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Deborahs Geheimnis
Deborahs Geheimnis
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eBook311 Seiten4 Stunden

Deborahs Geheimnis

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Über dieses E-Book

Deborah führt ein glückliches Leben als liebevolle Mutter und Ehefrau, lediglich das merkwürdige, sogar abweisende Verhalten ihrer Schwiegermutter Angela gegenüber ihrer Person gibt ihr Rätsel auf. Aufgrund ihrer medialen Fähigkeiten beginnt Deborah über Angelas Person in aller Heimlichkeit zu recherchieren. Eines Morgens aber ist Deborah spurlos verschwunden. Jede noch so winzige Spur ihrer Existenz führt trotz aller verzweifelten Bemühungen ihrer traumatisierten wie trauernden Angehörigen ins Nichts.
Viele Jahre später wird Deborahs Tochter Grace, die als Modedesignerin arbeitet, Opfer eines paranormalen Geschehens auf dem Anwesen Emery Hall, welches sie panisch fliehen lässt. Doch dann geraten sie selbst und ihre Mitmenschen stetig mehr in den Fokus des Bösen. Wird es Grace gelingen, die Geschichte, um ihre Mutter aufzuklären? Und es stellt sich auch die Frage: Lebt Deborah noch?
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum25. Feb. 2019
ISBN9783837026108
Deborahs Geheimnis
Autor

Sylvia McKaylander

Geboren 1973, studierte "Praktische Psychologie" und "Tierpsychologie/ Tierverhaltenstherapie" und ist engagierte Tierschützerin. Sie ist Single, ernährt sich vegetarisch und lebt zurückgezogen an der Seite mehrerer Katzen. Das Schreiben von Erzählungen und Romanen ist ihre Leidenschaft.

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    Buchvorschau

    Deborahs Geheimnis - Sylvia McKaylander

    9783837026108

    Kapitel 1

    Nachdenklich nahm Grace, als sie sich während ihrer Pause vor der Nähmaschine sitzend unbeobachtet fühlte, einen Brief aus der Tasche.

    Sie wiegte ablehnend den Kopf und konnte nicht anders, als das schneeweiße Kuvert beklommen anzustarren. Ihr fehlte der Mut ihn zu öffnen. Sie drehte ihn mehrmals in ihren Händen, die nun deutlich zitterten – genauso wie bei den letzten Malen zuvor.

    Auch dieser Umschlag trug bis auf den Poststempel Londons keinen Hinweis auf den Absender und ihre bis ins Detail korrekte Anschrift wurde mit einer Schreibmaschine getippt. In England kannte sie keine Menschenseele, sie war noch nie in Europa, aber irgendjemand dort kannte sie – und das erschreckend gut.

    Sarah Finnley, eine hagere extravagante Erscheinung, die Inhaberin eine der edelsten Boutiquen der Stadt, trat freudestrahlend mit einem Hochzeitskleid überm Arm an sie heran.

    „Das Kleid ist wunderbar geworden, Grace. Gute Arbeit." 

    „Danke." 

    Prompt ließ sie den Brief in die Umhängetasche zurückfallen und erhob sich von dem Stuhl. Stöhnend versuchte ihren schmerzenden Rücken gerade und in die Horizontale zu biegen.

    „Nun musst du es nur noch nach Emery Hall bringen, nach Galena. Das dürfte doch kein Problem für dich darstellen, oder?"

    Emery Hall. Du liebe Zeit. 

    Grace spürte, wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich. Sarah erstaunte ihre Reaktion, dennoch tat sie so, als bemerke sie dies gar nicht. 

    „Nein, natürlich nicht."

    „Gut. Der Auftraggeber bestand ausdrücklich darauf, dass du dieses Kleid wieder herrichtest. Nicht ich, nicht Jenna und nicht Gina – nur du. Es sollte für dich also eine Ehre sein, zusammen mit der künftigen Braut die letzte Anprobe zu absolvieren."

    Die Designerin legte das Kleid vor ihre Nase auf den Arbeitstisch, anstatt es samt des Bügels auf den Ständer mit den erledigten Aufträgen zu hängen. Grace machte sich auf der Stelle daran, es zusammenzulegen.

    „Grace, ist alles okay mit dir?"

    Mit abweisender Miene zog Grace einen der Kleidersäcke unter dem Tisch hervor. Über ihr Privatleben sprach sie grundsätzlich nicht.

    „Ja, alles bestens."

    „Wirklich?"

    „Ja."

    Ihre Chefin zog eine Grimasse. Sie schätze es gar nicht, wenn sich ihre beste Näherin so zickig und zugeknöpft gab, zumal sie sie sonst als einen Ausbund an Freundlichkeit ganz anders kannte. Zahllose Überstunden hatten in den letzten Wochen ihren Tribut gefordert. Grace war erschöpft und in gereizter Stimmung.

    „Es ist Freitagnachmittag."

    Sarah riss die zu stark gezupften Augenbrauen in die Höhe. „Na, und?"

    „Ich werde in die Hauptverkehrszeit geraten."

    „Es ist ein Grund für dich, nicht zu trödeln. Wer nicht willig ist, mehr als andere zu leisten, der kommt nie nach oben. Merk dir das endlich mal, Kindchen. Wir sehen uns am Montag."

    Sarah warf den Kopf in den Nacken und stolzierte wie ein Pfau in ihr Heiligtum. Ihr Büro.

    Graces Kolleginnen, Jenna und Gina, warfen ihr einen mitleidigen Blick zu, woraufhin sie bloß die Achseln zucken konnte. Grace zwang sich, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Sie glitt mit den Fingern über die aufwendige Verarbeitung.

    Es war eines jener hochgeschlossenen cremefarbenen Kleider, wie sie im 18. Jahrhundert getragen wurden. Es war aus Seide, an der Brust mit weißer Spitze besetzt. Die Ärmel gingen bis zum Ellenbogen. Es hatte ein enges Mieder, der knöchellange Rock war rundum mit Volants versehen.

    Behutsam, und mit routinierten Handgriffen zog Grace einen Kleidersack mit dem Emblem der Boutique darüber, bevor sie sich ihre Stofftasche mit Arbeitsmaterialien über die freie Schulter schwang, und mit dem Kleid über den anderen Unterarm für das Wochenende winkend verabschiedete.

    Aufatmend trat sie hinaus auf die North Michigan Avenue.

    Es war ein wunderbarer sonniger Tag, wenn auch noch ziemlich kühl für Anfang März. Hier und da hatte man am Straßenrand die Überreste des Schneesturms letzte Woche zu Häufchen aufgetürmt.

    Sie genoss jeden Sonnenstrahl, der den Weg zwischen den Hochhäusern hindurch zu ihr fand, nur leider konnte sie wegen des Verkehrslärms, allem voran dem Quietschen der Hochbahn das erste zaghafte Zwitschern der Vögel kaum hören. Der Schnee der letzten Woche lag hier und da zu einem Berg zusammen gefegt am Straßenrand. 

    Emery Hall. Sie befürchtete, nunmehr von Unbehagen ergriffen, nach den Recherchen der in Briefen enthaltenen stichhaltigen Informationen, denen sie von Neugier angetrieben, nachgegangen war, dieses altehrwürdige, sagenumwobene Landgut nicht vorbehaltlos betreten zu können.

    Nicht das sie als pragmatisch veranlagter, logisch denkender Mensch, für den sie sich hielt, an die Macht von Flüchen und oder gar an Spukgeschichten glaubte, aber es war letzten Endes doch etwas völlig anders als selbst einen Fuß in dieses Haus zu setzen. 

    Deshalb entschloss sich Grace, ihre Arbeit rasch und ohne weitere destruktive Grübeleien hinter sich zu bringen, und verfiel auf den Weg zum Parkhaus, wo ihr hellblauer Mini-Cooper geparkt war, in einen Laufschritt.

    Wegen des dichten Verkehrs erreichte Grace Galena, ein historisches Städtchen nördlich von Illinois, an einem Seitenarm des Mississippi gelegen, erst am späteren Nachmittag. Verkrampft, und nach vorne geneigt hinterm Steuer sitzend fuhr sie die Main Street herunter, und jubelte auf, wie sie in den Waldweg einbog, der von der Park Avenue aus nach einigen Meilen schräg in eine Allee von kahlen Eichen führte.

    Es verblüffte Grace, einige Meter vor ihr ein geöffnetes, zweiflügeliges, schmiede eisernes vier Meter hohes Tor mit den Buchstaben EH zu passieren, ehe sie in den runden Hof eines zweigeschossigen, im Tudorstil erbauten Hauses aus grauem Stein mit Seitenflügeln fuhr, die sich rechts wie links vom Haupthaus abspreizten.

    Sie verdrängte das innere Frösteln, und nahm ihre Tasche in die eine Hand, und den Kleidersack behutsam in die andere.

    „Reiß dich gefälligst zusammen, Grace, sprach sie energisch zu sich. „Erledige einfach deine Arbeit und dann nichts wie weg hier.

    Sie bestieg die steile Treppe, die vor einer schwarz gestrichenen Haustür endete, und streckte die Hand aus, um den Löwenkopf ähnlichen Türklopfer zu betätigen, wie ihr ein achtzigjähriger, kahlköpfiger Butler in die Tür öffnete. 

    „Miss Grace Paxton sein, richtig?"

    „Ja."

    „Bitte, treten Sie ein. Er trat zur Seite, um ihr Einlass zu gewähren. „Miss Tracey Cartwright erwartet Sie bereits. Sie sind spät.

    Sie starrte ihn entgeistert an. Zorn breitete sich in ihr aus. Sie reckte ihr spitzes Kinn vor und erwiderte, nicht minder anmaßend: „Schneller ging es nicht. Dieser Auftrag kam kurzfristig und dann noch als Eilauftrag rein."

    Der Diener hustete verlegen und führte sie in die Eingangshalle mit einer beeindruckend hohen Decke, die kunstvolle Schnitzereien zeigte. Es roch nach Möbelpolitur und scharfen Reinigungsmitteln.

    „Mr. Robbins wird Sie sogleich zur gnädigen Frau hinauf führen."

    „Ist gut. Danke."

    Der Butler tuschelte mit einer älteren Frau mit vergrämten Gesicht in dunkelblauer Dienstkleidung, gestärkter weißer Schürze und Häubchen, die im nächsten Augenblick zu ihr trat. „Ich führe Sie jetzt herauf."

    Sie lächelte breit. „Aber gerne doch."

    Die Frau grunzte verächtlich, ehe verzierte sie die mit Schnitzereien, und mit einem dunkelroten Läufer ausgelegte Holztreppe hinauf ins zweite Geschoss des Westflügels ging, und Grace kaum noch Beachtung schenkte.

    Die konnte nicht anders, die bleigefassten Fenstern mit dem Buntglas zu bestaunen. Einige Meter über ihrem Kopf hing ein zentnerschwerer Kronleuchter. Die Frau bog nach rechts in eine lange Galerie ab. Sie hatte Mühe mit ihr Schritt zu halten. Überall sah sie antike Kunstschätze, an den Wänden hingen Gemälde von Landschaften mit wuchtigen verzierten Goldrahmen, von denen eines finsterer war als das andere. Die verschnörkelten Möbelstücke aus dunklem Holz waren allesamt im viktorianischen Stil. Sie zählte etliche Ecken und Nischen in den breiten Korridoren, die scheinbar ins Nichts führten, und wo bisher wohl kaum ein Lichtstrahl hinlangte.

    So unvermittelt, dass Grace, ganz in Gedanken versunken, ihr beinahe hinten reingelaufen wäre, blieb die vor einer der Zimmertüren stehen, und klopfte an. Auf ein leises kaum hörbares „Herein" huschte die Angestellte ins Zimmer und kündigte geziert Grace’ Kommen an.

    „Das Brautkleid! Sie schlug sich mit der Handfläche an die Stirn. „Die Anprobe! Natürlich! Du meine Güte, den Termin habe ich total ver­schwitzt. Sie soll kommen.

    Tracey erhob sich auf der Stelle, um Grace zur Begrüßung die Hand zu reichen, aber vorher wies sie die Bedienstete barsch an, das Zimmer zu verlassen, die sich mit einem Knicks geräuschlos zurückzog.

    „Machen Sie sich nichts aus der, Grace. Die ist immer so. Wahrscheinlich geht die sogar zum Lachen in den Keller."

    Sie war überrascht, einer zierlichen Frau Anfang dreißig mit blonden langen Engelslocken, vielen kleinen Sommersprossen um die Nase herum, und einer hellen, angenehmen Stimme gegenüberzustehen. Im Geheimen hatte sie eine versnobte Lady mit grauem Haarknoten erwartet.

    Tracys’ Lächeln war erfrischend und warmherzig, ihr Händedruck kräftig, wie sie sich Grace in aller Form vorstellte.

    „Der gute Charles hat mir vor Ihnen und ihren Nähkünsten erzählt."

    „Wahrscheinlich hat er maßlos übertrieben."

    Grace öffnete den Reißverschluss des Sacks und holte das Kleid hervor. „Wenn Sie das Kleid nun bitte anprobieren würden …"

    Die blauen Augen weiteten sich überrascht und sie nahm es ihr freudestrahlend aus den Händen. „Fantastisch! Es sieht ja aus wie neu! Grace, Sie haben ein Wunder vollbracht! Warten Sie, ich probiere es eben mal an."

    Sie huschte durch die Verbindungstür in das Zimmer nebenan, während Grace ihre Nähutensilien aus ihrer Tasche holte.

    Oberflächlich blickte sie sich in dem Zimmer mit den wertvollen Möbelstücken um. Die Bewohnerin hatte in jedem Winkel ihre Zeichen gesetzt. Die Sitzfläche des kunstvollen Stuhles mit der hohen Rückenlehne war mit Gobelin überzogen und Ablage zweckentfremdet worden, selbst vor dem nicht minder wertvolleren Schreibtisch hatte sie nicht Halt gemacht.

    Viele der alteingesessenen Familien der High Society hielten Tracey Cartwright für eine gerissene Mitgiftjägerin, die Ethan geschwind um den manikürten Finger wickelte, wusste Grace aus der Klatschspalte einer Zeitung. Diese Frau wurde sogar von einigen, offenbar neidischen Berufskollegen frei heraus für unwürdig gehalten den guten Namen Emery in Ehren zu halten, und das obschon sie einen fabelhaften, und vor allem untadeligen Ruf als Journalistin genoss. Niemand scherte sich darum, dass auch sie einer guten, sprich vermögenden Familie entstammte, und renommierte Privatschulen und Elite-Universitäten besuchte. Dieses Frauenzimmer, so hieß es weiter, sei einzig und allein erpicht auf das Vermögen, welches einer der Ahnen, ein Reeder im Jahr 1520 in die Familie brachte, der einem englischen Adelsgeschlecht entstammte. Charles Emery, sein Nachfahre, hatte den Reichtum lediglich durch kluge Investitionen vermehren, und das Image durch Wohltätigkeits Dienste ausschmücken können. 

    „Grace!"

    Erschrocken fuhr sie herum. Sie hatte gedankenverlorenen in eine dunkle Ecke des Raumes gestarrt. „Was? O, Entschuldigung. Sie raffte die Schultern. „Sorry, ich war in Gedanken.

    Eitel drehte sich die künftige Braut vor dem ovalen Spiegel nach rechts und links. Sie strahlte übers ganze Gesicht, war ganz aus dem Häuschen vor Freude. 

    „Das Kleid ist so schön geworden. Sehe ich nicht großartig aus?"

    Darauf reagierte sie nicht. „Bitte bleiben Sie jetzt genauso stehen. Ich muss doch noch einiges ausbessern."

    Im Scherz salutierte Tracey. „Zu Befehl."

    Nicht mal darauf reagierte Grace, sondern machte sich schweigsam an die Arbeit. Wenn man dieser Tracey eines zugute halten konnte, meinte sie widerwillig anerkennend, dann, dass sie gut mitarbeitete. Sie kamen zügig voran.

    Es klopfte an der Tür. „O, nein! Grace, bitte öffnen Sie für mich, japste sie. „Wenn er mich jetzt so sieht ,,,

    Sie raffte das Kleid und lief auf Zehenspitzen ins Zimmer nebenan, versteckte sich hinter der Tür. Kopfschüttelnd über so viel Aberglauben kam sie der Bitte nach. 

    Vor ihr stand ein Mann von durchschnittlicher Größe. Sie schätzte ihn auf Anfang dreißig. Er hatte kurze hellbraune wellige Haare und braune, unschuldig drein blickende fast runde Augen. Seine Gesichtszüge waren ihrer Ansicht nach zu weich um männlich zu wirken. Sie verliehen ihm einen kindlichen Eindruck.

    Grace verlor die Geduld. „Ja, bitte?"

    Er lächelte sie einfältig an, reichte ihr die Hand, die sie nur zögernd wie ergriff. Sein Händedruck war überraschend kräftig. „Ich bin Ethan. Freut mich, Sie nach langer Zeit wiederzusehen, Grace. Wie weit seid ihr? Kann ich kurz mal eben mit Tracey reden?"

    Sie zuckte die Achseln. „Meinetwegen. Ich gehe dann mal so lange aus dem Zimmer. Wir sind noch nicht ganz fertig."

    „Nein!, rief Tracey von hinten. „Bleiben Sie doch ruhig hier. Es dauert nicht lange. Meine Güte, sind Sie aber formell.

    Grace entging Tracys’ spöttisches Grinsen keineswegs, deshalb ging sie gar nicht erst darauf ein, sondern zog sich stillschweigend in eine Ecke des Raumes zurück, und packte einiges zurück in ihre Tasche. Sie zwang sich trotz Wissbegier nicht hinzuhören, was ihr misslang, doch zumindest wahrte sie der streng anerzogenen Höflichkeit wegen den Schein.

    „Was gibt es so wichtiges? Ihr Kopf lugte seitlich hervor. „Hat Charles sich inzwischen wieder etwas beruhigt?

    Er versuchte vergeblich einen Blick über die Trennwand auf seine künftige Gemahlin mitsamt des Kleides zu erhaschen, doch sie war so flink, dass sie immerzu seinen Blicken zu entweichen verstand.

    „Das hat er, ja. Vater sah wieder ganz gut und vor allem gesund aus, als ich ihn vorhin in der Bibliothek zurückließ."

    Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr die kleinen Löckchen ins Gesicht flogen. „Ich begreife nicht, warum sich der gute Charles immer gleich so aufregen muss, und das mit seinem kranken Herzen. Das tut ihm gar nicht gut. Ekelhaft, dieser Wankelmut."

    „Ich begreife es ja selbst nicht. Er beharrt darauf, lediglich das Erdgeschoss umbauen zu lassen, dabei gibt doch so viele herrliche Möglichkeiten, gerade das Obergeschoss wieder in Schuss zu bringen, allein schon wegen des grandiosen Ausblicks."

    Grace beobachtete ihn. Irgendetwas in Ethans’ Blick, etwas, was ihr verriet, dass er weit mehr wusste als das, was er seiner Verlobten gegenüber wahrscheinlich je über die Lippen bringen würde.

    Er blickte auf seine Armbanduhr. „Du liebe Zeit, so spät schon. Ich muss unbedingt los. Ich habe noch einen Termin in der Stadt und danach muss ich zur Probe für das Konzert nächste Woche. Kann spät werden."

    Er war leidenschaftlicher Berufsmusiker beim Chicago Symphony Orchestra, wusste Grace. Er spielte Trompete und Klarinette. Im vergangenen Sommer hatte sie, Grace, eingefleischter Klassik-Fan wie auch ihr Freund, ein Konzert im Highland Park besucht, und war begeistert.

    „Mache dir um mich mal keine Sorgen, Schatz. Geh nur."

    Winkend ging er in Grübeleien versunken aus dem Raum. Tracey trat erst lange, nachdem seine Schritte im Flur verklungen waren, zu Grace ins Zimmer. Prompt setzte die schweigsam ihre Arbeit fort.

    „Ich bin gleich fertig mit dem Kleid. Es sind nur noch ein paar Handgriffe."

    Sie gähnte. „Gut. Kommt mir sehr gelegen. Es gibt ja noch so viel vorzubereiten. Wenn ich wenigstens in der Nacht richtig zur Ruhe käme …" 

    Grace hatte Mühe, dass einsetzende Zittern ihrer Hände zu unterdrücken. „Wie meinen Sie das?"

    „Oben im Ostflügel. Da ist irgendwas. Schlagartig verstummte sie, winkte ab. „Ach, ich bin wohl doch nur übernervös wegen der Hochzeit. Da spielt die Fantasie schon mal verrückt.

    Ächzend richtete Grace sich mit schmerzendem Rücken auf.

    „So, fertig. Gefällt es Ihnen?"

    Tracey drehte sich vor dem Spiegel in alle Richtungen.

    „Es ist wunderschön. Danke."

    Eilig warf Grace alles in ihre Tasche, die sie, heilfroh, verschwinden zu können, unter den Arm klemmte. „Nichts zu danken, ich tue nur meinen Job. Sie streckte die Hand zur Türklinke aus, winkte ihr zum Abschied. „Alles Gute für die Zukunft.

    Mit weit ausholenden Schritten lief sie die Galerie entlang in Richtung Treppe. Schnell raus hier, dachte Grace hastig. Sie meinte, in diesem alten Gemäuer mit einem Mal keine Luft mehr zu bekommen.

    Eine der Türen links von ihr öffnete sich. Charles Emery trat aus einem der Zimmer. Der 86-jährige Mann mit dem weißen Haarkranz am Hinterkopf und den regen blaugrauen Augen war der Inbegriff des typisch-englischen Gentleman. Seine Füße steckten in karierten Pantoffeln und er trug zu der dunklen Hose ein weißes Hemd mit einer dunkelroten Weste.

    Er war der beste Freund ihres verstorbenen Großvaters und der Mentor ihres Vaters, erinnerte Grace sich. Er besaß lange Zeit als Professor für Rechtswissenschaften einen Lehrstuhl an einer Universität in Oregon, ehe er vor anderthalb Jahren hierher zurückkehrte.

    „Grace! Ich dachte mir doch, dass wir Besuch haben. Wie schön Sie mal zu sehen. Wie geht es Ihnen?"

    „Guten Tag, Prof. Emery. Danke, gut."

    Er lächelte verschmitzt. „Schön. Grüßen Sie ihren Vater von mir und richten Sie ihm aus, dass es mich freuen würde, etwas von ihm zu hören. Ich habe die Diskussionen mit ihm in den letzten Monaten vermisst. Selbst wenn er Bundesrichter ist, so lernt man doch nie aus. Ich beteilige mich immer noch gerne an interessanten Wortgefechten."

    „Das werde ich gerne tun."

    Emery lief neben ihr her den Korridor entlang zur Treppe. Sie jedoch verlangsamte ihren Schritt und blieb vor einem der mit Öl gemalten Porträts letztlich nachdenklich stehen.

    „Ich habe da eine Frage, Prof. Emery."

    Er blickte sie über den Rand der Brille hinweg eindringlich an. „Ja?"

    „Das hier sind ihre Ahnen, richtig?"

    „In der Tat. Es waren Menschen, auf die ich zu Recht stolz sein kann. So weit ich weiß geht der Stammbaum sogar bis ins 14. Jahrhundert zurück. Es gab Seeleute unter ihnen. Kapitäne, Admirale. Ehrfurcht gebietende Persönlichkeiten waren das. Allesamt. Ohne jede Furcht trotzten sie der aufgewühlten See im wilden Gefecht mit ausländischen Piraten."

    „Interessant. Bei den Porträts stehen bei fast allen die Namen darunter, nur bei dieser Frau da nicht."

    Charles verzog das Gesicht. „Verdammt! Ausgerechnet dieses Bild da hätte längst beim Restaurator sein müssen."

    Er nahm die Brille ab, rieb sich mit kummervoller Miene die Augen. Es behagte ihm offenbar gar nicht, mit welcher Aufmerksamkeit Grace ausgerechnet dieses Bildnis betrachtete.

    „Grace, bitte glauben Sie mir, es ist besser für Sie, Sie würden Ihre Interessen anderweitig … Sie entgegnete forsch seinen Blick, nicht bereit, sich abweisen zu lassen. Er räusperte sich. „Diese Frau, deren Namen auszusprechen mir der Anstand wegen der mit ihr verbundenen Schmach verbietet, brachte Unglück über Emery Hall, über die Familie grundsätzlich. Es ist eine äußerst betrübliche Geschichte.

    Seine Miene hatte was Abweisendes an sich. Für Charles war das Thema schlagartig zu Ende. Aus den Augenwinkeln heraus beobachte sie ihn, während er Treppe neben ihr hinunter zur Haustür lief. Was auch immer es auch war, es schien ihn zu quälen.

    Rasch verabschiedete Grace sich und lief zu ihrem Auto. 

    Die Dämmerung begann einzusetzen. Es war kühl, der Wind frischte unangenehm auf. Dicke Regenwolken hatten sich vor die milchige Sonne geschoben.

    Aufatmend setzte Grace sich in ihren Wagen, steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Ihre Hand zitterte. Ihr waren seltsame Ähnlichkeiten mit der Dame auf dem Bild und ihrer Großmutter aufgefallen.

    Da gab es zu einem die schwarzen Knopfaugen mit dem kalten Blick, die hartherzige reizlose Mimik, und der kräftige, beinahe schon maskulin wirkende Unterkiefer. War das nur Zufall? Wie konnte das sein, wo doch ihre Großmutter väterlicherseits mit den Emerys in keinerlei Beziehung stand, und sie eine geborene Davenport war? Gibt es zwischen den Frauen irgendwelche Parallelen und wenn ja, wie sahen diese aus?

    Doch da war noch etwas anderes, was ihr Misstrauen erregte. Seine Erregung wegen des Restaurators kam ihr irgendwie falsch vor, seine Worte unaufrichtig. Warum? Weswegen hatte sie es gar nicht erst erblicken dürfen? Ihr gab sein Verhalten Rätsel auf.

    Grace fühlte sich unwohl. Sie glaubte, beobachtet zu werden. Schnell fuhr sie vom Hof. Sie wollte rasch fort und dem Gefühl der zunehmenden Beklemmung entfliehen. Ungeachtet dessen fasste sie den Entschluss, den offen Fragen mitsamt den Widersprüchlichkeiten auf die Spur zu kommen – einer unguten Vorahnung zum Trotz.

    ***

    Voller Vorfreude auf das Rendezvous mit seiner Freundin lief Ross Paxton mit einer teuren Flasche Rotwein in der Hand quer über den Parkplatz zu seinem Wagen. Er hoffte nur inständig, dieser edle Tropfen würde Gnade vor ihren Augen finden; sie galt als kritische Weinkennerin. Normalerweise hätte er einer seiner Hausangestellten diese Aufgabe übertragen.

    Ein Mann im schwarzen Mantel stand nahe an seinem Wagen und blickte unverwandt in seine Richtung. Wachsam näherte Ross sich ihm. Durch seinen Beruf lebte er nicht ungefährlich, jedoch verabscheute er seine Neun-Millimeter-Pistole, weshalb er sie gegenwärtig auch nicht bei sich trug.

    Bedacht näherte Ross sich seinem Wagen, schloss, die Tür auf, während er den Typen Mitte der fünfzig im Auge behielt. Der Mann ging auf ihn zu.

    „Mr. Paxton? Euer Ehren?"

    „Wer sind Sie?"

    Er wirkte bei näherem Hinsehen verhärmt, ganz so als habe er die Hölle auf Erden durchlebt, dennoch machte er einen soliden, gepflegten Eindruck.

    „Keine Panik, Sir. Ich trete in friedlicher Absicht an Sie heran. Ich bin Howard Winters." 

    Ross Miene hellte sich auf. Natürlich. Er erkannte Deborahs’ Exmann.

    Kurz angebunden erzählte er ihm, dass er vorgestern aus der Haft entlassen worden war, nachdem er fünfzehn Jahre wegen Totschlag und bewaffneten Raubes abgesessen hatte.

    „Es hat mich gefreut, von Ihnen zu hören, Mr. Winters. Wenn Sie mir etwas sagen wollen, dann kommen Sie bitte zur Sache." 

    Sein abschätzender Blick streifte Ross vom Scheitel bis zur Sohle und sein faltiges Gesicht mit der breiten Narbe an der Schläfe brachte eine unverhohlene Verachtung zum Ausdruck, was allerdings keinen Eindruck auf ihn machte. Der Richter war einiges gewohnt; da stand er zweifelsohne drüber.

    Deborah hatte nicht übertrieben, als sie ihn als überheblich beschrieb, fand Howard, und es war ihm schlichtweg unbegreiflich, wie sie es jemals mit einem solchen Menschen aushielt. Er wusste weit mehr von ihr, von ihrer miserablen Ehe mit Paxton, als es ihm eigentlich lieb sein konnte.

    Winters trat an ihn heran. „Euer Ehren, ich werde in Kürze nach Neuseeland übersiedeln, dort habe ich einen Job bekommen. Ich breche hier, in den Staaten, alle Zelte ab. Aber bevor ich abreise, möchte ich meine Exfrau noch einmal wiedersehen, und mich von ihr verabschieden. Das Problem ist, ich versuche die ganze Zeit vergeblich sie zu erreichen. Wie geht es ihr? Was ist aus ihr geworden?"

    Sarkastisch lachte Ross auf. „Das wüsste ich auch gerne."

    „Was heißt das? Was ist passiert?"

    „Sie hat mich von einem Tag auf den anderen verlassen, meine Tochter und mich. Das ist passiert."

    Seine Irritation war nicht gespielt. „Das verstehe ich nicht."

    „Was, bitteschön, ist denn daran nicht zu verstehen?, erwiderte Ross ungehalten. Dieses Thema war ein rotes Tuch für ihn. „Seit vierzehn Jahren ist Deborah spurlos verschwunden. Kein Mensch weiß, ob sie lebt oder tot ist. Ich habe die besten Detektive beauftragt und die haben quasi jeden Stein umgedreht. Ich habe alles nur Erdenkliche getan, um sie ausfindig zu machen. Sämtliche Spuren führten ins nichts.

    „Seit vierzehn Jahren, sagen Sie? Er überlegte. „Sie hat mich noch besucht im Gefängnis. Sie wirkte bekümmert, wenn nicht sogar zu sagen verzweifelt.

    „Ach, nein?, höhnte Ross. „Welch eine Überraschung! Bei Ihnen hat sie sich also das Herzchen ausgeschüttet? Ich habe mich schon gefragt, an wessen Schulter sie sich wohl ausgeheult hat.

    Winters biss die Zähne zusammen, trat mit zornig funkelnden Augen auf ihn zu. Bei seinen fast zwei Meter Körpergröße

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