden können?

    Mike weckte mein Interesse, als er aus der Höhle des Löwen einen Blick in seine Heimat werfen wollte. Ich begegnete ihm 1993 in Hamburg-Eppendorf auf saturiertem Parkett. Sabine – ja, die aus Düsseldorf-Lierenfeld ‚unter dem Dach der Partei‘ –

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