Sorge um das Offene: Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater
Von Julius Heinicke
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Über dieses E-Book
In seiner Habilitationsschrift betrachtet Julius Heinicke anhand gegenwärtiger Festivals und Inszenierungen in Deutschland und dem südlichen Afrika die paradoxe Situation und entwickelt eine Vorstellung von Ästhetik, die sich um das Offene sorgt, indem durch ihr Wirken Gleichheit im Verschiedensein erfahren wird. Der zweite Teil nimmt die Rahmenbedingungen in den Fokus: Welche kulturpolitischen Entscheidungen müssen getroffen, welche Umbrüche inszeniert werden, damit die Theaterlandschaft sich der Vielfalt auch zukünftig stellen kann?
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Buchvorschau
Sorge um das Offene - Julius Heinicke
Julius Heinicke
Sorge um das Offene
Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater
Recherchen 148
© 2019 by Theater der Zeit
Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien.
Verlag Theater der Zeit
Verlagsleiter Harald Müller
Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany
www.theaterderzeit.de
Lektorat: Gerke Schlickmann
Korrektorat: Sybill Schulte
Gestaltung: Sibyll Wahrig
Umschlagabbildung: © Can Stock Photo Inc. / Emir Simsek
Printed in Germany
ISBN 978-3-95749-196-1 (Taschenbuch)
ISBN 978-3-95749-249-4 (ePDF)
ISBN 978-3-95749-250-0 (EPUB)
Julius Heinicke
Sorge um das Offene
Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater
Inhalt
Zum Geleit
Prolog
Grenzen (auf) der Bühne: Wie geht Darstellung ohne Zurschaustellung?
Theater mit Geflüchteten in Südafrika und Deutschland
Kapitel 1
Einleitung und Überblick Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater
Ein südafrikanisch-deutscher Einstieg
Rassismus und Blackfacing im Theater
Theater und Vielfalt in der Rainbow Nation
Sichtbarmachung kolonialer Normen in Südafrika
„Männlich Weiß Hetero": Ein Festival über Privilegien in Deutschland
Wider binäre Dichotomien: Impulse der afrikanischen Kritik an westlichen Diskursen
Eine Metapher kolonial-binären Denkens: Hegels Herr und Knecht
Von Hegels kolonialer Metapher zur Ästhetik
Ästhetik in der afrikanischen Kritik
Rassistische Ästhetik im deutschsprachigen Theater: Die Schutzbefohlenen und Die Schutzlosen
Liminale Ästhetik/Aisthesis: Die Vreemdeling
Asymmetrische philosophische Ästhetik: Orpheus in der Oberwelt
Verknüpfungen von Ästhetik und Aisthesis, Asymmetrie und Liminalität, Autonomie und Anwendung: Theater als Verhandlungsraum zwischen den Welten
Die Sorge um das Offene: Vorüberlegungen zur Ästhetik der Entähnlichung
Kapitel 2
Unter Hegels Fittichen: Bürgerliche und koloniale Identität im Theater
Brechungen und Neuinszenierungen einer bürgerlich-normativen Ästhetik: Das Berliner Maxim Gorki Theater
Verrücktes Blut I: Die Macht bürgerlicher Ästhetik
Verrücktes Blut II: Verknüpfung von Theaterästhetik und Pädagogik
Theater als Wirkungsstätte der bürgerlich-kolonialen (Selbstbewusstseins- und) Herrschaftsbildung
Das Ich und das Andere: Der spekulative Prozess des bürgerlichkolonialen Selbstbewusstseins als Motor der kolonialen Herrschaft
Koloniales Begehren
Dialektik der Anerkennung: Dichotome Übertragungen von Herrschaft und Knechtschaft als gemeinschaftsstiftende und ausschließende Taktik
Versuche der Befreiung aus der Knechtschaft und aus der dichotomen Differenz
Hegels Ästhetik: Erfahrungsort der Differenz und das Ende der Kunst
Befreiungspotenziale und das Drama in Hegels Ästhetik
Rezente Ästhetikdiskurse unter Hegels Fittichen
Unter den Fittichen der Eule der Minerva: Potenziale der (Hegel’schen) Ästhetik
Kapitel 3
Vom postkolonialen Diskurs zur Ästhetik der Entähnlichung
Dekoloniale Strategien im Theater: In unserem Namen am Berliner Maxim Gorki Theater
Postkolonial-transkulturelle Vorbotin? Die Fiebach’sche Theatralität
Universalitätsansprüche postkolonialer Theorie
Abschied von der Semiotik und Hinwendung zum sozialgesellschaftlichen Kontext
Kulturelle Realitäten des Körpers versus Realismus im Theater
Interweaving Performance Cultures: Mistral von Susanne Linke und Koffi Kôkô
Verhandlungen von kultureller Vielfalt: Von der sozialen Theatralität über das postdramatische Theater zur Ästhetik der Entähnlichung
Versionen von Freiheit
Der Weg des Ästhetischen ins Offene: Anne Imhofs Faust
Kapitel 4
Kulturpolitik als Sorge um das Offene
Kulturpolitik im Kontext gesellschaftlicher und kultureller Vielfalt
Kulturpolitische Linien zur Förderung von kultureller Vielfalt in Deutschland seit der Jahrtausendwende
Wandelnde Formen von Kapital innerhalb der Kulturförderung
Kulturpolitik und kulturelle Bildung
Kunst oder Soziales? Überwindung von tradierten Grenzen
Avantgardistische Reformen: Hildesheimer Thesen und der Paradigmenwechsel
Kompetenzvermittlung und künstlerische Freiheit: Tradierter Gegensatz oder vielversprechendes Tandem?
Applied Theatre als kulturpolitischer Hoffnungsträger?
Recherche und Feldforschung: Künstlerkollektive auf dem goldenen Mittelweg zwischen Kunst und Gesellschaft, Sozialem und Künstlerischem?
Ensembletheater und Intendanzsystem: Bremsen kultureller Vielfalt im Theater?
Vorbild Südafrika?
Potenziale der Digitalisierung
Kulturpolitische Auswertung und Maßnahmen für den deutschen Kontext
Kapitel 5
Agentin kultureller Vielfalt oder Akteurin der „intercultural mafia"? Überlegungen zur internationalen Kulturpolitik und deren Förderpraxis
Das Symposium „Theatre in Transformation" in Südafrika
Kulturpolitik im Spannungsfeld: Das „Harare International Festival of the Arts" in Zimbabwe (HIFA)
Mugabes repressive Kulturpolitik bis zum wirtschaftlichen Zusammenbruch
Die Weltoffenheit des Festivals als Konterpart zur reaktionären Politik des Regimes
„Enligh10ment": Das Festival als Hoffnungsträger in politischökonomischer Krisenzeit
„The Engagement Party": Das Festival zwischen politischenökonomischen Strategien und künstlerischer Unberechenbarkeit
Internationale Kulturpolitik als „Akteurin dazwischen"
Internationale Kulturpolitik und die Förderung von kultureller Vielfalt
Epilog
Verschiedenheit als Gleichheit
Danksagung
Anhang
Theaterproduktionen, Performances und Festivals
Bibliographie
Endnoten
Zum Geleit
Die darstellenden Künste verstehen sich, wenn man den jahrzehntelangen O-Tönen insbesondere aus den deutschen Stadt- und Staatstheatern Glauben schenken darf, als Hort und Ort der Selbstvergewisserung und Selbstverständigung in und mit der Gesellschaft. Aber wer ist die Gesellschaft? Auf welchen Strukturen fußt die Theaterlandschaft, und wohin bewegt sie sich in Anbetracht von Globalisierung und Digitalisierung, von Migration und Integration? Wie reagieren die Erscheinungsformen der darstellenden Künste in Inhalt und Ästhetik auf den demographischen Wandel? Wegen der umfänglichen öffentlichen Förderung des Theaters in Deutschland darf dabei die Rolle der Kulturpolitik als normative Kraft des Faktischen und im besten Falle als Konzeption für die Weiterentwicklung nicht unberücksichtigt bleiben.
Julius Heinicke beschäftigt sich in seiner Habilitationsschrift vor allem mit der kulturellen Vielfalt als Schlüsselbegriff für die Perspektiven einer postkolonialen Theaterarbeit. „Obwohl seit einiger Zeit eine inter- und vermehrt auch transkulturelle Öffnung des Theaters propagiert wird, scheinen in deutschsprachigen Theaterprojekten (neo)koloniale Muster stets noch wirkungsmächtig zu sein, stellt er bereits zu Anfang seiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung fest und will sich diesem Dilemma stellen, um „mögliche Potenziale des Theaters für die Verhandlung kultureller Vielfalt auszuloten
.
Programmatisch verbindet er den globalen Norden mit dem globalen Süden und untersucht deutsche und (süd-)afrikanische Theaterpraxis. Inszenierungen und Festivals stehen im Mittelpunkt der Beobachtungen. Analysen und Reflektionen der ästhetischen Ebene sind verbunden mit dem Blick auf die kulturpolitischen Rahmenbedingungen von Theaterprojekten. Forschung und Theorie will er mit Diskursen u. a. zur Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels und Achille Mbembes, entlang deren Phänomenologie des Geistes und der Kritik der schwarzen Vernunft anregen, mit einem Theater der Vielfalt koloniale Denkweisen zu überwinden.
Er beschreibt die Diskurse um Diversität in Theorie und Praxis, wider binäre Dichotomien, in der Verknüpfung von Ästhetik und Aisthesis, Asymmetrie und Liminalität, Autonomie und Anwendung. Ihm geht es um die bürgerliche und koloniale Identität im Theater, um Herrschaftsbildung, die Dialektik der Anerkennung und um den Erfahrungsort der Differenz und führt den postkolonialen Diskurs zur Ästhetik der Entähnlichung von der sozialen Theatralität über das postdramatische Theater. Im Mittelpunkt der Erörterung steht eine Kulturpolitik als Sorge um das Offene; fokussiert wird auf dekoloniale Strategien, avantgardistische Reformen, kulturelle Bildung, künstlerische Arbeitsweisen und die Überwindung von tradierten Grenzen. Schließlich widmet er sich Überlegungen zur internationalen Kulturpolitik und deren Förderpraxis und formuliert eine Reihe von Handlungsempfehlungen.
Julius Heinicke ist ein kluger Chronist theaterpolitischer Entwicklungen, er ist ein ausgezeichneter Spezialist, wenn es um transkulturelles Theater geht, mit besten Kenntnissen in den deutschen und südafrikanischen darstellenden Künsten. Und er ist ein außerordentlich erfahrener Kulturwissenschaftler, dem es gelingt, eine weitere Begründung von Applied Theatre zu fundieren. Ihn interessiert der Einbruch des Anderen und des Fremden im Theater, er setzt auf eine soziale und pädagogische Wirksamkeit von Theater und weiß um die Wichtigkeit der Einbeziehung und Adressierung des Publikums, deren gesellschaftliche Wirkung durch die Öffnung des ästhetischen Raums.
Mit den Begrifflichkeiten aus Mbembes Streitschrift, der „Sorge um das Offene und deren Prinzip von der „Entähnlichung
, bringt er neue Termini in die postkoloniale Debatte um ein Theater jenseits der Traditionen und der tradierten Strukturen, wider jene Gemeinschaftsbilder eines kolonial-dichotomen Differenzdenkens, die sich über Abgrenzung definieren. „Vielmehr sollen sie Vorstellungen favorisieren, in denen Gemeinschaft über die vielen Verschiedenheiten erschaffen wird, die schließlich jeder mit anderen teilt." Kritisiert wird eine Kulturpolitik, die eher polarisiert und nach dem künstlerischen Mehrwert fragt, offensichtlich aber ökonomische und marketingstrategische Zwecke meint.
Immer wieder rekurriert Julius Heinicke bei seinen Interventionen in der Theaterlandschaft auf Hegel. Die gegenseitige Anerkennung, dass dieser vom Anderen und Europa gegenüber afrikanischen Ländern einfordere, sei geheuchelt, da sie die hierarchische Differenz zwischen Herr und Knecht nicht aufhebe, sondern die Spaltung in Schwarz und Weiß weiterspiele. „Die dichotome Differenzierung zwischen den beiden Wesen des Bewusstseins, die im Verhältnis von Herr und Knecht zutage tritt, ist so ein Grundmoment der westlich-bürgerlichen Identität und Motor des Kolonialismus samt dessen Degradierungsstrategien."
Das Potenzial von Ästhetik sei noch lange nicht neu ausgelotet, weshalb Konzepte, die den asymmetrischen Blick auf Theater wagen, stärker auszuprobieren wären, weil sie ein Stück weit den kolonialen Gestus infrage stellen, im besten Falle zu thematisieren wissen und langfristig in System und Repertoire, in dekolonialen, feministischen und queeren Kontexten kulturelle Vielfalt im Theater verhandeln. Er spricht in diesem Zusammenhang gerne von Momenten des Unwissens, von einer Haltung der Entfremdung, vom Gestus der Entähnlichung. Mit solchen ästhetischen Erfahrungen „können womöglich Formen des Denkens entstehen: Denk- und Wissenschaftswesen, die sich aus kolonialen Kategorien herausgelöst und die Dichotomien des Abendlandes überwunden haben".
Julius Heinicke fordert, abgeleitet von den theoretischen Überlegungen, Innovationen und Veränderungsprozesse in der Praxis: Entscheidungsprozesse sollten zukünftig nicht mehr von hierarchischen Strukturen abhängen, das Intendantenmodell sei obsolet; Themenrecherchen müssten zum Produktionsprozess dazugehören, um sozial-kulturelle Partizipation zu ermöglichen; die Vernetzung mit gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Institutionen sei geboten, Theater dürfen nicht mehr die alleinigen Orte der Kunstelite bleiben; angepasste Förderkooperationen von Bund, Ländern und Kommunen sollten Freiräume für innovative Ideen schaffen; die Förderung von Kooperationen zwischen einzelnen Häusern, der Freien Szene und Festivals regional und bundesweit müssten kulturpolitischer Auftrag sein; es gelte zudem, die Auswahlverfahren an Schauspielschulen hinsichtlich kultureller Vielfalt anzupassen, um kulturelle Vielfalt auch im Personal abbilden zu können; und es wären Anreize zu geben, um die Überwindung von Stereotypen zu verhindern.
Julius Heinicke plädiert für einen Strukturwandel innerhalb der Theaterlandschaft und fordert eine kulturpolitische Grundsatzstrategie für Theater als Verhandlungsort kultureller Vielfalt. Auf der Basis weiterer Vorschläge für Maßnahmen lautet seine Conclusio: „Eine nachhaltige Kulturpolitik sollte dafür Sorge tragen, dass viele dieser Räume und Sphären durch Kultur- und Theaterprojekte an vielen Orten der Welt entstehen."
Die Sensibilisierung gegenüber vielfältigen Lebensentwürfen und Lebensgeschichten, das ist der Impetus, mit dem Julius Heinicke versucht, Theater neu zu denken. Und er bezieht sich kenntnisreich auf die Modelle aus der zeitgenössischen Praxis: Verrücktes Blut und In unserem Namen am Maxim Gorki Theater Berlin, Die Schutzbefohlenen nach Elfriede Jelinek am Thalia Theater Hamburg, Faust von Anne Imhof im Rahmen der Biennale in Venedig, Orpheus in der Unterwelt: Eine Schlepperoper von andcompany & Co. und Mistral von und mit Susanne Linke und Koffi Kôkô sowie das Festival „Männlich Weiß Hetero" am Berliner HAU 2015 als Beispiele unter anderen aus Deutschland; Die Vreemdeling von Mark Fleishman am Magnet Theatre in Kapstadt, das „Harare International Festival of the Arts und die Tagung „Theatre in transformation
der Universität Hildesheim und der Tshwane University of Technology 2016 in Pretoria und Soweto als Forschungsgegenstände von (süd)afrikanischer Seite.
Julius Heinicke gelingt beeindruckend der theoretische Spagat über mehr als zwei Jahrhunderte Theater-Historie, Ästhetik-Diskurse und Kolonial-Geschichte. Er meistert dabei die Vermessung der darstellenden Künste am Puls der Zeit, mitten im Umbruch, an zentralen Stellen des Nachdenkens, vor allem der Versuche veränderter Praxis. Missverständnisse weiß er aufzuklären; indem er sie zur Diskussion stellt, hinterfragt und auch kritisiert. Den Bogen von Hegels Ästhetik von damals zur Praxis des Theaters heute spannt er pointiert und konfrontiert die postkoloniale Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis aus afrikanischen Kontexten. Der globale Süden zeigt sich demnach von zwei Seiten, in einer theatralen Praxis, die noch immer traditionelle Strukturen aus der Kolonialzeit zu pflegen weiß, und in einer philosophischen Theorie, die neue Strukturen für das Darstellen und Geschichtenerzählen zu schaffen imstande ist.
Mit der Sorge um das Offene bereichert er die Debatte um ein neues Theaterverständnis als Kultur der Vielfalt, mit der „Entähnlichung" den kulturpolitischen Auftrag jenseits von multi-, inter- und transkulturellen Entwicklungen in der Theaterlandschaft.
Von großem Verdienst sind seine im Sinne angewandter Kulturpolitikforschung erarbeiteten Vorschläge für eine Cultural Governance, die ein Umsteuern in der öffentlichen Theaterförderung möglich machen könnten. Es geht Julius Heinicke um eine vielfältige Art und Weise, mithilfe von Theaterarbeit Sphären zu schaffen, in welchen diverse kulturelle Traditionen und Techniken genutzt werden, um die gesellschaftlichen Herausforderungen in politischer, in sozialer, vor allem in künstlerischer Hinsicht zu bestehen. Die Kunst der Verschiedenheit der Menschen könne im Theater entfaltet und als Gleichheit verstanden werden.
Prof. Dr. Wolfgang Schneider,
Stiftung Universität Hildesheim
Dieses Buch ist eine gekürzte Fassung meiner Habilitationsschrift, die an der Stiftung Universität Hildesheim eingereicht und von der Kommission als schriftliche Habilitationsleistung angenommen wurde. Einzelne Thesen und Beispiele wurden in früheren Veröffentlichungen bereits verwendet, hier jedoch in einen Gesamtzusammenhang gesetzt. Das betrifft insbesondere folgende Beiträge und Publikationen: Heinicke (2018): Post-Hegel, Heinicke (2017): Fallstricke; Heinicke (2017): Verstrickungen, Heinicke (2014): Die Toten, Heinicke (2012): How to Cook a Country. Die betreffenden Passagen sind gekennzeichnet. Der Prolog ist 2015 als Artikel in Theater heute veröffentlicht worden.
The research leading to these results has received funding from the European Research Council under the European Union’s Framework Programme (FP7/2007 – 2013) / ERC grant agreement no 295759.
Prolog
Grenzen (auf) der Bühne: Wie geht Darstellung ohne Zurschaustellung?¹
Theater mit Geflüchteten in Südafrika und Deutschland
Sie kommen aus dem Norden. Die Grenze ist löchrig, und Schlepperbanden besorgen den Rest: zu Fuß, über das Land, herunter vom Hochplateau, aus den angrenzenden Nachbarländern, Zimbabwe, Mosambik, Angola, aus Zentralafrika, dem Kongo, aber auch aus dem Nordwesten, Senegal, Elfenbeinküste. Sie kommen aus dem Süden. Zu Fuß, durch die Wüste, überqueren Landesgrenzen des Kontinents, aus Nord-, Ost- und Zentralafrika, Eritrea, Somalia, dem Sudan, ein lukratives Geschäft für die Schlepperbanden. Denn sie müssen weiter über das Wasser, das Meer der Toten, heutzutage die gefährlichste Route der Welt.
Das Ziel derer aus dem Norden ist Südafrika. Sie leben in den Townships, deren Armut, Gewalt und Kriminalität. Dort nennt man sie „Aliens. Sie sind die untersten in der menschenverachtenden Hierarchie, arbeiten hart und schicken das wenige Geld zu ihren zurückgebliebenen Familien. Sie werden gehasst, geschlagen und getreten. Das Ziel derer aus dem Süden ist Europa. „Asylanten
– klingt wie „Aliens", Schimpfworte. Manchmal dürfen sie weiterziehen, kommen von Auffanglagern in Flüchtlingsheime, sie werden eingepfercht, ausgegrenzt, malträtiert und beschimpft.
Südafrika und Europa: Ein Land und ein Kontinent, beides Metaphern für Wohlstand und Traumlandschaften, deren Lobgesänge nicht verstummen wollen. Hier ist Arbeit, hier blüht das Leben, nämlich Wirtschaft und Export. Darauf ist man stolz, deswegen kommen sie vom Norden in den Süden und vom Süden in den Norden, aufwärts und abwärts wie die Ströme des Konsums, nur in entgegengesetzter Richtung. Wein, Früchte und Bodenschätze aus dem Süden, Autos, Waschmaschinen und Wertstoffe des Recyclings aus dem Norden. Routen der Globalisierung.
In Südafrika erkennt man sie, weil sie anders sprechen. Offenkundig, wenn sie aus frankophonen Ländern Westafrikas kommen, doch auch die Menschen aus Zimbabwe, Mosambik und Malawi sprechen andere englische Akzente und fremde Sprachen wie Shona, Ndebele, Portugiesisch, kein Xhosa, Afrikaans oder Zulu. Sie bringen selten Autos oder Waschmaschinen mit und werden verächtlich „Kwerekwere genannt, weil sie „Kauderwelsch
sprechen, unverständliche Sprachen.
Der Theaterautor Blessing Hungwe nimmt das onomatopoetische Schimpfwort in den Titel seines Theaterstücks auf. Burn Mukwerekwere Burn erzählt von den Gewalterfahrungen eines zimbabwischen Flüchtlings in Südafrika und richtet sich auf die grausamen Vorfälle der letzten Jahre, bei denen Geflüchtete im Großraum Johannesburg von blutrünstigen Mobs verfolgt und angezündet wurden. In der Inszenierung des Stücks integriert der Regisseur Giles Ramsay das Spielen zweier Instrumente, der mbira (Zupfidiophon) und ngoma (Trommeln). Der Geflüchtete wird von einzelnen Südafrikanern brutal massakriert. Die Fußtritte, die szenisch nur angedeutet sind, werden durch einzelne Trommelschläge markiert und verstärkt. Doch zwischen den Szenen der Gewalt erklingt das sanfte Zupfen der mbira. Es entstehen Momente, in denen der geschundene Mensch nicht nur zur Ruhe kommt und innehalten kann, sondern in denen Traurigkeit über den Hass, aber auch Hoffnung auf eine gemeinsame friedvolle Zukunft der unterschiedlichen ethnischen Gruppen erwächst. Da das Instrument im gesamten südlichen Afrika verbreitet ist, betont sein Einsatz gemeinsame kulturelle Hintergründe und Verwandtschaft zwischen Zimbabwern und Südafrikanern und ihre ähnlichen Erfahrungen wie Kolonisation und Apartheid. Das Gemeinschaftsgefühl wird verstärkt, indem die Darsteller, wenn sie musizieren, aus ihren Rollen heraustreten, die ihnen der Text vorgibt. In den Musikszenen stellen sie keine verfeindeten Protagonisten mehr dar. Die Inszenierung geht somit einen Schritt weiter als der Theatertext, der primär die Gewalt, den Hass und die Polarisierung der südafrikanischen und zimbabwischen Bevölkerung thematisiert.
In Nicolas Stemanns Inszenierung der Schutzbefohlenen am Hamburger Thalia Theater scheint es genau anders herum zu sein. Auch im deutschsprachigen Raum widmen sich Theaterakteure der Flüchtlingsthematik, allerdings tut sich das Kunsttheater hierzulande schwer, eine angemessene Darstellungspraxis für diesen aktuellen „Stoff" zu finden. Elfriede Jelineks Text versucht nicht nur, die Stimmen der Schutzbefohlenen als Chor in den deutschsprachigen Kanon zu integrieren, sondern verbindet diese mit den Mythenschichten vermeintlich westlicher Kultur. Der Rückgriff auf Aischylos’ Schutzsuchende, die Referenzen auf die danaischen Nachfahren der Io, die zum Schutz vor der eifersüchtigen Hera wegen ihrer Affäre mit Zeus von diesem zur Kuh verwandelt wurde und seitdem, das ist Heras Racheakt, von einer Bremse verfolgt über Landesgrenzen und Meere hinweg flüchtet, versinnbildlichen in Jelineks Text – ähnlich dem mbira-Spiel in Burn Mukwerekwere Burn – die Gemeinsamkeiten zwischen den europäischen und afrikanischen Protagonisten. Blicken wir auf die Antike samt ihren Ursprungsmythen, müssen wir feststellen, dass wir Europäer alle einmal kolonisiert wurden und Fremde waren, die dem abendländischen Kanon mit seiner christlichen Heilsbotschaft und seinem griechischen vollen phonetischen Alphabet einverleibt wurden.
Was Jelinek als Text gelungen ist, nämlich die Kulturschichten und Lebensfäden miteinander zu verweben, wird in der Hamburger Inszenierung bewusst zerschlagen. Die bühnenerprobte Kunstsprache der einzelnen Schauspieler² hebt sich deutlich vom Chor der Flüchtlinge ab und löst die kollektiven Intentionen des Jelinek’schen Textkanons auf. Die Inszenierung zelebriert in erster Linie die wichtige, aber folgenschwere Frage, wieso die Flüchtlingsdramatik das Kunsttheater an seine Grenzen führt. Die Regie will jedoch keine Antwort geben, sondern holt die betroffenen Menschen selbst auf die Bühne, die mit ihren Körpern die Realität nicht nur symbolisieren, sondern diese leibhaftig sind. Was gut gemeint ist, riecht verdammt schnell nach Exotismus. Das ist so gewollt, denn der Teufel kann hier wohl nur mit dem Beelzebub ausgetrieben werden, was Franz Wille folgerichtig die höhere Mathematik des Darstellungsrassismus getauft hat.
Doch stellt sich die Frage, ob wir trotz jahrzehntelanger multikultureller, postkolonialer und neuerdings postmigrantischer Diskussionen keine anderen Darstellungsweisen gefunden haben? Hier lohnt sich ein Blick zurück auf die Inszenierung von Burn Mukwerekwere Burn. Wie in den Schutzbefohlenen stellen sich hier den Geflüchteten Mitglieder der Nation entgegen, in welcher die Menschen um Asyl bitten. Während die afrikanische Inszenierung jedoch eine Darstellungsweise gefunden hat, nämlich über die Musik eine Gemeinschaft zwischen zimbabwischen und südafrikanischen Protagonisten zu erschaffen, betont die deutsche Aufführung weniger die Gemeinsamkeiten, sondern vielmehr die Differenz zwischen geflohenen und nicht-geflohenen, deutschsprachigen und nicht-deutschsprachigen Darstellern. Was in der Schriftsprache des Textes von Jelinek, also auf der Ebene der Symbole, gelingen mag, nämlich, dass die geflüchteten Menschen Teil des kollektiven Kanons werden, will die Bühne nicht einlösen, weil sie es offenbar (noch) nicht vermag.
Vielleicht sollte hieraus gefolgert werden, dass die deutschsprachige Gesellschaft und ihr Theater sich hinsichtlich der Flüchtlingsthematik zunächst einmal mit sich selbst und ihren Ressentiments, Ängsten und Degradierungsbestrebungen beschäftigen will, bevor sie Methoden entwickelt, um die „Fremden und „Anderen
in die Bühnen- und Rezeptionsästhetik aufzunehmen. Orpheus in der Oberwelt: Eine Schlepperoper von andcompany&Co. zäumt das Pferd von hinten auf. In der Aufführung im Berliner HAU erscheinen keine Menschen, die um Asyl bitten, leibhaftig auf der Bühne, sondern werden von Schauspielern in Vogelkostümen repräsentiert, um der Absurdität von Grenzen Ausdruck zu verleihen. Im Zentrum stehen jedoch nicht die fliegenden und flüchtenden Protagonisten, sondern die Auseinandersetzung mit der abendländischen Kultur, ihrer Symbolik und den Mechanismen von Aus- und Abgrenzung. Die Schlepperoper ist voll von derlei Verweisen, das Bühnenbild ist überfrachtet mit Symbolen, und die Opernmusik von Monteverdi tut das Ihrige, um einen westlichen Gestus zu suggerieren. Doch es reicht nicht, dies zu sehen und sich selbstständig zu erschließen. Andcompany&Co. legen – allerdings überdeutlichen – Wert darauf, dass diese Referenzen verstanden werden, und dozieren und erklären vom Bühnenrand aus. So wähnt sich das Publikum auf einmal in einer Vorlesung der Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun: Die Geschichte des Abendlandes beginnt mit dem Alpha, dem ersten Buchstaben des Alphabets, das in seiner Ursprungsform zunächst die Hörner des Stiers, doch mit den Jahren den Ochsen und dessen Joch symbolisiert, was auf die Domestizierung der Männlichkeit im christlichen Abendland hindeutet. Ein cleverer Verweis, wird doch ersichtlich, dass so mancher Pegida-Demonstrant und Flüchtlingsgegner jenen Kompetenzverlust noch nicht überwunden hat und seine Aggression sich aus eben diesem nicht reflektierten Degradierungstrauma nährt. Hier funktionieren die Bezüge auf der Bühne, wenn auch nur mit Hilfe didaktischer Anwendung.
Eine andere Herangehensweise, sich mit Flüchtlingen im Theater zu beschäftigen, hat eine oft von der hohen Theaterkunst belächelte Szene hervorgebracht. Viele Akteur*innen auf dem Feld des Applied Theatre arbeiten in Flüchtlingsheimen und Jugendzentren mit geflüchteten Menschen zusammen. Sie nutzen Theater, um mit ihnen in Dialog zu kommen, Grenzen und Ängste abzubauen und ihnen eine Stimme zu geben. Am Hamburger Hajusom erarbeiten jugendliche Geflüchtete und Migranten Theater- und Tanzstücke. Ende November zeigte das Theater auf seinem Festival „If we ruled the world – 15 Jahre Hajusom", dass es jede Menge künstlerische Ansätze transnationaler Theaterarbeit gibt. Hajusom avancierte mit den Jahren zur Talentschmiede einer neuen vielversprechenden Generation Kunstschaffender. Im Berliner Haus der Kulturen der Welt hat der Refugee Club zusammen mit geflüchteten Menschen Letters Home auf die Bühne gebracht. Die Darsteller*innen berichten ihren zurückgebliebenen Freunden und Verwandten über ihre Flucht und ihren Alltag in Deutschland. Im Publikum waren viele Menschen, die in Flüchtlingsheimen leben und in Bussen anreisten. Der Akt, gemeinsame Erfahrungen zu teilen, wurde jedoch abrupt abgebrochen. Die Performance überzog die Zeit, die Busse mussten fahren, bevor der Theaterabend zu Ende war, und diejenigen, die eben nicht frei sind, sondern auf die Busse angewiesen, mussten hektisch aufspringen und zurück in ihre Flüchtlingsheime, bevor sie applaudieren konnten. Applied Theatre ist eben eine besondere Theaterform. Die Akteure sind meist Laien. Sie sind verletzlich, denn die Geschichten, die hier verhandelt werden, sind mit der eigenen Biographie eng verknüpft. Angewandtes Theater ist stets mit gesellschaftlichen, politischen oder therapeutischen Zielsetzungen verbunden, welche, falls ein Publikum vorgesehen ist, auch an die Rezipienten gerichtet sind, sodass ein rein ästhetischer Kunstgenuss oft weniger im Vordergrund steht.
Wie aber können diese Themen und Geschichten im Theater jenseits der Applied-Theatre-Szene verhandelt werden, ohne Zurschaustellung? Leonie Pichler hat mit dem Künstlerensemble Bluespot Productions in Augsburg mehrere Monate Geflüchtete begleitet und hieraus künstlerische Werke geschaffen, welche die Zusammenarbeit und Berührungspunkte repräsentieren. Ein kleines Büchlein unter dem Titel Ich bin „Un"Sichtbar.de zeugt davon. In Theaterstücken, Porträts, Liedern, Filmen, Kurzgeschichten, Dramentexten und Performances verarbeiten Künstler ihre Erfahrungen im Zusammentreffen mit Flüchtlingen. Doch auch ihnen wird von Kritiker*innen unterstellt, sie bereicherten sich an den Geschichten der Unterdrückten. „Am Anfang der Kampagne, so schreibt die künstlerische Leiterin Petra Leonie Pichler, „kam oft der Vorwurf, wir würden die Flüchtlinge nur ausbeuten, um unser Kunstprojekt zu verwirklichen. Ich habe mich dann oft gefragt, wie man jemanden ausbeuten kann, der alles verloren hat?
Tatsächlich entsteht in den einzelnen Projekten ein Gespür für das Miteinander; das gemeinsame Arbeiten geht über die künstlerische Arbeit hinaus in den Alltag. Der eine backt für den anderen, man unternimmt zusammen Ausflüge, ein erster gemeinsamer Anfang.
Das Magnet Theatre im südafrikanischen Kapstadt folgt einem ähnlichen Ansatz und hat ausgefeilte Theatertechniken und Inszenierungsmethoden entwickelt. In einigen Produktionen stehen individuelle Geschichten von Geflüchteten im Mittelpunkt, die von professionellen Schauspielern auf der Bühne aufgeführt werden. Infolge der ausländerfeindlichen Attacken in den letzten Jahren produzierte das Theater mehrere Stücke, die sich mit Flucht, Migration und Xenophobie auseinandersetzen und hierzu innovative ästhetische Strategien nutzen. Every Year, Every Day, I am Walking erzählt die Geschichte einer Mutter und ihrer Tochter auf ihrem Weg aus einem zentralafrikanischen Land nach Südafrika. Im Mittelpunkt stehen jedoch die Verkörperungen dieser Geschichten jenseits der Sprache. Das Magnet Theatre, das seit 28 Jahren in den Townships von Kapstadt arbeitet und begabten Jugendlichen eine professionelle Ausbildung gibt, legt dabei den Schwerpunkt auf körperlichen Ausdruck.
Das Hauptaugenmerk richtet die Trainingsleiterin Jennie Reznek darauf, ob die Verkörperung der Geschichte überzeugt. In einem Land mit elf Nationalsprachen, die Sprachen der Migranten nicht eingeschlossen, ist die Fokussierung auf die körperliche Darstellung nachvollziehbar. In der Inszenierung von Every Year, Every Day, I am Walking ergänzt der Regisseur Mark Fleishman die Dramaturgie der Fluchtgeschichte mit Tanz-