Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Ostsee-Intrige: Kriminalroman
Ostsee-Intrige: Kriminalroman
Ostsee-Intrige: Kriminalroman
eBook365 Seiten5 Stunden

Ostsee-Intrige: Kriminalroman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Der österreichische Kinderarzt Prof. Blumenfeld soll auf der Ostseeinsel Rügen eine Rehaklinik aufbauen. Doch er wird nicht warm mit den Norddeutschen. Als er kurz darauf beschuldigt wird, für den Tod eines Kindes verantwortlich zu sein, übernimmt der Stralsunder Kommissar Lüdewitz die Ermittlungen. Auf dem Weg zu einem Treffen mit ihm wird Blumenfeld unfreiwillig Zeuge einer Autodiebesbande. Eine rasante Verfolgungsjagd von Rügen bis nach Österreich beginnt …
SpracheDeutsch
HerausgeberGMEINER
Erscheinungsdatum17. Apr. 2019
ISBN9783839258842
Ostsee-Intrige: Kriminalroman
Autor

Peter Scheer

Der in Tel-Aviv geborene Peter Scheer ist im Alter von drei Jahren nach Österreich gekommen. In Wien studierte er Medizin und Philosophie. Der Kinder- und Jugendarzt, der auch als Managementtrainer tätig ist, lebte viele Jahre in Wien, bevor er nach Graz gerufen wurde. Dort baute er die Abteilungen Psychosomatik und Psychotherapie an der Universitätsklinik für Kinder und Jugendliche auf. Wissenschaftliche Papers waren seine tägliche Arbeit, persönlich gehaltene Sachbücher das Zubrot. »Ostsee-Intrige« ist Scheers Krimi-Debüt.

Ähnlich wie Ostsee-Intrige

Ähnliche E-Books

Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Ostsee-Intrige

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Ostsee-Intrige - Peter Scheer

    Ostsee-Intrige_RLY_cover-image.png

    Peter Scheer

    Ostsee-Intrige

    Kriminalroman

    390453.png

    Zum Buch

    Zwischen Ostsee und Österreich Der österreichische Kinderarzt Prof. Blumenfeld soll auf der Ostseeinsel Rügen eine Rehaklinik aufbauen. Doch er wird nicht warm mit den Norddeutschen. Als er kurz darauf beschuldigt wird, für den Tod eines Kindes verantwortlich zu sein, übernimmt der Stralsunder Kommissar Lüdewitz die Ermittlungen. Der Vorwurf gegen den Arzt erweist sich jedoch bald als Intrige, woraufhin sich eine Freundschaft zwischen den beiden Männern entwickelt. Für Blumenfeld ist die Bekanntschaft mit dem belesenen Kommissar Dr. Horst Lüdewitz ein Lichtblick. Auf dem Weg zu einem Treffen mit ihm wird Blumenfeld unfreiwillig Zeuge einer Autodiebesbande und damit zur Zielscheibe des organisierten Verbrechens. Lüdewitz heftet sich an Blumenfeld und nimmt die Spur der Diebesbande auf. Eine rasante Verfolgungsjagd von Rügen bis nach Österreich beginnt. Doch der erfahrene Kriminalhauptkommissar unterschätzt die Gefahr. Das rächt sich. Können Blumenfeld und Lüdewitz dem Tod entrinnen?

    Der in Tel-Aviv geborene Peter Scheer ist im Alter von drei Jahren nach Österreich gekommen. In Wien studierte er Medizin und Philosophie. Der Kinder- und Jugendarzt, der auch als Managementtrainer tätig ist, lebte viele Jahre in Wien, bevor er nach Graz gerufen wurde. Dort baute er die Abteilungen Psychosomatik und Psychotherapie an der Universitätsklinik für Kinder und Jugendliche auf. Wissenschaftliche Papers waren seine tägliche Arbeit, persönlich gehaltene Sachbücher das Zubrot. »Ostsee-Intrige« ist Scheers Krimi-Debüt.

    Impressum

    Personen und Handlung sind frei erfunden.

    Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

    sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

    Immer informiert

    Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

    regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

    Gefällt mir!

    405131.png Instagram_Logo_sw.psd Twitter_Logo_sw.jpg

    Facebook: @Gmeiner.Verlag

    Instagram: @gmeinerverlag

    Twitter: @GmeinerVerlag

    Besuchen Sie uns im Internet:

    www.gmeiner-verlag.de

    © 2019 – Gmeiner-Verlag GmbH

    Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

    Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

    info@gmeiner-verlag.de

    Alle Rechte vorbehalten

    1. Auflage 2019

    Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

    Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

    Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

    unter Verwendung eines Fotos von: © ORK / photocase.de

    Druck: CPI books GmbH, Leck

    Printed in Germany

    ISBN 978-3-8392-5884-2

    Widmung

    Ich widme dieses Buch meiner lieben Frau, die mir eine strenge und liebevolle Partnerin war und hoffentlich noch lange sein wird.

    I. Ouvertüre

    Jetzt waren es schon zwei Monate, dass Ignaz Blumenfeld entlang der Lagunen fuhr. Morgens von Glowe nach Breege auf der Schaabe und nachmittags zurück. Manchmal wollte er ein Lied pfeifen, aber da er nicht pfeifen konnte und wenn er pfiff, dann falsch, hörte er die Musik lieber im inneren Ohr. Der Weg war nicht lang. 9,7 Kilometer, flach, manchmal Gegenwind.

    Angezogen völlig falsch: Statt Radleruniform – Läuferklamotten. Lange Hose, Unterhose aus Kunststoff, die Innenschenkel neben dem Sack mit Vaseline eingeschmiert, Kunststoffleibchen, Funktionsjacke mit leichtem Windstopp. Stattdessen hätte er eine gefütterte Hose anhaben müssen, Radlersocken mit Stützfunktion, windabweisende Jacke mit seitlichen Einnähern, die sich eng an den Körper legte, und Helm, Schuhe mit Klixbindung, und das alles möglichst von einem Hersteller, der sicher nicht Tchibo heißen sollte. Eine Kollegin überholte ihn. Physiotherapeutin wahrscheinlich. Perfekt gestylt, nicht in Radleruniform, aber in Sportdress. Sie grüßte und sagte: »Ich muss Sie leider gleich wieder verlassen. Ich beginne meine Therapie um 8.00 Uhr.«

    »Ich auch«, antwortete er und ließ sie ziehen. Schwerer Fehler. So benahm sich kein Chefarzt, und so schaute er auch nicht aus.

    »Fehler passieren überall«, musste sich Kriminalhauptkommissar Lüdewitz heute Morgen schon zum zweiten Mal anhören. Die Staatsanwaltschaft Stralsund hatte ihm einen Ermittlungsauftrag wegen Verdachts auf fahrlässiges Handeln gegen den Chefarzt der Kurklinik Breege übermittelt. Darin stand vom Tod eines elfjährigen Knaben zu lesen, der an einem durch eine abgelaufene Injektion ausgelösten Mangel an Blutplättchen litt. Zwei Wochen nach einem Erholungsaufenthalt in der Klinik auf Rügen spielte er Fußball. Da er für sein Alter groß gewachsen war, war er der Kopfballspieler vor dem Tor. Zuerst hatte Jannes den Kopfball angenommen. Der Ball ging wirklich ins Kreuzeck. Mitten im Jubel hatte sich Jannes an den Kopf gegriffen, etwas von »fließen« gemurmelt und war langsam in sich zusammengesunken. Die Buben waren starr vor Schreck. Sie liefen zu Jannes’ Mutter Frau Silversteed nach Hause. Bis der Krankentransport am Fußballplatz war, vergingen weitere zehn Minuten, in denen der Atem des Jungen zuerst hechelnd war, dann ganz schwach wurde und langsam verebbte. Die Mutter rief Jannes beim Namen. Der konnte oder wollte keine Antwort geben. Dann der Transport in die Klinik. Dort stellte man fest, dass die Zahl der Thrombozyten unter 5.000 gefallen war, weswegen der Neurochirurg die Gehirnblutung nicht operieren konnte. Erst nach Gabe eines Thrombozytenkonzentrats, das erst nach 40 Minuten eintraf, konnte operiert werden. Da war es aber schon für alles zu spät. Jannes’ Hirn hatte bereits solche Schäden wegen Sauerstoffmangels und durch die Einblutung erlitten, dass die nächsten acht Tage, die er auf der Intensivstation im künstlichen Koma gehalten wurde, nur mehr ein verlängertes Abschiednehmen für seine Mutter und seinen Bruder gewesen waren. Jannes erwachte nicht mehr, und als das EEG nur mehr die Nulllinie zeigte, boten die Ärzte Frau Irma Silversteed an, die Geräte abzuschalten. Sie musste das glücklicherweise nicht allein entscheiden, sondern war nur Partei in einem Prozess, den die Ethikgruppe1 des Krankenhauses überhatte. Sie beratschlagten nach Einsicht aller Befunde und nach der Untersuchung des Patienten, ob ein Weiterleben an den Maschinen als sinnvoll angesehen werden konnte. In Jannes’ Fall war die Entscheidung leicht gewesen. Wenn er auch noch ein Kind war, so war die Prognose auf eine wenigstens teilweise Wiedererlangung eines erträglichen Lebens negativ. Er würde bestenfalls wie der israelische Premier Ariel Sharon einige Jahre im Koma existieren können. Das wollte man weder dem Kind, seiner Familie noch dem Krankenhausträger zumuten. Also ließ man Jannes zehn Tage nach seinem Kopfball, der zu einem Tor geführt hatte, sterben. Da sein Tod eine Unfallfolge war, wurde der Leichnam gerichtlich obduziert und eine Unfallmeldung an die Polizei gemacht. Sie war offizieller Auslöser der Erhebungen.

    Die Staatsanwaltschaft hatte ermittelt, dass der bestehende Thrombozytenmangel von der Mutter bei der behandelnden Ärztin der Rügen-Klinik angegeben worden war. Die Ärztin, Frau Anita Hafer, hatte nach Aussage der Mutter die vom Kinderarzt vorgeschriebene Kontrolle der Blutplättchen verweigert und hätte gesagt, dass das Kind nur Begleitperson des kleinen Bruders und der Mutter wäre, also gar nicht Patient der Klinik, und daher keine Kostenübernahme durch die Kasse möglich wäre und auch nicht durch die Klinik. Der Chefarzt sei danach von der Mutter befasst worden, hätte aber die Auffassung seiner Mitarbeiterin mitgetragen, ebenso wie der Klinikdirektor Herr Franz-Josef Knopfke, an den sich die Mutter in ihrer Sorge gewandt hatte. Wieso der Ermittlungsauftrag der Staatsanwaltschaft nur den Chefarzt betraf und nicht auch die anderen Beteiligten, verstand Lüdewitz nicht. Daran hatte er sich seit der Wende wieder gewöhnt. Früher verstand er manche Aufträge nicht, weil er das Parteiinteresse nicht kannte, dem zu folgen war, und nun verstand er sie manchmal nicht, weil höhere wirtschaftliche Überlegungen handlungsleitend waren. Ihm sollte es recht sein. Er hatte die DDR überstanden, so würde er auch noch die Wertvorstellungen der Bundesrepublik überstehen‚ und dann eine viel bessere Pension bekommen, als er sie damals gehabt hätte. Insgesamt jedoch gleich viel, musste er sich korrigieren. Denn da in der DDR alles preisgeregelt war, war alles billig oder zumindest erschwinglich. Vor allem konnte keiner reisen. Höchstens in die sozialistischen Bruderstaaten, etwa nach Varna ans Schwarze Meer oder nach Kuba, allerdings nur, wenn man Kaderpersonal war. Das war er nie gewesen, weshalb die Karriere des jungen Juristen auch in Stralsund geendet hatte und nicht in der Hauptstadt oder überhaupt einer größeren Stadt. Für ihn reichte Stralsund als Wohn- und Arbeitssitz, wo er ganz Rügen beobachten konnte. Er wusste, wer kam und wer ging, auch wenn der oder die mit Bus, Boot oder Zug auf die Insel kamen. Selbst seit die neue Brücke gebaut worden war und die Menschen zu allen Tages- und Nachtzeiten kommen und gehen konnten. Heute war das völlig unkompliziert, und wenn man nachts nach Rügen fuhr, konnte man fast übersehen, dass man den Strelasund überquerte. Zwar gab es den Rügendamm bereits seit 1936/37, aber der hatte nur die Landstraße Nummer 86 und eine Bahnverbindung. Anfällig gegen Sturm, Regen und Wind, war er auch vor Überschwemmungen nicht sicher. Die alte Brücke blieb nach dem Bau der neuen bestehen, und er benutzte sie lieber als die neue. Einerseits hatte er einen guten Blick auf das neue Bauwerk und andererseits war es Lüdewitz’ Trampelpfad, obwohl er doch noch gar nicht so alt war. Das 2007 fertiggestellte Bauwerk auf seinen stolzen Säulen, die als Y-Pylonen ausgeführt waren, war ein Prachtstück, welches das Erreichen Rügens noch leichter machte. So war Rügen an den internationalen Verkehr angeschlossen, Autos flitzten vor allem im Sommer hin und her. Dass die Bundeskanzlerin Angela Merkel am 20.10.2007 die Brücke offiziell eröffnet hatte, behielt er in bester Erinnerung. Sie war seine Abgeordnete, wenn sie auch mehr weltpolitisch dachte und handelte, als eine lokale Abgeordnete es tun würde. Er musste aber zugeben, dass sie sehr wohl auf ihren Wahlkreis, der zum Teil seiner Verantwortung unterstand, schaute. Die Rügenbrücke war nur ein Beispiel der Fortentwicklung in der Region.

    Er kannte fast alle Einheimischen seit Jahrzehnten, und die neuen Verbrecher, die aus den Großstädten und dem Osten kamen, lernte er bald kennen. Er hatte wenig andere Interessen außer seinem Beruf. Schon als Kind war er neugierig gewesen und kannte gern die Geheimnisse der anderen. Nun, da er fast vier Jahrzehnte in Häusern, Kästen und versteckten Kommoden hatte nachschauen dürfen und viele Geheimnisse gesehen hatte, begann er, sich zu langweilen. Nicht weil er das Interesse verloren hatte, sondern weil sich die Einfälle so oft wiederholten: kleine sexuelle Perversionen, Dildos, Latex, mal eine nebeneheliche Freundin oder ein Freund, versteckte alte Liebesbriefe, die nur mehr dazu geeignet waren, die bestehende Beziehung zu belasten oder zu zerstören; selten Kriegserinnerungen oder eine nicht mehr erlaubte politische Gesinnung, entweder Nationalsozialismus oder Kommunismus. Er war frei von allen: weder verheiratet noch sonst wie gebunden; nicht homosexuell, aber nicht praktizierend hetero; nie in einer Partei gewesen: für die Nazis zu jung, für den Kommunismus zu sehr an den Menschen und ihrem Gemeinschaftssinn zweifelnd und für den Kapitalismus als Beamter im Staatsdienst zu arm. Daher bewohnte er eine kleine Wohnung mit zwei Zimmern, wenig Erinnerungsstücke, mal ein Bild der Eltern, Vater war aus dem Krieg nicht zurückgekommen, Mutter war Pfarrersköchin und daher vor dem Kommunismus gefeit, der römisch-katholische Pfarrer wie ein Vater, auch, so vermutete er, in der Beziehung zu seiner Mutter leidlich glücklich, allerdings ohne den Segen der Heiligen Kirche. Jetzt, kurz vor der Pensionierung, außer langen Spaziergängen im Naturschutzgebiet und an der See keine Hobbys, die man angeblich brauchte, um in der Pension nicht zu vertrotteln. Vielleicht einmal eine Mohntorte in der Teestube in Putbus, die von zwei jungen Zugewanderten geführt wurde und die jeden Winter am Rande des Konkurses stand, den zu verhindern er mithalf. Ein herrlich einsames und sinnloses Leben in großer innerer Freiheit und voller Philosophie. Marc Aurel – das war sein Philosoph. An der Spitze der Macht des größten Weltreichs, das die Antike je gesehen hatte, und doch mit Selbsterkenntnis und dem Wissen um die eigene Ersetzbarkeit und Flüchtigkeit. So hätte er sich viele Staatsmänner gewünscht, so sollten sie sein, und Angela Merkel kam diesem Ideal ziemlich nahe. Entscheidungsfreudig, zur Sache, klar und kein Wort zu viel; realistisch in der Frage, ob sie Freunde hatte, und ihren Werten treu, auch wenn es politisch nicht immer klug war – sie war Marc Aurel ziemlich nahe. Er hatte ihr das bei einem Empfang in Schwerin mal gesagt, dass er sie in die Nähe seines Lieblingsphilosophen stellte. Das gehörte zu seinen Erinnerungsstücken, Schriftstücke von Ulbricht oder Bormann gab’s bei ihm zu Hause nicht. Wenn es sie gegeben hätte, hätte er sie auf dem Flohmarkt verkauft, der gerade jetzt vor Weihnachten in Stralsund stattfand.

    Einbrüche in Strandhäuser, Diebstahl von Strandkörben, Fahrraddiebstahl und selten genug ein paar Verbrecher verhaften, das war alles, was er zu tun hatte. Vor Weihnachten auch mal einen Taschendieb oder einen Banküberfall, meistens von einem verzweifelten Einzeltäter, der mit Hartz IV seinen Kindern keine Geschenke machen konnte.

    Heute einen Chefarzt zu verhören war das Tollste, was er seit Langem machen sollte. Er musste sich vorbereiten. Die Krankheit, an der das Kind letztlich verstorben war, kannte er nicht. Er hatte schon von Blutplättchen gehört, und die Erziehung im Pfarrerhaus hatte seine Liebe zu den klassischen Sprachen so weit geweckt, dass das Wort »Thrombozyten« ihn nicht abschreckte. Deren Funktion war ihm da schon weit unklarer. Die Übersetzung »Gerinnselzellen« und die deutsche Bezeichnung »Blutplättchen« halfen ihm nicht weiter. Also nachlesen, und weil es kaum noch Nachschlagewerke gab, halt Google. Blutplättchen werden von meist im Knochenmark lebenden Zellen, den Megakaryozyten (also den Großkernigen, übersetzte er sich) gebildet und aus diesen ausgestoßen. Sie leben dann circa zehn Tage im Blutkreislauf, ernähren sich aus dem Zucker des Bluts und geben im Bedarfsfall Gerinnungssubstanzen ab, Faktoren, die einen zusätzlichen Weg der Blutgerinnung ermöglichen neben der klassischen inneren oder äußeren. Sie sind quasi ein zweites System, welches das Verbluten verhindern soll und kann. Um dieses System beinahe lahmzulegen, verschreibt man Herzkranken Acetylsalicylsäure. Lüdewitz erkannte in dieser Bezeichnung »die« Erfindung der Firma Bayer, nämlich das Aspirin, das von Millionen Menschen in kleiner Dosierung von 50 bis 100 Milligramm zur Verhinderung von Gerinnseln in den Herzkranzgefäßen eingenommen wird. So ist das Patent der Firma Bayer und ihres Namensgebers nach mehr als einem Jahrhundert noch immer eine Stütze der deutschen Pharmaindustrie.

    Das alles hatte Jannes offensichtlich nicht gehabt. Er fand die Krankheit aber unter »idiopathischer Thrombozytopenie«. Meist nach einem Infekt bekamen manche Kinder eine Störung der Herstellung dieser Blutplättchen, es war wie eine Selbstzerstörung der Megakariozyten oder auch nur der Thrombozyten. Jedenfalls sank die Anzahl an Blutplättchen je Kubikmilliliter von normal 200 bis 400.000 auf unter 12.000. Da konnte es schon vorkommen, dass nach einem Sturz eine innere Blutung auftrat, wie es eben bei Jannes gewesen war.

    Jetzt hatte er noch mehr Fragen: Nicht nur, dass der Ermittlungsauftrag allein Professor Doktor Ignaz Blumenfeld betraf und nicht auch die Ärztin Anita Hafer oder den Klinikdirektor Franz-Josef Knopfke. Er wusste auch nicht, wieso Jannes’ Mutter Irma Silversteed ihren Jungen hatte Fußball spielen lassen, obwohl sie doch besorgt gewesen war und keinen aktuellen Befund von ihm hatte. Sie konnte nicht gewusst haben, ob sich die Zahl der Blutplättchen normalisiert hatte.

    Wie von allen Menschen wusste Lüdewitz auch von Professor Doktor Ignaz Blumenfeld schon viel. Der war zwar erst vor zwei Monaten nach Rügen gekommen, aber seine umtriebige Frau Letta hatte überall Wohnungen gesucht und besichtigt, und das reichte schon, um auf den Radar von Horst Lüdewitz zu kommen. Anspruchsvoll war das Ehepaar. Es war ihnen unbekannt, dass der Norddeutsche, und insbesondere der von dem Dritten Reich und danach von der DDR geprägte, immer zuerst die Arbeit sah. Nur wegen der und für die Arbeit durfte man leben. Die war das Wichtigste. Nicht die Freizeit oder der Lohn. Beides hatte im Verborgenen stattzufinden. Ein Segelboot etwa konnte ruhig teuer sein, aber nach außen musste es bescheiden aussehen. Keine goldenen Wimpel, aber ohne Weiteres ein in einem Stück gegossenes Boot, das ging. Letta wollte aber ein schönes Haus an der Lagune mit direktem Seezugang. So was, wie die Touristen im Sommer für zwei Wochen mieten, wenn sie aus Hamburg oder Berlin kamen. Oder aus München, wenn die Kinder lungenkrank waren. Nicht nur das, Professor Blumenfeld benahm sich nicht wie ein Chefarzt. Er trug kein Sakko und keine Krawatte, kam mit dem Fahrrad zum Dienst und besuchte wie Lüdewitz die Teestube in Putbus. Dort hatte man sich zufällig an einem Spätherbstnachmittag getroffen und über den Mohnkuchen unterhalten, weil Blumenfeld lustigerweise Schlagsahne zum Kuchen bestellte. René, der Besitzer, riet ihm ab, weil ohnehin jede zweite Schicht des Kuchens aus bester dänischer Butter bestand. Blumenfeld nahm trotzdem Schlagsahne, die er auf Österreichisch »Schlagobers« nannte, dazu. Das wäre selbst Lüdewitz zu viel Fett gewesen, und er mochte es fett, wie man ihm leicht ansehen konnte. Jedenfalls waren sie beide beim Kuchen allein, denn Letta war schon abgereist und Blumenfeld und Lüdewitz die einzigen Gäste. So ergab sich ein kleines Gespräch, der Herr Professor war nicht so steif, wie Lüdewitz das von deutschen Professoren kannte, und außerdem machte er gern einen kleinen Spaß oder erzählte einen jüdischen Witz. Der ging ihm so leicht von den Lippen, sodass sich die Frage, welchen Glaubens er sei, erübrigte. Lüdewitz erinnerte sich nur an einen Juden, den er gekannt haben könnte. Den Chef des DDR-Geheimdienstes Markus Wolf. Er war froh, den nicht gekannt zu haben. Von solchen Menschen hielt er sich gern fern. Blumenfeld aber schien ihm ganz anders zu sein: offen und freundlich, verschmitzt und gebildet. Da hatte er bei Lüdewitz einen Stein im Brett. Dass sie in der Teestube bei René dann über eine Stunde sitzen geblieben waren und Lüdewitz einen Menschen traf, der seine Hochachtung vor Marc Aurel teilte und auch noch 32 Jahre in Wien gewohnt hatte – das hatte ihn sehr gefreut. Die Großeltern Blumenfelds hatten ihre Wohnung in der Wipplingerstraße, nur etwa 300 Meter von Marc Aurels Wirkungsstätte entfernt. Noch besser hatte ihm gefallen, dass Blumenfeld keine Anstalten machte, wie das heute üblich war, mit Lüdewitz, der seinen Vornamen Horst nie mochte, per Du zu werden, sodass sie sich Horst und Ignaz hätten nennen müssen. Schauriger Gedanke, selbst jetzt im Nachhinein, wo er Blumenfeld bald würde vernehmen müssen. Da war ihm gar nicht wohl dabei. Er konnte sich nicht helfen, die Sache stank. Wieso gerade der Neuankömmling, der Jude? Wieso waren nicht die Mutter, der Klinikdirektor oder Frau Hafer die Beschuldigten?

    Die beste Vorbereitung auf eine Vernehmung war noch immer die Kenntnis der Umgebung. Also beschloss Lüdewitz, die Nachtkrankenschwester Lorle, seine langjährige Nachbarin aus Stralsund, morgen früh zum Frühstück, bevor sie schlafen ging, zu treffen. Mal ein bisschen umhören, dachte er sich und schaute noch mal nach, ob der Staatsanwalt Herr von Borkensteed einen Termin gesetzt hatte. Hatte er nicht, also: Morgen war auch noch ein Tag.

    Über all diesen Recherchen und Überlegungen war es Mittag geworden. Wie jeden Tag war die Mittagsmahlzeit im Leben des Alleinlebenden die wichtigste Mahlzeit. Sie wurde in einem der nahe gelegenen Lokale in Stralsund eingenommen. An sich mochte Lüdewitz Fisch, aber seit der nur mehr aus Züchtungen in der Nordsee kam, wollte er ihn nicht mehr. Nicht weil er was gegen die Antibiotika hatte, die der Fischzucht zugesetzt werden mussten, er schmeckte sie nicht. Aber es grauste ihn. Er stellte sich dann die schönen Lachse vor, wie sie ihr kurzes Leben lang in einem Sack kreisten und den wenigen Sauerstoff atmeten, der durch den Ventilator in das Wasser gepresst wurde. Also Fleisch: Die Haltung der Schweine in Mecklenburg war noch einigermaßen so, wie er es aus seiner Kindheit kannte. Das hatte er immer gegessen, und da er nicht auf ein langes und gesundes Leben sparte, würde er es auch noch die paar Jahre essen. Er ging daher aus seinem Büro, das in der Kriminalkommissariat Stralsund in einem alten und nicht renovierten Plattenbau aus der DDR-Zeit untergebracht war. Lediglich die EDV-Leitungen waren neu hinzugekommen. Er ging 20 Minuten bis zum Hauptplatz. Neben dem Rathaus stand ein altes, schön renoviertes Fachwerkhaus, das Touristen anzog und in dem ein schlechtes Lokal schlechtes Essen anbot. Er war wegen der schönen Räume ein-, zweimal hineingegangen. Sie hatten nur Essen, das aus der Tiefkühltruhe kam, der Koch, wenn es denn einen gab, hatte nur das Aufwärmen und Abbraten erlernen müssen, sonst nichts. Nebenan in dem anderen Fachwerkhaus gab es das scheinbar unvermeidliche Chinalokal. Die roten Lampions am Eingang und die winkende Katze machten sich beim Stadtspaziergang in der alten Hansestadt sicher gut. Dort gab es »Chappi-Futter«, wie er das bei sich nannte. Hunde- und Katzenfutter, fertig verpackt. Nur der Reis wurde in einem Reiskocher gedünstet. Alles andere musste die taiwanesische Familie – bei schwerer krimineller Strafandrohung – beim Lieferanten kaufen, selbst die Marge war klar definiert. Selbstständige Lohnsklaven, dachte er sich. Dass es so was gibt. Die Alternative, ein Brötchen zu essen, verwarf er. Im Edeka-Markt gab es zwar frische Brötchen mit Schinken, Mettwurst oder Hering mit Zwiebeln, aber das war kein Mittagessen für ihn. Er wich den abgestellten Kübeln aus, die zur Entsorgung der verschiedenen Abfälle wie Glas und Papier am mittelalterlichen Hauptplatz aufgestellt waren. Er ging in die Imbissstube nebenan, die zwar von einem Deutschtürken betrieben wurde, aber klassisches deutsches Essen anbot. »Kassler Rippchen mit Kraut und Kartoffeln«, las er auf dem Schild vor dem Eingang. Das konnte er essen, ohne dass ihm schlecht wurde, vielleicht mit einem Bier. Zwar wäre er danach müde und kaum mehr arbeitswillig, aber er würde seine verbleibenden Stunden absitzen und recherchieren, was so viel hieß, wie dass er die Wege der Autos, die in den letzten Monaten vermehrt auf Rügen gestohlen worden waren, verfolgte. Er gab aus den Zulassungsscheinen die Motor- sowie die Fahrgestellnummer und das Kennzeichen ein. Dann suchte das System das Auto. Wenn es mittels eines dieser Merkmale fündig wurde, zeigte es an, ob es zum Beispiel in Polen verkauft worden war. Die polnischen Kollegen machten das Gleiche. Daten eingeben und nachschauen, ob eines dieser Autos oder Teile davon registriert worden waren. Keine Tätigkeit, bei der man sich sehr anstrengen musste. Jeder Affe konnte das machen, sagte sich Lüdewitz. Er freute sich in solchen Momenten, dass seine Arbeit manchmal aus solchen Tätigkeiten bestand. Die tolleren, moderneren Methoden wie die Verfolgung der Autos mittels GPS oder die Suche nach eingebauten und versteckten GPS-Diebstahlsendern überließ er lieber den jüngeren Kollegen aus Flensburg. Das ging ganz einfach. Er musste nur eine Nachforschung nach einer strafbaren Handlung anfordern. Das konnte zum Beispiel Schnellfahren in der Spielstraße entlang der Lagune, wo die Geschwindigkeitsbeschränkung acht Kilometer pro Stunde betrug, sein. (Weshalb die Autofahrer immer von den Radfahrern milde belächelt wurden, wenn diese sie überholten.) Die Kollegen suchten dann die GPS-Daten. Waren diese vorhanden, so meldeten sie die Bewegungen des Kraftfahrzeugs, selbst wenn es Deutschland verlassen hatte. Eine interne Revision, ob es sich tatsächlich um die Suche nach einem Verkehrssünder und nicht um die Arbeitserleichterung eines älteren Kommissars gehandelt hatte, gab es nicht. Überdies war diese Art der Suche in Flensburg, wo die Eintragungen der Punkte im Führerschein in Evidenz gehalten wurden, Routine und daher mühelos. Lüdewitz hingegen hätte sich zuerst in das Suchsystem der deutschen Polizei einloggen müssen, hierauf nach dem ersten Passwort ein zweites eingeben müssen, um zu einem schlechteren GPS-Portal zu kommen. Dort hätte er die Kennzeichennummer und die anderen Merkmale des Fahrzeugs eingeben müssen, um die Suche zu beginnen. Das hätte ihm aber noch lange keinen Zugang zu den Daten der großen deutschen Autohersteller wie BMW, Audi, VW oder Mercedes gegeben. Diese waren mit den von ihnen gelieferten Autos dauernd im Kontakt und konnten, obwohl das gegen Datenschutzbestimmungen verstieß und daher nur als Hintergrundfolie in den IT-Abteilungen lief, jederzeit den Aufenthaltsort jedes ihrer Fahrzeuge bestimmen. Dies nannte sich Notfallhilfe und wurde nicht erst, wie Fahrzeughalter meinten, nach manueller oder automatischer Aktivierung des Notfallsystems aktiviert. Nein, es war immer aktiv, nur durfte es bei den Herstellern niemand lesen und keine Schlüsse aus den Daten ziehen oder die Daten weiterverkaufen, was natürlich ein Riesengeschäft wäre, wie sich Lüdewitz einmal von einem BMW-Mitarbeiter, der in Born am Darß ein Häuschen hatte, erklären ließ. Denn diese Daten könnten zu Werbezwecken, sogenannter personalisierter Werbung, ebenso verwendet werden wie zur Erstellung von Bewegungsprofilen und sogar dazu, dass man dem Kunden rechtzeitig neue Reifen oder einen Service fürs Auto anböte, was die Kundenbindung erhöhen würde. All das kam Lüdewitz seltsam vor, und er war froh, dass er nur sehr wenig von sich im sogenannten Netz preisgab. Zu seiner Zeit wurden Netze vor allem beim Fischen verwendet, manchmal auch von Hexen, die einen darin fangen wollten, oder von Spinnen. Alles keine angenehmen Vorstellungen. Wenn jemand zu Lüdewitz sagte, er sei gut vernetzt, dann rann ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Er sah sich als Fisch und nicht als Fischer in diesen Netzen. Dass sein Name und sein Bild auf der Homepage der Polizei waren, war ihm mehr als genug, und er freute sich, dass er keine zusätzlichen Kurse und akademischen Titel hatte, die dort angegeben werden mussten, außer seinen juristischen Doktor. Kriminalhauptkommissar Doktor Horst Lüdewitz, geboren 27.11.1950 in Strerow, Leiter der Dienststelle Stralsund, Mecklenburg-Vorpommern (wozu denn das, dachte er sich, Mecklenburg ist weit weg und die Junker lange ausgestorben oder nach England gezogen). Lebenslauf: unverheiratet, keine Kinder. Zusatzausbildungen: keine Angabe. Literatur: keine Angabe. Diensteintritt (inklusive Polizeischule): 22.01.1974. E-Mail: horst.luedewitz@kriminalkommissariat-stralsund.de. Das war’s. Mehr gab’s über ihn nicht zu lesen. Privatadresse war bei der Polizei ohnehin nicht vorgesehen. Die Post, die bei der angegebenen E-Mail-Adresse ankam, schaute er circa einmal pro Woche an, um nachzusehen, ob es dort was Spannendes gab. Da er alle Erlässe und Einladungen zu Antritts- und Verabschiedungsfeiern in Neubrandenburg bekam, musste er mehr löschen als lesen. Das machte er gern an ruhigen Tagen.

    Die Kollegen aus Flensburg konnten allerdings die Daten der Autohersteller nur dann einsehen, wenn es einen Gerichtsbeschluss gab. Dieser konnte nur vom Staatsanwalt Herrn von Borkensteed erwirkt werden und hatte ein Offizialdelikt zur Voraussetzung, also zum Beispiel Diebstahl oder Raub. Bis es Hinweise auf ein solches Delikt gab, musste Lüdewitz eine Diebstahlsmeldung von den Besitzern aufnehmen, dem Staatsanwalt weiterleiten und dann einen Ermittlungsauftrag bekommen. Das klang so mühsam, wie es war, und – da er nun Professor Doktor Blumenfeld befragen sollte, wollte er jedenfalls nicht heute Herrn von Borkensteed damit belangen. Der könnte zu Recht annehmen, dass Lüdewitz keine große Freude mit der Befragung Blumenfelds hatte, und ihn auffordern, den Ermittlungsauftrag wegen des Kunstfehlerverdachts (Unterlassung von Hilfeleistung in einer Krankenanstalt an Pfleglingen und Unmündigen) unverzüglich durchzuführen und einen Bericht abzufassen. Das alles schmeckte Lüdewitz nach dem Essen der Kassler Rippchen gar nicht, und so beschloss er, zuerst den einfachen Weg der Anfrage wegen Verkehrsübertretung nach Flensburg zu senden. Das war simpel und machte Spaß. Er musste nur aufpassen, dass er nicht mehr als sechs bis acht Autos angab, sonst kamen die in Flensburg darauf, dass da was nicht stimmen konnte, und fragten nach.

    Lüdewitz hatte letzten Sonntag wieder einmal den »Tatort« geschaut. Er liebte das. So was von unrealistischer Polizeiarbeit, er musste immer schmunzeln. Lachen war auf dem Fischland ungewöhnlich und kam nur in Extremsituationen vor. Schmunzeln war schon ganz toll und herrlich entspannend. Da hatte die Kollegin Film-Krimininalhauptkommissarin Blum von ihrem Doktor nach zwei übergangenen Herzinfarkten Ruhe

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1