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Gesammelte Werke Oskar Panizzas
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eBook870 Seiten11 Stunden

Gesammelte Werke Oskar Panizzas

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Über dieses E-Book

Diese Sammlung der Werke Oskar von Panizza, des berühmten deutschen Schriftstellers, Satirikers und Publizisten des Naturalismus und Expressionismus, der in seinen Schriften den wilhelminischen Obrigkeitsstaat, die katholische Kirche, sexuelle Tabus und bürgerliche Moralvorstellungen attackierte, enthält:

Ein kriminelles Geschlecht
Die Menschenfabrik
Das Wachsfigurenkabinett
Abendmahl
Pause
Kreuztragung
Pause
Golgatha
Das Wirtshaus zur Dreifaltigkeit
Das Liebeskonzil
Eine Himmelstragödie in fünf Aufzügen
Dem Andenken Huttens
Das Verbrechen in Tavistock-Square
Abschied von München
Ein Handschlag
Die gelbe Kröte
Die Kirche von Zinsblech
Der Goldregen
Der Korsetten-Fritz
Der operierte Jud'
Der Stationsberg
Deutsche Thesen gegen den Papst und seine Dunkelmänner
Aus dem Begleitwort des Michael Georg Conrad
Maria
Zölibat
Beichte und Ablass
Vom eisigheissen und süssbitteren Fegfeuer
Deutsche
Papst
Auskehr
Aus der Pastoral-Medizin
Ein skandalöser Fall
Eine Mondgeschichte
Indianer-Gedanken
Psichopatia Criminalis
Der Tipus der psichopatia criminalis.
Stoßseufzer aus Bayreuth
SpracheDeutsch
Herausgeberaristoteles
Erscheinungsdatum9. Apr. 2014
ISBN9783733905057
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    Buchvorschau

    Gesammelte Werke Oskar Panizzas - Oskar Panizza

    Panizzas

    Ein kriminelles Geschlecht

    Er wußte nichts von den Geschlechtsunterschieden der Menschen und unterschied die Leute nur nach den Kleidern. –

    Bericht über Kaspar Hauser, 1828

    Es war um die Zeit, als ich in dem von Deutschland neugewonnenen Straßburg studierte, daß ich eines Tags einem Kriminal-Kommissarius vorgestellt wurde, der bei der damals kurz nach dem deutsch-französischen Kriege notwendig gewordenen Neu-Ordnung der Dinge aus dem Norden Deutschlands dahin versetzt worden war. Wir trafen uns öfter. Es war ein äußerst verschlossener Mann; akkurat, streng gegen sich und andere, aufrichtig, wahrheitsliebend, gottesfürchtig, von fast puritanischer Gesinnung, dabei gescheit, bis zum Grüblerischen schlau und mißtrauisch, aber, wie mir schien, ohne jede weltmännische Bildung, von der er sich absichtlich zu entfernen schien. Er mußte ausgezeichnete Zeugnisse besessen haben, die ihn, vielleicht einen Vierziger, auf diesen einflußreichen Posten gelangen ließen. Er war unverheiratet und protestantisch. Eines Sonntagnachmittags auf einem unserer Spaziergänge, als die Unterhaltung, wie schon so oft, zu stocken schien, da er immer in sich hinein horchte und dem Gesprochenen nur halbes Ohr lieh, konnte ich mich nicht enthalten, an ihn die etwas vorlaute Frage zu richten, sintemal er viel älter war wie ich: »Herr Kommissar, Sie scheinen mit außerordentlichen Schwierigkeiten hier betraut zu sein, und Ihr neuer Posten muß ganz absonderliche Aufgaben an Sie stellen, da Ihre Zerstreutheit, fast Geistesabwesenheit...?« – Bei diesen letzten Worten sah der Kommissar scharf zu mir herüber, halb mißtrauisch, halb erschrocken darüber, daß ich versucht, sein Inneres zu durchforschen. Da ich seinen Blick naiv auf mir ruhen ließ, so sah er weg und ging schweigend mit auf den Rücken gelegten Armen einige Zeit neben mir her. Dann sah er mich noch einmal scharf, durchdringend an, und, wie es schien, von der Prüfung zufriedengestellt, begann er folgenden Diskurs: »Mein lieber Studiosus, Sie sind noch jung, aber ich glaube, ich darf Ihnen in etwas vertrauen. – In der Tat, es sind ganz absonderliche Aufgaben, vor die meine Regierung mich gestellt hat. – Ich komme hoch aus dem Norden, aus einem kleinen Bezirksstädtchen, wo ein paar Vagabunden und Felddiebe unsere einzige Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen... Ich hätte nicht geglaubt, daß die Welt so kompliziert ist; ich konnte mir nicht denken, daß hier herunten, wo die Völkermischung eine größere, so unerhörte Dinge sich im geheimen abspielen...« – Mein Begleiter, der sehr rasch sprach, unterbrach sich hier. Ich hatte die Empfindung, als begänne eine große Last sich von dem Herzen des in seinem Innersten erschütterten Beamten loszuwälzen, und vermied es daher, ihm in die Rede zu fallen. – »... Es ist nur so schwer,« – begann er wieder – »das in Worte zu kleiden, das, was ich Ihnen sagen will, Ihnen mit den bisherigen Hilfsmitteln der deutschen Sprache begreiflich zu machen... Sie sind Mediziner, – Sie werden vielleicht manches besser verstehen, mir vielleicht sogar in manchem einen Wink geben können...« – »Sind es sanitäre Maßregeln, mit denen Sie hier betraut wurden?« – wagte ich anzudeuten. – »Sanitäre? – Ja, gewiß, sanitär, – aber sanitär ist zuwenig, sanitär drückt die Sache zu mild aus; es ist weit mehr kriminell!...« – »?« – Auf mein fragendes Zaudern wandte der Kommissar seinen Kopf zu mir herüber und schaute mich wieder mit jenem seltsamen Blicke an, der mir vorhin schon aufgefallen war. Doch war es diesmal weniger Furcht, ob er mir vertrauen könne, als Auskundschaften, was ich zu seinen bisherigen Worten meine. – »Ja, – so, glaube ich, kann ich's Ihnen am besten begreiflich machen,« – fuhr mein Begleiter dann fort – »denken Sie sich, ich bin von der Regierung beauftragt worden, einer kriminellen Vereinigung, – einer betrügerischen Sippe – einem Geschlecht nachzuforschen, welches sich hier seit Aufhebung der Belagerung herumtreibt, aus Frankreich herüberkommt, sich in bestimmten Schlupfwinkeln festgesetzt hat und rücksichtslos im geheimen sein Zerstörungswerk verrichtet!« – Der Kommissar hatte diesen Satz mit der größten Sorgfalt, den Finger an die Nase gelegt, konstruiert und Wort für Wort vorgetragen, als handle es sich um eine wissenschaftliche Definition oder als fürchte er, durch eine einzige Umstellung oder ein unvorsichtiges Adjektiv mir eine unrichtige Vorstellung von dem zu geben, was in seinem Innern selbst noch nicht ganz klar erkannt worden war. Dann warf er den Kopf wieder plötzlich zu mir herüber, um sich auf meinem Gesicht zu orientieren. – »Hm!« – sagte ich – »ist die Vereinigung politischer Natur?« – »Nein!« – replizierte der Kommissar mit einer fast schnalzenden Lebhaftigkeit, als freue er sich, daß ich diesen Einwurf gemacht, und brachte nun auch die andere Hand hinter dem Rücken hervor, um sie mit einer heftigen Gestikulation nach vorne zu werfen – »nein!« – wiederholte er noch einmal mit einem einentümlich sakkadierten Laut, um dann beide Zahnreihen längere Zeit auf dem »n« ruhen zu lassen – »politisch ist sie nicht, sonst wäre sie leichter zu fassen; leider ist sie gar nicht politisch; sie ist sogar politisch indifferent; sie ist die persönlichste und subjektivste Geheim-Koalition, die mir vorgekommen ist, dabei von einem Egoismus, von einer Sicherheit des Egoismus, von einer Tadellosigkeit der Geschäfts-Praktik, daß sie unter sich gar keiner Verständigungsmittel, keiner Parole, keines Augenzwinkerns bedarf, von einer Untrügbarkeit des Erfolges, daß man meinen könnte, eine neue Rasse, ausgestattet mit den unfehlbaren Organen ihres Gewerkes, sei auf die Welt gekommen!« – »Ach, mein Gott,« – sagte ich nach einiger Überlegung und wie enttäuscht – »meinen Sie dieJuden?« – »Nein!« – rief er wieder lebhaft und wie vorbereitet auch auf diesen Einwurf – »die sind es nicht, die wären mild; es ist eine geheimnisvoll vorgehende Vereinigung., die lautlos und unbeachtet, unbeachtbar, unfaßbar sowohl durch unsere Landesgesetze als für unsere Polizei-Organe ihre Tätigkeit ausübt, ja, die sich fast unserem Denken entzieht...!« – »... die sich unserem Denken entzieht?« – wiederholte ich ganz perplex. – »... die sich unserer denkenden Erwägung entzieht...!« – erklärte der Kommissar ausführlicher. – »... die sich unserer denkenden Erwägung entzieht?« – syllabierte ich nochmals Wort für Wort für mich hin. – »... Hinsichtlich,« – nahm der Kommissar nochmals den Satz auf – »hinsichtlich ihrer geheimen Triebfedern, ihrer letzten Motive, sich unserem Denken entzieht!« – »... hinsichtlich ihrer geheimen Triebfedern und letzten Motive sich unserem Denken entzieht!« – sagte ich auch diese letzte Fassung zu meiner eigenen Bestärkung mir nochmals vor. – Dabei fühlte ich, ohne hinzusehen, wie die Augen dieses Mannes heftig auf mich hingerichtet waren; wie dieser Mann angstvoll irgendein Wort von mir erwartete, welches ihn in seiner eigenen Gedankenführung bestärken könnte; ich fühlte, wie dieser Mensch, der sich seit zehn Minuten vollständig verändert hatte, dessen Miene, Bewegungen, Atmung, Schläfe, Blick eine ungeheure Erregung verrieten, an einem Problem herumlaboriere, welches selbst für die ungewöhnliche Intensität seines Geistes zu hoch schien. –

    »Arbeitet diese von Ihnen überwachte Vereinigung mit geistigen oder physischen Waffen?« – frug ich endlich, um auf eine vernünftige Spur zu kommen. – »Mit physischen., realen, recht eigentlich körperlichen Waffen, das heißt dem äußeren Anschein nach, wenn nicht noch etwas dahintersteckt, was ich stark vermute.« – »Sie sagen, aus Frankreich kommt diese neue polizeiwidrige Clique?« – »So lautet meine Instruktion; ich war ja vorher nicht hier; jedenfalls der Mehrzahl nach, und die gefährlichsten aus Frankreich.« – – »Du lieber Himmel!« – sagte ich und wandte mich freundschaftlich zu meinem Nachbar – »sind es vielleichtFranctireurs?« – »Ha!« – rief der Kommissar mit einer gellenden Lache – »so einfach müssen Sie sich die Sache nicht vorstellen;« – – dann nach einer Pause: »Ich sage Ihnen, die Gesellschaft ist unfaßbar und unkontrollierbar;Franctireurskann man auf der Tat erwischen und vor ein Kriegsgericht stellen; diese lassen sich fast nie in flagranti ertappen; in einem Hui ist alles vorbei; und Verrat ist von dem Komplizen, den sie im Moment der Tathandlung eben erst zum Komplizen machen, nicht zu befürchten, weil der Betreffende sofort sich als zu dem Bunde gehörig fühlt, sofort eo ipso in die Kaste eintritt; und – worin ich gerade Ihr Urteil als Mediziner hören möchte – bei Ausübung ihrer Handlungen ist fast nur ihr Körper beteiligt; obwohl ich Grund habe zu vermuten, daß ihr Geist dahinter zittert und bebt, ist fast nur ihr Körper beteiligt; und nur mit ein paar Rucken; so daß, wenn die Kleider geschickt geordnet sind, es fast unsichtbar hinter den Kleidern vor sich gehen kann; daher die Schwierigkeiten?« – »Mein Gott,« – sagte ich, von einer plötzlichen Ahnung erfaßt – »sind es Männer oder Weiber?« – »Es ist ganz gleich, ob es Männer oder Weiber sind,« – replizierte der Kommissar a tempo, sichtbar ärgerlich, über diesen Punkt gefragt zu werden – »Verbrecher sind Verbrecher; der Staat kann keine zweierlei Gesetze für Männer und für Weiber machen. Mir ist es überhaupt unerfindlich, wie man wegen eines winzigen Anhängsels solche generelle Unterschiede aufstellen kann und die Menschheit in die Zwangsjacke von Unterrock und Hose einschnüren mag, die noch dazu von Tag zu Tag in der Mode wechseln – das eine hat ein Anhängsel, das andere hat keins; und da macht man einen generalen Strich durch die Menschheit und sagt: Ihr heißt euch so und müßt euch so kleiden, und ihr heißt euch so und müßt euch anders kleiden...?! – Welche Willkür! – Da könnte man ebensogut die Nasen hernehmen; der eine hat 'ne Adlernase, der andre hat 'ne platte Nase; und zu diesen sagen: Ihr heißt euch mit Rücksicht auf eure Nase so und kleidet euch darnach; und zu jenen: Ihr heißt euch, weil ihr 'ne gequetschte Nase habt, anders und kleidet euch anders. Oder die Ohrläppchen hernehmen, und die Menschheit nach den Ohrläppchen einteilen, und ihr mit Rücksicht darauf Namen und Kleidermoden vorschreiben! – Männer oder Weiber?! Nach dieser Seite ist mir das sonst recht rationelle Weltganze immer unverständlich geblieben, immer als eine Tollheit, als ein Mißgriff erschienen. Verbrecher ist Verbrecher! Doch dies nebenbei. Nein, lieber Doktor,« – fuhr der Kommissar, sichtlich zufrieden mit seiner Expektoration, direkter zu mir gewandt, weiter – »das möcht' ich von Ihnen als Mediziner wissen, wie eine solche Clique es dahin bringen kann, mit solchem Raffinement, mit solcher Vupticität, die physiologische Anlage ihres Leibs zu geheimen, destruktiven Umtrieben zu benützen...?« – »Ja, bei allen Heiligen!« – rief ich, fast unwillig und im Begriff, den Verstand über diesen Auseinandersetzungen zu verlieren – »was tun denn die Leute?« – »Was sie tun?« – rief der Kommissar – »ja, wenn ich das so mir nichts, dir nichts sagen könnte; was sie tun? Darüber habe ich seit Wochen Tag und Nacht nachsimuliert. Was sie tun?« – wiederholte der Kommissar und preßte die Hände vor die Stirn – »wenn man das in einer umfassenden Definition klipp und klar aussprechen könnte! Was die Leute tun? – wenn Sie's hören wollen, wie ich mir die Sache zurechtgelegt: Sie treiben kriminelle Fabrikation mit ihrem Körper!« – »Kriminelle Fabrikation mit ihrem Körper« – wiederholte ich und platzte, wie von einer Bombe getroffen, zurück. – Wir waren beide unwillkürlich stehengeblieben, hatten Front gemacht und starrten uns nun gegenseitig an. Der Mann sah aus wie ein Schauspieler, der sein bestes Stichwort losgelassen, seinen wirksamsten Coup absolviert und jetzt auf den Applaus der Zuschauer wartet, aber noch nicht weiß, ob es eingeschlagen hat. Fiebernd, zitternd, überhitzt, die mageren Hände noch wie zu einer pathetischen Geste erhoben, der Augenstern vibrierend und in seinem Reflex wie zerfahren, die natürliche Gesichtsfaltung vertieft und lederartig eingeschnürt, der ganze Mann das Bild der Sorge und das Opfer eines kranken Gedankengangs – so stand der Kommissar vor mir, der verschlossene, ruhige Beamte von ehedem kaum wiederzuerkennen. Und der Grundzug, der durch diese stumme Situation ging, war die Angst bei diesem Mann, was ich, der Harmlose, der Unbeteiligte, der Gesunde, dazu sagen werde. Ich hatte eine innere Scheu, die Diskussion jetzt da fortzusetzen, wo sie stehengeblieben war. Am liebsten hätte ich den braven Mann ruhig nach Hause geleitet. – »Kriminelle Fabrikation mit ihrem Körper« – wiederholte ich flüsternd für mich, um den Mann nicht zu beleidigen, und setzte gleichzeitig schlurfend meinen Weg fort. – »Kriminelle Fabrikation mit ihrem Körper treiben die, die dieser Sicherheitsbeamte als destruktive Gesellschaft aufsparen und aufheben soll!« – sagte ich leise in meinem Innern, unschlüssig, wie die Peinlichkeit dieser Szene zu beendigen – »hat,« – fuhr ich dann laut fort zu meinem Begleiter, der mir zögernd gefolgt war – »hat Ihre Regierung sich dieser Wendung, der von Ihnen soeben gebrauchten Worte bedient zur Charakterisierung der betreffenden staatsgefährlichen Koalition?« – »Nein,« – antwortete der Kommissar schlagfertig, wie ein Fechter, der auf die Parade wartet – »die Regierung drückt sich vorsichtig, allgemein, andeutend, sogar versteckt aus; der Gegenstand scheint ihr zu diffizil zu sein; sie hat wohl auch keine intimere Kenntnis der betreffenden Vorgänge; hier hat eben der Beamte einzugreifen; bei uns wird in solcher Stellung viel verlangt: Nein, Doktor, die Wendung stammt von mir, sie schien mir die bureaukratisch zulässigste, dabei korrekteste, bei der Dunkelheit der Vorgänge genügend andeutende und dazu alle betreffenden Bestrebungen umfassende, – ich sage Ihnen. Herr Studiosus, der Gegenstand ist eine Tarnkappe, langen Sie zu, haben Sie einen Frosch oder eine Schlange in der Hand und wissen nicht einmal, ob nur die echt sind.« – Der Kommissar sprach jetzt wieder viel freier. Man fühlte aus seinem Redefluß heraus, daß er sich, was man sagt, redressiert habe; er saß jetzt wieder fester auf dem Gaul; nachdem er seine Definition losgelassen, nachdem er den wundesten Punkt seines Systems geoffenbart und die Diskussion darüber nicht zu Fall gekommen, hatte er neue Kraft geschöpft, und man merkte, er suche durch breitere, erschöpfende Darstellung das an Boden zu gewinnen, was er vorhin moralisch bei seinem Partner durch Angst und Unsicherheit eingebüßt. – Ich war unentschlossen, ob ich die Unterredung über den Gegenstand weiterführen sollte. Sie auf ein anderes Thema vorsichtig überzuleiten, wäre wohl das beste gewesen, wenn dies nur einem so mißtrauischen Menschen wie meinem Begleiter gegenüber Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Wir waren inzwischen außerhalb der Stadt gekommen; vor einer Stunde hatte ich keine Hoffnung, mich anständigerweise von ihm entfernen zu können. – In der ganzen Erörterung gab es einen Punkt, gab es eine Stelle, die für mich geradezu undiskutabel war, die, um mich vorsichtig auszudrücken, ganz auf Rechnung der eigentümlichen Gehirn-Arbeit dieses Mannes kam; ich weiß nicht, ob der Leser hier das gleiche Gefühl hat wie ich; mit andern Worten: es war ganz gut möglich, es war wohl zweifellos, daß die neue Regierung dem eifrigen und als spürsichtig bekannten Beamten Andeutungen und diskretionäre Vorschriften zur Aufhebung einer geheimen Gesellschaft gab, die ihr, der Regierung, bei der Reorganisation der Dinge in den neuerworbenen Landesteilen unangenehm im Wege stand; aber so, wie der Kommissar seinen Gegenstand vortrug, hatte man den Eindruck. als ob dieser Mann, durch die Schwierigkeit angeeifert und bei dem Mangel an Tatsächlichem ganz auf seine Kombinationen angewiesen, nach irgendeiner Richtung in seinen Denk-Operationen sich so verrannt habe, daß das End-Resultat mit dem ursprünglichen Auftrag seiner Regierung in schreiendem Widerspruch stand; und dann schien es wieder, als ob ein einziger Punkt, den vielleicht ein Kind hätte finden können, genügend beachtet, der ganzen vertrackten und bureaukratischen Salbaderei und Geheimtuerei eine Wendung hätte geben können, die dann alles im hellsten Licht hätte erscheinen lassen, ein Punkt, den aber unser Beamter infolge seiner Verranntheit, Verstocktheit und mangelhaften Kenntnis der geheimen Triebfedern im Menschen nicht fand. – Ich war noch mit diesen Gedanken beschäftigt, als ich plötzlich dicht vor mir eine Nase und darüber die scharf vigilierenden Augen des Kommissars mit solcher Intensität und solchem Mißtrauen auf mich gerichtet sah, daß ich unwillkürlich zurückfuhr und dann stotterte: »Mein Gott, Herr N. – Sie überraschen mich, – ich war gerade im Nachdenken darüber, wie...« – »Ja, – denken Sie nur,« – antwortete mein Begleiter mit fast höhnischem Ton – »Sie kommen zu keinem andern Resultat; die Angelegenheit ist unentwirrbar, unauffindbar, sie entzieht sich unseren tastenden Händen, und« – setzte er in verzweifelndem Ton hinzu – »ich verliere noch meinen Posten darüber!« – Mich erfaßte jetzt Mitleid für den Mann. und ich beschloß, mit Rücksicht auf ihn, mich der weiteren Diskussion nicht zu entziehen. – »Was Sie da kriminelle Fabrikation nennen«, – begann ich zögernd und selbst im unklaren, wie ich die Sache wenden solle – »das muß doch in irgendeiner Weise zu Tage treten!« – »Das tut es auch – schrecklich, unsagbar, destruktiv!« – »Aber Sie sagen, daß es im geheimen geschieht; wie soll es denn so klar zu Tage treten?« – »Das Übel schleicht im verborgenen; die Konsequenzen werden schließlich offenbar und schreien durch ihre Gräßlichkeit gen Himmel!« – »Ja, aber was tun denn die Betreffenden,« – frug ich ungeduldig und eindringlich – »was fabrizieren sie denn?« – »Einen Stoff!« – »Einen Stoff?« – »Ja, einen Stoff!« – »Ist es ein Gift?« – »Wenn Sie wollen, ein Gift, aber ein angenehmes Gift, ein Gift, dessen Produktion ihnen Vergnügen macht, zu dessen Verwendung sie aber noch einen Nebenmenschen brauchen!« – »Und vergiften sie also ihre Nebenmenschen?« – »Ja, wenn Sie es so bezeichnen wollen; – aber nicht im gewöhnlichen Sinne des Vergiftens; – der Vergiftete oder zu Vergiftende muß einverstanden sein, und es scheint auch diesem die Aufnahme des Giftes unaussprechliches Vergnügen zu bereiten, da beide zusammen ein Komplott bilden und keiner den andern verrät.« – »Mein Gott – sind es Branntwein-Schänken, wo die arbeitende Bevölkerung durch Fusel langsam zu Grunde gerichtet wird?« – »Oh, – Sie sind hundert Meilen weit entfernt! – Sie gäben einen schlechten Kommissarius!« – »Ja, wo liegt die Sache denn dann? Was ist das für ein Gift, dessen Produktion dem Giftmischer wie dem Opfer Vergnügen gewährt, so daß beide ihre Handlung...« – »... ihre staatsgefährliche, kriminelle Handlung!« – interpellierte der Kommissar mit gewichtigem Pathos – ».... nicht verraten?« – ergänzte ich – »was ist das für ein Stoff? Ist es eine Essenz?« – »Essenz ist kein schlechtes Wort. Fluidum ist vielleicht besser; das Regierungs-Reskript drückt sich hier höchst reserviert aus; ich mußte da fast alles neu schaffen; die Terminologie dieses neuen Verbrechens ist von mir; leider stehen wir noch in den Anfängen!« – »Also ein Fluidum ist dieses merkwürdige Gift?« – »So scheint es.« – »Und dasselbe wird von den betreffenden Geheimbündlern mit ihrem eigenen Körper fabriziert?« – »Verbrecherischerweise fabriziert!« – »Und unter den Kleidern, sagten Sie?« – »In der Tat, – mit kolossaler Vupticität, – die Augen werden nur ein wenig glasig dabei.« – »Nun, und mit diesem Fluidum vergiftet das eine den andern?« – »Das Fluidum – vielleicht ist es nur ein Hauch! – wird von dem einen auf den andern übertragen, ohne daß viel dabei gesprochen wird; es ist fast ein Muß!« – »Ein Muß?!« – »Es gehen einige Blicke vorher, einige Gestikulationen, etwas sakkadiertes Atmen, etwas Glossolalie, dummes Gepappel, – und dann ist es geschehen.« – »Was ist dann geschehen?« – »Der andere ist dann so gut wie bezaubert und muß sich willenlos der Vergiftung stellen.« – »Nun, und?« – »Diese wird dann rasch vom ersteren vollzogen, und – der andere windet sich in Krämpfen!« – »Höchst merkwürdig!« – »Das ist nicht alles! Die Leute verbinden mit dem Ganzen eine Art Kultus, eine Art Religion; ein nie vorher dagewesener Enthusiasmus durchglüht ihre Brust; sie sprechen unhaltbare Schwüre aus, geloben sich unverbrüchliches Stillschweigen, entziehen sich ihren einfachsten Verpflichtungen und geben sich oft den Tod!« – »Das ist ja die allermerkwürdigste Religions-Gesellschaft, die existiert; es sind doch keineQuäker?« – »O nein! – Sie haben kein transzendentales System. Ihr Glauben ist auf materiellste Irdischkeit gegründet!« – »Aber worin besteht nun ihre Staatsgefährlichkeit?« – »Sie hindern den glatten Vollzug der vom Staat gestatteten Privatverbindung zweier Personen in der sogenannten Ehe!« – »Wieso das? Was hat die Ehe mit dieser Geheimbündelei zu tun?« – »Je nachdem der eine oder andere Teil der Ehegatten in diese Vergiftungs-Sphäre gerät, die Verzückungs-Übungen dieser geheimen Gesellschaft mitmacht, wird er zu Hause unfähig zu der vom Staat in der sogenannten Ehe gestatteten und dem Staate erwünschten physiologischen Körperleistung!« – »Wieso?« – »Er wird für seine häusliche eheliche Pflicht unfähig; sinkt zu den kraftlosen Bewegungen einer Puppe herab; vollführt gleichsam nur das Schema seiner legalen Empfindungen.« – »Das ist ja die merkwürdigste Einwirkung, die man sich denken kann!« – »Ja, es liegt eine förmliche Vergiftung vor. Und meist ist es der andere Eheteil, durch den die Sache zur Anzeige kommt. Da er aber bei dem eigentlichen Verbrechen nie dabei ist, also auch keine Aussagen machen kann, die eigentlichen Kriminellen aber durch ungeheure Schwüre sich Stillschweigen auferlegen, so ist der Staat fast nur auf Kombinationen angewiesen und muß hilflos einem Korruptions-Verfahren zusehen, welches in dieser Gegend tausendmal schlimmer wirken soll als die Opiumkneipen in China und London!« – »Und Franzosen, sagen Sie, sind vorwiegend dabei beteiligt?« – »Ja, die Völkermischung hier und die Freizügigkeit und die mangelhafte Ordnung in den neuen Verhältnissen hat die Sache entsetzlich verschlimmert!« –

    Wir gingen lange Zeit wieder schweigend nebeneinander einher. Die letzten Erörterungen hatten mir den Kopf so voll gemacht, daß ich keine Veranlassung hatte, weiter zu fragen; oder wenigstens nicht solange, als ich nicht das merkwürdige Verhältnis dieser Geheimbündler zur Ehe und die intimsten Vorgänge dabei einigermaßen verdaut hatte. – Wir waren schon auf dem Rückweg begriffen; die Stadt mit ihrem schönen Münster-Turm lag vor uns. Mein Begleiter, der für landwirtschaftliche Reize kein Interesse zu haben schien und immer den Kopf zur Erde steckte, holte plötzlich ein Notizbuch heraus, in das er rasch eine Aufzeichnung machte.

    »Ich habe da einen neuen Gedanken« – sagte er, als er merkte, daß ich ihn verwundert ansah, und fügte dann gleich hinzu: »Es ist nur so schade, daß man fast gar nichts aus persönlicher Anschauung feststellen kann, sondern alles im Kopfe erst konstruieren und ausrechnen muß.« – »Ist Ihnen nie einer von den Kriminellen zu Gesicht gekommen?« – frug ich, an diese eigentümliche Äußerung anschließend. – »Vermutungsweise. – Ich schaue auf der Straße jeden darauf an und vigiliere in allen Lokalen seit Monaten!« Bei diesen Worten nahm mich der Kommissar scharf ins Auge, um gleich darauf mit Lächeln seine Prüfung aufzugeben. »Mein Gott,« sagte ich, »die Betreffenden müssen doch faßbar sein, es sind doch Menschen?« – Erst nach einer längeren Pause antwortete mein Begleiter: »Menschen, – das wohl!«, mit einem Ton, als wär' es ihm lieber gewesen, wenn es keine wären oder etwas anderes und Tieferliegendes; setzte dann aber doch hinzu: »Sie sollen sehr schön sein!« – »Ich muß noch einmal, Herr Kommissar,« – bemerkte ich jetzt, um einen neuen Faden anzufangen – »die Frage an Sie richten: Sind es Männer oder Weiber? Ich glaube, hier kommt man zuerst auf die Spur. Sie kennen als gewiegter Kriminalbeamter gewiß den alten französischen Grundsatz: Où est la femme?« –

    Schon bei den ersten Worten hatte der Beamte seine Miene zu einem Essig-Gesicht zusammengezogen und heftig mit der rechten Hand abgewehrt. »Ach,« – fing er dann endlich an – »ich glaube, Sie sind auf der falschen Spur; aber um Ihnen zu willfahren, kann ich Ihnen sagen: Es sind Männer und Weiber, obwohl Sie wissen, wie gering ich da die Unterschiede anschlage.« – »Männer und Weiber?« – frug ich. – »Männer sowohl wie Weiber!« – »Haben Sie denn nie mit einem Kollegen darüber gesprochen, der in diesen Dingen etwas zu Hause ist, – es kommen da so manche intime Vorgänge in Betracht?« – »Ach,« – sagte er – »mit einem Kollegen über solche Sachen reden, da gibt man das Heft schon aus der Hand; und dann, Sie wissen, was ich über die zufällige Einteilung der Menschen in Männer und Weiber denke; Verbrecher ist Verbrecher; obwohl regierungsseitlich sogar ganz bestimmte Äußerungen in dieser Hinsicht vorliegen.« – »Was meint die Regierung in diesem Punkt? – Wenn es nicht ungeschickt ist von mir, soweit in Sie zu dringen?« – »Die Regierung unterscheidet in dieser kriminellen Sache jene beiden Parteien, die sich seit alters her auf so sonderbare Weise anziehen – die Männer und die Weiber.« – »So, also doch!« – bemerkte ich verwundert. »Ja, aber« – fügte der Kommissar ärgerlich hinzu – »es scheinen lediglich formelle Unterschiede zu sein.« – »Welche denn?« – »Männer und Weiber arbeiten hier auf ganz getrennten Gebieten. Erstere viel geheimer und verschlagener; letztere weit offenkundiger und ausgedehnter; beide Parteien haben übrigens keinerlei Verkehr miteinander; kennen sich nicht und sind nur durch die polizeiliche Recherche nebeneinander gebracht; auch scheint es, daß das verbrecherische Fabrikat, mit dem die Weiber operieren, weit weniger faßbar ist – fast nur ein Hauch – als das der Männer; dagegen sind die Männer den religiösen Kämpfen mehr ausgesetzt; während bei den Weibern alles mehr formelle Übung, toter Maschinengang ist. Aber, wie gesagt, diese kleinen Unterschiede kommen nicht in Betracht; wir wollen den Verbrecher fassen, der mit seiner Mischung von religiöser Schwärmerei und körperlicher Niederträchtigkeit das Volk ansteckt und die ›moralischen Fundamente der heutigen Gesellschafts-Ordnung untergräbt‹, wie der Regierungs-Passus lautet; wer es ist, ist uns gleich; wird einmal eines von ihnen gefaßt, dann lügen sie sich doch in gleicher Weise hinaus und schwören und betrügen, weil sie wissen, daß ihnen das Gesetz mildernde Umstände zuerkennen wird; weil sie meinen, mit ihrer reservatio mentalis, die viel mehr eine corporalis ist, kämen sie überall durch!« – »Mein Gott – es sind doch keineJesuiten?« – frug ich unwillkürlich. »O nein,« – antwortete der Kommissar – »aber von derselben Pfiffigkeit und Geriebenheit!« – und fügte dann nach einiger Zeit mit dem Ton tiefer Resignation hinzu: »Die haben keinen Namen, die sind namenlos; oder man nennt sie, wie man alle anderen auch nennt; oder wenn sie Spezial-Namen haben, dann wendet man diese sofort auch auf die übrige Menschheit an, und der Verwirrung ist kein Ende. In Frankreich haben sie an die fünfzig Bezeichnungen; frägt man dann auf der Straße: Wo ist ein solcher?, dann deutet der Gefragte auf den nächsten besten Menschen und lacht. – Nein, diese Verschworenen und Proselytenmacher schauen sich ins Auge und geben sich die Hand, und dann wissen sie alles; und die Polizei vigiliert und zerbricht sich den Kopf und setzt Himmel und Erde in Bewegung und erfährt nichts!« – »Du lieber Himmel, das klingt ja wieFreimaurer!« – »O nein!« – sagte mein Begleiter, und mir fiel das Verzweifelnde in Stimme und Gebärde auf – »diese Sekte hat keine Kirche, diese Vereinigung hat keine Symbole, diese Verwegenen mischen Religion und Verbrechen und setzen sich mit einer einzigen kühnen Tat über gesellschaftliche Ordnung und bürgerliche Gesetze hinweg. Oh, ich fürchte,« – brach mein Begleiter plötzlich in krampfhaftes Schluchzen aus und eilte laut demonstrierend und mit den Armen fuchtelnd voraus – »ich fürchte, diese Rotte weiß, daß ich zu ihrer Vernichtung ausgesandt bin, sie hetzt ihre Mordgesellen auf mich und wird nicht eher ruhen, bis ein kalter Stahl meiner spürenden Gedanken-Arbeit ein Ziel gesetzt hat...!« – »Mein Gott, Herr Kommissar,« – eilte ich hinterdrein – »beruhigen Sie sich!« – Wir waren bereits an die ersten Straßen der Stadt gekommen. Einige Leute wurden auf das Gebaren des Beamten aufmerksam. Ich nahm meinen Begleiter unter den Arm, und es gelang mir, ihn unter Hinweis auf die Wichtigkeit seines tadellosen Verhaltens als Kriminal-Beamter so weit zu beruhigen, daß er äußerlich ruhig neben mir herging. – Es wurde jetzt nichts mehr gesprochen. Mein Begleiter war auch vollständig erschöpft. Nach einer Viertelstunde etwa kamen wir an die Wohnung des Kommissars, nicht weit vom Polizei-Gebäude; sie lag im vierten Stock; es war ein kleines Stübchen, in dem außer den notwendigsten Möbeln und einigen Büchern eine große Menge älterer und neuerer selbstgefertigter Manuskripte aufgehäuft zu sehen waren, und machte den Eindruck des Aufenthaltsorts eines armen, fleißigen, nüchternen, braven Junggesellen. Erst nachdem ich mich überzeugt, daß der erschütterte Mann, dessen Miene das Bild tiefer Desolation bot, sich in Etwas erholt und er mir versprochen, sich sofort zu Bett zu begeben, verließ ich die Wohnung. –

    Es waren vielleicht sechs Wochen seit dieser Unterredung vergangen. Ich hatte nichts mehr vom Kommissar gehört und vermied es, seine Bekannten, wenn ich sie traf, nach ihm auszufragen, um nicht unnötige Aufmerksamkeit auf eine Person zu lenken, die in erster Linie Ruhe und Schonung bedurfte. Ja, ich hatte die ganze Angelegenheit in dem Mancherlei des Studentenlebens fast vergessen. – Aber eines Nachmittags begegneten wir einander auf der Place Kléber. Der Kommissar sah blühend aus. Sobald er meiner ansichtig wurde, eilte er schon von ferne auf mich zu. Er schaute mir lang ins Auge, und, als er aus meinem Gesicht wohl merkte, daß die ganze Erinnerung an jenen Sonntagnachmittag in mir aufgetaucht sei und es an ihm sei, mit einer Erklärung herauszurücken, begann er: »Nun, lieber Doktor, in der Zwischenzeit hat sich viel verändert; wir haben die Gesellschaft; wenigstens einen Teil; die eine Sparte; aber wundern Sie sich nicht, wenn nach all dem, was ich Ihnen damals sagte, nach all den Anstrengungen, die wir damals machten, um der Sache auf die Spur zu kommen, eine trockene Notiz Sie dafür entschädigen muß, was eine ungeheure kriminelle Organisation ist, die, wie ich jetzt zu glauben anfange, über die ganze zivilisierte Erde ausgebreitet ist.« – Er zog ein Zeitungsblatt aus der Tasche und wies mir im lokalen Teil eine blau angestrichene, stark abgegriffene Stelle. »Hier lesen Sie, welche klägliche Zusammenschrumpfung unter dem bureaukratischen Beobachtungsglas einer nüchternen Polizeibehörde eine Sache erfährt, die...« – hier machte der Kommissar eine aufgeregte Gestikulation und fügte dann hinzu: »Ich will mich nicht weiter ausdrücken.« –

    Die Lokalnotiz lautete: – Straßburg, den ... 187. – Gestern wurde eine größere Anzahl französischerDirnenaus der Umgebung von Besançon und Belfort, die zum Teil noch aus der Belagerungszeit hier waren, zum Teil mit dem Einzug der deutschen Truppen sich hier festgesetzt hatten, auf Grund des Niederlassungs-Gesetzes für Elsaß-Lothringen und der neuen polizeilichen Verordnungen für Straßburg, Stadt, (Sitten-Kontrolle) von hier ausgewiesen und per Schub über die Grenze gebracht.«

    »Also das war der Gegenstand Ihrer eifrigen Nachspürungen!« – sagte ich nach einer Pause absichtlich verstellten Erstaunens und fest entschlossen, kein einziges Wort mehr über diesen Gegenstand mit dem Kommissar zu verhandeln. – Er schaute mich an mit einem Gesicht, als hätte er jetzt erst die Anfangsgründe einer neuen und der denkbar schwierigsten Sprache erlernt. – Und dann, nach einer Pause, als niemand eine passende Wendung zum Auseinandergehen fand, frug ich noch: »Nun, und die andere Sparte? Was ist mit den Männern?« – »Die,« – sagte der Kommissar mit traurigem Kopfschütteln – »die werden wir nie fassen! Die kommen unter den höchsten Ständen selbst vor! Die... (Hier sagte mir der Kommissar etwas leise ins Ohr)!« – Dann gab er mir die Hand, und wir schieden stumm voneinander.

    Oskar Panizza

    Die Menschenfabrik

    Oft bin ich ganz verwirrt. Die Menschen um mich herum erblassen zu Schattenbildern, die wie wertlose Puppen auf und ab taumeln, und ein neues, farbiges Menschengeschlecht, von meiner Phantasie beordert, steigt aus dem Boden herauf, mich mit seinen erschreckten Augen anblickend.

    Tieck

    Wer viel zu Fuß gereist ist, bekommt allmählich eine so große Übung in Beurteilung des Standes der Sonne sowohl wie der Wegstrecken seiner Reise-Karte, daß er genau weiß, wann er von einem Ort aufbrechen muß, um sicher noch vor Eintritt der Dunkelheit das von ihm als Nacht-Quartier ausersehene Dorf oder Städtchen zu erreichen; ihm ergeht es nicht so wie dem Verfasser dieses vor mehreren Jahren, als er erst kurz zum Wanderstock gegriffen hatte und sich eines Abends von der Dunkelheit überrascht sah und, unfähig, eine Land-Karte oder den Kompaß zu Rate zu ziehen, seit zwei Stunden mutterseelenallein auf der Landstraße hingetappt war, müde, hungrig, ohne Ansprache und ohne Direktion. Es war im östlichen Teile Mittel-Deutschlands, und ich weiß wahrhaftig nicht mehr, in welcher Provinz oder in der Nähe welcher größeren Stadt, was auch zur Beurteilung der folgenden Komödie ohne jeden Belang ist. – Nachdem ich zur Einsicht gekommen, daß Stehen-Bleiben zu nichts führe und die Feuchtigkeit des Bodens das Aufschlagen des Nachtquartiers auf freiem Feld verbot, beschloß ich, unter möglichstes Schonung meiner Kräfte ruhelos weiter zu wandern, und wäre es auch die ganze Nacht, da bei der bekannten Bevölkerungs-Dichtigkeit Deutschlands ich über kurz oder lang auf irgendeine menschliche Niederlassung stoßen müsse. Meine Ausdauer wurde auch mit Erfolg belohnt, insofern, als ich das, was ich suchte, fand: ein Nachtquartier. Ob das Nachtquartier als solches ein Erfolg zu nennen war oder ob der Verfasser nicht besser getan hätte, in der schmutzigsten Pfütze auf der Landstraße zu übernachten, möge der gütige Leser am Schlusse dieser Erzählung beurteilen, denn nur die vertrackten Ereignisse dieser einzigen Nacht werden Gegenstand der folgenden Blätter sein.

    Es war vielleicht kurz vor zwölf Uhr nachts, als ich, der beim Marschieren immer den Kopf drunten am Boden hatte, plötzlich ein riesengroßes, schwarzes Gebäude nur wenige Schritte von der Landstraße vor mir auftauchen sah; dasselbe schien, soweit man bei der Dunkelheit urteilen konnte, aus mächtigen Quadern sehr solid gefügt, war mehrere Stock hoch, hatte diverse Hinter-Bauten, Remisen, Maschinen-Häuser, Schornsteine, kurz, eine weitläufige, offenbar industrielle Anlage. Ich sah kein Licht; trotzdem war ich fest entschlossen, mich anzumelden; ein fein bekiester Weg führte von der Landstraße zum Eingangstor. Hübsche Anlagen rechts und links bewiesen eine gewisse Wohlhabenheit des Besitzers ebenso wie dessen Kunstsinn und Liebe zur Natur. Ich läutete. Ein schneidendheller Ton fuhr durch das ganze Haus, dessen Gänge und Korridore, nach dem Echo zu schließen, gewaltige gewesen sein mußten. ›Das wird eine schöne Störung verursachen!‹ dachte ich mir. Aber zu meiner größten Überraschung hörte ich sogleich Tritte in meiner nächsten Nähe; eine Türe wurde aufgemacht; ein Schlüsselbund raschelte; im nächsten Moment öffnete sich das schwere, braun angestrichene Einfahrts-Tor, und vor mir stand ein schwarzes kleines Männchen mit freundlichem, glattrasiertem Gesicht und frag mich mit einer stummen Geste nach meinem Begehr. – »Entschuldigen Sie die Störung so spät in der Nacht«, – sagte ich – »was ist das wohl für ein Haus?« – »Eine Menschenfabrik.« Nun bitte ich den Leser, bevor wir weitergehen, sich durch nichts, durch keine Frage, Antwort oder Bemerkung, und wäre sie die verrückteste, davon abhalten zu lassen, diese Geschichte zu Ende zu lesen. Wir hören, sehen oder lesen im Leben oft viel sonderbarere Dinge, als die obige Antwort anzudeuten scheint, ohne gleich davonzulaufen oder das Buch zuzuschlagen. Hauptsache ist, daß man nicht den Kopf verliert, die Fakta ruhig auf sich einwirken läßt und dann eine Verständigung sucht. Zur Sache selbst möchte ich bemerken, daß, wenn in einem zusammengesetzten Substantiv das eine Wort zur näheren Erläuterung oder Erklärung des anderen dient, dieses letztere meist subjetivisch zu nehmen ist, während das erste am besten durch einen Relativ-Satz aufgelöst wird. Da ich nun keinen Grund hatte, anzunehmen, daß in diesem merkwürdigen Haus andere grammatikalische Regeln herrschen als in den übrigen deutschen Landen, so verstand ich unter »Menschenfabrik« eine Fabrik, in der Menschen fabriziert werden. Und das war ganz richtig. Und nun will ich den Gang der Erzählung nicht länger aufhalten, als ich selbst sprachlos und wie niedergedonnert vor dem kleinen Männchen dastand, unfähig, kaum einen Gedanken zu fassen, geschweige eine passende Rede vorzubringen, bis der freundliche Alte, nicht im mindesten ungehalten über meine Zögerung, mich durch eine Handbewegung aufforderte, einzutreten. Ich trat nun in den Hausflur und brachte so viel durch Sammlung meiner Gedanken zuwege, daß ich, ihm in die Augen blickend, sehr höflich bemerkte: »Sie meinen das nur bildlich!? – Sie wollen damit nicht sagen, Sie fabrizieren Menschen!?« – »Ja, wir machen Menschen!« – »Sie fabrizieren Menschen? Was heißt das?« rief ich jetzt aufs höchste erregt. Im geheimen aber stieg in mir ein Gedanke auf, daß es mit dem Mann oder mit dem Haus nicht in Ordnung sein könne. Der alte Mann schien meine Verwunderung nicht zu bemerken oder nicht zu beachten, sondern sagte, auf eine Glastür hinweisend, zu der wir inzwischen weiterschreitend gekommen waren, »Bitte, wollen Sie hier eintreten!« – »Menschen,« – rief ich – »das kann nicht wörtlich zu nehmen sein, das ist ein Bild, eine Redeblume, Sie können nicht Menschen machen wollen, wie man Brot macht?!« – »In der Tat,« – rief das alte Männchen fast freudig und gar nicht alteriert, etwa im Tone, wie der Kustos einer Galerie sagt: Ja, das berühmte Bild, nach dem Sie fragen, das ist bei uns – »in der Tat, ich akzeptiere Ihren Vergleich – wir machen Menschen, wie man Brot macht.« – Wir waren in einen mit breiten Stein-Fliesen belegten Korridor gekommen: in den Fenster-Ecken, die zum Hof hinausführten, standen große hölzerne Spucknäpfe, mit fleckigem, weichem Sägmehl aufgefüllt; man konnte schließen, daß hier bei Tag viele Leute vorbeipassieren. Alles trug den Charakter der Salubrität und rationellen Bewirtschaftung; die Winde frisch geweißt, die Bemalung einfach, aber sorgfältig. – Ich schaute mir noch einmal den alten Mann an; er schien so nüchtern, fleißig, benevolent zu sein; sein Alter und seine Gemessenheit schienen jede Neigung zu Phantastik oder dummen Scherzen auszuschließen. Ich kratzte mir im Ohr herum, ob sich dort ein Sieb befände, welches die Worte und ihren Gehalt verstelle. – »Menschen!« – sagte ich zu mir – »Menschen« – sagte ich dann ganz laut – »machen Sie; aber wozu? Zu welchem Zweck? Zugegeben, Sie machen sie; aber wozu Menschen machen, wenn sie kostenlos täglich zu Hunderten geboren werden? Was sind Ihre Art von Menschen? Wie kommen Sie zu der ganz ungeheuerlichen Idee? Wer sind Sie? Sind Sie ein im Mittelalter stehengebliebener Phantast und brüten über zauberische Theoremata eines Dr. Faustus, die die Neuzeit längst vergessen? Wo bin ich hingeraten? Bin ich zu weit ostwärts gekommen in eine orientalische Zauberküche? Oder bin ich in einem abendländischen Narrenhaus? Reden Sie! Wiederholen Sie Ihre Antwort! Was ist das für ein Haus?« – Mein Begleiter schien über die Flut meiner erregten Fragen nicht im mindesten bestürzt; er sah ruhig vor sich auf den Boden hin, als kontrolliere er die Genauigkeit der Arbeit des Steinlegers, eine Gleichgültigkeit, die mich noch erregter und furchtsamer machte, und sagte dann mit einiger Gemessenheit: »Sie stellen in einem Atemzug viele Fragen. Ich will versuchen, sie von rückwärts zu beantworten. Aber ich mache Sie gleich darauf aufmerksam: Durch Sehen und Beobachten werden Sie auf unserem Rundgang mehr begreifen und kennenlernen, als ich erklären und Sie fragen können. Also nochmals: Dies Haus ist eine Fabrik!« – »Und Sie fabrizieren?« – ergänzte ich fast schnaubend. – »Menschen!« – Menschen, Menschen, sagte der Mann mit unverbrüchlicher Ruhe. Ich versank in ein tiefes Hinbrüten, das mein Begleiter nachsichtig genug war, nicht zu stören. Alle die hundert Fragen, die sich an ein so plötzlich einem in den Weg geworfenes Wort wie »Menschenfabrik« sternschnuppenartig anschließen, zogen gedrängt durch mein Inneres, weil die Zunge sie nicht rasch genug zu bewältigen vermochte. Menschen, sagte ich zu mir selbst, gut! Der Gedanke ist nicht schlecht; aber wozu sie fabrizieren, und mit welchen Hilfsmitteln? Mein Begleiter nahm mich sanft beim Arm und wollte in den ersten Saal treten. »Halt! – Noch eine Frage,« – rief ich – »bevor wir weitergehen: Tun Ihre Menschen denken?« – »Nein!« – rief er sofort mit dem Ton absolutester Sicherheit und nicht ohne den Ausdruck freudiger Erregung, als habe er die Frage erwartet oder sei froh, sie verneinen zu können. – »Nein!« – rief er – »das haben wir glücklich abgeschafft!« – »Damit gewinnt Ihre Neuerung außerordentlich für mich an Interesse,« – bemerkte ich und fuhr gleich darauf fort: »Ich habe einen Menschen gekannt, der denken mußte, – der contre cœur, ohne Neigung, ohne Beruf genötigt war zu denken – und zwar Dinge, die nicht er, sondern die sein Kopf wollte – also nicht unter einer äußeren, erziehlichen Notwendigkeit, sondern aus einem innern Antrieb, mit dem er sich ebenso identifizieren mußte wie mit seinen Gedanken; er mußte seine Gedanken contre cœur anerkennen, ich sag' Ihnen: eine Komplikation...« – »Kenn' ich,« – fuhr das auf einmal lebhaft gewordene Männchen dazwischen – »kenn' ich, weiß ich, wir sind vollständig orientiert über die Bedürfnisse des Jahrhunderts, wir wissen, wo es unserer Rasse gebricht, wir haben das Neueste!...« – Diese letztere kaufmännische Wendung machte mich wieder nüchtern und daneben mißmutig und mißtrauisch. – Wir traten in einen der großen Parterre-Säle, aus dem uns ein heißer Schwaden entgegenschlug. Alles war reichlich beleuchtet. In den Ecken mehrere mit Ton verschmierte, kapselförmige Öfen mit Gucklöchern. Bevor wir bis zur Mitte des Saales gelangt waren, kam aus dem Nebenzimmer ein Arbeiter im verstaubten Gewand mit einer Laterne in der Hand heraus, und ohne über meine Anwesenheit im mindesten erstaunt zu sein, sagte er: »Herr Direktor, soeben haben wir den Chinesen herausgebracht.« – »So,« – antwortete mein Begleiter mit fast väterlicher Milde – »sind die Augenschlitze gut ausgefallen?« – »Etwas glasig!« – meinte der Arbeiter. – »Glasig?« – wiederholte das alte Männchen erstaunt, aber nicht unfreundlich – »das tut mir leid. Lassen Sie ihn jetzt sich erst ausschnaufen; mit den Augen wollen wir sehen, was zu machen ist.« Der Arbeiter entfernte sich mit einer zustimmenden Kopfbewegung. – »Sie scheinen die ganze Nacht hindurch zu arbeiten?« – sagte ich mit dein Ton des Grausens über das eben Gehörte. – »Die Prozedur erlaubt keine Unterbrechung!« entgegnete das Männchen. – »Und Sie scheinen sich nicht auf das Nachmachen der Leute Ihrer eigenen Nation oder der Völker des Abendlandes zu beschränken! Sie greifen bis in den Orient hinein!« – »Die sind jetzt sehr beliebt!« – »Beliebt, sagen Sie, was soll das heißen? Beliebt! Sie können nicht damit meinen, daß Ihr verbrecherisches Fabrikat bei den Menschen der alten Zunft gut aufgenommen werde!« – Und nach einer Pause brach ich mit neuer Vehemenz los: »Um Gottes willen, sagen Sie mir, was das alles heißen soll. – Fürchten Sie sich nicht vor dem allmächtigen Schöpfer des Weltalls? – Wollen Sie dem lieben Gott Konkurrenz machen? – Wird sich dieses freche Fabrikat nicht wie eine Parodie ausnehmen? – Mit welchen Gesichtern müssen sich Abkömmlinge zweier derartig verschiedener Rassen auf der Straße begegnen?! – Muß der Kontrast nicht größer und vor allem entsetzlicher sein als zwischen einem Weißen und einem Polynesier, beide Gottesgeschöpfe!? – Mit welchem Mißtrauen muß ein Mensch der alten Erde an ein solch neues, künstlich geschaffenes Wesen herantreten, es beriechen, betasten, um seine geheimen Kräfte herauszubekommen! – Und wenn die neue Rasse nach einem bestimmten, reif überdachten Plan gemacht ist, besitzt sie vielleicht größere Fähigkeiten als wir, wird im Kampf ums Dasein den alten Erdenbewohnern überlegen sein! – Ein fürchterlicher Zusammenstoß muß erfolgen! – Denkt die neue Rasse nicht, wie Sie vorhin erwähnten, schafft sie nur nach ihrer spezifischen, ihr eingeimpften Anlage, die maschinenmäßig zum Ausdruck kommt, wie kann sie verantwortlich für ihre Fehler gemacht werden?! – Die Moral, als Grundlage unseres Denkens und Handelns, hört auf! – Neue Gesetze müssen geschaffen werden! – Eine gegenseitige Aufreibung der beiden Klassen wird unvermeidlich sein! – Was haben Sie getan!? Was haben Sie unternommen?! – Was ist Ihr Ziel? – Ein Umsturz der gegenwärtigen Gesellschafts-Ordnung!« – Mein Begleiter blickte mich nach diesem neuen Fragen-Schwall sanft und beruhigend an und meinte nach einiger Zeit: »Die neue Rasse – sind Sie dessen versichert – wird sich nicht in der Welt breitmachen und nicht in einen Wettkampf mit ihren Brüdern und Schwestern nobler Abkunft treten. Sie wird ruhig bei Ihnen im Salon sitzen, anspruchslos und bescheiden. Und Sie, die alten Menschen, werden sich in heiterer Anschauung dieser glänzenden, schöpfungsfrischen Wesen begeistert und gehoben fühlen. Deswegen kann ich Ihnen nur raten, sich eine nicht zu kleine Anzahl dieser feinen Geschöpfe zu erwerben.« – »Erwerben!« – entgegnete ich – »wie soll das geschehen?« – »Wir verkaufen sie. – Zu was wäre die Fabrik da?! – Und wovon sollte sie bestehen, da unsere fabrizierte Rasse nichts arbeitet, nichts verdient und an und für sich höchst teuer herzustellen kommt!« – Ich wurde sichtlich beruhigt durch diese letzte Erklärung und schämte mich fast meiner explosiven Fragen von soeben. – Wir schritten auf einen der größeren Öfen in der Ecke zu. – »Natürlich,« – sagte mein Begleiter – »der Prozeß ist Geheimnis! – Wir nehmen Erde dazu, wie der Schöpfer des ersten Menschenpaares im Paradies, wir mischen sie, wir manipulieren mit ihr, wir lassen sie verschiedene Wärme- und Hitzegrade durchmachen – und das alles kann ich Ihnen zeigen –, aber den eigentlichen Kernpunkt, das Beleben und besonders das Erwachen unserer Menschen ist Fabrik-Geheimnis.« – »Ich will Ihre infernale Kunst nicht kennen,« entgegnete ich, »und ich wollte, Sie kennten sie auch nicht,« fügte ich hinzu; »jährlich vielleicht Tausende von Kreaturen in die Welt zu setzen, die nichts weiter sind wie Faulenzer...« – »Bitte, beobachten Sie einmal diese Formen!« – unterbrach mich der kleine Direktor, ohne auf meine letzte Bemerkung einzugehen. Ich sah durch das Guckloch. In einem anscheinend feuchtwarmen, von der Außenluft abgeschlossenen Baderaum lag ein wunderschönes Mädchen, anscheinend schlafend, halb bekleidet, an einem künstlichen Rasengrund angelehnt, aber alles ganz weiß, wie aus feuchtem Ton erst hergestellt und augenscheinlich unvollendet; Formen, Positur, Draperie, die Füßchen, Schuhe, die durchbrochenen Strümpfe, der Spitzen-Besatz, alles in reizender Harmonie und mit künstlerischer Vollendung. – »Wenn Sie jetzt noch etwas auszusetzen haben,« sprach der Direktor vom anderen Guckloch her, welches er eingenommen hatte, »so ist's jetzt noch Zeit; jetzt ist alles noch weich, eindrucksfähig, dehnbar; sind die Augen einmal fertig, erscheint die Röte des Herzschlages auf ihren Wangen, erwacht sie, dann ist es zu spät; dann ist sie, was sie ist, ein Mädchen, heiter, launisch, kokett, eigensinnig, dick, dünn, schwarz, brünett, mit allen Fabrikfehlern.«

    Was mir auffiel, war, daß die Kleider anscheinend fest mit dem Körper verbunden waren. Ich teilte dem Direktor mein Bedenken mit, mit dem Bemerken, daß es für das arme Kind schwer sei, bei der Unwandelbarkeit seiner Formen immer die richtigen Kleider zu finden. – »Kleider bedarf es keine«, antwortete er. – »Wie, Sie müssen ihr doch die Wäsche wechseln lassen!« – »Wir kreieren Wäsche und Kleider im Schöpfungsakt mit, und zwar ein für allemal.« – »Das ist doch das Wahnsinnigste, was ich je gehört habe! – Sie erschaffen also angezogene Menschen?« – »Gewiß!« – »Und die so erschaffenen Menschen bleiben angezogen ihr ganzes Leben?« – »Natürlich! Es ist doch einfacher! Die Kleider bilden einen Teil der Gesamt-Konstitution!« – »Denken Sie nur an die Ausdünstung, um von allen andern Fragen abzusehen!« – »Die haben wir auf ein Minimum vermindert! – Übrigens kann ich auf diesen Punkt nicht näher eingehen, da er an den innersten Kern, sozusagen an das geheime Lebensprinzip unserer Menschen rührt.« – Wir gingen langsamen Schrittes vom Ofen weg; ich nachdenklich und fast verwirrt wie immer. – »Wenn ich's recht überlege,« – bemerkte ich endlich – »die Prinzipien bei Ihrer Menschen-Erzeugung sind nicht so übel. Sie statten jeden Ihrer Menschen beim Schöpfungsakt mit einer bestimmten Anzahl körperlicher und geistiger Güter aus, und die lassen Sie ihnen auch unveränderlich.« – »Natürlich!« – fiel mir das alte Männchen fast feurig in die Rede und wie erfreut, daß ich endlich seinen leitenden Gedanken erfaßt. – »Natürlich! Bei den heutigen schwankenden Zeitverhältnissen, bei der Unzuverlässigkeit der meisten Menschen, der Zweifelsucht, der Schwierigkeit der Wahl des Berufs, dem Zaudern und Zögern auf allen Gebieten mußte sich schließlich das Bedürfnis einstellen, Menschen zu haben, von denen man weiß, was sie sind, was sie für Anlagen haben, welchem Temperament sie zuneigen und daß Anlagen und Temperament sich unverbrüchlich gleich bleiben. Wir statten unsere Menschen bei der Geburt mit einer nach den besten Mustern hergestellten Kollektion geistiger und leiblicher Vorzüge aus, und die verbleibt ihnen unter allen Umständen. Ich versichere Sie – unter uns gesagt –, unsere künstlich erzeugten Menschen sind mir lieber als die alte, berühmte Menschenrasse!« – »Aber die Willensfreiheit!« – entgegnete ich. – »Die ist bei den andern auch nur ein Hirngespinst!« disputierte das Männchen weiter! – »Aber die süße Täuschung, sie zu besitzen!« – »Ihren Verlust spürt meine Rasse auch nicht!« – »Die Philosophen,« – bemerkte ich kopfschüttelnd – »wenn Sie das Denken abschaffen! Die Philosophen werden mit Ihrer Fabrik-Arbeit sich nicht befreunden können.« – »Sagten Sie nicht selbst, Verehrtester, vor einer Viertelstunde, daß das Denken eine der lästigsten Operationen bei der alten Rasse sei?« – »Ja, ja, es ist oft bitter, aber halt doch schön!« – »Sie sind ein Schwärmer, ein Idealist, ohne feste kaufmännische Prinzipien!« bemerkte der Alte etwas kurz und ging voraus, mir damit andeutend, daß ein Fallenlassen des Gegenstandes ihm erwünscht sei. – Wir durchschritten einige Säle, in denen es stark nach Kampfer, Kräutern und Essenzen roch und wo umherliegende Instrumente der merkwürdigsten Art andeuteten, daß hier fortwährend fleißig gearbeitet werde. Namentlich überraschte mich ein sorgfältig verschlossener Glaskasten, in dem fertig gebildete Körperteile, wie Herzen, Ohren, Fingerglieder, mörtelartig, wie aus Urstoff geformt, zu sehen waren; daneben aber auch merkwürdigerweise Attribute, Symbole, wie Pfeile, Kronen, Waffenstücke, Blitze und dergleichen. – Nun aber kam ein ganz anderes Bild: In der fünften oder sechsten Abteilung nach dem Ofen-Saal begrüßte uns eine fröhliches herzige Kinderschar; es mögen acht oder zehn gewesen sein; alle mit vor Übermut strahlenden Augen und frischen, roten Backen. Ich glaubte schon, es seien die Kinder des Direktors; bemerkte aber doch, daß die Mienen etwas steif waren; auch fiel mir auf, daß, während einige frei standen oder auf zierlichen Stühlchen saßen, andere auf einem Postament ruhten und Mörtelspritzer drumherum zu sehen waren. »Hier stell' ich Ihnen nun meine Kinder vor!« wandte sich mein Begleiter wieder an mich. –»Was?« – rief ich bestürzt – »sind es Ihre eigenen Kinder?« – »Nun ja!« antwortete er etwas trocken. – »Ihre eigenen Kinder, meine ich – von Ihnen erzeugt?« – ergänzte ich lebhaft. – »Nicht nach der alten Methode, – es ist mein Fabrikat; aber das ist ganz gleich; diese sind sogar schöner!« – »Um Gottes willen,« – entgegnete ich – »wie kommen Sie auf den Gedanken, auch künstliche Kinder zu machen?« – »Die große Miserabilität unserer heutigen Ehen hat mich auf die Idee gebracht.« – »Was, Sie werden doch unser heutiges Menschengeschlecht und seine Fortpflanzung nicht in Frage stellen wollen?!« – »Wir wollten nur einige Verbesserungen anbringen!« – »Einige Verbesserungen am Menschengeschlecht anbringen?! – Fühlen Sie denn nicht das Horrende, das Unerhörte, was in dieser Phrase liegt, die Sie kaltlächelnd aussprechen?« – (Achselzucken) – »Sie zucken mit der Achsel? – Wollen Sie denn das sittliche Band zwischen Eltern und Kindern zerreißen?« – »Diese hier werden sehr gern gekauft!« antwortete mit unverbrüchlicher Ruhe der Alte, indem er auf sein Fabrikat deutete. – »In welche Bahnen treiben Sie das Menschengeschlecht!« – fuhr ich mit großer Bewegung fort –, »was würde Hegel dazu sagen?! – Wissen Sie nicht, daß Hegel das gesamte Menschengeschlecht von den ältesten Zeiten an bis auf unsere Tage als fortlaufende Erscheinungsform der ›absoluten Idee‹ konstruiert hat und in weiser Voraussicht seine Berechnungen noch bis zum Schluß des neunzehnten Jahrhunderts fortführte, so den Menschen eine gesicherte Bahn sittlicher und geistiger Vervollkommnung vorschreibend! – Was würde er zu Ihren verbrecherischen Versuchen, das Menschengeschlecht durch ein künstliches, der Willensfreiheit beraubtes zu ersetzen, sagen?!« – »Wir können auf Konkurrenten unmöglich Rücksicht nehmen!« – »Hegel war doch kein Konkurrent! – Er war doch kein Fabrikant! – Ihm genügte, Welt, Natur und Menschen in ihren prägnantesten Erscheinungsformen festzuhalten und in ein gedachtes System zu bringen, in dem alles als mit Notwendigkeit entstanden erscheint...« – Ich fuhr in diesem geschraubten Stil noch einige Zeit fort, bemerkte aber bald, daß mein Begleiter vollständig interesselos für meine Ausführungen an einem der Kinderschürzchen herumkratzte, wo die Farbe etwas matt ausgefallen war. – »Sie sehen hier, mein Verehrtester,« – begann er nach einiger Zeit, als wenn das Vorausgehende gar nicht gesprochen worden wäre – »einen weiteren Entwicklungsprozeß unserer Erzeugnisse; wenn selbstverständlich auch von einem Leben noch keine Rede ist, so erscheint doch alles schon lebhafter, leuchtender, fast pulsierend. – In der Form ist hier schon alles vollendet und unabänderlich. Die Qualitäten, die diese reizenden Geschöpfchen in sich tragen, können, sollte der Werkmeister etwas versäumt haben, nicht mehr vermehrt werden; aber die da sind, bleiben unveränderlich; bleiben auch auf der Stufe; dieser reizende Kindersinn bleibt ihnen fürs ganze Leben; ich habe aus Fröbel da manches gelernt. Betrachten Sie diesen blauen Augenstern. In Kinderaugen sind wir besonders berühmt.« – Ich schwieg zu diesen gotteslästerlichen Auseinandersetzungen. Wir schritten zum Saal hinaus, der hier in der gleichen Flucht keine Fortsetzung mehr hatte. Auf dem Korridor kamen wir dann zunächst an mehrere mit Eisentüren doppelt und mit großer Sicherheit verschlossene Gewölbe, aus denen ein heftiges Brausen und Zischen herausdrang. Arbeiter, zu zweit, in großer Hast, mit glühenden Stirnen, in einem gefalteten Leintuch eine große Last tragend, aus der oft wimmernde Laute hervordrangen, kreuzten oft unsern Weg. – »Hier, bitte ich, sich nicht aufzuhalten« – bemerkte der Alte, mich scharf ins Auge nehmend – »und nicht umzusehen; hier ist jener Teil der Fabrik, der ununterbrochen in Gang ist und wo eine unvorsichtig offengelassene Tür Sie leicht der Besinnung berauben könnte. Werfen wir lieber noch einen Blick in den Vorrats-Saal meiner fertigen Menschen!«

    Wir gingen lange schweigend nebeneinander. Der Vorrats-Saal lag in einem der Hinter-Gebäude. Alle Abteilungen der Fabrik waren durch bedeckte Gänge miteinander verbunden, offenbar, um sie von Witterungs-Einflüssen so unabhängig wie möglich zu machen. Überall atmete man eine heiße, dampfgesättigte Pflanzen-Luft. – Die Kinder wollten mir nicht aus dem Kopfe. Daß es Kinder blieben, damit konnte man sich schließlich noch abfinden. Das war eine verrückte Idee dieses Menschen-Verbesserers: ebenso wie man kleinen Hunden und Jockeis Schnaps gibt, damit sie klein bleiben. Aber der Mangel jeder sittlichen Anlage, das Mechanische ihres Lachens, und ihrer Kinder-Lieblichkeit, das Fehlen jeder erziehlichen Tendenz, mit einem Wort, das Nichtvorhandensein eines sittlichen Bodens, auf Grund dessen Kinder fragen: Warum? Weshalb? auf Grund dessen sie Gut' und Böses unterscheiden, war für mich, einen Protestanten, etwas Unerträgliches. In der Erwägung, daß es an dieser Krämer-Seele von einem Direktor nicht viel zu beleidigen gebe, rückte ich ohne Umschweife heraus: »Können Sie es denn, Herr Direktor,« – begann ich – »leichten Herzens zulassen, daß diese Kinder, die wir im letzten Saal gesehen, so ganz verkommen?« – »Die verkommen nicht,« sagte er sehr ruhig, »solange sie kein ungeschicktes Dienstmädchen in die Hand bekommt!« – »Das mein' ich nicht,« – erwiderte ich ärgerlich – »ich meine, haben Sie nicht daran gedacht, diesen armen Geschöpfchen einen sittlichen Funken ins Herz zu legen? Und, da Sie doch alles mechanisch und starr konstruieren: Wo haben Sie bei den Kleinen den sittlichen Boden angebracht? Im Kopf? In der Brust?« – »Ach, mein lieber Herr, das ist schwer; dieser Boden würde nicht bemerkt werden! Abgesehen davon, daß wir froh sind, wenn es uns gelungen ist, unsere Rasse äußerlich so herzustellen, daß sie sich wie nette und noble Menschen ausnimmt.« – »Nette und noble Menschen!« – wiederholte ich – »als ob das das Ziel wäre, auf das wir lossteuern! Brave und ehrliche Menschen, – ist das nicht viel mehr? Ja, sehen Sie, Herr Direktor, wenn Sie nachderRichtung vorgegangen wären,« – ich sprach sehr lebhaft und gestikulierte fortwährend mit der rechten Hand – »wenn Sie mit vorwiegend sittlichen Impulsen begabte Menschen geschaffen hätten – wie soll ich sagen? – eine Moral-Rasse, die auf Grund eines eingepflanzten, wenn auch konstruierten, später hart gewordenen Triebes nur moralisch zu handeln vermöchte – ja, dann hätte ich Respekt vor Ihnen; eine Rasse, die überall ihr blankes, sittliches Schild zu zeigen vermöchte und als leuchtendes Beispiel ihren fleischlich gesinnten Brüdern und Schwestern stets vor Augen stünde...« – »Die wäre absolut unverkäuflich!« – »Das macht nichts; die Regierung sollte sie auf Staatskosten aufkaufen, ebenso wie man vortreffliche Gemälde kauft und sie öffentlich zur Nachahmung ausstellt. – Denken Sie, welcher Fortschritt für die ethische Entwicklung unseres Menschengeschlechts, dessen Moral zur Zeit so schon im argen liegt!« – »Sie sind ein Idealist!« bemerkte der Alte kurz, »da kann ich Ihnen nicht folgen; ich nehme die Welt, wie sie ist; wir waren froh, die Menschen so, wie sie gegenwärtig herumlaufen, imitiert zu haben. Ich versichere Sie, es war keine leichte Aufgabe; wir haben uns viel geplagt und haben viel Geld hineingesteckt!« – Diese merkantile Wendung brachte mich wieder zum Schweigen. Ich empfand die ungeheure Kluft, die uns trennte. Dieser Spekulant wollte mit seinen Menschen vor allen Dingen Geld verdienen. Alles andere war ihm Nebensache. – Wir gingen wieder lange schweigend einher. – »Ich begreife nur eines nicht,« – nahm ich nach einiger Zeit wieder das Wort –, »wenn Sie Menschen machen wollen, müssen Sie doch ganz genaue Kenntnisse der Anatomie und Psychologie haben. – Prometheus machte Menschen aus einer Art Ur-Dreck, aber Pallas Athene hauchte ihnen erst das Leben ein. Was haben Sie, das Ihnen die göttliche Hilfe entbehren läßt?« – »Chemie und Physik läßt uns heute über manches hinwegsehen!« – »Gut, die Naturgesetze sind uns heute in einem Grade bekannt, der staunenswert ist; aber wie selbe in einem menschlichen Körper applizieren, wo doch ganz andere Bedingungen herrschen als in der unorganisierten Natur? Nehmen Sie nur das Heer der komplizierten Empfindungen, die in eines Menschen Brust sitzen, wie...?« – »Wir machen sie alle nach!« – warf schnell das wieder lebhaft gewordene Männchen ein. – »Aber wie?« entgegnete ich – »wie konstruieren Sie zum Beispiel die ästhetischen Sensationen? – nach Herbart oder Lotze?« – »Sind das Hamburger? – Oder eine Berliner Firma?« – »Das sind weder Hamburger noch Berliner,« – sagte ich zornig – »das sind deutsche Philosophen, welche die Grundgesetze der Psychologie für alle Zeiten festgestellt haben, außerhalb welcher Empfindungen beim Menschen unmöglich sind!« – »Sie stellen sich das Menschenmachen doch zu schwer vor, Verehrtester!« – erwiderte etwas verlegen der Alte. – »Zu schwer?« – rief ich, durch diese triviale Wendung halb außer Fassung gebracht, und blieb mitten im Gang stehen, dadurch meinen Begleiter zwingend, mir gegenüber Front zu machen – »freilich, wenn Sie dem Menschen seinen köstlichsten Besitz, das Denken und die Empfindungen, nehmen!« – »Haben die Kinder, die Sie gesehen, etwa Gips-Köpfe aufgehabt?« – frug jetzt der Alte auch in gereiztem Ton. – »Nein, ich muß gestehen, sie haben mich frappiert durch ihre Lebenswahrscheinlichkeit, durch ihre Frische, aber...« – »Was aber? Sie dürfen nicht vergessen, daß für eine veränderte Produktion auch veränderte Produktions-Bedingungen maßgebend sind! Was Ihre Herren Lebert und Kotze oder wie sie heißen, die ich ursprünglich für eine Konkurrenz-Firma hielt, in ihren Büchern geschrieben haben, mag für das alte Menschengeschlecht gültig sein, aber nicht für meine Fabrik-Rasse!« – Dieser Einwand war, bis auf die Verschimpfierung meiner Lieblingsphilosophen, richtig. Ich begann zu überlegen. Wir setzten beide unsern Weg langsam und nachdenklich weiter. Zu unserer Rechten brausten und schnurrten allerlei Maschinen und Gebläse. – »Aber,« begann ich nach einiger Zeit wieder, »ohne in Ihr Fabrik-Geheimnis eindringen zu wollen, Sie müssen doch eine bestimmte Methode haben, seelische Vorgänge bei Ihren Menschen zum Ausdruck zu bringen?« – »Wir machen sie fix!« – »Fix?« – »Ja, fix!« – »Was heißt das, fix?« – »Wir waren bestrebt, daß eine bestimmte Empfindungs-Gattung, die einen Menschen beherrscht, immer in derselben Richtung, in der gleichen Färbung, in der nämlichen Abtönung auftritt, damit das lästige Schwanken, das Hin und Her der Wünsche und Bestrebungen, die Unentschlossenheit vermieden wird...« – »Aber, Sie merkwürdiger Fabrikant, darin liegt ja der Reiz im menschlichen Leben, daß unser Willens-Impuls das Resultat der gegensätzlichsten Motive und Neigungen ist, heute so, morgen so, und das Zusehen des ›Ichs‹ bei diesem Kampfe ist ja eben das, was wir Leben nennen...« – »Hat aber eine Menge von Unannehmlichkeiten zur Folge! Dem Minderwerden des Enthusiasmus folgt der Ekel, dem Aufhören des Gefallens die Gleichgültigkeit, dann Haß...« – »Gut, aber gerade dieser Wechsel...« – »Dieser Wechsel ist der Grund unserer heutigen Haltlosigkeit; wir müssen Stabilität gewinnen!« – »Aber so erzeugen Sie ein sklavisches, des Namen Menschen unwürdiges Geschlecht!« – »Ist aber sehr beliebt!« sagte der Alte sehr kurz und nahm eine Prise. – »Beliebt? Bei wem denn?« – »Bei unseren Kunden!« – »Ja, haben Sie förmliche Abnehmer für Ihr Gezücht?« – »Gezücht? Mein Herr, ich muß bitten!« – »Nun ja, also, für Ihre Spezies?« – »Gewiß! Wer trüge denn die Kosten der Fabrikation?! Erst jüngst schickten wir der Gräfin Tschitschikoff eine Kiste mit...« – »Kiste? Ja, verpacken Sie Ihre Menschen wie Stück-Gut?« – »Oh, unsere Rasse ist harmlos und gefügig: nur einen bestimmten Raum verlangen sie; der muß immer gleich groß sein zum Ausführen ihrer bestimmten, ihnen zuerteilten Geste; alles übrige ist ihnen gleich; – freilich, ›Vorsicht‹ miß auf der Eisenbahn angewandt werden; auch versenden wir nur auf ›werte Rechnung und Gefahr‹ unserer Kunden.« – »Oh«, – entgegnete ich mit Entrüstung – »warum lassen Sie freie Gottesgeschöpfe nicht...« – »Bitte, mein Herr,« unterbrach mich mein Begleiter etwas schnippisch, »es sindmeineGeschöpfe!« – Ich begann zu schwindeln; dieser Kontrast zweier Menschen-Rassen, dieses rücksichtslos diabolische Verfahren eines abgefeimten Spekulanten; der Kampf, der zu erwarten, wenn er seine Maschinen-Menschen wie Hunde gegen das alte, vornehme, aber vielleicht nicht so gewandte, gottähnliche Geschlecht losließe; und dieser Mensch, der dabeisteht und schnupft; diese Konstellation, die ich mir im Innern ausmalte, nahm mir meine Gedanken; ich preßte die Hände vor die Stirn und begann zu taumeln. »Wo bin ich hingeraten?« rief ich fast in einem Anfall von Verzweiflung, »fort aus diesem schrecklichen Haus, dieser Mördergrube, diesem Tod alles Schönen und Edlen!« – und lief wie blind voraus, unwissend, wohin. – »Halt, mein Lieber,« rief der kleine Direktor, hinter mir dreinkeuchend, »nehmen Sie sich in acht, hier steht mein Chinese!...« –

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