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Wort auf Rezept: Über die Heilkraft des Wortes
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Wort auf Rezept: Über die Heilkraft des Wortes
eBook316 Seiten3 Stunden

Wort auf Rezept: Über die Heilkraft des Wortes

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Über dieses E-Book

Worte können Balsam für die Seele sein und sind doch allzu oft Waffen, die tief verletzen. Am Arbeitsplatz, in der Familie, in Partnerschaften, aber auch in Arztpraxen und Kliniken tritt dieser Zwiespalt leidvoll zu Tage.

Mehr denn je wird heftig darüber diskutiert. Rotraud A. Perner kennt nicht nur all diese Fragen, sie hat auch eine schlüssige Antwort: Placebo statt Nocebo, heilende Worte statt Sprachmüll, Respekt statt Abwertung, Empathie statt Erniedrigung ...

Die Grundrezeptur heißt in jedem Fall: Salutogenes Reden – das sind „Worte auf Rezept“ ...

SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Roesner
Erscheinungsdatum6. Mai 2019
ISBN9783903059580
Wort auf Rezept: Über die Heilkraft des Wortes

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    Buchvorschau

    Wort auf Rezept - Rotraud A. Perner

    Quellenangaben

    Vor Wort

    Sprache kann sich nur im Zusammenhang mit dem

    Sozialleben der Menschen entwickelt haben.

    Doris F. JONAS und

    A. David JONAS¹

    Ganzheitlich betrachtet umfasst Gesundheit nicht nur Körperliches, sondern ebenso Seele und Geist. Dem trägt auch die Gesundheitsdefinition der Weltgesundheitsorganisation WHO² Rechnung, wenn sie formuliert, Gesundheit sei nicht bloß Freisein von Krankheit und Behinderung, sondern vollkommenes körperliches, seelisches, soziales

    und spirituelles Wohlergehen.

    Seit dem Einsatz von Bild gebenden Methoden in der Hirnforschung (z. B. der Kernspintomographie)³ ist empirisch nachgewiesen, dass zwischen dem „Feuern der Wahrnehmungsneuronen und dem der Handlungsneuronen ein zeitlicher Abstand liegt⁴ – wenn auch ein sehr geringer, der im üblichen „automatischen Reagieren nicht wahrgenommen wird.

    Sprechen ist auch eine Handlung.

    Wenn also heute jemand sagt, „Ich konnte nicht anders, dann ist diese Aussage unwahr. Wahr wäre hingegen, wenn er oder sie formulierte: „Ich wollte nicht anders, oder: „Ich wusste nicht anders."

    Genau deswegen werden ja auch oft Erziehungspersonen ärgerlich, wenn sie diesen Standardsatz hören, und pfauchen dann: „Du hättest sehr wohl anders gekonnt! – weil sie ahnen, dass es „nur am Nachdenken gemangelt hat, ein anderes Verhalten zu wählen. Nachdenken heißt ja auch wirklich „nach, nämlich „nachher denken, also nach dem Impuls, der uns nach der Reizwahrnehmung durchzuckt.

    Wir nehmen durch unsere Sinnesorgane wahr, zuerst durch unseren Geruchs- und Geschmacksinn, denn der schützt uns davor, unseren Nahrungshunger mit Giftigem zu stillen. Deshalb sollte man Nahrungsverweigerung – und dazu dienendes Abwehrzappeln und -geschrei von Kleinkindern – gelassen hinnehmen (und sich nicht aus Enttäuschung, vergebens gekocht/gekauft zu haben, abmühen, den

    eigenen Willen „mit Gewalt durchzusetzen!). Mit „Gehorsam um jeden Preis gewöhnt man den Kleinen sonst gleichzeitig den Wahrnehmungsverlust an. „Du sollst nicht merken, hat die Schweizer Psychoanalytikerin Alice MILLER einen ihrer Bestseller betitelt⁵ und damit ein geheimes „schwarzpädagogisches⁶ Erziehungsziel umschrieben.

    Das Wort Gehorsam stammt aus der Wortfamilie rund um das Hören – ebenso wie horchen, gehorchen, gehören, verhören ... Das Hörvermögen Neugeborener ist genauso groß wie bei Erwachsenen⁷; mit zunehmendem Alter lernt das Kleinkind nur bewusster und präziser Laute zu unterscheiden, und zwar nicht nur nach dem sachlichen Inhalt – also worauf sie sich beziehen – sondern auch, und das sogar primär, nach dem emotionalen.

    Botschaften wirken auch wortlos

    Die französische Kinderpsychiaterin und Psychoanalytikerin Caroline ELIACHEFF zeigt in ihren Dokumentationen des „Besprechens von Säuglingen und Kleinstkindern, wie die­se auf den Sinn ihrer Worte und ihre, durch ihre authentische Stimm-Modulation vermittelte seelischgeistige Einstellung reagieren. Wenn sie schreibt: „Es ist nicht die Aufgabe des Analytikers, Mitleid zu empfinden, zu trösten oder Wiedergutmachung zu leisten, er sollte vielmehr die Möglichkeit eröffnen, das Leiden zu symbolisieren⁸, dann besteht ihre Arbeit großteils darin, das, was sie mitfühlend (was nicht gleich ist mit Mitleid empfinden!) an lebensgeschichtlichen Zusammenhängen und Ausdrucksformen erkennt bzw. intuiert, in Sprache zu symbolisieren. Wenn sie quasi homöopathisch Gleichklang herstellt, reagiert das Kind – und wenn sie ihm dann, sobald sie fühlt, was das Kind ihr in seiner wortlosen Organsprache anbietet, erklärt, es müsse keine Krankheitssymptome entwickeln, um wahrgenommen, respektiert und akzeptiert zu werden, verschwinden diese.

    Jeder Gedanke ist ein chemisch-elektrischer Prozess im Gehirn und mit unserem bioelektrischen Sinn – dem so genannten „sechsten – wahrnehmbar und das oft sogar früher von anderen als von einem selbst (dann nämlich, wenn diese Wahrnehmung unbewusst abgewehrt wird). Auf der optischen oder akustischen Umsetzung dieser Wahrnehmungsmöglichkeiten beruhen ja auch die Biofeedback-Prozesse, wie sie etwa zum Nachweis von Stress (bekannt unter dem Namen „Lügendetektor), zur Desensibilisierung oder zum Training von Körperfunktionen eingesetzt werden.

    Das Geheimnis des „heilenden Wortes besteht darin, auf die eigene Selbstdarstellung als heilende ExpertInnen zu verzichten, sich nicht darauf zu konzentrieren, eine bestmögliche Leistung zu vollführen, quasi „einen Fall zu behandeln, sondern authentisch, d. h. aus dem wahrhaften Bedürfnis heraus, sich zu bemühen, zu verstehen, was die leidende (oder – im Gegensatz – liebende) Person bewegt und was sie wie auszudrücken versucht. (Im Wort Emotion stecken ja die lateinischen Silben „e als Verkürzung für „ex, „heraus, und „motio, „Bewegung" drinnen. Im Gegensatz zum inneren, oft verhaltenen Gefühl ist die Emotion immer bereits äußerlich wahrnehmbar.)

    In der Legende „heilt der ungebildete Parsifal – zwar erst bei der zweiten Gelegenheit, bei der ersten traut er sich nicht aus Furcht, dumm oder zudringlich zu erscheinen – den siech darnieder liegenden Gralskönig Amfortas durch die Frage nach dessen Leiden. „Durch Mitleid wissend – der reine Tor heißt es dazu gleich zu Beginn in der Oper „Parsifal" von Richard WAGNER⁹.

    In der Psychoanalyse sprechen wir von Abwehr, wenn die ungeschminkte Wahrheit in ihrer Klarheit nicht bewusstseinsfähig ist und daher unbewusst „bearbeitet, quasi wie eine Fotografie „retuschiert wird. Die Motive dahinter finden sich entweder in eingelernten Verhaltensgeboten bzw. –verbo­ten – oder in Ablehnung eigener aggressiver oder sexueller Impulse. Dann kommt es zu „inneren Wahrheitsverzerrungen wie Verleugnung, Verkehrung ins Gegenteil, Verschiebung, Objektspaltung, Projektion usf. (und bestenfalls zur Sublimation)¹⁰ und selbstschützendem Erstarren in „äußeren Positionen. Dazu zählt auch berufliche Überheblichkeit: Sie schützt vor Selbstkritik und damit leider auch vor Selbsterkenntnis und Selbst-Bewusstsein ...

    Ent-Sorg-ung

    Chronisch zurück gehaltene oder unterdrückte Empfindungen und Gefühle besitzen hohes Krankheitspotenzial. Sie gehören „ausgedrückt – bewusst in Sprache „symbolisiert, in Tönen, in Körperbewegungen, in Kunstwerken. Ja sogar unbewusstes Ausagieren in sozial unschädlicher Form – wie etwa im Squash, das, wie gerne behauptet, im 19. Jahrhundert von gelangweilten, meist wegen Schulden inhaftierten Insassen britischer Gefängnisse (wie dem Fleet Prison) erfunden wurde – hilft, sich zu „reinigen, auch wenn sich dadurch nicht die zu Grunde liegenden Probleme verändern bzw. auflösen lassen. Nur „runterschlucken oder „runterspülen" hilft nicht, es vergiftet nur noch mehr.

    Unser aller Grundproblem liegt in der Entsorgung – in der von materiellem Abfall ebenso wie in der von Seelenmüll. Alles, was zu lange „liegt", verkümmert, verschimmelt, manchmal nährt sich wer anderer daran ... und bestenfalls verrottet es. Aber bis es zu Rost und Staub zerfallen ist – das dauert. Oft mehrere Generationen.

    In der Psychotherapie, der klassischen Methode, alte Neurosignaturen durch neue, salutogene¹¹ zu ersetzen, herrscht meist „Märchenzeit": Abgelöst von Alltagsanforderungen können mit einer – je nach Methode unterschiedlichen – Sprach- und Beziehungsform in Winzigschritten neue Denk- und damit Gefühls- und Verhaltensmuster (Reihenfolge egal) gebildet werden.

    Diese Entschleunigung ist im Alltag selten, außerdem braucht sie auch Geduld und (beiderseitiges) Vertrauen. Und: Selbst sie gibt keine Garantie, dass die „richtigen Worte gefunden werden. Und selbst wenn die richtigen Worte gefunden werden, können unbewusste Vorbehalte oder widersprüchliche Gefühle – verkörpert etwa durch Atemrhythmus, Artikulationsschärfe oder Stimmlage – den „Reinigungsversuch mit neuen Giftportionen ruinieren.

    „Selbst wenn man von der Richtigkeit überzeugt ist, die Tatsachen offenzulegen, so bleiben sie doch oft schrecklich, und ihre Vermittlung erfordert großes Einfühlungsvermögen, warnt Caroline ELIACHEFF hinsichtlich des Umgangs mit Kindern. Unter Erwachsenen ist es aber doch ebenso! Und vielfach auch dort, wo eine oder mehrere Personen es berufsbedingt eigentlich besser wissen sollten. „Unter dem Vorwand, das Kind zu ‚schützen‘ (auch wenn man nicht der Meinung ist, dass das sinnvoll ist), tendieren die meisten Leute dazu, entweder nichts zu sagen (sie sind noch zu jung, um verstehen zu können) oder aber die Tatsachen mehr oder weniger zu verändern oder zu bagatellisieren (Papa ist verreist, Mama wird zurück kommen, er oder sie haben es nicht mit Absicht getan), nur damit das Kind nicht erfährt, dass seine Eltern gegen das Gesetz verstoßen haben.¹²

    Ich ersetze „zu jung durch „zu ungebildet – oder, wie ich es in letzter Zeit von Ärzten (männlich) oft gehört habe, „halbgebildet – und „nicht mit Absicht durch „Sachzwänge". Wie sich dann die Bilder gleichen!

    Es ist möglich, auch unter großem Zeitdruck, in „unpassenden" Situationen oder bei eigenem Unwillen dennoch korrekt und gesundheitsfördernd zu reden. Man muss nur

    · von Respekt vor dem jeweiligen anderen Menschen erfüllt sein,

    · zu sich selbst und zu anderen ehrlich sein, d. h. bei der – eigenen, eine andere hat man ja nicht – Wahrheit bleiben (also beispielsweise zu wissen, ob man den oder die andere gut behandeln oder nicht vielleicht doch insgeheim los werden will, egal wie)

    · und einige bestimmte Formulierungsregeln einhalten.

    Letzteres ist das Leichteste. Ich hoffe, dass dieses Buch zumindest dies in der Grundstruktur vermitteln kann.

    Sprachmüll

    Am Anfang ist die Wortwahl

    Horche auf den Patienten,

    er sagt dir die Diagnose!

    J. S. NORELL¹³

    Von PARACELSUS stammt der Satz, die Dosis mache das Gift.

    Wie viel Giftiges jemand ohne behindernde Stressreaktion oder andauernden Vitalitätsverlust ertragen kann, hängt einerseits von der Art des Giftes ab, andererseits von der eigenen Immunstärke und allenfalls Desensibilisierung.

    Seelentoxikologie

    Einprägsam symbolisiert wird der Entgiftungsprozess durch Sprache im Märchen vom Schneewittchen. Märchen können wir ja als Psychologie-Lehrstücke aus der Zeit verstehen, als die breite Bevölkerung noch nicht schreiben und lesen konnte und daher auf wiederholtes Erzählen – und zwar von einer Person, der man gerne zuhörte! – angewiesen war, um sich etwas zu merken. Schneewittchen „schluckt einen Bissen des scheinbar tadellosen, tatsächlich aber giftigen Apfels, den ihm die neidisch konkurrierende Stiefmutter anbietet und erstarrt daraufhin als Folge des Giftes, wird scheintot – wir könnten auch sagen: depressiv. Erst durch den „Anstoß – im konkreten Fall: des liebenden Mannes – kann der „Kotzbrocken wieder „hoch kommen – und Schneewittchen wird wieder lebendig.

    Sprache kann kaum artikuliertes Ausstoßen unbedachter Worte sein oder ein bewusster, geplanter Prozess hochkomplexen Zusammenwirkens von Körperempfindungen, Gefühlen, Ahnungen (Phantasien wie z. B. Vorurteilen) und Gedankenabläufen¹⁴.

    Unsere Gedanken formulieren wir im „inneren Dialog¹⁵ mit dem Sprachschatz, mit den Bedeutungen, die wir in unserer individuellen Sprach-Erwerbs-Biographie zur Verfügung gestellt bekamen. Ich habe beispielsweise vorhin Schneewittchens Stiefmutter – bewusst! – als „neidisch und „konkurrierend bezeichnet – aber nicht, wie üblich, als „eifersüchtig.

    Ich unterscheide – erstelle eine „psychosoziale Differenzial-Diagnose" – nämlich zwischen dem

    · Gefühl von Benachteiligung (da muss es aber eine Zuteilung an A geben, die B zum Nachteil gereicht), das passt hier nicht,

    · Neid (man will etwas haben, was jemand anderer besitzt), das passt,

    · Rivalität (man kämpft um die bessere Position, aber ohne Spielregeln), das passt auch nicht, denn die umkämpfte Position („die Schönste im ganzen Land") ist eine phantasierte,

    · Eifersucht (man „eifert" – benimmt sich auffällig, nörgelt, tobt oder wird sonst irgendwie gewalttätig), das passt nicht – die Stiefmutter benimmt sich im Rahmen ihrer Macht unauffällig, denn auch der Mordauftrag an den Jäger liegt in ihrer Königinnenkompetenz.

    · Verfolgungswahn (Paranoia) – dazu gibt es Anzeichen, die Fixierung auf Schneewittchen, das eingeschränkte Tunnel-Denken, das „magische Denken", aber ich möchte die Stiefmutter in diesem Zusammenhang nicht pathologisieren, weil es mir nicht um ihre Psychodynamik geht, sondern darum, was sie mit ihrer Handlungsweise bei Schneewittchen auslöst, und

    · Konkurrenz (das vergleichende Nebeneinandertreten, mit oder ohne Spielregeln – im Sport mit, in der Familie aber z. B. nicht ... obwohl es salutogen wäre, solche zu vereinbaren!) – das passt wieder.

    · Dazu noch eine Ergänzung: Manche Politiker ersetzen das Wort Konkurrent durch das Wort Mitbewerber. Das finde ich gut. Es mildert den paramilitärischen Wettbewerbsdruck ein wenig – der andere muss nicht „aus dem Feld geschlagen" werden –, und es vermittelt Respekt vor der Freiheit des anderen, und jetzt kann wieder gezielte Wortwahl präzisieren (oder manipulieren): Einem nachzueifern? Einen zu imitieren? Einen zu kopieren? Einen – rechts oder links – zu überholen? Oder etwas Neues daneben zu stellen (versuchen)?

    Wir vergiften uns oft mit Worten. Manchmal ist unübersehbar, dass dies mit Absicht geschieht. Oft aber auch nicht. Dann sind wir verwirrt, und, wie geschlechtsspezifische Forschung gezeigt hat, suchen wir dann als Männer jemand oder etwas, das schuld ist, als Frauen hingegen meist die Schuld bei uns selbst¹⁶.

    Geht man diesem Phänomen nach, dann zeigt sich dahinter Asymmetrie – ein Machtungleichgewicht: Eine Person beansprucht (oder besitzt) mehr Macht und hält es daher für entbehrlich, die andere Person respektvoll zu behandeln. Oder hält sich und seine/ihre Zeit für so überwichtig, dass er/sie es als Zumutung deutet, wenn jemand „Unterwichtiger" mit ihm/ihr reden will. (Die Auflösung dieses toxischen

    Verhaltens bestünde darin, z. B. das eigene Desinteresse oder den eigenen Zeitmangel – was übrigens eher ein Zeichen von Machtlosigkeit darstellt! – wahrheitsgemäß zu erklären!)

    Die ersten Erfahrungen eigener Unwichtigkeit machen die meisten Menschen bereits in den ersten Lebensmonaten. Kinder gelten nichts oder wenig, zumindest in „germanischen" Familien. Hier werden sie traditionsgemäß erst interessant, wenn man sie – arbeitsmäßig, emotional, sexuell – ausbeuten kann. Diese Anleitung zur Unterwerfung beginnt

    früh, meist mit dem Füttern, und Gehorsam wird Liebe genannt. (Nun zeigt sich zwar echte Liebe daran, dass der/die Liebende auch auf eigene Bedürfnisse verzichtet, wenn sie der geliebten Person Stress bereiten würden – aber das setzt Bewusstheit und eine hohe Frustrationstoleranz voraus, worüber Kinder – noch – nicht verfügen, denn wie alle Fertigkeiten muss auch dieses „Können" eingeübt werden.)

    Auch wenn das Kleinkind schon mit drei Monaten sein Köpfchen wendet und kurz darauf hebt und interessiert seine Umwelt betrachtet, braucht es doch viele Wiederholungen von Anblicken, Riechen, Schmecken und im wahrsten Sinn begreifen, bis es sich etwas vertraut gemacht hat, „kennt oder gar „weiß (was nicht gleichbedeutend ist mit „sich einer Sache bewusst zu sein), oder anders formuliert: bis es dafür eine Neurosignatur (Gedächtnisspur im Gehirn) eingeprägt hat. Hört es nun aber auch immer wieder Bezeichnungen, „Namen, so erwirbt es damit auch die Fähigkeit, die eingespeicherten Abbildungen der Welt und deren Handhabbarkeiten „abzurufen". Es lernt denken.

    Zumindest eine bestimmte Form des Denkens – nämlich die, die seine Bezugspersonen (ich formuliere bewusst nicht „LehrmeisterInnen", denn von Meisterschaft kann man meist auch bei bestem Willen nicht sprechen!), vermitteln.

    Erfahrungs-Denken

    Wie stark Denkprozesse von Sprache abhängen, beschreibt der russische Neuropsychologe und Sprachforscher Alexander R. LURIJA (1902 – 1977) in seiner „wissenschaftlichen Autobiographie¹⁷ am Beispiel unterschiedlicher Thesen über den Unterschied zwischen „primitivem („vorlogischem) und „zivilisiertem („logischem) Denken. Während etwa der französische Philosoph und Ethnologe Lucien LÉVY-BRUHL ersteres so charakterisierte, dass es keine logischen Widersprüche kenne und natürliche Erscheinungen beispiels­weise auf „mythische Kräfte zurückführe, behauptete der britische Anthropologe und Sinnesphysiologe William Halse RIVERS keinen Unterschied in den Denkprozessen, sehr wohl aber würden Tatsachen der äußeren Welt anderen Kategorien zugeordnet, als den von uns gewählten.¹⁸

    LURIJA selbst erforschte die von ihm angenommene soziale und kulturelle Abhängigkeit von Erkenntnisprozessen in der Weise, dass er zuerst die „Grundkategorien der visuellen Erfahrung betrachtete – was seinen Zielpersonen also an Form und Farbe optisch vertraut war – und wie sie dies sprachlich kodierten. Danach erforschte er die Vorgänge von Klassifikation und Abstraktion, und schließlich „solch komplizierte kognitive Verfahren wie die Lösung logischer Aufgaben und die Selbstanalyse¹⁹.

    Seine Versuchspersonen entstammten fünf Bevölkerungsgruppen, die sich in ihrer Bildung, ihren praktischen Tätigkeiten, Umgangsformen und in ihrer Weltanschauung deutlich unterschieden:

    · in entlegenen Dörfern in Usbekistan wohnende Analphabetinnen, die von allen modernen öffentlichen Angelegenheiten ausgeschlossen waren,

    · Bauern in entlegenen Dörfern, die noch nicht in die „vergesellschaftete Arbeit" einbezogen waren,

    · Frauen, die ohne irgend eine vorhergehende Schulbildung spezifische Lehrgänge für Kindergärtnerinnen besucht hatten und meist weder lesen oder schreiben konnten,

    · aktive Kolchosmitglieder und Mitglieder von Jugendgruppen, die Kurzlehrgänge besucht hatten; viele von ihnen verfügten nur über Elementarkenntnisse im Lesen und Schreiben, und

    · Studentinnen, die nach zwei- bis dreijähriger Ausbildung in ein Lehrerseminar aufgenommen worden waren. Deren Bildungsniveau bezeichnet LURIJA aber auch als ziemlich niedrig.²⁰

    LURIJA nahm an, dass die drei letzten Gruppen durch ihre Einbindung in die sozialistische Wirtschaft eine andere Form von Denken praktizierten – inhaltlich wie formal: „Wir vermuteten zudem, dass der Kommunikationsbedarf einer planmäßig betriebenen, kollektivierten Landwirtschaft sich im Denken der Betroffenen niederschlagen würde."²¹

    LURIJA legte geometrische Figuren vor – einen Kreis, ein oben offenes Dreieck, einen oben offenen Kreis, ein durch Punkte gebildetes Rechteck, ein linear gezeichnetes Rechteck, ein durch Punkte dargestelltes und ein linear ausgeführtes Dreieck.

    Die Frauen und Bauern aus den entlegenen Kischlaks (Dörfern) gaben diesen Figuren folgende Namen: Teller – Zelt – Armband – Perlenkette – Spiegel – Uhr – Kesselgestell, hingegen gaben die Versuchspersonen mit elementaren Lese- und Schreibkenntnissen zumeist geometrische Bezeichnungen, die künftigen Lehrerinnen sogar ausschließlich. LURIJA fand dabei heraus, dass seine bäuerlichen VersuchsteilnehmerInnen Ähnlichkeiten zwischen den Figuren nicht „erkennen konnten, weil sie diese als Alltagsgegenstände wahrnahmen. Z. B. sagte ein Bauer: „Nein, sie sind sich überhaupt nicht ähnlich, weil das erste eine Münze ist, und das zweite ist der Mond.²² Unbewusst wahrgenommen wurde offensichtlich der Größenunterschied und dementsprechend wurde das Gesehene in den Erfahrungsschatz eingeordnet.

    LURIJA fragt weiter: „Der Mensch unterscheidet bis zu drei Millionen Farbtöne, aber es gibt nur sechzehn oder zwanzig Namen für Farben. Bedeutet dies, dass sich die Wahrnehmung und die Klassifizierung der Farbtöne mit den Namen der Farben verändern? Und welchen Einfluss haben Sprache und praktische Umgangsformen auf diesen Prozess?"

    Also forderte er die Versuchspersonen auf, gefärbte Wollgarndocken zu bezeichnen und zu klassifizieren. Die ungebildeten Frauen, von denen viele hervorragende Weberinnen waren, verwendeten sehr wenig Farbnamen, hingegen die Namen verschiedener Pflanzen wie „die Farbe des Grases im Frühling, „die Farbe der Maulbeerblätter im Sommer, „die Farbe junger Erbsen". Wenn er sie bat, ähnlich gefärbte Garne zu gruppieren, weigerten sich viele, weil ja jede Garndocke anders aussehe.²³

    Lineares Denken

    In unseren Breitengraden ist die traditionell übliche, weil spätestens schulisch eingeübte, Form des Denkens linear:

    · von A zu B und umgekehrt, daher:

    · wenn A, folgt B,

    · wenn B, dann war vorher A.

    Lineares Denken übernimmt vorgegebene Bewertungen von „richtig oder „falsch: So wie man es von den eigenen Eltern (oder anderen „Autoritätspersonen) erfahren hat, werden deren Denkstrukturen wieder an die eigenen Kinder (oder „Untergebenen) weitergegeben. Dass Eltern – wie fast alle, die anleiten, erziehen, unterrichten, trainieren, kurz „führen – sich Widerspruch ersparen wollen, ist verständlich, wenn ihr Ziel primär Durchsetzung ihres eigenen Willens ist – es verhindert aber Weiterentwicklung, und zwar aller. Von Bert BRECHT stammt der Satz, „Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war.²⁴

    Ein treffliches Beispiel für die häufige Absurdität solcher linearer Folgerungen, lieferte am 4. Mai 2007 Burgtheaterdirektor Klaus BACHLER in der ZiB 2²⁵: Angesprochen auf wiederholte Verletzungen von Burgschauspielern in den letzten Inszenierungen, sagte er lächelnd: „Wenn jemand den Schauspielerberuf ergreift und nicht Finanzbeamter wird, geht er ein anderes Risiko ein. und blieb unwidersprochen. Bei allem Verständnis, dass er wohl den unausgesprochenen, aber deutlich erahnbaren unterschwelligen Vorwurf, er missachte die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers, weil seine Schauspielerschaft durch waghalsige Regieanweisungen gefährdet würden, „witzig abschmettern wollte – er unterstellt mit dieser Aussage erstens, Schauspieler sein wäre von vornherein gesundheitsgefährlich, und müsse zweitens als unvermeidlich hingenommen werden, und drittens diskriminierte er damit gleichzeitig alle Finanzbeamten. Möglicherweise hatte er zu diesem subtilen Versuch, Schauspieler zu Helden, Finanzbeamte zum Gegenteil zu machen, aktuell persönlichen Grund. Ich habe in vielen Seminaren „Gesprächsführung in schwierigen Situationen", die ich für Bundes- und Landesbeamte gestalten konnte, von Gewaltankündigungen bis Morddrohungen gegen FinanzbeamtInnen erfahren und mag deshalb gegen diese gedankliche und sprachliche Entgleisung des Burgtheaterdirektors Protest einlegen.

    Carol GILLIGAN, Psychologieprofessorin an der Graduate School of Education der Harvard University, hat in „Die andere Stimme" aufgezeigt, dass die Minderbewertung der angeblich mangelnden Moralität der Frau, wie sie sich bei Sigmund FREUD, Janet LEVER oder Jean PIAGET findet, daher rührt, dass diese die bei Knaben beobachtete Faszination von der Aufstellung von Spielregeln „und der Ausarbeitung eines fairen Verfahrens für die Beilegung von Konflikten²⁶ (Kursivsetzung RAP) als Idealnorm betrachten, die bei Mädchen beobachtete „pragmatischere Einstellung zu Regeln – „sie betrachten eine Regel als gut, solange sie sich im Spiel bewährt²⁷ – aber nicht. Gilligan verwirft in der Folge eine – lineare – Reihung, sondern formuliert in einer „seitlichen Arabeske²⁸: „Mädchen sind toleranter in ihren Einstellungen zu Spielregeln, immer bereit Ausnahmen zu machen, und finden sich leichter mit Innovationen ab.²⁹ PIAGET hingegen interpretiert diese Anpassungsbereitschaft so, dass das „Rechtsgefühl bei Mädchen geringer entwickelt sei.

    Ich interpretiere, auch vor dem Hintergrund meiner über vierzigjährigen Erfahrung in Beratung, Coaching, Therapie, Training und ebenso als Führungskraft den auch von mir immer wieder wahrgenommenen Unterschied im Denken von Männern und Frauen so: Für die meisten Frauen sind Menschen wichtiger als Normen, sie reagieren daher in Konflikten „zwischen Pflicht und Neigung mit Skrupeln und zeigen sich emotional betroffen; das wird von Männern meist als „Schwäche gedeutet – und diese Benennung sehe ich als Folge deren jahrhundertelanger Dressur zum gehorsamen, beschönigend „pflichtgetreu" genannten, Soldaten ohne Mitgefühl, ja auch ohne Gefühl für sich selbst. Damit fehlt aber ein wesentlicher Teil der Ganzheit von Wahrnehmen und Bewusstsein, bestehend aus körperlichem Empfinden, intuitivem Ahnen, seelischem Fühlen und kognitivem Denken³⁰.

    Zur Konzeption von Krisenberufen³¹ gehört absoluter Gehorsam in straffen Hierarchien: Wenn es brennt oder sich eine Mure herabwälzt, ist es hilfreich, wenn aus der

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