Warum wir das schaffen müssen: Flüchtlinge - und was wir als Christen damit zu tun haben
Von Anja Lerz
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Buchvorschau
Warum wir das schaffen müssen - Anja Lerz
Corinna Meinold / Anja Lerz (Hrsg.)
Warum wir
das schaffen
müssen
Flüchtlinge – und was
wir als Christen
damit zu tun haben
Mit einem Grußwort von Ulrich Lilie,
Präsident der Diakonie Deutschland
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Redaktionsschluss für diesen Sammelband war der 4. Januar 2016.
Der Informationsstand der Texte bildet den Wissensstand bis zu diesem Zeitpunkt ab.
Die Namen der in den Flüchtlingsgeschichten erwähnten Personen wurden zu ihrem Schutz geändert.
ISBN 978-3-86506-887-3
© 2016 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers
Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers
Titelfoto: Miguel Garcia Saavedra shutterstock
Satz: Brendow Web & Print, Moers
E-Book
-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016
www.brendow-verlag.de
Die Speisung der 800.000
Auf einer seiner Wanderungen kam Jesus nach Deutschland. In Deutschland sah er die 800.000 Flüchtlinge, und sie jammerten ihn.
Als es Abend ward, sprachen die 80 Millionen Deutschen zu Jesus: „Herr, lass die Leute an die Orte zurückgehen, woher sie gekommen sind, denn hier gibt es nicht genug für alle. Und außerdem könnten einige unter ihnen Missbrauch betreiben."
Und Jesus sprach zu den Deutschen: „Gebt ihr ihnen zu essen! Und ein Kind schaute in die Statistik und sagte: „Herr, hier sind fünf Billionen Euro Geldvermögen und ein seit zwei Jahren nahezu ausgeglichener Haushalt, aber was ist das für so viele?
Und Jesus sprach: „Nun lasst die Menschen erst mal in ihren Flüchtlingswohnheimen ankommen, immer fünf in einem Container." Und sie kamen an, und die Deutschen teilten aus, und Jesus segnete sie, und es reichte für alle.
Und fünf Jahre später sammelten sie ein, was übrig war, und füllten Körbe mit jungen Leuten, Auszubildenden, Fachkräften, Arbeitern, neuen Nachbarn und ehrenamtlichen Helfern mit Public-Private-Partnership, Wirtschaftswachstum, mit gutem Ruf, Dankbarkeit, Diversität und mit dem guten Gefühl, der Welt etwas geschenkt zu haben.
Jens Hobohm
(Leiter einer Gemeinde in Berlin-Lichterfelde –
frei nach Johannesevangelium Kapitel 6)
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Die Speisung der 800.000
Vorwort
Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie Deutschland
Wie nah lasse ich die Flüchtlinge an mich heran?
Rebekka Gohla
Mein Freund Thorsten und die Flüchtlinge
Frank Bonkowski
Es begann mit einem „Shereve!"
Frank Bonkowski
Ein unvollkommenes Willkommen
Jennifer Zimmermann
Samir
Frank Bonkowski
Die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union: Ausverkauf europäischer Werte?
Wolf-Dieter Just
Farid
Frank Bonkowski
Flüchtlinge in Deutschland und Europa –
Wie schaffen wir das?
Sebastian Ludwig
Shivaa, die 11.000-Euro-Frau
Frank Bonkowski
Helfen? Eine verrückte Idee!
Martin Keune
Endlich wieder vereint: Fadi und Ahlam
Frank Bonkowski
Wie Oma nach Deutschland kam
Frank Bonkowski
Fremde werden Freunde
Martin Patzelt
Nah an den Menschen –
zwei Helfer berichten von ihren Erfahrungen aus Syrien und Deutschland
Rebekka Gohla
Ein Sofa für eine Nacht
Mandy
„Wenn wir uns als Selbstbespaßungs-Verein sehen, haben wir was verpasst" – Wie eine Kirchengemeinde in Berlin Hunderte Iraner aufnahm
Johannes Süßmann
Der Gott der Flüchtlinge.
Eine Spurensuche zum Thema Flucht,
Flüchtlinge und Heimatsuche in der Bibel
Roland Werner
Hier können Sie sich informieren
Die Autorinnen und Autoren
Fußnoten
Vorwort
Das Wort des Jahres 2014 war das Kunstwort „Lichtgrenze". Die Gesellschaft für deutsche Sprache bezog sich mit diesem Wort des Jahres auf die Berliner Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag des Mauerfalls. Über 8000 weiße, leuchtende Ballons erinnerten damals auf einer Länge von 15 Kilometern an den Verlauf der Berliner Mauer und an die frühere Teilung der Stadt und unseres Landes. Was für ein entscheidender Tag nicht nur für unser Land, als diese Mauer 1989 fiel; und ein starkes Bild, als Tausende erleuchtete Ballons gen Himmel stiegen und die für wenige Tage noch einmal sichtbare Grenze ein letztes Mal verschwand. Nur zwei Jahre später, im Jahr 2016, wird in Deutschland und in Europa darüber diskutiert, ob offene Grenzen nicht wieder Zäunen und Schlagbäumen weichen sollen.
Schaffen wir das – mit offenen Grenzen, offenen Herzen und begrenzten Möglichkeiten‘?
Ich bin überzeugt, dass spätere Generationen Europa und Deutschland daran messen werden, ob wir die weltweite Jahrhundertherausforderung Migration und Flucht mit einem angemessenen Beitrag Europas und Deutschlands beantwortet und mitbewältigt haben.
Dabei ist schon sehr viel geschafft. Das Leben von Hunderttausenden schutzbedürftigen Menschen konnte gerettet werden. Sie sind nicht im Mittelmeer ertrunken oder vor hohen Zäunen und geschlossenen Stacheldrahtverhauen abgewiesen worden. Die Hilfsbereitschaft von Hunderttausenden Freiwilligen in Europa ist nach wie vor sehr groß. In Deutschland engagieren sich aktuell mehr Menschen bei der Aufnahme und Integration der geflüchteten Menschen als im Sport. Das ist ein weltweit wahrnehmbares Zeichen dafür, dass die Idee der Menschenrechte als die große Erzählung Europas noch immer eine kraftvolle und überzeugende Orientierung entfaltet. Diese Menschenrechte, zu denen das Recht auf Schutz vor Gewalt und Verfolgung gehört, offensiv zu vertreten und zu verteidigen ist eine der großen historischen Aufgaben der Mitgliedsländer Europas.
Das Jahr 2016 muss trotz aller Widerstände und unterschiedlichen Interessen zum Jahr der gemeinsamen Anstrengungen für eine gelingende Bemühung um Integration werden. Dabei müssen wir aus den Erfahrungen unserer Nachbarländer genauso lernen wie aus den nicht geglückten Erfahrungen, die wir in unserem Land gemacht haben.
Bezahlbarer Wohnraum, Kitaplätze, schnelles Erlernen der deutschen Sprache und schnelle Integration in Arbeitsprozesse der Asylbewerberinnen und
-bewerber
sind die prioritären Herausforderungen neben einer gemeinsamen europäischen Antwort, die jetzt ebenfalls dringend erforderlich ist.
An der Bewältigung dieser Herausforderung mitzuwirken ist nicht nur Aufgabe der Politiker, sondern aller Menschen, denen die Ideen der Menschenrechte und eines menschenwürdigen Zusammenlebens auf diesem unbegreiflich erwählten Planeten eben nicht egal sind.
Dazu bedarf es der Zusammenarbeit und der aktiven Unterstützung aller Menschen, die für ein friedliches und gerechtes Zusammenleben aller Menschen eintreten wollen. Nach einem Jahrhundert der Gewalt und der Diktaturen sollten wir verstanden haben, dass Nationalismus und Extremismus in der europäischen Geschichte zu oft und immer wieder in die Katastrophe geführt haben. Die vorliegenden Beiträge sind lesenswerte und fundierte Mosaiksteine zu einem hoffentlich menschenfreundlichen Gesicht Deutschlands und Europas angesichts der immensen Herausforderungen.
Ulrich Lilie
Präsident Diakonie Deutschland
Wie nah lasse ich die Flüchtlinge an mich heran?
Rebekka Gohla
Es ist Mitte des Jahres 2015, und in den Nachrichten verfolge ich die aktuelle Lage. Immer mehr Menschen fliehen aus Ländern wie Syrien oder dem Iran, um dem Krieg zu entkommen. Eine Welle von Videos taucht in den sozialen Netzwerken auf. Darunter immer wieder Bilder von verzweifelten Müttern und Vätern, die ihre Kinder an der Hand halten oder auf dem Arm tragen.
Die Bilder sind zum aktuellen Zeitpunkt für niemanden mehr neu. Und ich könnte auch gar nicht sagen, wann die erste Flüchtlingswelle kam. Es kommt mir so vor, als sei es nie anders gewesen. Ich erinnere mich schon gar nicht mehr an die Zeit ohne die Massenquartiere in den Städten. Kein Wunder, immerhin sind Medien wie Fernsehen, Zeitungen und Radio vom Flüchtlingsdrama überflutet.
Ich fühle Mitleid mit den Menschen, die ihre Heimat verlassen haben. Wie muss das sein? Wie fühlt es sich an, seine Freunde, die eigene Familie und das geliebte Zuhause zu verlassen, ohne zu wissen, wann und wo man landen wird? Was wird den Neuankömmlingen durch den Kopf gehen? Vielleicht Fragen wie diese: Wie werden die Menschen in dem neuen Land sein? Wie kommuniziere ich mit ihnen, wenn wir doch nicht dieselbe Sprache sprechen? Wovon werden wir Lebensmittel und einen Schlafplatz bezahlen?
Im Fernsehen sehe ich Berichte über Schleuser, die Flüchtlinge in ihren Lastwagen mitnehmen. Diese Menschen ersticken mitten in Europa auf dem vermeintlichen Weg in die Freiheit. Ich sehe Polizisten, die an der Grenze ein Interview geben und erzählen, wie sie die Lastwagen vorfinden. Einer dieser LKWs hat in der Verkleidung lauter kleine Beulen, die nach außen hin ausgebuchtet sind.
„Hier müssen Menschen verzweifelt versucht haben, aus dem Wagen zu gelangen", sagt der Sprecher.
Furchtbare Bilder. Oder das Bild von dem kleinen Jungen in seinem roten Shirt, der am Strand angespült wurde – ertrunken, liegen gelassen. Das Bild geht um die Welt. Empörungsschreie. Betroffenheit. Aber es ist weit weg, trotz allem. Ein anderes Video verbreitet sich so schnell und vehement über die sozialen Medien, dass ich es mir eines Tages auch anschaue. Das Hilfswerk „Samaritan‘s Purse" hat dieses Video veröffentlicht. Es zeigt, wie Helfer dieser Organisation am Strand nach Flüchtlingsbooten Ausschau halten. Befindet sich ein Boot in der Nähe der Küste, helfen sie den Menschen sicher an den Strand zu gelangen. Sie tragen Kinder aus dem Wasser und stützen Menschen, die sich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten können. Sie versorgen die Ankommenden medizinisch und geben ihnen Essen und Trinken. Sie kümmern sich um diese Menschen, die nicht nur äußere Verletzungen davongetragen haben, sondern auch innerlich schwer verwundet worden sind.
Ich sehe das Video an und muss weinen, weil ich mich frage, wie Gott sich wohlfühlt, wenn er die Not dieser Menschen sieht. Könnte ich dort helfen? Würde ich es schaffen, an der Küste auf Menschen zu warten, lebendige und tote, um sie in Empfang zu nehmen? Sicher bin ich mir nicht. Aber es passiert nicht in meinem Land, es passiert Hunderte oder sogar Tausende Kilometer weit weg. Betrifft es mich da? Kann ich überhaupt helfen?
Flüchtlinge in meiner Stadt
In einem Stadtteil in Mülheim an der Ruhr befindet sich das Lagerhaus von „Willkommen in Mülheim. Diese Initiative erzählt eine echte Erfolgsgeschichte. Schon länger engagieren sich hier Privatmenschen, nehmen Kleiderspenden und Haushaltsartikel entgegen, sortieren sie und teilen sie dann an Flüchtlinge aus. Zu den Öffnungszeiten bilden sich stets Schlangen bis vor die Tür. Die Initiative spricht sich schnell herum, und so bringen immer mehr Menschen Spenden hierher. Eine weitere Besonderheit von „Willkommen in Mülheim
ist sicherlich, dass hier Menschen mit den unterschiedlichsten Hintergründen arbeiten. Vor allem die Flüchtlinge, die schon länger da sind und ein wenig Deutsch sprechen, sind eine große Hilfe. Sie können übersetzen, Fragen beantworten und vermitteln.
„Willkommen in Mülheim" entstand bereits vor einigen Jahren. Der Gründer und Leiter des Vereins suchte damals via Facebook Spenden für eine Familie. Was sich daraus entwickelte, konnte zu dem Zeitpunkt noch keiner ahnen. Selbst von weit her bringen mittlerweile Menschen volle Autoladungen mit Kleidung, Hygieneartikeln, Spielsachen und Möbeln. Längst haben sogar einige Zeitungen und Fernsehsender bundesweit über die Initiative berichtet. Eine beeindruckende Arbeit, gestemmt von Ehrenamtlichen, denen die fremden Menschen am Herzen liegen. Wer hierherkommt, lernt schnell neue Menschen kennen und erfährt auch mehr über die Geschichten der Neuankömmlinge.
Direkt gegenüber dem Lagerhaus befindet sich das Gemeindehaus der Credo-Gemeinde, einer evangelischen Freikirche des Mülheimer Verbandes. Pastor Timm Oelkers und seine Frau wollten schon lange gerne mehr sozial-diakonisch arbeiten – am liebsten mit Menschen mit Migrationshintergrund. Doch der Stadtteil, in dem sich die Gemeinde befindet, ist der wohl gut betuchteste Stadtteil in Mülheim, mit einem geringen Ausländeranteil. Als „Willkommen in Mülheim" sein Warenhaus ausgerechnet gegenüber eröffnet, scheint das perfekt zu passen. Und als dann im Winter die Wartenden in der Kälte stehen müssen, bis sie ins Lagerhaus können, entsteht die Idee eines Flüchtlingscafés.
„Im Sommer konnten die Menschen auf Plastikstühlen draußen warten und saßen dort, während die Kinder auf dem Hof spielten. Aber im Winter war es zu kalt für sie", erzählt mir der Pastor.
Kurzerhand öffnet die Gemeinde jeden Samstagnachmittag ihre Türen. Mit ihrem Flüchtlingscafé bietet sie so eine Möglichkeit, in gemütlicher Atmosphäre einen Kaffee zu trinken, Gebäck und Obst zu essen und Kontakte zu knüpfen. Hier könnte ich helfen, in meiner Stadt.
An einem Samstag im Sommer gerate ich „zufällig" mitten ins Flüchtlingscafé. Eigentlich wollen meine Freundinnen und ich nur schnell Flyer abgeben. Aber es werden dringend helfende Hände gesucht, und so bleiben wir.
Es ist ein wuseliger Nachmittag. Immer mehr arabische Familien kommen, nehmen sich Kaffee und Kuchen und lassen ihre Kinder währenddessen im Spielbereich spielen. Es ist laut, die Kinder rufen und lachen, die Männer