Die Musik in der Wolke: Cloud Music und Mobile Devices
Von Jörn Handschke
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Buchvorschau
Die Musik in der Wolke - Jörn Handschke
(HTW).
1. Einleitung
1.1 Der Auszug der Tracks in die Wolke
Seit Ende der 1990er-Jahre hat die Musikindustrie ganz entscheidende Veränderungen durchgemacht. Gleichzeitig zum zunehmenden Erfolg des World Wide Web und dem Auftauchen von MP3-Format, Musiktauschbörsen und portablen Abspielgeräten für Audiodateien ist die Tonträgerindustrie in die Krise geraten. Vor allem bei jungen Musikfans haben sich das Musikhören und die kulturellen Praxen rund um die Musik innerhalb kurzer Zeit entlang der technologischen Entwicklung und mit der Adaption neuer technischer Geräte gewandelt. Die traditionellen Musikmedien wurden ad hoc in ihrer Funktionalität und ihrem Nutzen in Frage gestellt. Statt einzelner, gekaufter oder kopierter Tonträger und den dazugehörigen Hörgeräten (z.B. CDs und Discman) fand sich die private Musiksammlung in Form von Audiodateien von nun an meist auf PCs und MP3-Playern. Eine digitale Musiksammlung kann seitdem problemlos viele zehntausend Titel beinhalten und ist trotzdem navigier- und überschaubar, einfach kopierbar und steht jederzeit – egal ob zuhause oder unterwegs – mittels Computer und Abspielsoftware oder auf dem portablen Player zum direkten Abruf bereit.
Dieser gesamte Komplex rund um die digitale Musik ist ein hoch aktuelles Phänomen und bedroht weiterhin traditionelle Distributionswege, Kontrollmöglichkeiten und Geschäftsmodelle der Musikindustrie. Die Veränderungen haben zum Teil vollkommen neue Teilnehmer, Produkte und Dienstleistungen im Markt hervorgebracht. In Bezug auf die digitale Musik sind dabei die Abhängigkeiten von neuen Technologien und Hörgeräten, illegalen Tauschbörsen und Rückgängen bei den Tonträger-Verkäufen, gelernten Verhaltensweisen und den neuen musikalischen Klängen noch lange nicht endgültig (wissenschaftlich) geklärt. Und dennoch steht schon der nächste Paradigmenwechsel für die Musik kurz bevor – nicht als nachfolgende Stufe in einer evolutionären Entwicklung, sondern vielmehr parallel und mit komplexen Querverweisen zu Tonträgern, digitalen Audiodateien, Tauschbörsen und Online-Musik-Diensten. Die vorliegende Arbeit handelt von diesem Paradigmenwechsel und dem Auszug der Musik in die Wolke.
Die Wolke ist hierbei ein für den Anwender nicht greifbarer Ort, der für das Internet steht. Cloud Music meint ganz allgemein den Zugang zu Musik über verschiedenste mit dem Internet verbundene Geräte, wobei die Musik in Form von Audiodateien von Webservern oder Peers direkt aus dem Netz abgespielt wird, statt erst auf die einzelnen Geräte heruntergeladen zu werden. Nahezu alle jemals in Form von Tonaufnahmen veröffentlichte Musik ist heute jederzeit und von überall via Internet verfügbar. Das Phänomen Cloud Music spielt dabei mit der Idee einer unerschöpflichen und – in Bezug auf das Repertoire – vollständigen Musikquelle, zu der man Zugang hat statt einzelne Musiktitel wie einen Tonträger in Besitz zu nehmen. Das Nebeneinander vieler internetfähiger Geräte, der ständige Wechsel zwischen diesen Geräten, der Wunsch nach immer neuer Musik und die ständige Verfügbarkeit von (kabellosem) Breitband-Internet an den entlegensten Orten wecken den Bedarf nach Musikdiensten, die dieser Idee nahe kommen. Cloud Music-Dienste vermarkten deshalb nicht länger einzelne Musiktitel oder Alben sondern den Zugang zu Musik über das Internet (Access). Sie sind plattformübergreifend verfügbar und verändern die Geschäftsmodelle der Musikindustrie, die Nutzung von Hardware und technischer Infrastruktur sowie den Umgang mit Musik.
1.2 Zielsetzung
Ziel der Arbeit ist es, einen detaillierten Überblick über die aktuellen Phänomene und Angebote im Bereich Cloud Music zu geben. Dabei werden neben einer historischen und theoretischen Einordnung rechtliche Fragen, technische Anforderungen, wirtschaftliche Kennzahlen und Geschäftsmodelle in Betracht gezogen. Es soll herausgearbeitet werden, wie Abhängigkeiten zwischen ökonomischen, technologischen und kulturellen Rahmenbedingungen die Entstehung neuer Musikdienste im Bereich Cloud Music beeinflussen und wie diese wiederum versuchen am Markt zu bestehen. Der Gegenstand der Untersuchung ist hoch komplex und befindet sich aktuell in einer noch frühen Entwicklungsphase. Entsprechend handelt es sich bei der Analyse um eine Momentaufnahme (Stand März 2012). Diese soll aber so umfassend und akkurat wie möglich und damit für die weitere Theoriebildung aufschlussreich sein.
1.3 Aufbau
Nach der Einleitung soll im zweiten Kapitel die Entwicklung vom Tonträger zur digitalen Audiodatei aufgezeigt werden. In einem kurzen historischen Abriss (2.1) werden hierfür zunächst technische, wirtschaftliche und kulturelle Rahmenbedingungen in ihrer historischen Abfolge vom Ende des 19. bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts dargelegt. Danach werden Urheberrecht und Copyright als rechtliche Rahmenbedingungen behandelt (2.2), um im darauffolgenden Teil die Produkte der Copyright Industry mit ihren besonderen Eigenschaften wie z.B. Immaterialität und ihre Kennzeichnung als Experience Products zu beschreiben (2.3). Unter Punkt 2.4 werden die Widersprüche zwischen der Information als quasi öffentliches Gut und den ihr auferlegten Restriktionen als Basis für die Monetarisierung von Informationsgütern besprochen. Als Abschluss des zweiten Kapitels wird Musikhören als Kulturtechnik definiert (2.5), um eine theoretische Grundlage zum Verständnis der Wechselwirkungen zwischen Musikkonsum und den an der Genese von kulturellen Praktiken beteiligten Hörgeräten zu erarbeiten.
Im dritten Kapitel wird zunächst der Begriff Cloud Music und dessen Herkunft erörtert (3.1). Nach der Beschreibung der technischen Vorgaben und einer Einordnung der derzeit verfügbaren Services im Bereich Cloud Music folgt ein Marktüberblick mit aktuellen Zahlen (3.2). Danach werden die für das Phänomen Cloud Music notwendige Hardware und technische Infrastruktur erklärt (3.3). Die verschiedenen Arten von Cloud Music-Diensten – Music Locker, Video- und Audio-Portale sowie Music Streaming-Services – werden anhand von Beispielen in den Unterkapiteln 3.4-3.6 im Detail behandelt. Im vierten Kapitel folgt als Abschluss der Arbeit ein kurzes Resümee. Die wesentlichen Erkenntnisse der Arbeit werden zusammengefasst und kritisch gewürdigt, um mit einem Ausblick zum Thema Cloud Music zu enden.
2. Vom Tonträger zur Audiodatei
2.1 Historischer Abriss
Die Entwicklung der Kommunikationstechnik und der audiovisuellen Medien im 20. Jahrhundert hat die populären Musikformen in besonderem Maße geprägt.¹ Populäre Musik ist durch die Produktion und Verbreitung über jene Technologien zu einer fast allgegenwärtigen Erscheinung des Alltagslebens geworden und hat in ihrer Geschichte einen zunehmend globalen Charakter angenommen.² Mit dem Tonträger begann für die Musik ein neues Zeitalter:
mit für den Tonträger produzierten und technisch speziell beschaffenen Klanggebilden
mit der Bindung an die Tonträgerindustrie mit ganz eigener Ökonomie
mit neuen institutionellen Infrastrukturen
mit einem aktiven Marketing, das die Musik an immer komplexer gewordene Verwertungsketten band und noch immer bindet.³
„Der Tonträger hat die Musikkultur unaufhaltsam in ein Produkt seiner selbst verwandelt und ist während seiner etwa einhundertjährigen Entwicklung „in kultureller, wirtschaftlicher und ästhetischer Hinsicht zum normativen Paradigma der Musik geworden
.⁴
In der Geschichte des Tonträgers gab es diverse Formate mit je eigenen klangtechnischen Konsequenzen und der Verortung und Bindung an sehr unterschiedliche Ziel- und Nutzergruppen. Der erste Schritt in das neue Zeitalter der Musik geschah am 19. Februar 1878 als Thomas Alva Edison das Patent für seinen 1877 erfundenen Phonographen erhielt. Die Vermarktung als Diktiergerät misslang. Es dauerte aber nicht lange bis zur Entdeckung des Phonographen als Musikmaschine. Ausgestattet mit Stethoskop-Schläuchen und Münzmechanismus wurde 1889 der erste Vorläufer der späteren Jukebox in San Francisco aufgestellt. Der Erfolg war so groß, dass in nur wenigen Wochen weitere Automaten in Restaurants und Wartehallen aufgebaut wurden. Abgespielt wurden damals noch Aufnahmen lokaler Bands. Doch schon in den 1890er-Jahren spezialisierte sich die Columbia Phonograph Company als erstes Tonträgerunternehmen in der Geschichte des Mediums auf die Produktion von bespielten Zylindern.⁵
Auch Emil Berliner dachte bei seinem Grammophon mit scheibenförmigem Speichermedium zuerst nicht an Musik. Er wollte vielmehr die Stimme des Menschen in Erinnerung bewahren. Der Patentschutz für das 1887 angemeldete Verfahren zur Schallaufzeichnung wurde aufgrund der Ähnlichkeit zu Edisons Erfindung in den USA verwährt. Doch der Erfolg von Edisons Phonographen als Unterhaltungsapparat ermutigte auch Berliner sein Grammophon als Musikmaschine in